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Es ist kein Zeichen von geistiger Gesundheit, wenn man sich an eine kranke Gesellschaft anpasst. Die Ganoven Wilbur und Murdok McDuff haben es geschafft: seit der eine Bürgermeister und der andere Polizeichef von Borough geworden sind, laufen die Geschäfte besser als je zuvor. Schließlich hat es Vorteile, wenn jegliche Ermittlung in eine Richtung gelenkt werden kann, die weit weg von den Brüdern zeigt. Probleme gibt es erst, als die Familie Stubbs in die Burg einzieht, die bis dahin als Endlagerstätte für die erfolglose Konkurrenz der McDuffs diente – und jetzt zur letzten Ruhestätte der Neuankömmlinge werden soll. Doch da haben sie ihre Rechnung ohne Lutetia gemacht. Die Tochter der Familie löst Probleme mit einer scharfen Beobachtungsgabe, noch schärferer Intelligenz und – falls das nicht ausreicht – einem Baseballschläger. Als sie sich mit George, dem örtlichen Totengräber, zusammentut, tauchen Leichen an Plätzen auf, an denen sie vorher gar nicht vergraben waren.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Lutetia Stubbs: KellerLeichen
...und wie man sie nicht entsorgt
Korrektorat
Inhaltsverzeichnis
Titel
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
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Danksagung
Impressum
Wenn zwei sich betrügen, dann freut sich der Dritte - falls er überlebt.
Auch Corelius Vanderbild hat einmal klein angefangen. Doch als der Taschendieb und Trickbetrüger den Auftrag bekommt, einem der berüchtigtsten Gangsterbosse Londons ein unbezahlbar wertvolles Gemälde zu stehlen, ist das die Gelegenheit, an der Herausforderung zu wachsen. Oder auf dem Friedhof zu enden.
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Kapitel 1
Alte Damen sollten anständig sein. Freundlich. Nett zu Kindern. Sie sollten sich nicht aufführen wie zwei Hafenschlampen beim Revierstreit. Henry Wilson beobachtete gelassen den Streit der Swanson-Schwestern. Er kaute sein kaltes Truthahn-Sandwich, dachte an nichts Komplexeres als das Wetter und erweiterte seinen Vorrat exotischer Beleidigungen, die er pedantisch in sein bereits recht umfangreiches Notizbuch eintrug. Solange sich die Damen nur gegenseitig angifteten, brauchte er nicht einzuschreiten. Die Swansons galten als neu Zugezogene; sie lebten erst seit dreißig Jahren in Borough. Trotzdem hatten sie sich in dieser für ländliche Verhältnisse kurzen Zeit einen festen Platz in der Gesellschaft erobert. Ihre Ankunft hatte in der gutbürgerlichen Mittelschicht der Stadt ein Erdbeben ausgelöst. Owen Henrics, damals Stadtsäufer von Borough und ein halbes Jahr später tot, hatte Wilson, der zu diesem Zeitpunkt nur auf eine stürmische, wenn auch einseitige Affäre mit Daisy Duck zurückblicken konnte, beiseite genommen und ihm die Neuigkeit zusammen mit einer Whiskeyfahne ins Gesicht gehaucht. »Det sin Dame von Welt, Junge! Die verkehrn nich mit unsereins. Die machen's nur mit de bessere Gesellschaft.« Später dachte Wilson darüber nach, welche Art Damen so in sechs Sprachen fluchen kann, dass selbst gestandene Männer die Flucht ergriffen. Wie dieser Russe, der das Haus neben den Swansons bezogen hatte und unvorbereitet in eine der Swansonschen Verbalschlachten geriet. Der Mann behauptete, Kapitän im Ruhestand zu sein. Wilson hielt das für gelogen: erstens war er kaum älter als fünfundzwanzig und zweitens sollte ein Matrose nicht rot anlaufen, bevor Inga und Barbara sich warm gekeift hatten. Zwei Wochen später gab er das frisch renovierte Haus auf und verschwand spurlos aus Borough. Bei anderer Gelegenheit brauchte Wilson länger, um die Frage der Sprache zu lösen. Die Reaktion einer Gruppe japanischer Touristen, die wohl versehentlich nach Borough geraten war, klärte es dann. Manchmal fragte sich Wilson, auf welche Weise genau die Swansons mit den gehobenen Kreisen verkehrten. Doch obwohl sie sich seit über siebzig Jahren leidenschaftlich hassten, gingen sie nie getrennte Wege – für Wilson eines der größten Rätsel des Lebens. Die Lösung hätte ihn wirklich interessiert, aber ihm fehlten Neugier und Phantasie, um mehr als die tägliche Routine seines Jobs zu erledigen. Auf eine Art war er der perfekte Beamte. »Meurtriére!« Wilson horchte auf. Er hatte keine Ahnung, was Meurtriére bedeutete, aber Inga rastete bei diesem Wort aus. Ohne polizeilichen Eingriff hätte sie bewiesen, dass eine Handtasche durchaus eine tödliche Waffe ist. Wilson packte die Reste seiner Mahlzeit weg und ging auf die Schwestern zu. »Guten Tag, Ladies.« Vier eisblaue Augen fixierten ihn. Er spürte die Veränderung, als er vom Polizisten zur Zielscheibe wurde.
Im selben Augenblick löste sich nicht weit entfernt in einem dunklen Raum die Hand eines Skeletts und fiel zu Boden. Ein goldener Ring löste sich vom Fingerknochen und rollte in einer langen Spirale in die entfernteste Ecke des Raumes. Der darin eingelassene Brillant hätte dabei sicher malerisch gefunkelt, aber in diesem Raum war es auf Grund des Fehlens von Türen und Fenstern stockdunkel. Außerdem war niemand anwesend, der den ganzen Vorgang beobachten konnte.
»Über diesem Drecksnest hängt ein riesiger Arsch und wartet nur...« »Ich verbitte mir solche Worte in meiner Gegenwart!« brüllte Harold Stubbs. Marx zuckte zusammen. Er hatte seinen Erzeuger noch nie schreien hören und da sie sich die letzten siebzehn Jahre nicht sehr nahe gekommen waren, wusste er nicht, zu welchen Reaktionen der alte Herr neigte. Der Stubbsche Familiendiesel bahnte sich seinen Weg durch die schafbedeckten Hügel, die noch zu Wales gehörten und steiler wurden, je weiter sie nordwärts kamen. Die Tatsache, dass sie seit Stunden nur noch Hügel und Schafe sahen, zehrte gewaltig an Marx' Nerven. »Hoffentlich haben die schon elektrischen Strom«, murmelte er. »Ja. Ich habe mich danach erkundigt«, antwortete Harold, der den gemäßigten Tonfall seines Sohnes für ein gutes Zeichen hielt. »Fließend Wasser?« »Auch das.« »Das einundzwanzigste Jahrhundert?« Sogar Harolds beschränktes linguistisches Hirnzentrum erkannte gelegentlich Sarkasmus. Er versuchte, einen angemessenen väterlichen Rat für diese Situation zu finden. »Du wirst es überleben.« »Das befürchte ich.« Marx versank in tiefem Schweigen. Sein Vater sah ihn mit einem forschenden Blick an. Harold Stubbs war leidenschaftlicher Mathematiker. Er hatte es in Fachkreisen zu einigem Ansehen und einer Professur in Cambridge gebracht – mit all ihren Nachteilen. Der Nachteil bestand aus einer Horde Studenten, die sich seiner Meinung nach von einer Horde Affen nur durch den aufrechten Gang unterschied.1 Er hatte fünfzehn Jahre Vorlesungen überlebt, indem er seine Zuhörer weitgehend ignorierte. Bedauerlicherweise schien diese Taktik bei seinen eigenen Kindern zu versagen. Überdies hatte seine Frau die Unverschämtheit besessen, sich vor einem halben Jahr einfach überfahren und ihn mit seinem Nachwuchs allein zurück zu lassen. Er sah in den Rückspiegel und betrachtete seine Tochter, die während der ganzen Fahrt aus dem Fenster gesehen und nichts gesagt hatte. »Nun, Lutetia, freust du dich auf...« – Harold sah auf seinen Notizzettel – »...Borough? Die Burg hat sieben Schlafzimmer und vier Bäder, alles bestens eingerichtet.« Die Erwähnung ihres Namens veranlasste seine Tochter, ihren Geist aus welchen Sphären auch immer zurückzurufen und aufs Hier und Jetzt zu fokussieren. »Was bedeutet das schon?« sagte sie. Seine Kinder waren zwar Zwillinge, aber sie hatten überhaupt keine Gemeinsamkeiten.
Die Einrichtung des Borough Inn bestand zum größten Teil aus dunkel gebeiztem Holz. Die Tische waren mit mannshohen Trennwänden abgeteilt, an denen luxuriöse, mit rotem Samt gepolsterte Bänke standen. Auf Hochglanz polierte Messingbeschläge komplettierten die Ausrüstung des Pubs, den John Smith in eine Kopie des Orient Express verwandeln wollte. Murdok McDuff fand Wilson im letzten Abteil mit seinem fünften Pint beschäftigt. »Wilson, Sie sehen Scheiße aus!« Der Angesprochene sah mühsam auf. »Genau die Begrüßung, die ich jetzt brauchte.« »Im Ernst, Sie sollten zum Arzt gehen. Ihr Auge erinnert mich an die Pflaumenernte letztes Jahr. Hervorragende Marmelade.« Wilson sah seinen Vorgesetzten hasserfüllt an. Gewisse Dinge sollte man nicht zu einem Mann sagen, der sich gerade in Selbstmitleid ertränkt. Oder umgekehrt. »Der Riss über dem Auge sollte genäht werden. Was war los? Kneipenschlägerei? Dafür sieht's hier aber noch ganz ordentlich aus.« »Die Swansons«, murmelte Wilson. Von zwei Greisinnen verprügelt worden zu sein ist keine Heldentat, die man gern laut herausschreit. »Oh.« Das blieb McDuffs einziger Kommentar für zwei Minuten. »Da kann man nichts machen. Bleiben Sie zwei, drei Tage zu Hause und kurieren Sie sich aus.« Unbewusst tätschelte er dabei Wilsons Hand, genau so, wie er es bei seinem Enkel gemacht hätte. Wilson riss seine Hand aus McDuffs großväterlicher Umklammerung. »Nein!« bellte er. »Das werde ich nicht! Diesmal sind die Zwei zu weit gegangen!« Er richtete den Zeigefinger anklagend auf sein Gesicht. »Das hier ist ein unprovozierter Angriff auf die Staatsgewalt. Dafür kommen diese Hyänen an den Strick! Verdammt, wenigstens hätten sie den verdient.« Die ehrliche Empörung auf Wilsons Gesicht erinnerte Murdok an eine Karikatur. »Mein lieber Wilson!« beschwichtigte er. »Seien Sie doch nicht so pathetisch. Es sind doch nur zwei alte Frauen.« »Zwei Monster in Gestalt alter Frauen.« »Mag sein. Aber nach außen sind es zwei alte Frauen. Sie machen sich zum Gespött mit einem Kreuzzug gegen zwei harmlose Omas.« Wilsons Gesicht lief rot an, als er sich erhob und McDuff wütend anfunkelte. »Harmlos? Die sind nicht harmlos! Die terrorisieren seit Jahrzehnten die Stadt - das wissen Sie genau! Nein, die haben sich endgültig zu viel rausgenommen. Wenn Sie nicht Manns genug sind, übernehme ich die Sache allein!« brüllte Wilson, ließ sich zurück auf die Bank fallen und verzog das Gesicht. Seine Nieren hatten nähere Bekanntschaft mit einem Paar orthopädischer Schuhe gemacht. Murdok lehnte sich zurück. Er blickte auf eine lange Erfahrung in öffentlichen Ämtern zurück und hatte festgestellt, dass sich die meisten Dinge durch reine Ignoranz lösen ließen. »Wilson«, sagte er mit ruhiger Stimme, »Sie bleiben die nächsten drei Tage zu Hause. Das ist ein Befehl. Danach sehen wir weiter. Trinken Sie erst mal... Nein, besser nicht.« McDuff winkte in Richtung Bar und orderte einen Pott schwarzen Kaffee. Wilson war zu erschöpft, dem Chief zuzuhören. In seinem inneren Universum bildete sich der unumstößliche Plan, mit dem Bösen in Gestalt der Swansons aufzuräumen. McDuff beobachtete seinen Untergebenen aus halb geschlossenen Augen und las dessen Gedanken vom Gesicht ab. Was er sah, erfüllte ihn mit leichter Besorgnis, allerdings kannte er Wilson seit dessen Geburt. Es wird schon alles gut, sagte er zu sich selbst, als der Wirt mit dem Kaffee kam und ihm auf die Schulter klopfte. »Heute Abend hinten im kleinen Raum. Der ganze Club soll kommen«, flüsterte er. »Heute? Wir haben Dienstag. In zwei Tagen treffen wir uns sowieso.« »Die Meisterschaften sind in zwei Wochen.« »So bald?« Wilson schreckte hoch. »Wassnlos?« »Nichts, nichts. Die Meisterschaften sind in zwei Wochen. Hatte ich total vergessen. Ganz sicher in zwei Wochen?« fragte Murdok. »Ganz sicher. Vielleicht schon früher.« »Mist.« McDuff trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Ich muss los. Also Wilson: lassen Sie die Finger von den Swansons!« Wilson richtete einen Alkohol vernebelten Blick auf den davon eilenden McDuff. »Blöder Brigdeclub«, murmelte er. Dann kippte er nach vorn und schlief ein.
Marx drehte die Heizung noch höher, obwohl ihm bereits der Schweiß auf der Stirn stand. Seit geraumer Zeit erhöhte er unauffällig die Temperatur – seine Sorge galt dabei weniger seinem Wohlbefinden als dem einiger Pflanzen, die er kurz vor der Abfahrt unter dem Sitz versteckt hatte und die es warm und normalerweise auch hell bevorzugten. Und die ihm selbst in einem Kaff wie Borough ein farbenfrohes, unbeschwertes Leben bescheren sollten. Trotz aller Vorbehalte gegen diesen Umzug: Marx hatte die Pläne ihres neuen Domizils studiert und seine Vorteile erkannt. Es gab abgelegene Räume, in denen er seinem Hobby ungestört nachgehen könnte. Davon ausgehend, dass es mit der Polizei in diesem Winkel nicht weit her sein konnte und die sicherlich noch unverdorbene Dorfjugend ein lukratives Kundenpotential bildete, plante er, sich seiner botanischen Leidenschaft in großem Stil zu widmen. Seine Hand wanderte wieder zum Heizungsregler. »Das hält ja keine Sau aus!« teilte Harold der Welt mit und kurbelte das Seitenfenster runter. Sofort begann Marx zu keuchen. »Zugluft!« krächzte er. Harold überhörte ihn. Marx Keuchen übertönte langsam den altersschwachen Diesel. »Das Fenster! Kann mal jemand das Fenster zumachen?« röchelte er. »Wage es bloß nicht«, knurrte Harold, als Marx an ihm vorbei zur Fensterkurbel langte. »Die Zugluft ist tödlich für mich«, schnauzte Marx. »Ich bin erkältet! Und es gibt garantiert keinen vernünftigen Arzt in diesem Nest.« »Einen Aderlass wird er noch hinkriegen. Lutetia, gib deinem Bruder einen Schal von hinten.« Harold hatte gerade ein Schild entdeckt, auf dem die Entfernung nach Borough mit einhundertzwölf Meilen angegeben wurde, was seine Laune erheblich verbessert hatte. Schließlich war einhundertzwölf genau vier Mal achtundzwanzig und achtundzwanzig eine perfekte Zahl – das heißt die Summe ihrer Teiler. Der Gedanke an eine perfekte Zahl machte ihn glücklich2. Er ließ ihn von einem perfekten Leben und einer perfekten Welt träumen. Wobei eine perfekte Welt eine wäre, in der ihn nicht alle für wunderlich halten würden. »...als ob es jemanden kümmern würde, wenn ich abkratze«, bekam er noch mit. »Die Pflanzen wahrscheinlich.« Marx fuhr herum und begegnete dem unergründlichen Blick Lutetias. »Was hast du gesagt, Lutetia?« fragte Harold. »Nichts«, antwortete Marx schnell. »Tagträume oder so was. Nichts Wichtiges.« Er drehte sich zu seiner Schwester um, die wieder aus dem Fenster sah. Na warte. Harold hatte inzwischen die Heizung herunter gedreht und das Fenster geschlossen. Marx verzichtete auf weitere Kommentare und dachte darüber nach, was seine Schwester wissen könnte.
Als der Pub noch John Smiths Großvater Peter Smith gehört hatte, war der kleine Raum sorgfältig hinter Wandpaneelen verborgen und ließ sich nur durch Druck auf bestimmte Astlöcher öffnen. Zugang hatte nur, wer das Codewort kannte und den vierstelligen Mindesteinsatz bar vorweisen konnte. In dem fensterlosen Raum hing die einzige Lampe so tief, dass sie nur den Tisch erleuchtete und die daran sitzenden Personen im Dunkeln ließ, die sich in dicke Qualmwolken einnebelten und mit verstellten Stimmen ihre Einsätze bekannt gaben. Auf diese Weise hatte Großvater Smith genug Geld zusammen gescharrt, um seinem Sohn Malcolm ein besseres Leben zu ermöglichen – was ein Jurastudium gegen den Willen des Jungen einschloss. Der zeigte ihn nach erfolgreichem Abschluss wegen Betriebs eines nicht lizenzierten Casinos an. Mit seinem Wissen sorgte er dafür, dass Peter Smith den Rest seines Lebens hinter Gittern verbrachte; seine juristischen Fachkenntnisse halfen ihm, den Gewinn aus Schmuggel, Glücksspiel und einigen anderen Aktivitäten legal zu erben und bis zu seinem Herzinfarkt ein angenehmes Leben zu führen. John genoss immer noch einen großen Teil des großväterlichen Reichtums und betrieb den Pub mehr aus traditionellen Gründen. Diese Tradition veranlasste ihn auch, die Drinks mit etwas mehr Wasser als Alkohol zu mischen und den Verbrauch professioneller Stammtrinker großzügig nach oben abzuschätzen. Ebenfalls aus Tradition hatte der den Betrieb des kleinen Raumes aufrecht erhalten. Nur war er auf die Bedürfnisse einer neuen Klientel angepasst worden. Die zweiundsiebzigjährige Mrs. Wilson hatte auf einem Panoramafenster mit Blumen bestanden. Smith hatte nur mit den Schultern gezuckt und ein Fenster eingebaut, welches den Ausblick auf den zwei mal zwei Meter großen Innenhof freigab. Da sich normale Pflanzen mangels Sonnenlicht nicht lange hielten, hatte er die Blumen nach und nach durch Plastikgewächse ersetzt, was niemand zu stören oder zu bemerken schien. Barrabas Homestetter, ausgedienter Opernsänger und Richter, hatte auf ausreichende Beleuchtung gedrängt. Die Ära Murdok McDuffs als Feuerwehrchef hatte dem kleinen Raum einen Rauchmelder eingebracht, der schon einen hitzigen Streit durch die Sprinkleranlage abkühlte. Im Laufe der Jahre waren weitere persönliche Verbesserungen dazugekommen, wobei Mrs. Wilsons Deckchen wohl am auffälligsten waren, die alle horizontalen und einige der vertikalen Flächen bedeckten. Als Murdok McDuff eintraf, war der Bridgeclub bereits vollständig versammelt. Seine Mitglieder saßen in den üblichen Viererteams an den Tischen, die Karten vor sich ausgebreitet. Aber niemand spielte. Die Karten lagen genauso da, wie sie seit zwei, drei Wochen oder Jahren lagen. In diesem Raum hatte – soweit Murdok sich erinnern konnte – noch nie jemand Bridge gespielt. Heute wirkten alle bedrückt, selbst das Klappern von Amanda Wilsons Stricknadeln klang deprimiert. Murdok spürte die schuldbeladene Aura in diesem Raum; eine Aura, die seiner Meinung nach jeden Menschen umgab, manche stärker, manche schwächer. Er brauchte nicht lange nach der Quelle zu suchen. Die Jahre hatten Murdok mit einem untrüglichen Instinkt ausgestattet. Die Jahre hatten ihn auch mit etlichen Schwimmringen ausgestattet, einer korrespondierenden Anzahl Kinne und einer rasch größer werdenden Glatze. Seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Wilbur hatte die Natur ein Gebiss aus der Zahnpastawerbung, eine sportlich elegante Figur und ein Vertrauen erweckendes Lächeln geschenkt, jegliches Gewissen dafür eingespart. Eine Tatsache, die Murdok schon früh kennen lernte. Egal, ob die Porzellanballerina – das Lieblingsstück ihrer Mutter – oder das Fenster des Nachbarn, Wilbur brauchte nur strahlend zu lächeln, und einen Schuldigen – meist Murdok – zu präsentieren und alle glaubten ihm. Wilbur nahm sich, was er wollte und ließ seinen Bruder dafür bezahlen. Es dauerte lange, bis Murdok die Vorteile einer Zusammenarbeit erkannte. Murdok brauchte nur noch jemanden zu besorgen, der alles ausbaden musste, während Wilbur die Präsentation übernahm. Seit diese Masche das erste Mal erfolgreich war, ging es mit den Brüdern steil bergauf, zuerst in den weniger hellen Bereichen des Gesetzes, dann – nahezu legalisiert – in der Politik. Murdok überließ Wilbur die offiziellen Posten, deren Hauptaufgabe darin bestand, zu lächeln und zu winken, während er selbst im Hintergrund jemanden suchte, der es ausbaden konnte. Umso überraschter war er, dass Wilbur heute ein Bild des Elends abgab. Die anderen Mitglieder des Clubs sahen ebenfalls nicht glücklich aus, woraus Murdok folgerte, dass sie schon Bescheid wussten. »Was gibt's?« fragte er, nachdem er mehrere Minuten mit seinem Whisky verbracht hatte, ohne dass ihn jemand dabei störte. Wilbur zog scharf Luft ein. »Es war absolut unvorhersehbar. Und in dem Sinne auch nicht meine Schuld.« »Dein idiotischer Bruder hätte sich auf Lächeln und Winken beschränken sollen«, zischte Mrs. Wilson über das Klappern ihrer Stricknadeln hinweg. Murdok hob erstaunt die Augenbrauen. Er hatte die alte Dame nur einmal so wütend erlebt, und das war Jahrzehnte her. Damals gab es Tote. Einen Toten. »Ich bin kein Idiot!« »Was noch zu beweisen wäre«, murmelte Homestetter. »Sag's ihm schon.« Wilbur holte noch einmal Luft. »Du erinnerst dich sicher an die Burg?« Das tat Murdok. In der Tat war es schwer, die Burg zu vergessen, da selbst der berühmte englische Nebel selten dicht genug war, die kleine, aber massive Anlage aus dem Panorama der Stadt verschwinden zu lassen. Einfallende Normannenhorden hatten vor mehr als tausend Jahren ein schützendes Gemäuer notwendig gemacht, welches im Lauf der Zeit wuchs und wucherte wie ein fröhliches Krebsgeschwür, das ab und zu von diversen Eroberern, Feuersbrünsten und Einstürzen zurechtgestutzt wurde. Der letzte Besitzer hatte es zu seinem Alterssitz umbauen lassen und verstarb, als er am Tag des Einzugs über die Schwelle stolperte und sich das Genick brach. Da er keine Erben hatte, war das Gebäude der Stadt zugefallen. Regelmäßige Zuwendungen der Denkmalpflege schützten das Gebäude vor dem Verfall, verschiedene Gerüchte um die genauen Todesumstände des letzten Besitzers vor neuen Bewohnern. Murdok sah Wilbur so an, dass der seine Entlastungsargumente fallenließ. »Nun, diese Burg, du weißt, sie steht nur so rum und dabei ist sie doch so ein erstklassiges Anlageobjekt. Eine Schande, sie nicht zu nutzen.« »Wir nutzen sie«, warf Murdok ein. »Und dabei soll es bleiben. Wir. Und niemand sonst.« Wilbur schluckte. »Rein theoretisch tun wir das auch. Die Burg ist ein erstklassiges Abschreibungsobjekt.« Wilbur knetete seine Finger durch. Murdok konnte sich nicht erinnern, ihn jemals so nervös gesehen zu haben. »Und wo genau liegt das Problem?« Der Satz hätte Diamanten schneiden können. »Nun, Brenda hatte sich Folgendes ausgedacht: Wir verkaufen die Burg an Kapitalgesellschaften, die schreiben ein paar Jahre lang den größten Teil des Kaufpreises ab, danach kaufen wir das Ding zum Restwert zurück. Mehr oder weniger. Ja.« Wilbur schwieg wieder. Murdoks trommelnde Finger klangen wie Gewehrfeuer und hatten die gleiche Wirkung auf Wilbur. »Ein nahezu perfekter Plan, den sich Brenda da ausgedacht hatte«, murmelte er. »Also Brenda, was ist an Ihrem nahezu perfekten Plan schiefgelaufen?« »Nichts«, antwortete die junge Frau im grauen Tweedkostüm, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. »Der Plan ist perfekt. Und es hätte auch diesmal keine Probleme gegeben, wenn Wilbur nicht reingepfuscht hätte.« »Ich habe überhaupt nicht...« »Schnauze Wilbur! Also, was ist passiert? Und bitte leicht verständlich und ohne Ausflüchte, ich verliere langsam die Geduld.« Brenda Stetson zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, wir verkaufen die Burg, der Käufer schreibt seine Steuern ab, dann kaufen wir sie zurück. Meistens zum Restpreis, manchmal für weniger. Jedenfalls haben wir die Burg vor drei Jahren an einen Immobilienfonds verkauft und hätten sie dieses Jahr zurück kaufen sollen. Leider hat Wilbur die Verhandlungen übernommen. Er wollte nicht den vereinbarten Restpreis bezahlen, sondern nur die Hälfte. Er meinte, die allgemeine Kassenlage und die Preisentwicklung für Immobilien würden das rechtfertigen, aber die Fondsgesellschaft hat ihn abblitzen lassen. Punkt ist, wir haben die Burg nicht zurückbekommen. Die Fondsgesellschaft hat einen anderen Käufer gefunden.« Murdok brauchte einen Augenblick, um die Worte zu verdauen. Die Clubmitglieder konnten an seiner Gesichtsfarbe ablesen, wie weit die Erkenntnis in ihm reifte. Und sie wussten, wenn sein Gesicht diese krebsrote Farbe hatte, dann brauchte er ein Ablassventil. Ohne sich sichtbar zu bewegen, bildeten die Anwesenden einen möglichst großen Kreis um Wilbur. Er wirkte im Moment so anziehend wie eine Pappel auf einem flachen Feld während eines schweren Gewitters. Smith betrachtete die schalldichte Tür, die er aus gutem Grund hatte einbauen lassen. Die Investition hatte sich gelohnt.
Brenda Stetson schön zu nennen wäre eine Lüge; sie wirkte höchstens auf Besenstielfetischisten attraktiv. Warum gerade sie Wilbur McDuffs Sekretärin war, konnten sich Außenstehende nicht erklären, zumal Wilburs Schwäche für physisch besser ausgestattete Frauen bekannt war. Diejenigen, die mit Brenda zu tun hatten, ahnten, warum sie für die McDuffs unentbehrlich war, aber nur die beiden Brüder schätzten ihre Qualitäten über alles. Wilbur und Murdok hatten in den letzten dreißig Jahren ein riesiges Netz an Firmen, Beziehungen und Beteiligungen aufgebaut, welches jährlich mehr als siebzig Millionen Pfund aus den tiefen und manchmal auch trüben Wassern der Wirtschaft siebte. Und Dank Miss Stetsons einzigartiger Begabung wurde das Finanzamt mit drei Pfund und vierundneunzig Pence am Gewinn beteiligt – für Murdoks Geschmack immer noch zu viel. Als nach einer Viertelstunde noch nicht abzusehen war, dass sich Murdoks Wut demnächst legen würde, griff sie ein. »Was passiert ist, ist passiert. Wir sollten uns um die Schadensbegrenzung kümmern.« Sie war an der Wand stehen geblieben, mit verschränkten Armen und gleichgültigen Blick. Außerdem hatte sie so leise gesprochen, dass sie über Murdoks Wutausbruch kaum zu hören war. Trotzdem schnappte Murdok wütend nach Luft. Und genau so, wie sich eine viertel Tonne wütender Stier von einem lächerlich gekleideten Hänfling erstechen ließ, kapitulierte Murdok vor Stetson. »Um dich kümmere mich noch«, fauchte er Wilbur an. Der versuchte, Stetson einen dankbaren Blick zuzuwerfen, aber sie ignorierte ihn. »Soviel wir wissen, ist der Käufer ein Immobilienmakler, der exklusive Villen und Wohnungen aufkauft, um sie an exklusive Kunden zu vermieten.« Das Klappern der Stricknadeln verstummte einen Moment. »Was heißt exklusiv in diesem Zusammenhang?« fragte Amanda. »Leute mit Geld«, antwortete Smith. »Oder nicht?« »Ich wusste es! Leute mit Geld. Die wir ausnehmen könn...« »Schnauze, Wilbur!« fuhr Murdok ihn an. »Also, sind es Leute mit Geld?« Stetson zuckte mit den Schultern. »Soviel ich weiß, vermietet er auch an Künstler und Intellektuelle. Und er ist tatsächlich nicht billig.« Murdok schwieg einen Moment. »Also könnte es eine Weile dauern, bis jemand in die Burg einzieht?« Stetson schüttelte den Kopf. »Nein. Die Burg ist bereits vermietet. Unser hochverehrter Bevölkerungszuwachs dürfte schon auf dem Weg sein.« »Verdammt!« Dumpfes Schweigen breitete sich aus, während jeder sich die Schrecken der Zukunft ausmalte. »Machen wir uns nicht völlig umsonst Sorgen? Sie müssen ja nichts rauskriegen«, unterbrach Wilbur und fing sich eine Kopfnuss von Amanda ein. »Du bist und bleibst ein Trottel! Verschwindet der Steuerprüfer, wenn du die Augen zumachst? Also was ist, wenn die ihn finden?« Ein Stöhnen ging durch den Raum. Diese Frage hatten alle gefürchtet. Murdok blies die Backen auf. »Zuerst werden sie zu mir kommen. Ich denke, ich kann das Gröbste abwenden.« »Und wie?« Murdok zuckte mit den Schultern. »Ich lasse mir was einfallen. Sollen sie erst mal kommen. Vielleicht merken die ja wirklich nichts.« Aber diese Hoffnung hegte niemand wirklich. Nicht mal er selbst.
Familie Stubbs erreichte ihr Ziel um zwei Uhr morgens in einer Stimmung, die die Hölle als einen angenehmen Ort erscheinen ließ. Schuld daran trugen ein Traktor und ein Milchwagen, respektive deren Fahrer. Während der Stubbsche Familienwagen mit dem Tempo einer gehbehinderten Schildkröte zwischen den beiden Fahrzeugen dahin kroch, war die Atmosphäre merklich abgekühlt. Harold hatte vermutet, dass es nicht schlimmer werden konnte, als das Gefährt vor ihnen seinen Geist aufgab und die Wahl darin bestand, zu warten, bis der Fahrer den Schrotthaufen repariert hatte oder die letzten vierzig Kilometer im Rückwärtsgang zurückzufahren und eine andere Strecke zu wählen. Die Entscheidung wurde ihnen vom Fahrer des Milchwagens abgenommen, der sich weigerte, den Rückweg freizumachen.
Als sie nach sechzehn Stunden Fahrt endlich ihr Ziel erreichten, klappte Marx' Kinn nach unten. »Das soll unser Märchenschloss sein?« »Eine faszinierende Burg. Sie stammt aus dem neunten Jahrhundert«, sagte Harold. »Und gammelt seitdem vor sich hin, oder?« Harold hätte gern etwas Passendes gesagt, über das neue Heim, über einen Neuanfang, dass die Familie zusammenhalten muss und dass jetzt alles anders, möglicherweise sogar besser wird. Er wurde von Marx unterbrochen, der ohne abzuwarten auf die Tür zugestrebt war. »Der Schlüssel!« bellte er. »Ich hoffe, die haben hier Heizung und fließend Wasser eingebaut. Strom würde an ein Wunder grenzen.« Harold seufzte. »Keinen Sinn für die Bedeutung des Augenblicks«, murmelte er. Lutetia stand neben ihm. Sie hatte andächtig die Hände gefaltet und sah zum Burgturm hinauf. »Zauberhaft!« sagte sie. Ihr bleiches Gesicht leuchtete im Mondlicht und hob sich von dem schwarzen Samt ab, der ihren Kleiderschrank füllte. Harold hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen, vor über fünfundzwanzig Jahren, als er ihre Mutter traf und sie im jugendlichen Leichtsinn geheiratet hatte. Lutetia hatte das Aussehen ihrer Mutter geerbt – und seinen Intellekt. Mit anderen Worten, die vollkommene Frau. Der man nicht ansah, dass sie wegen schwerer Körperverletzung in drei Jahren von vier Colleges geflogen war. »Wo ist der Schlüssel?« wiederholte Marx energischer. Harold erwachte aus seinen Erinnerungen und klopfte sich die Taschen ab. »Ich muss ihn hier haben... nein, da ist er nicht, vielleicht hier? Auch nicht. Ah ja – da!« Harold hielt den Schlüssel triumphierend in die Höhe, aber erntete nur den eisigen Blick seines Sohnes. Das Türschloss war das modernste Stück an der ganzen Burg. Es ließ sich ohne Probleme öffnen – das verklemmte Tor nicht. Das Gebäude war überraschend gut gesichert, wenn man bedachte, dass es sich mehr oder weniger um eine Ruine handelte. »Ich werde wohl ein ernstes Wort mit dem Vermieter reden müssen«, bemerkte Harold. »Er hat mir versichert, dass das Haus auf dem neusten Stand und frisch renoviert ist.« »Du hast einem Makler geglaubt?« Marx' Blick sprach Bände. Das Tor gab einigen entschlossenen Tritten schließlich nach. Lutetia fand den altmodischen Drehschalter und betätigte ihn, worauf eine einsame zwanzig Watt Birne die Dunkelheit in eine Ansammlung trügerischer Schatten verwandelte. Eine in ihrer Ruhe gestörte Ratte huschte durch die Eingangshalle und verschwand in der dahinter liegenden Schwärze. Harold klatschte in die Hände. »Lasst uns unser neues Heim erkunden!« Marx und Lutetia drehten sich zu ihrem Vater, in dessen Stimme eine Begeisterung lag, die bei dem vor ihnen liegenden Anblick pervers zu nennen war. »Dieses Loch...« Harold hörte gar nicht zu, sondern strebte zu den Türen auf der gegenüber liegenden Seite der Eingangshalle. Er war entschlossen, sich durch die Umstände und vor allem nicht durch seine Kinder die Erfüllung seines Traumes vermiesen zu lassen. Die Geschwister sahen sich an. Marx ließ seinen Zeigefinger über die Schläfe kreisen. »Es sieht doch gar nicht so schlecht aus«, drang Harolds Stimme gedämpft aus der Ferne. »Ein wenig staubig«, sagte er, als er wieder in der Halle auftauchte, »aber die Möbel sind abgedeckt. Ich könnte sofort anfangen, die Sachen auszupacken während ihr hier saubermacht.« Ein Blick auf seine Kinder ließ seinen Enthusiasmus schlagartig verschwinden. »Oder wir sollten die Schlafzimmer suchen. Morgen sieht die Sache schon viel besser aus.« »Niemals«, brummte Marx.
Eine Stunde später schlich eine Gestalt zum Wagen und kehrte mit Blumentöpfen beladen in die Burg zurück. Ebenso wie die Stubbsche Ankunft, wurde auch das von wachsamen Augen beobachtet.
1 Montags nicht mal dadurch.
2 Harold war einfach zufriedenzustellen
Kapitel 2
»Exzentrisch. Das könnte man wohl sagen.« Der Ton, mit dem Amanda Wilson exzentrisch aussprach, deutete auf geistig minderbemittelt hin. Es war neun Uhr morgens und damit noch weit vor Murdoks üblicher Zeit. Aber das nicht enden wollende Läuten des Telefons hatte ihn geweckt und er war auf Amandas Bitte1 zu ihr gekommen, wo er immer noch halb betäubt zum nächsten Sessel geschoben wurde. Es gab Tee mit Schuss – was Murdok etwas versöhnte – und die Neuigkeiten vom Bezug der Burg. »Um Zwei? Was machst du mitten in der Nacht draußen?« »Ein Spaziergang. Ich konnte nicht schlafen. Eine Stunde später schleicht sich jemand zu ihrem Auto und holt was raus. Hat nicht mal Licht gemacht.« »Eine Stunde hier und die Karre ausgeräumt. Muss ein neuer Rekord sein.« Erst dann klickte es bei Murdok. »Du bist eine Stunde vor der Burg rumgelaufen?« »Ich denke nicht, dass es ein Dieb war. Ich habe die Schlüssel gehört.« »Hast du jemanden erkannt? Oder was er reingeschleppt hat?« »Nein, es war ein bisschen undeutlich«, murmelte Amanda. Sie ließ die Bilder der letzten Nacht noch einmal vor ihrem Auge vorbeiziehen. »Ich kann unter dem Nachtsichtgerät meine Brille nicht tragen.« Murdok prustete seinen Tee in die Tasse zurück. »Nachtsichtgerät? Zwei Uhr morgens mit einem Nachtsichtgerät? Was um Himmels Willen machst du da?« »Ich will nicht stolpern. Die Fußwege sind in einem miesen Zustand. Das Komitee für sichere Bürgersteige sollte mal bei dir vorsprechen.« »Das kenne ich gar nicht.« »Keine Angst, das kommt noch.« »Du bist nicht zufällig die Vorsitzende? Was soll's, wenn es mir den Besuch des Vereins Keine Grausamkeit Gegen Herrenlose Hunde erspart...« »Ich denke eher, dass sich diese Kräfte vereinen.« Amanda Wilson führte ein reges gesellschaftliches Leben. Das hatte ihr die Mitgliedschaft – und auf Grund ihrer Persönlichkeit meist auch den Vorsitz – in einer unüberschaubaren Vielzahl von Vereinen, Komitees und Gruppen eingebracht, so dass sie jede erdenkliche Facette des sozialen Lebens in Borough repräsentierte. Sich mit ihr anzulegen, kam einer gesellschaftlichen Ächtung gleich. Vorsichtig versuchte Murdok, ein anderes Thema anzuschneiden. »Wir sollten diese Leute erstmal kennenlernen...« »Du könntest einen Antrittsbesuch machen. Sie in der glücklichen Gemeinschaft der Bürger von Borough begrüßen.« Murdok runzelte die Stirn. »Klingt nach Kitschroman.« Amanda zuckte mit den Schultern. »Es würde dem Bild eines idyllischen Städtchens entsprechen. Nimm deinen Bruder mit. Aber er soll nur über das Wetter reden und lächeln.« Sie überlegte kurz. »Nur lächeln wäre besser.« »Und vielleicht könnte ein harmlos aussehendes, älteres Mütterchen an ihre Tür klopfen und um eine milde Gabe für irgendeine kirchliche Sache bitten.« Murdoks Lächeln wurde von Mrs. Wilsons eisigem Blick geschreddert. »Mit dem harmlosen alten Mütterchen habe ich nicht dich gemeint.« »Ich fühlte mich auch nicht angesprochen.« Murdok wusste, dass er bei Gelegenheit diese Äußerung bereuen würde. »Andererseits könnte die Vorsitzende der Historischen Gesellschaft Boroughs die neuen Burgbewohner in die Geschichte dieses außergewöhnlichen Bauwerkes einführen. Dabei ein kleines Schwätzchen«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Murdok. Der klopfte sich mit dem Fingernagel an die Zähne. »Wir wollen sie doch nicht überfordern«, warf er ein, aber Amanda wischte seinen Einwand mit einer Handbewegung weg. Ihr war eine Idee gekommen. »Niemand fühlt sich von einer harmlosen alten Dame überfordert.« Murdok versuchte, sich Amanda als harmlose alte Dame vorzustellen. Er konnte sehen, dass Amanda etwas plante und wusste, dass es sinnlos war, es ihr ausreden zu wollen. Und dass es gefährlich wäre, ihr im Weg zu stehen. In seinem Geschäftsleben war er mit einigen zwielichtigen Gestalten zusammengetroffen. Angst hatte er dabei nicht gehabt. Er hatte vor überhaupt nichts mehr Angst. Denn im Vergleich zu Mrs. Wilson war der Rest der Welt harmlos. Aber sie hatte eine Schwachstelle. »Dein Sohn hat vor, sich mit den Swansons anzulegen. Vielleicht nimmt er ja mütterlichen Rat an, auf mich scheint er nicht zu hören.« »Haben die zwei ihn wieder versohlt? Der Junge sollte wirklich lernen sich durchzusetzen.« Sie gab Murdok einen Wink. »Ich kümmere mich drum. Du kannst jetzt gehen.« Sofort verließ Murdok das Haus. Seine Geschwindigkeit dabei rechtfertigte das Wort Flucht.
Zur selben Zeit klappte Marx Stubbs die Augen auf. Entgegen seiner Hoffnung entpuppten sich der Umzug und die Burg nicht als Albtraum, sondern als nackte und äußerst kalte Realität. Der Griff an die Heizung bestätigte seine Befürchtungen über den Zustand der Anlage. »Verflucht!« murmelte er und kniete sich auf den Boden, um die Pflanzen zu begutachten, die er unter dem Bett versteckt hatte. Einige Blätter neigten sich Besorgnis erregend weit nach unten. Marx verabreichte ihnen Wasser und eine exakt bemessene Dosis Spezialdünger. Erst dann zog er sich selbst an und ging auf die Suche nach etwas Essbarem. Marx fand den Rest der Familie in einem Raum, der wie eine mittelalterliche Küche aussah. Diese wurde von einem riesigen Kamin beherrscht, der – nach dem Rußbelag auf Wand und Decke zu urteilen – jahrhundertelang mit feuchtem Holz und Autoreifen gefeuert worden war und auf dessen Drehspieß ohne weiteres Stier am Stück gegrillt werden konnte. Ein elektrischer Herd – nach dem Design ein Relikt der frühen Sechziger – stand an der anderen Wand, eingefasst zwischen einem gemauerten Wasserbecken und einer steinernen Arbeitsfläche. Dort stand einsam der einzig moderne Gegenstand des Raumes: die Kaffeemaschine, die Harold auf Anweisung seiner Tochter aus dem Wagen geholt hatte. Eine teerähnliche Flüssigkeit tropfte in die Kanne – Lutetia bevorzugte nicht nur schwarze Kleidung. Der große Tisch in der Mitte des Raumes war kein Esstisch – die braune Patina stammte von der Verarbeitung frischen Schlachtfleisches. Lutetia und Harold saßen bereits an den Stirnseiten; Harold hielt seine Tasse in beiden Händen und blickte ins Leere. »Die Heizung funktioniert nicht und es ist schweinekalt.« »Einen schönen guten Morgen.« Marx nahm sich Kaffee und setzte sich ohne ein weiteres Wort an den Tisch. Es folgten Minuten des Schweigens, die Harold abrupt beendete. »Ihr seht schon: im Nu fühlen wir uns hier heimisch! Dieses Haus hat doch einen ganz eigenwilligen Charme!« Dabei schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. Einige lose Partikel der Deckenbemalung folgten dem Ruf der Schwerkraft. »Etwas von diesem erwähnten Charme ist gerade in meinen Kaffee gebröckelt«, sagte Marx. »Dieses Gemäuer braucht eine Generalüberholung. Mit einem Flammenwerfer. Danach könnte man hier was Vernünftiges hin bauen.« »Du siehst es so negativ!« Harolds Zeigefinger wackelte vor Marx' Gesicht, genauso wie es sein Vater damals getan hatte. Er hatte vergessen, wie sehr er das gehasst hatte. Es fiel ihm wieder ein, als er Marx' Miene sah. »Ein bisschen Farbe und hier sieht alles ganz anders aus. Ich habe bereits mit dem Makler gesprochen – er meinte, am besten wir renovieren selbst und er erstattet uns die Materialkosten. Wir können uns hier alles einrichten, wie wir wollen. Ist das nicht toll?« »Natürlich. Er spart sich die Kohle für die Handwerker und wir rackern uns dumm und dämlich. Ich mach hier keinen Handschlag.« Mit zusammengebissenen Zähnen zählte Harold bis zehn. Sein Sohn erforderte alles, was er an Geduld aufbringen konnte. Andererseits standen ihm keine nennenswerten Optionen zur Verfügung – Harolds körperliche Verfassung war nach Jahrzehnten des Akademikerlebens und der gesunden2 Ernährung, die er seiner Frau verdankte, kaum in der Lage, die logistischen Aspekte des Wocheneinkaufs zu bewältigen. Marx hingegen hatte Zeit und Gelegenheit genutzt, um ungesunde aber Masse aufbauende Fleischnahrung in sich hineinzustopfen. »Wir sind doch eine Familie«, presste Harold schließlich durch die Zähne. »Wir halten zusammen! Einer für alle, alle für einen, nicht wahr?« Die ausgestreckte Hand war ein Fehler, stellte er fest. Im Film würden alle einschlagen und eine Art Pakt besiegeln. Stattdessen setzte Lutetia einen Im-Prinzip-Hast-Du-Recht,-Aber-Ich-Bin-Zu-Alt-Für-Diesen-Quatsch- Blick auf und Marx sah ihn an, als wäre er übergeschnappt. Einige Sekunden später zog er die Hand zurück. Und änderte seine Taktik »Wie dem auch sei. Solange ich für eure Unterkunft und Verpflegung bezahle, tut ihr, was ich sage. Marx – du findest raus, wo es hier Farbe gibt, holst zwei Eimer und streichst die Küche. Und zwar bis heute Abend! Verstanden!« Marx' Kinn klappte nach unten. Er wollte etwas sagen, aber ein gezielter Schlag in seine Nieren hielt ihn zurück. »Tu was er sagt«, raunte Lutetia in sein Ohr. »Sonst gibt er nie Ruhe.« »Und du« – Harold richtete seinen Zeigefinger wie eine Speerspitze auf Lutetia - »Die Möbel müssen abgedeckt und poliert werden. Alle Zimmer müssen gekehrt und gewischt...« Lutetias Miene zeichnete sich durch einen Ausdruck mangelnder Aufmerksamkeit aus, der Harold zur Raserei brachte. »Wir bekommen Besuch«, sagte sie, stand auf und öffnete das Burgtor.
»Oh mein Gott! Ist ihnen schlecht? Soll ich einen Arzt holen?« Lutetia lächelte kurz und vollkommen humorlos, wie jemand, der einen schlechten Witz zu oft gehört hat. Sie betrachtete die beiden Männer vor der Tür. Der eine war fett, hatte eine beginnende Glatze, stank nach Schweiß und hatte kein Gefühl für Eleganz. Der andere war schlank, hatte seine Haare grau meliert und trug einen Anzug, der mehr kostete, als ein ehrlicher Angestellter verdiente. Dazu grinste er konzentriert. Harold hielt noch seine Serviette in der Hand, als er aus der Küche kam. »Wer sind die Herren, mein Liebling?« Harolds Stimme verriet nichts von seinem Ausbruch. Lutetia warf einen prüfenden Blick auf die Besucher. »Dick und Doof. Ich glaube, sie wollen zu dir.« Harold lächelte irritiert, als er die Bemerkung seiner Tochter verarbeitete. Murdok trat am abgelenkten Harold vorbei in die Eingangshalle. Er setzte eine Miene auf, die weltmännisch offen sein sollte. »Guten Tag, ich bin Murdok McDuff und das ist mein Bruder Wilbur. Wir heißen Sie und Ihre Familie in Borough herzlich willkommen.« Dann lächelte er so strahlend wie falsch. Harold, der nur theoretische Erfahrung im Umgang mit Menschen hatte, war hoch erfreut. »Ist das nicht nett? Der Charme des Landlebens, stimmt es nicht, Lutetia? Hier kümmert man sich umeinander!« Harold drehte sich um, aber seine Tochter war verschwunden. »Sie ist ein wenig schüchtern. Aber kommen Sie doch herein. Ich fürchte, die Küche ist der einzige hergerichtete Raum. Wir sind erst heute Morgen angekommen.« »Aber machen Sie sich unseretwegen keine Umstände«, antwortete Murdok anstandshalber. Harold hatte sich schon umgedreht und war vorangegangen. »Widerliche Göre!« zischte Wilbur kaum hörbar. »Wieso?« erwiderte Murdok ebenso leise. »Ein wenig forsch, die Kleine und eine gute Beobachtungsgabe. Ich habe tatsächlich ein oder zwei Pfund zugelegt – und nicht vergessen: Wetter und lächeln!« »Ich möchte Ihnen meinen Sohn vorstellen... oh, er ist auch nicht da«, stellte Harold fest, als er in die Küche kam. Marx hatte sich verdrückt, bevor Harold seinen Anweisungen Nachdruck verleihen konnte. »Eine schüchterne Familie«, bemerkte Murdok. »Eigentlich nicht«, antwortete Harold. »Vielleicht ist es das Landleben – sie sind die Anonymität der Großstadt gewohnt.« »Das Landleben. War das der Grund, warum Sie hergezogen sind?« »In der Tat. Ich habe gelesen, dass das Leben auf dem Land gut für die Erziehung der Kinder ist. Sie sind geschützt vor – wie soll ich sagen...« »Der Großstadt?« Ich habe gelesen... Murdok machte sich eine mentale Notiz. »Genau! Die Kriminalität, die schlechten Einflüsse... so was. Davor will ich sie bewahren. Eine Tasse Kaffee?« »Gern«, antwortete Wilbur. Harold hob die Kaffeekanne an. »Sie ist leer«, stellte er fest. »Ich könnte versuchen, frischen zu machen. Allerdings fürchte ich, ich bin nicht sonderlich gut im Umgang mit Küchengeräten.« Wilbur sah zu Murdok und Murdok zu Wilbur. Man hatte natürlich von solchen Menschen gehört, aber nie geglaubt, dass es sie wirklich gibt. Wilbur erbarmte sich schließlich. »Ich mache das. Was sind Sie bloß von Beruf?« »Ich bin Professor für Mathematik. Natürlich habe ich zum Wohl meiner Kinder meinen Lehrstuhl aufgegeben, nachdem meine Frau bedauerlicherweise gestorben war, aber ich denke, ich kann hier meine Forschungen weiterführen. Ich will zukünftigen Generationen etwas hinterlassen, was sie führt und leitet.« Aus Richtung Arbeitsfläche kam ein Geräusch, das ein erstickter Hustenanfall sein konnte. »Entschuldigung«, keuchte Wilbur, »ich muss Kaffeepulver eingeatmet haben.« Einige unbeschäftigte Gedanken sprühten Idiot an Murdoks geistigen Horizont. »Glauben Sie, dass hier der richtige Ort dafür ist? Brauchen Sie nicht eine Universität, wo Sie forschen können?« Harold lächelte milde. Er fühlte sich wie ein Mann, der nach einer langen Reise in einem fremden, verwirrenden Land endlich heimatlichen Boden unter die Füße bekam. »Nun, das ist bei vielen Fächern der Fall. Aber die Mathematik findet im Kopf statt« – dabei tippte er sich an den eigenen – »und davon habe ich genug, um selbst in einer trostlosen Einöde keine Probleme zu bekommen!« Murdoks Gedanken formten jetzt ein anderes Wort: es begann mit einem A und war wesentlich länger. Harold interpretierte das versteinerte Lächeln falsch und redete weiter. »Sehen Sie, Mathematik braucht weder teure Versuchsanlagen, materialaufwendige Experimente oder eine Menge Leute, die alles diskutieren müssen. Mathematik braucht lediglich brillante Köpfe. Deshalb ist sie auch die Königin der Wissenschaften, der ich mich ganz und gar verschrieben habe.« Wahrscheinlich brauchte die Königin einen Hofnarren. Wilbur unterbrach Harold, bevor dieser fortfahren konnte. »Der Kaffee ist fertig. Haben Sie die Burg für länger gemietet?« Murdok warf Wilbur einen warnenden Blick zu. Harold sah misstrauisch auf. »Sollte ich etwa nicht?« »Doch, doch! Wir dachten nur – die Umstellung vom Leben in der Großstadt mit seinen intellektuellen Reizen zum ländlichen Leben – wir befürchteten, Sie würden nur... eine Probezeit einlegen.« »Nein, das habe ich nicht vor«, sagte Harold. Die Schärfe in seiner Stimme hatte zugelegt. »Meine Entscheidungen sind gut durchdacht und endgültig.« »Zweifellos. Sie sollten meinen Bruder nicht missverstehen – er redet sonst nur über das Wetter. Wir möchten natürlich, dass Sie sich so schnell wie möglich einleben!« »Ich denke nicht, dass ich Probleme habe«, sagte Harold und lehnte sich zurück. »Aber die Kinder. Ein Ortswechsel kann junge, ungefestigte Menschen leicht aus der Bahn werfen.« Murdoks müßige Gedanken buchstabierten Volltrottel. Seine eigenen Vorstellungen von jungen, ungefestigten Menschen wiesen in die Richtung von gemeingefährlichen Bastarden, die man vorbeugend einsperren sollte. »Sollte es Probleme geben«, sagte Murdok und stand auf, »zögern Sie nicht, sich an uns zu wenden. Jetzt wollen wir Sie nicht länger aufhalten.« Harold war in Gedanken versunken. »Es gibt da tatsächlich etwas. Meine Arbeit lässt mir kaum Zeit und die Kinder... Sie kennen nicht zufällig eine gute Haushälterin, die einen Job braucht?« »Ich werde sehen, ob mir jemand einfällt.« »Danke, das wäre hilfreich.« In diesem Moment schlug sich Murdok vor den Kopf, als wäre ihm gerade etwas Wichtiges eingefallen. »Übrigens – der Vermieter sollte es Ihnen gesagt haben, aber wir wissen ja, wie Vermieter so sind. Vergessen die wichtigsten Sachen, bis der Vertrag unterschrieben ist.« Harold nickte zustimmend, nicht weil er dieses Verhalten kannte, sondern weil er das Gefühl hatte, als Mann von Welt diese Tatsache kennen zu müssen. »Die Kellergewölbe sind heimtückisch. Baulich ist nichts dran auszusetzen«, sagte er schnell, als er Harolds Gesichtsausdruck sah, »aber es gibt da kaum Licht und der Grundwasserspiegel ist hoch, na ja, es sollte eben besser keiner runtergehen. Es ist mehr eine Legende, aber da unten soll sich mal ein Kind verirrt haben und im Schlamm stecken geblieben sein. Leider hat man es nicht mehr rechtzeitig gefunden...« Die Pause ließ genug Zeit, um sich vorzustellen, wozu man es nicht mehr rechtzeitig finden konnte. »Aber das ist nur eine Legende.« Murdoks Lächeln erschien und teilte die Hautmassen zwischen Nase und Kinn wie einst Moses das Rote Meer. »Man muss es ja nicht herausfordern«, murmelte Harold. »Genau. Aber wir haben Sie lange genug aufgehalten – sicher haben Sie eine Menge zu tun.« Murdok reichte Harold die Hand, drehte sich um und erschrak. Ohne ein Geräusch war Lutetia aufgetaucht und stand hinter ihm. »Sie sind eine bemerkenswert leise Person«, brachte er hervor, nachdem sein Puls wieder unter zweihundert lag. »Ich wüsste nicht, dass das verboten wäre.« »Ist es auch nicht. Es kann jemanden nur einen mörderischen Schrecken einjagen.« »Nur solchen, die etwas zu verbergen haben. Was ist mit Ihrem Bruder los? Er sieht aus, als wäre ihm unwohl – soll ich einen Arzt holen?« Ohne die Antwort abzuwarten, drehte sich Lutetia um und verschwand in einem der hinteren Räume, wo sie offensichtlich damit beschäftigt war, Ordnung zu schaffen. Murdok hatte sich zu Wilbur gedreht. Der lächelte blass und angestrengt. Harold war in der Küche geblieben. »Wir sollten jetzt gehen«, stellte Murdok fest. Leise murmelte er: »Seltsame Familie.«
Wilbur atmete erst auf, nachdem sie außerhalb der Hörweite waren. »Na endlich«, zischte Murdok. »Dein blödes Grinsen ist eine Zumutung!« »Wer hat gesagt: Lächeln und Wetter? Als wäre ich ein Idiot.« Murdok war in Gedanken versunken und ignorierte seinen Bruder. Der ging noch einmal das Gespräch durch. »Die Legende von dem Kind...du bist damals nicht im Schlamm stecken geblieben! Die Tür war zugefallen.« »Jemand hatte einen Keil drunter geschoben.« »Aber man hat dich rechtzeitig gefunden.« »Nicht rechtzeitig zum Abendessen. Und du weißt, dass unser alter Herr eine lockere Hand hatte.« »Erstaunlich«, sinnierte Wilbur. »Du hast die Wahrheit gesagt.« Murdok schnaubte verächtlich. »Natürlich! Was sich die Leute denken geht mich nichts an!« »Du sorgst nur dafür, dass sie was zu denken haben.« »Genau.«
Lutetia war keineswegs weltfremd, obwohl viele den Fehler machten, sie dafür zu halten. In Wirklichkeit hatte ihre genetische Veranlagung sie mit einem Verstand und einer Wahrnehmung ausgestattet, der die Realität nicht nur registrierte, sondern sezierte. Lutetia sah Details, die niemand sonst bemerkte. Sie betrachtete die Welt durch ein Mikroskop. Nein, Lutetia war nicht weltfremd. Sie sah die Realität nur realer als die meisten. Und sie hatte früh festgestellt, dass ihr nicht gefiel, was sie sah – worauf sie begann, sich in ihrem Kopf eine eigene Welt zu schaffen. Im Normalfall ließ Lutetia diese Welt nicht von der Realität beeinflussen und schaltete auf Automatik. Derzeit waren ihre Hände damit beschäftigt, Laken von verhüllten Möbeln abzuziehen, zusammenzufalten und auf einem exakt ausgerichteten Stapel aufzuschichten. Da Hausarbeit auf den Rest ihrer Familie dieselbe Wirkung hatte wie ein übel gelauntes Stinktier auf die Kunden einer Douglas-Filiale3, benutzte sie diesen Vorwand, um Zeit für sich zu haben. Ärgerlicherweise ließ die Realität sie nicht in Ruhe, sondern kratzte an ihren Schutzwänden wie ein Hund, der dringend Gassi muss. Etwas an den zwei Männern stimmte nicht. Nichts von dem, was sie gesagt oder getan hatten, war falsch – nur irgend etwas von dem, was sie nicht gesagt oder getan hatten, erschien ihr seltsam. Sie konnte nur noch nicht sagen was.
Lutetia bezog – wie ihr Vater – den größten Teil ihres Wissens aus Büchern, aber sie machte nicht den Fehler, das geschriebene Wort mit dem wahren Leben zu verwechseln. Statt dessen eliminierte sie alles, was nur der Phantasie von Autoren entsprungen sein konnte, die zu viel Zeit allein in geschlossenen Räumen verbrachten. Es blieb wenig übrig. Ein Antrittsbesuch der Stadtoberen, um neu Zugezogene zu begrüßen – solchen Schwachsinn hielten selbst Schreiber drittklassiger Heimatromane für unter ihrer Würde. Der Dünne hatte einen leichten Schweißfilm auf der Haut gehabt, obwohl es in der Burg kühl war. So etwas geschieht, wenn der Mensch, der in dieser Haut steckte, sich in ihr unwohl fühlt. Der Dicke hatte wahrscheinlich nur wegen seiner Fettschicht geschwitzt. Die Beiden waren zu einem bestimmten Zweck hier. Aber welchem? Lutetia schüttelte den Kopf. Solche Grübeleien waren zwecklos. Sie wandte sich einem Stapel Blätter zu, der neben ihr auf einem Tisch lag und einen interessanten Beweis zu elliptischen Funktionen enthielt. Die Theorie war so kompliziert, dass es nur eine handvoll Mathematiker gab, die sie verstanden. Es war für Lutetia ein Schock gewesen, festzustellen, dass ihr Vater nicht dazu gehörte. Damals war sie sechs Jahre alt.
Während sich Lutetias Gehirn mit einer Präzisionsmaschine auf Hochtouren vergleichen ließ, wäre das Bild, welches Georges geistiger Aktivität entsprach, ein aufgeräumter, blankgeputzter Schreibtisch. Die Oberfläche war stark geneigt, sodass sich nichts auf ihr länger als fünf Sekunden halten konnte – das entsprach genau der Zeitspanne, die ein Gedanke in Georges Gehirn überleben konnte, bevor er über der Kante des Vergessens abkippte. Durch langjähriges, geduldiges Training und einen immer griffbereiten Rohrstock, der eigentlich ein Ausstellungsstück des von ihr geleiteten Heimatmuseums war, hatte ihm seine Mutter eine gewisse Routine beigebracht, an die er sich sieben Jahre nach ihrem Ableben immer noch gewissenhaft hielt. Dazu gehörte es, morgens halb elf die Tür zum Borough Inn mit dem Schlüssel, der an einem Strick hinter der Eingangstür hing und der durch den Briefschlitz zu erreichen war, den Laden zu öffnen, den roten Plastikeimer, der hinter der Theke stand und manchmal die letzte Rettung für Zecher war, die es nicht mehr bis zur Toilette schafften, mit Wasser zu füllen4 und mit dem Schrubber, der hinter der Tür zur Küche hing, den Boden zu wischen. Die folgenden zwei Stunden verbrachte er damit, jedes einzelne Messingteil auf Hochglanz zu polieren. Nachdem er das getan hatte, räumte er das Putzzeug weg und nahm sich aus dem Backofen eine für ihn bereitgestellte Mahlzeit, die den größten Teil seines Lohnes darstellte und meist aus den Resten des gestrigen Abends bestand. Wie üblich aß er alles auf, wusch das benutzte Geschirr ab, nahm sich einen Besen und ging zur hinteren Wand des Gastraumes. Dort drückten seine Finger automatisch in der richtigen Reihenfolge auf die Astlöcher, die geheime Tür öffnete sich und er begann, den Raum zu fegen. George störte es nicht, dass heute noch jemand da war – solange die Anwesenden seinem Besen rechtzeitig auswichen. Brenda Stetson warf ihm einen prüfenden Blick zu und ignorierte ihn dann. Barrabas Homestetter behandelte George von vornherein wie Luft. »Was könnten sie finden?« fragte Brenda. »Nichts. Ehrlich. Nichts was sie beunruhigen müsste. Das war lange vor ihrer Zeit.« Als ihn Stetsons Blick traf, winselte er wie ein Hund, den eine Peitsche getroffen hatte. »Die... die McDuffs hatten ein Versteck da oben«, sagte Homestetter plötzlich, als wäre ihm das gerade eingefallen, »so ähnlich wie das hier. Nun ja, wenn das jemand findet... es könnte dumme Fragen geben. Sie wissen ja, wie das ist.« Stetsons Blick hätte kleinere Lebensformen umgebracht. »Amanda fragte, was wäre, wenn sie ihn finden. Ihn ist eine Person – keine Sache, Homestetter.« Schweißperlen sammelten sich auf Homestetters Stirn und vereinigten sich zu kleinen Bächen auf dem Weg nach unten. Trotzdem versuchte er ein tapferes Lächeln. »Es ist wirklich nichts und eigentlich weiß ich gar nichts darüber. Sie sollten Wilbur fragen. Der ist Ihr Boss und es ist seine Sache.« Homestetters Angst erstaunte Brenda. Der Mann war ein Lebenskünstler, der sich um nichts Sorgen machte – abgesehen vom nächsten Drink und der nächsten Zigarre. Der Ausdruck in seinen Augen aber grenzte an Panik. Was immer er nicht wissen wollte, musste ein großer Brocken sein. Die Tür klickte leise, als George den Raum verließ. Weder Stetson noch Homestetter nahmen Notiz davon.
Zur selben Zeit sah Henry Wilson in den Spiegel. Ihm stand dafür nur ein Auge zur Verfügung – das andere war über Nacht zugeschwollen. Dem Arzt hatte er etwas von einem LKW und Fahrerflucht erzählt – obwohl dessen Grinsen und die Bemerkung, dass er auf einen Raubüberfall durch zwei Schwerverbrecher getippt hatte, Wilson klar machte, dass der Doktor die Wahrheit bedauerlicherweise kannte. Das wiederum ließ vermuten, dass Wilson ab sofort bei jedem Schritt, den er von nun an bis in alle Ewigkeit tun würde, von hämischem Gelächter und Getuschel hinter vorgehaltener Hand begleitet werden würde. Es sei denn, er würde ein Exempel statuieren und beweisen, dass sich niemand ungestraft an Henry Wilson vergreift. Und dass jeder, der es versucht, unbarmherzige Vergeltung zu spüren bekommt. Die Swansons würden es bereuen. Koste es, was es wolle.
Über die Swansons wusste niemand viel. Sie waren vor dreißig Jahren aufgetaucht und seitdem fast ununterbrochen Ortsgespräch gewesen, aber niemand wusste, was sie vorher getrieben hatten, woher das Geld kam, mit dem sie gelegentlich um sich warfen, oder was sie taten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Manchmal verschwanden sie für ein paar Wochen, reisten angeblich durch den Kontinent oder gingen auf Safari – aber niemand hatte das bisher nachgeprüft. Wilson begann nach Schwachstellen zu suchen. Er stellte sich eine Liste der möglichen Informationsquellen auf: Bibliothek. Zeitungsarchiv. Mutter. Seine Mutter. Wilson strich das letzte Wort auf der Liste zweimal durch. Er war sich bewusst, dass seine Mutter ein hohes Ansehen in Boroughs Gesellschaft genoss. Und er war sich ebenfalls bewusst, dass er für sie eine mittlere bis schwere Enttäuschung darstellte. Wilson war sich nicht sicher, was genau sie von ihm erwartet hatte, aber er wusste genau, dass er ihre Erwartungen in keinster Weise erfüllt hatte. Genauso wie Mrs. Wilson auf Grund natürlicher Vorgänge immer dazu tendierte, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen, neigte ihr Sohn dazu, sich an den Rand der Gesellschaft treiben zu lassen. Ohne Amanda Wilsons Intervention wäre Wilson nie bei der Polizei gelandet, was seine Fähigkeiten zwar überstieg, ihn aber vor einem weiteren Abstieg bewahrte. Seit mehreren Jahren bestand ihr Verhältnis aus einem wöchentlichen Besuch und Gesprächen, deren Tiefe über ein Wie geht es dir? und Was macht das Leben? nicht hinausgingen. Andererseits war Mrs. Wilson Mittelpunkt der Gesellschaft von Borough und damit genau die Quelle, die am Erfolg versprechendsten schien. Aber diesmal wollte er es allein schaffen. Seine Hände griffen automatisch nach dem Seidenpapier, das griffbereit unter dem Waschbecken lag. Auch nach Jahrzehnten täglicher Praxis gelang es ihm nicht, sich verletzungsfrei zu rasieren.
»Ein nettes Städtchen«, bemerkte Harold, als er nach Beendigung dessen, was er seine Arbeit nannte, Lutetia fand, die gerade die letzten Laken von den Möbeln gezogen und verstaut hatte. Das Dorf der Verdammten. »Ich hatte gar nicht geglaubt, dass es so was noch gibt.« Der Idiot. »Woran denkst du gerade?« »An Filmklassiker.« »Einfach rührend, wie man sich auf dem Land noch umeinander kümmert.« Lutetia reagierte nicht auf seine Worte. Sie kannte den Tonfall von seinen Vorlesungen, die sie vor ein paar Jahren besucht hatte, um ihren Erzeuger besser kennenzulernen. Ihn jetzt von seinem Kurs abzulenken – oder gar Widerspruch einzulegen, wie es ihr vorschwebte – würde ihn ungenießbar machen. »Ich habe mir die Bibliothek angesehen – einfach fantastisch. Nicht groß, offenbar waren die vorigen Bewohner keine determinierten Leser, aber es sind einige alte, interessante Manuskripte darunter.« Lutetia hatte die Bibliothek ebenfalls in Augenschein genommen – die Manuskripte waren nur alt – aber Harold begann seine Begeisterung über das alte Papier auf den Ort auszudehnen, obwohl er Letzteren noch gar nicht kannte. Kein Familienmitglied hatte seit ihrer Ankunft die Burg verlassen und von der Bevölkerung hatten sie nur die McDuffs kennengelernt – was über die übrigen Bewohner hoffentlich nichts aussagte. Lutetia ignorierte ihren Vater weiterhin und ließ nur ab und zu ein »Wirklich entzückend«, »Das finde ich auch« oder »Zauberhaft« fallen, wenn der Klang seiner Stimme es für angebracht erscheinen ließ. Sie war keinesfalls abgeneigt gegen Borough und das Leben in einer Burg schien ihr für eine Person wie sie selbst durchaus angemessen zu sein – aber sie neigte dazu, sich ihre Meinung erst nach gründlicher Prüfung zu bilden. Während sie in Gedanken versunken war, entging ihr, dass Harold neben ihr stand. Sie bemerkte ihn erst, als er den Arm um ihre Schultern legte. »Was ist los?« fragte Harold. »Meine Güte, du bist ja eiskalt und steif!« Lutetia stand tatsächlich wie versteinert da. »Dein Arm«, sagte sie beherrscht. »Nimm ihn weg.« Harold lächelte unsicher. »Das ist eine Geste liebevoller Verbundenheit zwischen Vater und Tochter.« »Zufällig ist es auch eine Geste sexueller Belästigung zwischen Mann und Frau« kam die Antwort – mehr gezischt als gesprochen. »Aber ich bin dein Vater...« »Ich werde dir einen liebevollen Spruch auf den Gips schreiben.« Lutetia schälte sich aus Harolds Umarmung, der seinen Arm immer noch ausgestreckt hielt, während er die neuen Erkenntnisse über das Verhältnis zu seiner Tochter verarbeitete. »Ich denke, wir brauchen noch einige Kleinigkeiten zum Abendessen. Ich werde einkaufen gehen«, verkündete Lutetia, als sie das Zimmer verließ. Da bestand wenigstens keine Gefahr, dass ihr ein Mitglied der Familie zu nahe kam.
1 Befehl
2 vegetarischen
3 Selbst Houdini konnte Menschen nicht schneller verschwinden lassen.
4 Smith hatte einmal nach einer hektischen Nacht vergessen, den Eimer zu leeren, bevor George ihn benutzte – das kam nie wieder vor.
Kapitel 3
Amanda Wilson hielt das Fernglas fest an die Augen gepresst. Unter anderem war sie Vorsitzende der Borougher Vogelfreunde und damit sozusagen berechtigt, jederzeit und überall mit einem Fernglas bewaffnet aufzutauchen. Schließlich konnten seltene Vögel an den seltsamsten Orten und zu den ungewöhnlichsten Tageszeiten angeflattert kommen. Allerdings hätte niemand zu fragen gewagt, warum sie wirklich seit fast zwei Stunden das Burgtor beobachtete. Normale Neugier konnte das kaum erklären, aber Mrs. Wilson galt als am besten informierte Quelle von Gerüchten, zumindest in einem engen Bereich um Borough herum. Einen solchen Ruf bekommt niemand, der seine Nachmittage im Fernsehsessel vertrödelt. Mrs. Wilson hatte eine bewundernswerte Ausdauer. Und nachdem seit dem Weggang der McDuffs absolut nichts passierte, öffnete sich nun das Tor. Sie stellte die maximale Vergrößerung ein. Auf siebzehn schätzte Amanda die junge Frau. Und gut gebaut, soweit das ein nicht männliches Wesen beurteilen konnte; auf jeden Fall besser als die ansässige Konkurrenz. Die schwarzen, glatten Haare reichten ihr bis auf den Rücken und hatten denselben Farbton wie ihr schwarzes Kleid – vermutlich Samt. Das Gesicht zeichnete eine Blässe, die auf konsequentes Meiden von Sonnenlicht zurückzuführen war. Mrs. Wilson hatte bereits die Schublade ihres geistigen Aktenschranks geöffnet, welche mit »harmlos« beschriftet war. Da machte Lutetia den ersten Schritt. Amanda Wilson hatte sich ein Leben lang mit Menschen beschäftigt. Sie zu studieren war ihr liebstes Hobby – das und ihr Wissen anzuwenden, um ihren Willen durchzusetzen. Sie beurteilte Menschen nach ihrem Handschlag, der Art wie sie redeten, ihrer Haltung. Als sie sah, wie Lutetia lief, fiel ihr das Fernglas aus der Hand. Amanda schnappte nach Luft. So etwas hatte sie nicht erwartet. Dann sah sie wieder durch das Fernglas, bis Lutetia hinter der nächsten Kurve verschwand. Dieses Mädchen war gefährlich.
Lutetia verließ die Burg ohne ein bestimmtes Ziel. Da Kartographen es im Allgemeinen für Zeitverschwendung hielten, einen Ortsplan von Borough zu erstellen, war die Anfahrtsskizze des Maklers ihre einzige Orientierung. Allerdings schenkte sie der Werbeaussage, dass die nächste Einkaufsmöglichkeit keine fünf Minuten entfernt sei, nur insoweit Glauben, als dass damit Zeiträume ab sechs Minuten bis mehreren Stunden gemeint sein könnten. Ein kurzer Lichtblitz, etwas wie eine Reflexion, zuckte am Rand ihres Blickfeldes auf – zu kurz, um seine Quelle herauszufinden. Der Eindruck fügte sich in die Rubrik Seltsame Dinge In Borough ein, die sich in Lutetias Unterbewusstsein ausbreitete. Sie bog nach rechts auf die Straße, die von irgendeinem Stadtvater mit eigenartigem Sinn für Humor Schlossstraße genannt wurde. Sie lief in die Richtung, in der sie das – wenn man zu Euphemismen neigt – Stadtzentrum vermutete.
Eine halbe Stunde später betrat Lutetia eine unbekannte Welt. Bis zum jetzigen Zeitpunkt hatte sie ihr Leben in der wohligen Anonymität der Großstadt verbracht, die Individualisten jeglicher Art tolerierte, akzeptierte und ignorierte. Die Einwohner von Borough dagegen wussten mit dem Wort Individualisten nichts anzufangen und hielten sie bestenfalls für eine zur Jagd freigegebene Spezies. Bisher hatte Lutetia ihre Einkäufe in Supermärkten erledigt, deren Angestellte vierunddreißig verschiedene Versionen von: Ham wer nich! beherrschten. Jetzt stand sie in einem Tante-Emma-Laden, dessen Tante Emma fest entschlossen war, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. »Hallo, wen haben wir denn da?« Die ungewöhnlich durchdringende Stimme riss Lutetia aus ihren Gedanken. Außer der Inhaberin entdeckte sie zwei oder drei Kundinnen älterer Bauart und war sich sicher, noch einige Augenpaare hinter Regalen und Zeitschriftenständern entdeckt zu haben, die sie alle wie die Hauptattraktion einer Kuriositätenschau betrachteten. Lutetia ließ ihren Blick durch den Laden schweifen, während die penetrante Stimme weiter auf sie einredete. »Mein Name ist Violet. Was kann ich für dich tun?« »Nichts«, antwortete Lutetia in der vagen Hoffnung, damit den Redestrom abzuschneiden. »Kein Problem. Sieh dich nur um – ich habe hier alles, was es in den großen Kaufhäusern auch gibt – nur auf kleineren Raum, wie ich immer sage.« Pflichtgemäß kam ein gehorsames Kichern der anwesenden Damen, um zu bestätigen, dass sie so etwas wirklich immer sagte. »Und ich habe extra noch ein paar von den ausgerasteten Sachen besorgt, die die Leute aus der Großstadt immer haben wollen. Da in der Kühltruhe hinter dir liegen frische Austern, falls du welche haben willst, Schätzchen.« Von dieser Frau als Schätzchen bezeichnet zu werden, dachte Lutetia, kam einer schweren Beleidigung gleich. Violet schien das nicht zu bemerken. »Weiß gar nicht, warum die ganzen vornehmen Leute dauernd dieses glibbrige Zeug schlürfen wollen.« Die Antwort kam aus der Richtung des Zeitungsständers. »Sex«, sagte eine Frau, die Lutetias Schätzung nach die Siebzig schon erreicht haben musste. Und auf ihrem Lebensweg wahrscheinlich eine ganze Menge mitgenommen hatte. »Ja. Da steht er wie ein Hammer«, ergänzte eine zweite Frau – zweifellos ihre Schwester. »Hättest deinem Mann ein paar beschaffen sollen.« Violets Gesicht behielt seine Form. Nur ihre Stimme klang jetzt wie sibirischer Ostwind, der dreißig Grad unter Null und zwei Meter Schnee verheißt. »Wenn Sie nichts kaufen wollen, gehen Sie. Die Bücherei ist neben dem Rathaus, dort können Sie umsonst lesen.« Die Schwestern ließen sich nicht im Geringsten beeindrucken. Sie kicherten fröhlich und begannen, das Mittelposter des aktuellen Playboys fachmännisch zu untersuchen. »Aufgepumpt«, sagte die eine. »Da sieht man die Narben«, bestätigte die andere und fuhr mit dem Finger eine Linie entlang. »Ich sehe immer noch besser aus« und fuhr die Linie ihres Körpers entlang. »Und bei mir ist alles echt, was man von der nicht sagen kann.«