Die Morde von Whitechapel - Philipp Nathanael Stubbs - E-Book

Die Morde von Whitechapel E-Book

Philipp Nathanael Stubbs

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Beschreibung

Gefangen in der Vergangenheit. Ausgerüstet mit dem Wissen der Zukunft. Auf der Jagd nach einem Mörder ohne Gesicht. Die Expedition um Lord John Roxton und Professor Challenger hat aus dem Dschungel des Amazonas etwas mitgebracht. Etwas Einzigartiges, Atemberaubendes. Etwas, was die Welt noch nie gesehen hat. Oder besser gesagt: seit ein paar Millionen Jahren nicht mehr gesehen hat: einen Velociraptor. Und leider ist er ihnen entwischt. Als Graham in der Zeitung von der grausam ermordeten Mary Ann Nichols liest, weiß er, was kommen wird; schließlich steht diese Frau am Anfang einer der berühmtesten unaufgeklärten Mordserien der Welt. Und er weiß, dass er einen Teil der Schuld am Tod von sechs Frauen trägt, wenn er nichts tut.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Philipp Nathanael Stubbs

Die Morde von Whitechapel

Steampunk-Roman

 

Rodderik & Storm

Band 3

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Über dieses Buch

Rodderik & Storm - Die Steampunk-Abenteuerserie

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Was bisher geschah

Das Imperium der Puppen

Die verlorene Welt

Ein kaum bemerkenswerter Vorfall

Die Frau in Alkohol

Mr. Euridides Boyle

A Maze Thing

Die Jagd...

...fällt aus.

Nummer Sechs lebt

Pygmalion

Abgründe

Ausgeräumt

Die Brücke

Knockout

Eine zweite Chance

Patrouille

Der Tag danach

Miller's Court

Showdown

Gefangen

Ein neues Leben

Danksagung

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Rodderik & Storm - Die Steampunk-Abenteuerserie

Impressum

Über dieses Buch

Bei einem Videospiel würde man dieses Buch einen DLC nennen, eine Erweiterung zum Hauptspiel. Sie können dieses Buch lesen, ohne Rodderik & Storm 2: Die verlorene Welt zu kennen – aber dann macht es viel weniger Spaß. Na ja, und manche Sachen werden echt verwirrend.

Es folgt der Versuch einer spoilerfreien Zusammenfassung.

Was bisher geschah

Aether ist eine wunderbare Sache: unerschöpfliche Energiequelle, vielseitig einsetzbar und umweltfreundlich. Nur einen kleinen Nachteil hat der Stoff: in großen Mengen komprimiert gelagert, bringt er das Zeit-Raum-Gefüge durcheinander.

Das bemerkt der Datenanalyst Graham, als er im heutigen London auf der Flucht vor einer Gruppe Rowdys ist. Im letzten Augenblick kann er sich in eine enge Gasse retten, die zwei Sekunden vorher noch gar nicht da war. Um anschließend festzustellen, dass der Weg heraus schwieriger ist als hinein und dass er nicht durch ein Method-Acting-Camp stolpert, sondern tatsächlich durch das viktorianische London. Zwar schafft es Miranda – geniale Erfinderin menschenähnlicher Mechanoiden und Besitzerin der erwähnten großen Menge komprimierten Aethers – ihn wieder in seine Zeit zurück zu katapultieren, aber die Zeitreise bleibt nicht ohne Konsequenzen.

Dass mit seiner Zukunft etwas nicht stimmt bemerkt Graham, als sein bester Freund sich erstens als Mechanoid entpuppt und zweitens versucht, ihn umzubringen. Mit Hilfe einer Sonde, die Miranda durch die Zeit geschickt hat, springt Graham in die Vergangenheit zurück, um dort herauszufinden, dass Miranda und er nur Schachfiguren im Spiel eines erbarmungslosen Genies mit Weltherrschaftsgelüsten sind. Es gibt nur eine Möglichkeit, es aufzuhalten: Die vollständige Vernichtung des Aethers.

Gefangen in der Vergangenheit und ausgerüstet mit dem Wissen der Zukunft - auch wenn es zum größten Teil aus Fernsehserien und Kinofilmen stammt - versucht Graham sich mit der Situation zu arrangieren, ohne dabei ein Zeitparadoxon auszulösen, welches im schlimmsten Fall die Menschheit, im besten Fall nur ihn auslöschen würde. Was nichts daran ändert, dass auch ein Zeitreisender einen Job braucht, um Essen und Miete zu bezahlen. Keine einfache Aufgabe in einer Gesellschaft, in der Handwerker einen höheren Status genießen als BWLer. Als Assistent bei einer Forschungsreise des bekannten Professors Challenger mitzureisen, klingt da wie eine gute Idee.

Im Rückblick gesehen war es das nicht.

Die Expedition um Lord John Roxton und Professor Challenger hat aus dem Dschungel des Amazonas etwas mitgebracht. Etwas Einzigartiges, Atemberaubendes. Etwas, was die Welt noch nie gesehen hat. Oder besser gesagt, seit ein paar Millionen Jahren nicht mehr gesehen hat: einen Velociraptor. Und leider ist er ihnen entwischt.

Als Graham in der Zeitung von der grausam ermordeten Mary Ann Nichols liest, weiß er, was kommen wird; schließlich stammt er aus einer Zukunft, in der diese Frau am Anfang einer der berühmtesten Mordserien der Welt steht. Und er weiß, dass er einen Teil der Schuld am Tod von sechs Frauen trägt, wenn er nichts tut.

Rodderik & Storm - Die Steampunk-Abenteuerserie

Alle Bücher in der chronologischer Reihenfolge:

 

Prequel - Die mechanische Braut (exklusiv für Newsletter-Empfänger)

Band 1 - Das Imperium der Puppen

Band 2 - Die verlorene Welt

Band 3 - Die Morde von Whitechapel

Band 4 - Der stille Planet

Band 5 - Abyssus

Kurzgeschichte - Keine Ehre unter Dieben (exklusiv für Newsletter-Empfänger)

Band 6 - Ex Machina (erscheint 2025)

 

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Wenn zwei sich betrügen, dann freut sich der Dritte - falls er überlebt.

 

Auch Corelius Vanderbild hat einmal klein angefangen. Doch als der Taschendieb und Trickbetrüger den Auftrag bekommt, einem der berüchtigtsten Gangsterbosse Londons ein unbezahlbar wertvolles Gemälde zu stehlen, ist das die Gelegenheit, an der Herausforderung zu wachsen. Oder auf dem Friedhof zu enden.

 

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Was bisher geschah

 

Die einzelnen Bände der Rodderik & Storm Reihe enthalten zwar in sich abgeschlossene Geschichten, ich empfehle aber, die Bücher in der angegebenen Reihenfolge zu lesen, um die Rahmenhandlung mitzubekommen.

Für Quereinsteiger habe ich die hier soweit wie möglich spoilerfrei zusammengefasst:

DAS IMPERIUM DER PUPPEN

Aether ist eine wunderbare Sache: unerschöpfliche Energiequelle, vielseitig einsetzbar und umweltfreundlich. Nur einen kleinen Nachteil hat der Stoff: in großen Mengen komprimiert gelagert, bringt er das Zeit-Raum-Gefüge durcheinander.

Das bemerkt der Datenanalyst Graham, als er im heutigen London auf der Flucht vor einer Gruppe Rowdies ist. Im letzten Augenblick kann er er sich in eine enge Gasse retten, die zwei Sekunden vorher noch gar nicht da war. Um anschließend festzustellen, dass der Weg heraus schwieriger ist als hinein und dass er nicht durch ein Method-Acting-Camp stolpert, sondern tatsächlich durch das viktorianische London. Zwar schafft es Miranda – geniale Erfinderin menschenähnlicher Mechanoiden und Besitzerin besagter großen Menge komprimierten Aethers – ihn wieder in seine Zeit zurück zu katapultieren, aber die Zeitreise bleibt nicht ohne Konsequenzen.

Das mit seiner Zukunft etwas nicht stimmt bemerkt Graham, als sein bester Freund sich erstens als Mechanoid entpuppt und zweitens versucht, ihn umzubringen. Mit Hilfe einer Sonde, die Miranda durch die Zeit geschickt hat, springt Graham in die Vergangenheit zurück, um dort herauszufinden, dass Miranda und er nur Schachfiguren im Spiel eines erbarmungslosen Genies mit Weltherrschaftsgelüsten sind. Es gibt nur einen Weg, es aufzuhalten – leider zerstört er jede Möglichkeit zur Rückkehr Grahams in seine eigene Zeit.

DIE VERLORENE WELT

Gefangen in der Vergangenheit und ausgerüstet mit dem Wissen der Zukunft - auch wenn es zum größten Teil aus Fernsehserien und Kinofilmen stammt - versucht Graham sich mit der Situation zu arrangieren, ohne dabei ein Zeitparadoxon auszulösen, welches im schlimmsten Fall die Menschheit, im besten Fall nur ihn auslöschen würde. Was nichts daran ändert, dass auch ein Zeitreisender einen Job braucht, um Essen und Miete zu bezahlen. Keine einfache Aufgabe in einer Gesellschaft, in der Handwerker einen höheren Status genießen als BWLer.

Da kommt die Chance zur Teilnahme an der Expedition Professor Challengers nach Südamerika gerade recht. Miranda ist Feuer und Flamme, denn die Erforschung eines abgelegenen Plateaus und die Suche nach prähistorischen Lebewesen ist genau das, was sie braucht, nachdem Graham in einem unbedachten Moment seine Abneigung gegen die Institution Ehe bekannt gemacht hat. Graham selbst hat oft genug Jurassic Park gesehen, um der ganzen Angelegenheit skeptisch gegenüber zu stehen und da niemand auf ihn hört, muss er wohl oder übel mit auf die Reise gehen.

 

Ein kaum bemerkenswerter Vorfall

»Wo ist Roxton?« blaffte Graham den betagten Butler an, der in der Tür zur Stadtresidenz Lord John Roxtons stand. Besagter Butler bereute wahrscheinlich in diesem Augenblick, auf das Stakkato-Klopfen des aufdringlichen Besuchers hin, selbst geöffnet zu haben, statt die Hunde zu schicken. Er reagierte mit jahrzehntelang trainierter Ignoranz.»Wen... was darf ich melden?« fragte der Frackträger mit einer Hochnäsigkeit, die eine der vielen Einstellungsbedingungen für den Job sein musste1. Und stellte fest, dass er in die leere Luft sprach. Graham hatte sich vorbeigedrängelt und in die Tiefen des Hauses aufgemacht. Wenn er eins seit seiner Ankunft im viktorianischen England gelernt hatte, dann die Tatsache, dass Etikette gut und schön war, man aber ohne sie viel Zeit sparte. Von früheren Besuchen in diesem Stadtpalais wusste Graham Rodderik, dass der Lord sich bevorzugt in der Bibliothek aufhielt, die ihm gleichzeitig als Arbeitszimmer und Labor diente. Viel half Graham diese Erkenntnis nicht: Das Haus glich einem Labyrinth. Und im Gegensatz zu Mirandas Labor kamen aus Roxtons Refugium keine Lagehinweise in Form von Explosionen oder strengen Gerüchen.    Ratlos stand er an einer Kreuzung von drei exakt identisch aussehenden Fluren. Rechts von ihm materialisierte sich der Butler.»Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob seine Lordschaft im Haus ist.« Er hieß Edward, fiel Graham ein. Es war der vergebliche Versuch seines Hirns, hilfreich zu sein.»Dann sind Sie der falsche Mann für Ihren Job.« Edward schnappte nach Luft, aber Graham achtete nicht darauf: Das Faktotum versuchte, den Weg nach rechts zu blockieren, also musste das der richtige Weg sein. Graham schob ihn zur Seite; einer der wenigen von Roxtons Angestellten, bei denen Graham das konnte. Roxton beschäftigte sonst Männer, die sich genauso zur Seite schieben ließen wie der Mount Everest.

Die Doppeltür am Ende des Flures kam Graham schließlich bekannt vor: dahinter lag die Bibliothek. Graham stieß die Tür auf und rannte in den Butler.»Mr. Graham Rodderik!« verkündete der gerade. »Er besteht darauf, Sie zu sprechen, Euer Lordschaft.« Unter anderen Umständen wäre Graham von Edwards Erscheinen verwirrt gewesen, aber heute gab es Wichtigeres. Roxton faltete die Zeitung zusammen, legte sie auf den Tisch vor sich und wies auf den zweiten Sessel neben dem Kamin.»Nehmen Sie Platz, Mr. Rodderik. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee oder einen Tee vielleicht? Etwas zur Beruhigung?« Graham winkte ab. Ihm war nicht nach Beruhigung zumute – die unerschütterliche Ruhe des Lords regte ihn sogar noch weiter auf – und er setzte sich nicht, sondern tigerte vor Roxton hin und her. Edward hatte sich auf ein kaum wahrnehmbares Nicken hin entfernt und die Tür hinter sich geschlossen. Roxton schaute Graham eine Weile zu.»Der liebe Edward scheint zutiefst erschüttert zu sein. Das ist eine völlig neue Erfahrung für ihn. Was haben Sie ihm angetan?« sagte Roxton nach einer Weile.»Nichts«, antwortete Graham. »Ich habe ihn bloß ignoriert.«»Ah, ich verstehe. Eine Umkehrung der Rollen. Ich hoffe nur, Edward kommt darüber hinweg.« Wenn Roxton das lustig fand2, konnte Graham diesen Humor nicht verstehen. Statt dessen versuchte er, die richtigen Worte zu finden, die die Ungeheuerlichkeit dessen beschrieben, was er auf dem Herzen hatte. Ein Vorgang, der Roxton eindeutig zu lange dauerte. »Ihr Verhalten ist außergewöhnlich. Darf ich den Grund dafür erfahren?« fragte er. Graham sah die Zeitung auf dem Tisch. Wenn er schon keine eigenen Worte fand, ein anderer hatte es bereits getan. Er griff nach dem Blatt und zeigte auf den Artikel auf der Hauptseite. Es mochte ein Zeichen der Zeit sein oder ein Zeichen der niedrigen gesellschaftlichen Stellung von Mary Ann Nichols, dass ihr Tod nur eine kurze Notiz am unteren Rand wert war und nicht mit einer Zwei-Inch-Überschrift in blutroten Lettern über der Falz prangte. Wobei letzteres an den immer noch vorhandenen Problemen mit dem Farbdruck liegen konnte.»Lesen Sie das!« befahl Graham. Roxton hob gerade einmal die Augenbrauen.»Das habe ich bereits. Arme Frau. Wirklich bedauerlich. Doch wie ich leider feststellen muss: nicht ungewöhnlich.«»Diese schon.«»Und was ist an Mary Ann Nichols so besonders?«»Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catherine Eddowes, Mary Jane Kelly, Lilly Honeycomb. Mary Ann Nichols war die Erste.« Widerstrebend nahm Roxton die Zeitung und las den Artikel noch einmal.»Woher kennen Sie diese Namen?«»Der Fall ist eine Legende. Grausam, bestialisch und nie aufgeklärt.«»Wollen Sie sich eine Karriere als Detektiv aufbauen? Wie ich gehört habe, hat Lady Hastings Ihnen die Sicherung eines eigenen Auskommens nahegelegt.« Graham ignorierte die Anspielung. Ja, es hatte Differenzen zwischen ihm und Miranda gegeben, die auf einer unterschiedlichen Ansicht über die Ehe in der näheren Lebensplanung basierten. Aber das hier war etwas anderes. Außerdem waren sie sich in Südamerika einander wieder näher gekommen. Doch jetzt Schluss mit der Ablenkung!»Kommen Sie, Roxton! Kehle und Unterleib wurden aufgeschlitzt! Sie wissen genau, wer so jagt!« Roxton rieb sich über das Kinn, Graham konnte das Schaben der Finger über die Bartstoppeln hören. Erst jetzt fiel ihm auf, wie übernächtigt der Lord aussah. Dann klingelte Roxton mit einem Glöckchen, das auf seinem Frühstückstablett stand. Aus dem Nichts materialisierte sich sein Butler.»Sie wünschen, Mylord?«»Kontaktieren Sie Scotland Yard. Bringen Sie diskret in Erfahrung, wer sich mit der Angelegenheit Nichols beschäftigt.«»Sehr wohl, Mylord.« Edward dematerialisierte sich.»Die Peeler werden ihn nicht finden. Die suchen einem Menschen.« Die Peeler. Graham hatte sich erst daran gewöhnen müssen, dass es noch keine Polizei gab, wie er sie kannte. Die New Metropolitan Police, von Sir Peel gegründet, hatte Achtungserfolge vorzuweisen, genauso wie spektakuläre Fehlschläge. Ohne Fingerabdrücke, DNA-Nachweise und Forensik waren die Ermittlungsergebnisse durchwachsen: Verbrechen wurden aufgeklärt und Verdächtige gehenkt, verbannt oder in Gefängnisse gesteckt. Ob diese Personen etwas mit den jeweiligen Verbrechen zu tun hatten, ließ sich dabei nicht immer genau sagen. In solchen Fällen wurden Graham die Lücken in seinem Geschichtswissen bewusst. Er hatte keine Ahnung, ob Scotland Yard aus Peels Organisation hervorgegangen war, oder ob es sich um eine konkurrierende Institution handelte. Solches Wissen war in hundert Jahren nicht überlebensrelevant, wäre aber hier und jetzt interessant gewesen.»Die sollen ruhig weiterhin nach einem Menschen suchen«, erwiderte Roxton. »Ich möchte ihnen dabei nur nicht in die Arme laufen. Die Beamten neigen dazu, wenn sie einen Menschen suchen, jeden Menschen zu verdächtigen, der ihnen über den Weg läuft.«»Als ob die Polizei jemals Lord John Roxton verdächtigen würde.«»Sie würden sich wundern, in wie vielen Ländern Behörden mich wegen aller möglichen Sachen verdächtigen. Das Einzige, was sie davon abhält, mich zu verhaften und in einer Zelle verrotten zu lassen, wenn sie mich schon nicht vor ein Erschießungskommando stellen können, ist mein Name und die Furcht vor dem Empire.«»Aber wir sind hier in London. Bekannt als das Zentrum der Zivilisation.« Roxton lächelte Graham vollkommen humorlos an.»Meine Abneigung gegen die Sklaverei und mein Kampf dagegen hat einige der einflussreichsten Familien England nicht arm, aber etwas ärmer gemacht. Glauben Sie mir: Auf dem Plateau war ich weniger Gefahren ausgesetzt als in dieser Stadt.«»Klingt ja fast, als hätte jemand Auftragskiller auf Sie angesetzt.«»Eine durchaus zutreffende Beschreibung für die zwei Herren, die mich letzte Nacht besucht haben.« Erst jetzt fiel Graham auf, dass der Lord sich während des Gesprächs nicht aus seinem Sessel erhoben hatte. Äußerst ungewöhnlich für den dynamischen, athletischen Mann.»Wurden Sie verletzt?« fragte Graham, aber Roxton winkte ab.»Nichts, was nicht von allein wieder heilt. Nur beim Lachen zieht es unangenehm.«»Das dürfte kein Problem sein. Ich habe Sie während unserer gesamten Expedition nie lachen sehen. Nur dieses sardonische Grinsen.« Roxton sah Graham entgeistert an.»Quälen Sie eigentlich gern andere Menschen?«»Verzeihung. Ich dachte, Sie scherzen.«»Der Mangel an Lachen dürfte ein Hinweis gewesen sein.«

Nach einigen Augenblicken betretenen Schweigens betrat Roxtons Butler wieder die Bibliothek. Dafür, dass man in der Prä-Fax-Ära lebte, hatten die Leute hier eine äußerst effiziente Art, Aufträge zu erledigen.»Inspector Abberline, Sir«, waren die einzigen Worte, die er sagte.»Gut«, sagte Roxton und der Mann verschwand.»Gut, weil Sie beste Kontakte zu ihm haben, gut, weil er ein exzellenter Ermittler und unseren Hinweisen gegenüber aufgeschlossen ist oder gut, weil er ihr Zimmergenosse an der Uni war?«»Gut, weil er nicht die hellste Kerze im Kronleuchter ist. Er dürfte uns kaum im Weg stehen.«»Wir könnten ihm helfen.«»Wir könnten uns auch Bambussplitter unter die Fingernägel schieben.« Graham dachte einige Sekunden nach.»Warum sollten wir das tun?«»Exakt.« Roxton verzog leicht das Gesicht, als er zum Tisch hinübergriff und die Karaffe nahm. Für das Glas reichte es nicht mehr; er setzte gleich an und nahm ein paar tiefe Züge. »Schon viel besser«, sagte er nach einem Moment. »Warum sind Sie nicht zu Horatio gegangen? Miranda hält große Stücke auf ihren Mentor. Vielleicht hilft Ihnen sein Verstand mehr als meine Büchse.«»Horatio ist seit dem Aether-Vorfall nicht mehr auffindbar.«»Tot?«»Möglich. Ohne Leiche schwer zu sagen.« Aber Grahams Zurückhaltung hatte einen anderen Grund: Horatio hieß nicht einfach nur Horatio. Sein voller Name lautete Professor James Horatio Moriarty. Horatio, so wie Graham ihn kennengelernt hatte, war ein netter, älterer Herr und Mirandas väterlicher Freund und Mentor. Das passte auf den ersten Blick nicht zu dem kriminellen Genie, welches aus den Sherlock Holmes Romanen bekannt war. Das waren zwar nur Bücher, aber schon öfter hatte Graham festgestellt, dass einige Geschichten einen wahren Kern hatten. Und es gab einige nicht hell ausgeleuchtete Punkte in der Vergangenheit des Mannes, die Grahams Vertrauen in ihn empfindlich dämpften. Das Miranda nichts unternahm, diese Zweifel auszuräumen3, machte es nicht besser. Von diesen Hintergründen musste Roxton nichts erfahren, genauso wenig wie Miranda.»Wie sicher sind Sie sich der Umstände der Verbrechen, Mr. Rodderik?« Graham überlegte. Es gab einen Haken.»Ziemlich.« Roxton hob eine Augenbraue. Auf eine äußerst aristokratische Art, die mehr sagte als tausend Worte.»Der Name stimmt, das Datum stimmt. Aber nicht das Jahr. Der Ripper ist erst 1888 aufgetaucht.«»Das ist in zwanzig Jahren.«»Vielleicht haben wir die Vorgänge beschleunigt. Vielleicht hat in meiner Vergangenheit Challenger seine Expedition erst zwanzig Jahre später finanzieren können.«»Vielleicht ist es eine zufällige Namensgleichheit.«»Ich möchte mich nicht auf den Zufall verlassen, wenn davon das Leben von fünf Frauen abhängt.«»Eine bemerkenswerte Einstellung. Ich muss zugeben, das erregt meine Bewunderung. Und nun sollten wir uns den praktischen Aspekten der Jagd widmen. Ich schlage vor, wir suchen zuerst Challenger und Summerlee auf. Die beiden haben das Vieh aufgezogen, sie sollten uns etwas mehr über seine Gewohnheiten erzählen können.«»Sie helfen mir also?«»Natürlich. Schließlich hängt das Leben von fünf Frauen davon ab.« Und wie üblich wusste Graham nicht, ob Roxton das ironisch, sarkastisch oder ernst meinte. Dafür entging Graham das leichte Zögern nicht, als Roxton sich aus dem Sessel hochstemmte. Er musste ernsthaft etwas abbekommen haben. Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, ihn um Hilfe zu bitten.

Andererseits: Statt zur Tür war Roxton zu einem Regal an der Wand gegangen und hatte dort ein Buch herausgezogen. Sofort schwang die halbe Wand geräuschlos zur Seite und gab eine Nische frei, aus der Roxton eine Elefantenbüchse zog. Es reichte nur für einen kurzen Blick, aber Graham wusste sofort Bescheid: Wenn nicht gerade der größte Teil der Armee des britischen Empires vor seiner Haustür auftauchen würde, hatte Roxton in Bezug auf Feuerkraft nichts zu befürchten. Graham dagegen befühlte den Gegenstand in seiner Jackentasche. Miranda hatte es ihm gegeben, als er sich allein auf die Suche nach dem Velociraptor aufgemacht hatte, das war am Tag nach dessen Verschwinden aus der Akademie gewesen. Grob gesagt, war es eine Art Taser; Miranda hatte es Blitzpistole genannt und etwas in der Art von Leidener Flasche als Energiequelle erwähnt, die sie ein wenig verbessert hatte. Sie behauptete, es würde den Saurier nicht töten, sondern nur betäuben, solange der kleine Hebel an der Seite auf Nullposition stände. Nach seiner Erfahrung mit Mirandas Opimierungen ging Graham davon aus, dass diese Blitzpistole beim Wirkungsgrad zwischen Tischfeuerwerk und Atombombe lag. Vorteil war, dass der elektrische Blitz sich sein Ziel selbst suchen würde. Der Nachteil lautete, dass es nur einen Schuss gab. Danach musste sich die Waffe erst wieder aufladen, was einige Minuten dauern konnte. Roxton dagegen würde mit Munitionsmangel kein Problem haben.»Glauben Sie, dass wir den Raptor so schnell finden?« Roxton prüfte das Gewehr und steckte noch etwas mehr Ersatzmunition ein, bevor er antwortete.»Nein, das glaube ich nicht. Aber ich möchte Informationen von den Professoren. Die Büchse ist nur für den Fall, dass die beiden Herren uns auf der Suche begleiten wollen.« Unter anderen Umständen hätte Graham den Einsatz von Gewalt, beziehungsweise die Androhung derselben, scharf gerügt. Allerdings hielt sein Gegenüber eine geladene Elefantenbüchse in der Hand. Außerdem kannte Graham Challenger und Summerlee. Allein die Vorstellung, die zwei am Hals zu haben... Roxton wertete das Schweigen als Zustimmung. Es hatte in der Vergangenheit Differenzen über das Töten von Menschen gegeben – Graham war dagegen, Roxton nicht – aber in diesem Fall heiligte der Zweck die Mittel.»Edward!« rief Roxton.»Die Kutsche wartet bereits, Euer Lordschaft«, kam die Antwort. Dieser Butler ist echt gruselig, dachte Graham.

1 Zusammen mit dem Willen, für sehr wenig Geld sehr viel zu arbeiten, kein eigenes Leben führen zu wollen und auf jegliche Karriereoptionen zu verzichten. Eine Familie kam für den Mann sowieso nicht in Frage; soweit Graham ihn kennengelernt hatte, würde sich keine Frau freiwillig mit einem derart griesgrämigen Charakter abgeben.

2 Was er tat, nach dem hintergründigen Lächeln zu urteilen, welches Roxton zur Schau trug.

3 Graham hatte subtile Fragen gestellt. Vielleicht waren sie zu subtil gewesen und Miranda hatte die Tragweite und deren Bedeutung nicht erfasst. Zumindest redete Graham sich das ein.

Die Frau in Alkohol

Challengers Anwesen hatte sich seit Grahams letztem Besuch kaum verändert. Der Garten war zwar während der langen Abwesenheit des Hausherren verwildert, aber das wäre er auch, wenn Challenger da geblieben wäre. Roxton hielt sich nicht mit solchen Beobachtungen auf1, sondern schritt zum Eingang, straffte sich und klopfte, während Graham sich wunderte, wo der Mann unter dem schmal geschnittenen Gehrock seine Büchse versteckt hatte. Die Tür schwang nach einer Weile energischen Pochens auf.

»Sch! Isch hab Kopfschmerzen!« nuschelte die Frau, die geöffnet hatte. Die Bezeichnung Frau kam Graham in den Sinn, da die Person ein Kleid trug. Ansonsten bestand nicht die geringste Ähnlichkeit mit Challengers Gattin, die Graham vor ein paar Monaten kennengelernt hatte: Damals war sie eine charmante, liebenswürdige Person, die in allen das Gute sah, mit ihrem Lächeln jeden Raum erhellte und Fröhlichkeit in alle Richtungen versprühte. Der menschgewordene Sonnenstrahl eines Frühlingsmorgens. Aber das war einmal: Jetzt sah sie aus wie eine zu lange den Herbststürmen ausgesetzte Vogelscheuche mit Krähennestkrone. Außerdem frönte Mrs. Challenger einer neu gefundenen Begeisterung für Whisky. Der schwappte mit verlockender Viskosität und intensiv goldkaramell glänzend in ihrer großen Tasse hin und her.»Hey Süsssser. Nett dass su vorbei schaust.« Es war morgens, noch nicht einmal zehn Uhr und die Frau des Hauses war blau wie eine Strandhaubitze.»Madame Challenger«, sagte Roxton ungerührt. »Ich bin hier, um ihren Mann zu sprechen. Und Professor Summerlee.«»Nö!« sagte Madame Challenger und zielte mit dem Zeigefinger auf Roxtons Brust. Es gelang beim dritten Versuch. »Sie sin hier um Summerlee mitsunehmen!«»Sind wir das?« Mrs. Challengers Augen wurden zu schmalen Schlitzen.»Sons könnse gleisch wieder gehn!« Ratlos drehte sich Roxton zu Graham um. Der zuckte mit den Schultern.»Wir könnten Professor Summerlee in unserer Kutsche mit zurücknehmen und bei ihm zu Hause absetzen. Er hat doch ein eigenes Zuhause?«»Hat er. Un er übersieht jeden desenten Hinweis, endlich dahin zu gehen! Er is Professor! Der solle doch wissen, was Verpiss disch! heißt!«»Wir nehmen ihn mit«, versicherte Graham nachdrücklich. Obwohl er sich alle Mühe gab, es sich nicht anmerken zu lassen: Der Niedergang dieser Frau erschütterte ihn zutiefst. Summerlee und Challenger hatten sich während der Expedition ständig über Kleinigkeiten in den Haaren gelegen, über wissenschaftliche Detailfragen Rededuelle geliefert und dem jeweils anderen jegliche Kompetenz abgesprochen; selbst die, die eigene Nase mit Hilfe eines Spiegels und eines Anatomieatlanten zu finden. Für die anderen Expeditionsteilnehmer waren die andauernden Frotzeleien Hintergrundgeräusche geworden, die sie nach einer Weile gar nicht mehr wahrnahmen. Offensichtlich hatte Mrs. Challenger solche Schutzmechanismen nicht rechtzeitig entwickeln können.»Treten Sie ein«, lallte Mrs. Challenger und nahm einen kräftigen Schluck aus ihrer Tasse. Roxton und Graham zwängten sich an ihr vorbei, denn die Dame des Hauses hatte nicht vor, auf die Stabilität des Türrahmens zu verzichten. Geistesabwesend winkte sie mit einer Hand Richtung Obergeschoss. »Die Klugschwäzzer sin im Büro und pal... pallalawa... pallabern da. Ups. Isch kann nich mitkommen. Muss nachfüllen.« Die Tasse war tatsächlich leer, obwohl eben noch Flüssigkeit bis zum Rand darin schwappte. Die Professorengattin musste einen Zug wie ein Kamel haben. Und sie hatte den schwankenden Gang wie eins, als sie in Richtung Küche verschwand. Graham hörte noch »Rhodododennderonn«, aber vielleicht spielten ihm nur seine Schuldgefühle einen Streich und sie hatte sich nur geräuspert. Was nichts daran änderte, dass er die Mrs. Challengers Lieblingspflanze vor einigen Monaten mit einer Harpune erledigt und noch keine Wiedergutmachung geleistet hatte. Aber ganz sicher war das nicht der Grund ihres Niedergangs.»Arme Frau«, murmelte Roxton.»Wir müssen sie von Summerlee befreien.« Roxton schüttelte energisch den Kopf.»Wir können uns nicht mit dem Professor belasten, wenn wir das Biest jagen.«»Aber wir können Madam Challenger nicht so zurücklassen!«»Ich hätte immer noch meine Elefantenbüchse mit.«»Nein!«»War nur ein Vorschlag. Vielleicht finden wir eine andere Lösung.«

Als sie den ersten Stock erreicht hatten, brauchten sie bloß dem Geräusch endloser Wortströme zu folgen, die von dort herabkamen. Und in denen, soweit Graham das beurteilen konnte,    schon Hunderte bis Tausende Studenten umgekommen sein mussten.»Ohren zu und durch«, murmelte Roxton, bevor er die Tür aufstieß und sie Challengers Refugium betraten.

Zu sehen war erst einmal nichts. Der ganze Raum war gefüllt von grauem Zigarren- und Pfeifenqualm, der die Sichtweite auf weniger als zwei Fuß senkte. Roxton war das scheinbar von seinem Gentlemen-Club gewohnt, Graham dagegen nicht. Er kämpfte sich zur gegenüberliegenden Wand und riss das nächste Fenster auf. Dicke Rauchschwaden quollen in Richtung Himmel. Wenn es Telefone gegeben hätte, würden die ersten Notrufe bei der Feuerwehr eingehen; wobei sich Graham nicht sicher war, ob es schon eine Feuerwehr gab.»Die Fenster zu!« rief Summerlee mit hoher Stimme. »Die Notizen! Challenger! Schützen Sie die Notizen!« Ein gewaltiger Rums signalisierte, dass der Angesprochene dem Aufruf folgte und sich mit seiner gesamten Körperfülle auf die Blätter warf, um sie vor dem Verweht werden zu beschützen.»Welcher Wahnsinnige tut so etwas!« beschwerte sich Summerlee. Graham drehte sich nicht um. Er würde dieses geöffnete Fenster notfalls mit seinem Leben verteidigen. Kein großes Risiko, soweit er Summerlees Statur im Kopf hatte: groß, dünn und muskellos, das hieß leicht zu treffen und wenig Widerstand. Graham scheute körperliche Auseinandersetzungen nur, wenn dabei die Gefahr bestand, zu verlieren.

Nach einigen Augenblicken lichtete sich der Qualm. Und wenige Minuten später war die Luft drinnen klar genug, dass die Professoren die Besucher erkennen konnten.»Sie sind es, Roxton! Was für ein Vergnügen, Sie zu sehen«, sagte Challenger.»Es wäre ein Vergnügen, wenn das Eindringen von Ihnen und Ihrem Freund nicht die Arbeit von Wochen zunichte gemacht hätte! So eine außergewöhnliche Expedition katalogisiert sich nicht von selbst!« nörgelte Summerlee. Graham drehte sich um. Roxton hatte in einem Sessel Platz genommen, die Beine übereinander geschlagen und einen Bourbon aufgetrieben. Ruhig ließ er die bernsteinfarbene Flüssigkeit im Glas kreisen. Wahrscheinlich war das Leben als Adliger nicht nüchtern zu ertragen.»Es gibt dringendere Probleme als die Katalogisierung«, bemerkte er. Beide Professoren starrten Roxton fassungslos an.»Von einem ungebildeten Kretin hätte ich so etwas erwartet«, sagte Challenger schließlich. »Aber Sie sind ein Mann von Welt! Wo bleibt Ihr Respekt vor der Wissenschaft?«»Irgendwo hinter meinem Respekt vor dem Leben. Auch wenn es darüber unterschiedliche Ansichten gibt«, fügte er nach einer kurzen Pause mit einem Seitenblick auf Graham hinzu. Graham wusste, was der Lord damit meinte. Roxton hatte in Südamerika viel für die Verlängerung des Lebens von Sklaven getan, was die Verkürzung des Lebens von Sklavenhaltern einschloss.»Ich verstehe nicht«, erwiderte Challenger vorsichtig. Er wusste, Roxton konnte ein großartiger Freund sein. Oder ein furchtbarer Feind.»Mr. Rodderik wird es Ihnen erklären. Erzählen Sie den Beiden die Geschichte, die Sie mir heute Morgen erzählt haben.« Graham zog die London Times aus seiner Jackentasche, die er bei Roxton hatte mitgehen lassen und las die wenigen Zeilen vor, die dort über die Ermordung Mary Ann Nichols standen.»Bedauernswertes Weibsbild. Und warum sind Sie nun hier?« lautete Challengers Reaktion. Graham zählte leise bis zehn.»Ihr wurde die Kehle und der Unterleib aufgeschlitzt. Mit einem langen Messer mit mäßig scharfer Klinge.«»Das stand aber nicht im Zeitungsartikel«, stellte Challenger fest.»Korrekt. Das steht im Polizeibericht.« Die Professoren zogen die Augenbrauen hoch.»Darf ich erfahren, woher Sie den Inhalt des Polizeiberichts kennen?«»Weil ich befürchtet habe, dass so etwas passieren könnte. Und deshalb einigen stark unterbezahlten Staatsbediensteten unter die Arme gegriffen habe, die mich aus Dankbarkeit mit entsprechenden Informationen versorgten.«»Ich sehe nicht, was uns das angeht. Verbrechen sind Sache der Polizei. Dafür zahlen wir schließlich Steuern!« stellte Challenger fest.»Wir«, presste Graham durch die Zähne, »haben einen Velociraptor mit nach London gebracht. Und Sie haben das Vieh entwischen lassen. Das macht uns verantwortlich!«»Unsinn!« fuhr Summerlee dazwischen. »Jack würde so etwas niemals tun!«»Jack?« fragten Graham und Roxton unisono.»Ja.« Summerlee und Challenger wurden bemerkenswert leise. »Das ist sein Name. Als er seinen süßen kleinen Kopf zum ersten Mal aus dem Ei streckte, das war ein Anblick, bei dem uns das Herz aufging. Dabei sah er so... Jack-mäßig aus, dass wir ihn Jack the Raptor genannt haben.«»Wurde er getauft?« fragte Roxton. »Und warum wurde ich nicht zum Paten ernannt? Ich habe das Ei...«»...seinen Eltern aus dem Nest geklaut?«»Wohl kaum. Ich habe es aus einem Pteranodonten-Nest geholt. Es dürfte dort in der Abteilung Speisekammer gelegen haben.«»Dann sind Sie mindestens genauso sehr dafür verantwortlich!« Summerlees Falsett überschlug sich, als er mit dem Zeigefinger auf Roxton zeigte. Der neigte nur den Kopf.»Exakt. Und ich habe vor, mich dieser Verantwortung zu stellen.«»Moment!« Challengers dröhnende Stimme zog jede Aufmerksamkeit auf sich. »Ich habe mich in meinen früheren Forschungen mit den Abgründen der menschlichen Seele beschäftigt und den Abscheulichkeiten, zu denen sie fähig ist. Und Mittel und Wege erforscht, den Schuldigen zu finden, den seine kriminelle Energie übermannt hat. Und dabei ist mir ein Zusammenhang überdeutlich geworden.« Gemäß seiner nach Aufmerksamkeit gierenden Persönlichkeit fügte Challenger hier eine dramatische Pause ein. »Das Wissen des Ermittlers über einen Fall wird nur vom Wissen des Mannes übertroffen, der die Tat begangen hat! Rodderik, heraus mit der Sprache! Warum wollen Sie den Verdacht unbedingt auf unseren Velociraptor lenken! Doch wohl nur, um ihre eigenen Taten zu verschleiern!« Graham blieb die Luft weg. Dieser fette, aufgeblasene Kerl besaß die Frechheit, ihn des Mordes zu beschuldigen! Und das trotz der Tatsache, dass Challenger es war, der den Velociraptor vom Amazonas nach London gebracht hatte!

Typisches Verdrängungsverhalten. Den schwarzen Peter einem Unschuldigen2 zuschieben! Challenger konnte zwar nicht wissen, woher Graham über die Morde Bescheid wusste und Graham würde es tunlichst vermeiden, den Professoren darüber Auskunft zu geben. Denn es bestand die nicht zu unterschätzende Gefahr, dass er dann auf schnellstem Weg in die nächste Irrenanstalt eingeliefert würde; eine Erfahrung die Graham nicht wiederholen wollte. Aber darum ging es nicht: Da draußen war eine Bestie unterwegs, die ausgeschaltet werden musste! Doch Graham kam nicht dazu, etwas zu erwidern.»Mr. Rodderiks Integrität steht in dieser Angelegenheit außer Zweifel«, bemerkte Roxton aus der Tiefe des Sessels heraus. Er hielt das Glas Bourbon noch in der Hand. Und es war genauso voll wie vorher. Der Satz konnte also nicht das Produkt einer alkoholbedingten Unzurechnungsfähigkeit sein – Roxton musste das ernst meinen. »Ich verbürge mich für seine Unschuld in dieser Angelegenheit«, kam die Bekräftigung. Challenger schwieg. Einen namen- und mittellosen Tinkerer anzugehen, traute er sich, aber Roxton war ein anderes Kaliber. So eine Attacke gänge gesellschaftlich in die falsche Richtung.»Und wie kommen Sie zu dieser Überzeugung, wenn ich fragen darf?«»Das dürfen Sie fragen. Ich werde Ihnen allerdings nicht antworten. Und von nun an werden wir uns auf die dringlichste Angelegenheit konzentrieren und die besteht darin, dass ein Biest, welches möglicherweise – und ich sage bewusst möglicherweise – Menschen angreift. Da wir dieses Tier nach London gebracht haben, liegt es in unserer Verantwortung, es unschädlich zu machen. Und das, ohne dabei unseren eigenen Ruf aufs Spiel zu setzen. Beziehungsweise, ohne dass unsere Namen überhaupt mit dieser gesamten Angelegenheit in Verbindung gebracht werden.«»Und wie sollen wir dabei helfen? Londons Straßen sind gepflastert. Wir werden nicht die geringste Spur von Jack finden«, knurrte Challenger. Graham zuckte zusammen, als er den Namen hörte. Eine Tatsache, die Roxton nicht entging.»Zuerst brauchen wir alle Informationen, die wir über das Tier bekommen können. Was frisst es, wie viel, hat es Eigenheiten, schläft es nachts?«»Und was soll das bringen?« Roxton seufzte das Seufzen eines Profis, der gezwungen ist, mit Amateuren zusammen zu arbeiten.»Im Gegensatz zu Ihnen, Professor Challenger, habe ich Erfahrung mit der Jagd auf gefährliche Bestien. Je mehr ich über meinen Feind weiß, desto besser kann ich mich auf ihn einstellen. Denn ich habe nicht wirklich vor, den Raptor zu jagen. Ich habe vor, genau zu wissen, wo er zu einer bestimmten Zeit sein wird und ihn dort zu erwarten.« Wow. Graham beschloss, solche Sätze in Zukunft in ein Notizbuch zu schreiben. Damit ließ sich ein Coaching-Business aufziehen. Man ersetze einfach die wilden Tiere durch CEO, CTO, CIO und sonstige Abkürzungen, von denen zwar keiner wusste, was sie heißen, sich aber auch keiner traute, nachzufragen. Weil man dann dumm dastehen würde. Im Grunde funktionierte die moderne Geschäftswelt genauso wie der Dschungel. Ob das im viktorianischen England genauso war? Nach dem, was Graham vom Mit- und Gegeneinander der gehobenen Gesellschaft mitbekommen hatte: Ja.

Challenger und Summerlee sahen sich an.»Sie wollen Jacks Kopf an Ihre Trophäenwand hängen?« Roxton faltete die Hände.»Nein. Ich würde es bevorzugen, ihn auf eine Tasse Tee einzuladen und in einem zivilisierten Gespräch dazu zu bewegen, sich künftig von Kohlrüben zu ernähren.«»Dann ist ja gut.« Graham hatte nicht wirklich geglaubt, dass jemand so unbedarft sein könnte, Roxtons Worte ernst zu nehmen. Roxton ebenfalls nicht, wenn man die Art betrachtete, wie er mit seiner Hand über die Stirn rieb. Und Challenger gab seinem Kollegen einen Klaps auf den Hinterkopf und eine geflüsterte Einführung in Ironie und Sarkasmus.»Oh«, sagte Summerlee. »Und warum sagt er nicht, was er denkt?«»Fokussieren wir uns auf das drängendste Problem. Wo wird sich der Raptor am wahrscheinlichsten aufhalten?« Als Graham seine eigenen Worte hörte, begriff er, was er gerade gesagt hatte. Wann würde der Raptor wo sein? Graham wusste es. Er wandte sich an Roxton. »Wir sind hier fertig. Gehen wir.«»Heißt das, dass wir...«, begann Challenger.»Nein«, schnitt ihm Roxton das Wort ab. »Professor Challenger, sie werden ein vollständiges schriftliches Dossier über den Velociraptor anfertigen und jedes Detail erwähnen, welches Ihnen einfällt. Auch wenn es Ihnen vollkommen unbedeutend erscheint, es könnte wichtig sein.« Die Autorität in der Stimme des Lords erstickte jeden Widerspruch.»Gut, Professor Summerlee und ich werden...«»Nein«, unterbrach ihn Roxton wieder. »Professor Summerlee wird exakt das Gleiche tun, aber in seiner Wohnung. Wenn Sie zusammenarbeiten, besteht die Gefahr, das Erinnerungen verfälscht werden. Professor Summerlee, wir werden Sie sofort in unserer Kutsche mitnehmen.« Summerlee, der von Natur aus nicht mit dem Geist des Widerstandes gesegnet war, fügte sich. »Das sind wir Madame Challenger schuldig«, flüsterte Roxton Graham zu, als er an ihm vorbei zur Tür ging. Graham widersprach nicht.

Sie begegneten Mrs. Challenger auf dem Weg nach draußen. Roxton hatte Summerlee bereits zur Kutsche vorgeschickt, um dem Fahrer das Ziel anzugeben, als die Dame des Hauses auf die beiden Männer zustürzte.»Danke!« rief sie. Und Graham glaubte, Tränen in ihren Augen zu sehen. »Danke! Danke!«»Ich werde einen meiner Männer abstellen, der dafür sorgt, dass Summerlee in den nächsten zwei Tagen in seiner Wohnung bleibt. Und Sie sollten Ihre Dienerschaft genauestens instruieren, wer dieses Haus in Zukunft betreten darf. Das gelingt am besten nüchtern«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.»Das werde ich, Lord Roxton, das werde ich.« Selten hatte Graham eine solche Freude im Gesicht eines Menschen gesehen. Summerlee musste der absolute Albtraum gewesen sein.

Die nächsten zwanzig Minuten, die Graham in Gesellschaft des Professors verbrachte, überzeugten ihn davon restlos. Etwas Engstirnigeres hatte Graham noch nicht erlebt. Dazu kam, dass Roxton sich in die Kutsche zurückgelehnt, den Hut über die Augen gezogen hatte und so tat, als würde er schlafen. Damit konnte er Graham nicht täuschen: Der Lord war hellwach, er wollte sich nur nicht mit Summerlee abgeben. Etwas, was Graham ihm bei Gelegenheit zurückzahlen würde. Er selbst benutzte die altbewährte Lächeln-und-Nicken-Taktik. Summerlee schien den Unterschied zu echtem Interesse nicht zu bemerken und redete endlos vor sich hin. Als die Kutsche hielt, beugte sich Roxton vor und legte Summerlee die Hand auf den Arm.»Vergessen Sie nicht, Summerlee: Jedes Detail ist wichtig! Ich werde übermorgen einen Boten schicken, um Ihren Bericht abzuholen. Lassen Sie nichts aus. Wer weiß? Vielleicht liegt in Ihrer Erinnerung der Schlüssel dazu, das Leben Ihres Schützlings zu retten.«»Wirklich?« fragte Summerlee hoffnungsvoll. Naiv, korrigierte Graham gedanklich. Roxton zuckte mit den Schultern.»Mr. Rodderik hat eine Abneigung gegen unnötiges Blutvergießen.«»Ich wusste nicht, dass sich das auch auf Tiere bezieht.«»Das tut es«, bestätigte Graham mit so viel Ernsthaftigkeit, wie er aufbringen konnte.»Dann werde ich mich unverzüglich an die Arbeit begeben. Ich werde mich Tag und Nacht dem gewünschten Dossier widmen und nicht ruhen.«»Sehr löblich«, kommentierte Roxton.»Alles, um meinen kleinen Liebling zu schützen.«»Es wäre hilfreich, wenn Sie sofort beginnen würden.« Summerlee, der bisher keine Anstalten gemacht hatte, die Kutsche zu verlassen, begriff endlich.»Aber ja, natürlich!« Ungelenk stieg Summerlee aus und Roxton klopfte gegen das Kutschendach.»Ist Summerlee eigentlich verheiratet?« fragte er, als der Professor sie nicht mehr hören konnte.»Falls ja, dann ist seine Gattin zu bedauern.« Statt eines Kommentars, sah Roxton Graham nachdenklich an.»Ihre Reaktion vorhin hat mich überrascht. Es ist essenziell für einen Jäger, das Verhalten der Beute zu antizipieren. Und plötzlich waren die Informationen der Professoren irrelevant?«»Weil wir nichts antizipieren müssen. Jack wird in acht Tagen im Hinterhof von 29 Hanbury Street, Spitalfields sein. Zumindest wird die Leiche von Annie Chapman dort entdeckt.«»Wie praktisch. Ich wünschte, bei all meinen Jagdzügen hätte ich so präzise Zeit- und Ortsangaben. Das nimmt fast den Spaß aus der Sache!« Roxtons Grinsen verschwand so schnell wie es gekommen war, als er Grahams Gesicht sah. »Verzeihung, das war unsensibel. Und welche Bemerkung der verehrten Professoren hat Sie so erschreckt, das Ihr Gesicht beinahe jede Farbe verloren hat?« Graham brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, was Roxton meinte.»Der Name«, sagte er schließlich. »Die Identität des Mörders wurde nie geklärt, aber er wird gemeinhin Jack the Ripper genannt.«»Jack der Aufschlitzer«, murmelte Roxton. »Wie passend.«»Und ich befürchte, das ist kein Zufall. Sie haben ihn Jack genannt, genauso wie der Mörder Jack genannt wurde. Weiß jemand von dem Tier?«»Es gab eine behördliche Suchaktion, die erfolglos blieb. Die offizielle Verlautbarung sagt, dass das mitgebrachte Tier das warme Klima Südamerikas gewohnt ist und im Londoner Klima nicht überlebt. Man hat übrigens peinlichst darauf geachtet, weder das Wort Saurier noch das Wort Raubtier zu verwenden, um keine Panik auszulösen. Die Akte ist geschlossen und beiseite gelegt.«»Von wo sie auch schnell wieder genommen und aufgeschlagen werden kann.«»Das Wort eines königlichen Beamten ist wohlüberlegt und fundiert. Wird es geäußert, steht es fest wie das britische Empire selbst. Wo kämen wir hin, wenn wir Zweifel an der Integrität unserer Behörden aufkommen ließen?«»An den Rand des Zusammenbruchs?« fragte Graham.»Exakt.« Roxton dachte eine Weile nach. »Die Behörden haben den Raptor nicht auf dem Schirm. Und Jack ist ein Allerweltsname. Challenger und Summerlee haben ihn wahrscheinlich gewählt, weil ihnen mit ihrem Mangel an Phantasie kein anderer eingefallen ist.«»Hoffen wir, dass das stimmt«, murmelte Graham und sah aus dem Fenster. Roxton beobachtete ihn mit dem typisch unergründlichen Lächeln auf seinen Lippen.»Nun, nachdem wir soweit gekommen sind, was haben Sie als nächstes geplant, Mr. Rodderik?«»Ich? Gar nichts. Jagd ist Ihr Spezialgebiet. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen.«»Und jetzt wollen Sie wissen, was ich vorschlage?«»Das wäre ein Anfang.«»Auf einer normalen Großwildjagd würde ich mich zuerst mit dem Habitat der Beute vertraut machen.«»Whitechapel?« Graham kannte Whitechapel. Keine Gegend, in der er unbedingt eine Nacht verbringen wollte.»Korrekt. Ich denke, wir sollten dort logieren.«»In Whitechapel?!«»Ebenfalls korrekt. Und vor allem sollten wir uns der örtlichen Bevölkerung anpassen.«»Wenn du in Ägypten bist, dann laufe wie ein Ägypter.«»Im Prinzip richtig, aber ich dachte eher an einen Wechsel unserer Bekleidung. Oder präziser ausgedrückt: meiner Bekleidung. Sie dürften auch so als mein Stallbursche durchgehen.« Graham sah an sich herunter. Er trug das, was er in den Schränken der Dienerschaft in Hastings Manor gefunden hatte. Die Klamotten waren nicht so geschniegelt wie die von Mirandas Ex-Mann, aber Graham fühlte sich in ihnen bedeutend wohler. Und sie waren immer noch besser als das, was er in seiner Zeit getragen hatte. »Eine andere Frage, aus reiner Neugier: Weiß Lady Hastings von den ganzen Vorfällen?«»Nein. Und sie soll nichts davon erfahren.«»Beschützerinstinkt?« fragte Roxton. Der ironische Unterton entging Graham nicht.»Sie soll sich keine unnötigen Vorwürfe machen.«»Ah.« Ein weiterer Kommentar kam nicht von Roxton. Der erinnerte sich ebenfalls an die Nacht, als der Velociraptor aus der Akademie entwischt war. Graham hatte in einem ersten Impuls sofort die Verfolgung aufnehmen wollen, aber Miranda war kalt gewesen und sie war verängstigt. Also hatten die beiden Männer sie nach Hause gebracht. Ein Fehler, der jetzt bereits eine Frau das Leben gekostet hatte und – wenn Graham recht behielt – für fünf weitere das gleiche Schicksal bereithielt. Er schwieg eine Weile. »Ich werde Sie in meinem Stadthaus entsprechend ausstaffieren. Von dort aus lasse ich eine Nachricht nach Hastings Manor senden, dass Ihre Dienste im Moment für mich nötig und Sie unabkömmlich sind. Das sollte Lady Hastings davon abhalten, nach Ihnen zu suchen.« Graham, der in den letzten Tagen nur mit Hilfe von Mrs. Tingles Miranda lange genug aus ihrer Werkstatt bekam, so dass sie etwas aß, bezweifelte, dass Miranda seine Abwesenheit bemerken würde. Er widersprach aber nicht. Der Vorschlag war vernünftig und in gewissen Dingen konnte man nicht vorsichtig genug sein. Denn die Vision, dass Miranda nachts allein durch Whitechapel lief, behagte ihm überhaupt nicht.

1 Oder seine geschärften Jagdsinne nahmen solche Details instinktiv in Sekundenbruchteilen auf, ohne dass andere Sterbliche davon etwas mitbekamen.

2 Graham

Mr. Euridides Boyle

Ein paar Stunden später passte Graham seine neue Ausstattung überhaupt nicht. Roxton hatte seinem Diener befohlen, Graham als Burschen eines mittelmäßig erfolglosen Kaufmanns vom Land auszustaffieren. Roxton wollte sich als ein solcher ausgeben und so tun, als wäre er in der Stadt, um Geschäfte abzuschließen.

Seine Bediensteten, das heißt Edward, waren überzeugt davon, dass die Kleidung des Burschen eines solch erfolglosen Herrn zum größten Teil aus Löchern, kratzendem Stoff und, dem Geruch nach zu urteilen, aus Pferdemist bestand. Graham hatte sich geweigert, auf seine Unterwäsche zu verzichten. Seine Rolle mochte dadurch nicht hundertprozentig authentisch wirken, aber irgendwo musste man eine Grenze ziehen; besonders gegen die Invasion von Flöhen und Läusen. Und Graham hatte auf Schuhen bestanden, durch die die Straße nicht direkt spürbar war. Roxton dagegen sah aus wie ein Model aus einem Landleben-Magazin.»Äußerst realistisch«, bemerkte Roxton.»Ich könnte den Kaufmann übernehmen und Sie den Burschen«, erwiderte Graham.»Den würde man mir nicht abnehmen. Genauso wenig wie Ihnen den Kaufmann.«»Sagen Sie. Wie oft haben Sie bereits in der Großstadt gejagt?«»Touché. Machen wir das Beste daraus. Apropos Jagd: Ich kann es mir nicht leisten, diesen Fall mit einem Kompagnon zu verfolgen, der in der entscheidenden Situation nicht in der Lage ist, eine Waffe abzufeuern.«»Ich habe bereits gesagt, dass ich keine Menschen erschieße.«»Zum Glück fällt ein Velociraptor nicht unter diese Kategorie; um alle anderen Unannehmlichkeiten kümmere ich mich selbst. Bevor wir uns nach Whitechapel begeben, werden Sie das edle Waidhandwerk erlernen.« Daran hatte Graham nichts auszusetzen, vor allem, weil er bei dem Gedanken, dem Velociraptor mit einer möglichst großen Schußwaffe in der Hand gegenüberzustehen wesentlich besser schlafen konnte, als ihm nur das Peace-Zeichen entgegenzuhalten.

Roxton hatte auf einer Mietdroschke bestanden, auch wenn ihm das hinter seinem Rücken eine gerunzelte Stirn von Edward eingebracht hatte. Aber diese war unauffälliger als seine eigene und der Kutscher würde den Weg nach Little Woods genauso leicht finden wie Roxtons Chauffeur. Sogar Graham kannte Little Woods. Es war ein kleines Wäldchen außerhalb der Stadt, klassischerweise der Austragungsort aller in London verabredeten Duelle. Die waren zwar offiziell verboten, da aber der Brauch des Duellierens vor allem durch diverse Adlige am Leben gehalten wurde1, welche sich nicht wie gewöhnliche Sterbliche durch das Gesetz gebunden fühlten, war der Reiseverkehr nach Little Woods genauso rege wie eh und je. Als Roxton mit Graham in dem kleinen Wäldchen ankam, war schon eine andere Partie mit Vorbereitungen beschäftigt. Deren Sekundanten liefen auf Roxton zu.»Sir, wir sind untröstlich. Hier sind gerade zwei Gentlemen mit der Klärung einer höchst delikaten Angelegenheit beschäftigt. Wir möchten Sie bitten, später wiederzukommen.« Roxton zog das Papier der universellen Freundschaft in Form einer Fünf-Pfund-Note aus seiner Jackentasche und zeigte sie den Sekundanten. Das verschaffte ihm deren ungeteilte Aufmerksamkeit.»Wer?« fragte er.»Graf Ludwig Grasmere und Lord Stewart Hakenshaw.«»Grasmere wird sowieso nicht treffen und Hakenshaw ist zu ängstlich, um eine Waffe abzufeuern. Sagen Sie den beiden, sie sollen sich eine weitere Demütigung ersparen und verschwinden. Alles andere empfinde ich als persönlichen Affront gegen mich. Und sagen Sie Grasmere, seine Schwester ist fett. Statt also jedem Mann der zu klaren Worten neigt, eine Kugel in den Kopf jagen zu wollen, sollte er ihr den Kuchen streichen, wenn er dafür Manns genug ist.« Grasmeres Sekundanten blieb der Mund offen stehen, aber er sagte nichts. Offenbar hatte er bereits von Roxton gehört. Hakenshaws Diener war bereits zu seinem Herren gelaufen. Wenige Minuten später war von den Kutschen der Heroen nur noch eine Staubfahne am Horizont zu sehen.»Wollen Sie mir jetzt beibringen, wie man sich duelliert?«»Ich würde es bevorzugen, Situationen zu vermeiden, in denen Sie auf mich zielen. Es wäre mir lieber, wenn Sie in die gleiche Richtung wie ich schießen.«»Ich wusste gar nicht, dass Sie so eine hohe Meinung von meinen Schießkünsten haben.«»Nein. Mir kommt dabei ein deutsches Sprichwort in den Sinn. Es hat etwas mit Korn und einem blinden Huhn zu tun. Leider gibt es keine direkte Übersetzung, aber es geht um Anfängerglück. Und ich habe Respekt vor Querschlägern.«»Ich glaube, ich sollte mich beleidigt fühlen.«»Wir können gern später ein Duell vereinbaren. Und jetzt kommen Sie mit. Es gibt eine Art Arena für weniger risikobereite Duellanten.« Wie es aussah, gab es tatsächlich intelligente Menschen, die festgestellt hatten, dass – um herauszufinden, wer von beiden der bessere Schütze war – niemand aufeinander schießen musste. Statt dessen schoss man auf eine Zielscheibe und stellte anhand der Treffer fest, wer das Kräftemessen gewonnen hatte. Dafür gab es in Little Woods eine kleine Arena mit Zielscheiben, zu der Roxton Graham führte. Er blieb exakt fünfundzwanzig große Schritte vor der nächsten Zielscheibe stehen, winkte Graham zu sich und hielt ihm ein Jagdgewehr entgegen. Es hatte ein Zielfernrohr. Graham mochte Gewehre mit Zielfernrohren. In Call of Duty konnte man sich damit in einem gemütlichen Plätzchen einrichten und seine Gegner einzeln eliminieren, ohne sich unnötig in Gefahr zu begeben. In der Realität gab es Unterschiede. Zum Beispiel war ein echtes Gewehr signifikant schwerer als eine Maus. Und es gab Wind. Und Sonne. Und es gab Hebelkräfte, die es nicht gerade leicht machten, die Waffe geradeaus zu richten und still zu halten.

Fünfundzwanzig Schritte schienen nicht viel zu sein, aber durch das Zielfernrohr die Zielscheibe überhaupt zu finden war schon ein Geduldsspiel. Roxton wartete mit verschränken Armen.»Affen leben auf Bäumen«, bemerkte er schließlich.»Muss ich das verstehen?«»Das heißt der Raptor wird uns auf dem Boden begegnen. Deshalb wäre es klüger, nicht in die Baumkronen zu zielen. Er wird es Ihnen nicht danken, wenn Sie sein Leben verschonen wollen.«»Weiß man's?« Wieder einmal hatte Graham schneller gesprochen als gedacht.»Laut meiner Erfahrung wird kein wildes Tier, welches angreift, plötzlich stoppen und Ihre pazifistische Einstellung wertschätzen. Wenn es darauf ankommt, heißt es er oder Sie.« Roxton stellte sich neben Graham und korrigierte die Haltung. Für einen kleinen Augenblick sah Graham durch das Fernrohr die Zielscheibe und vor Begeisterung zog sich alles in ihm zusammen; besonders der Zeigefinger am Abzug.

Es krachte ohrenbetäubend. Roxton zuckte nicht einmal zusammen, dafür zerstob die Zielscheibe in einer Holzsplitterwolke.»Ich hab getroffen!« rief Graham.»Anfängerglück«, knurrte Roxton.

Mit der Einschätzung sollte der Lord recht behalten: in den nächsten drei Stunden traf Graham kein weiteres Mal. Dafür wurde er immer öfter das Ziel von Roxtons spöttischen Bemerkungen. Und das zu recht. Nach einer Weile zitterten Grahams Arme so stark, dass im Umkreis von fünfzig Fuß um das Ziel herum nichts seines Lebens sicher war. Die jungen Bäume hinter den Zielen wurden erst entlaubt und anschließend entästet, während die Zielscheibe unberührt dastand.»Vielleicht sollten Sie auf die Bäume dahinter zielen.«»Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für Reverse Psychology!« zischte Graham.»Was soll das sein?«»Man versucht das Gegenteil dessen, was man erreichen will. So als würde man einem Teenager befehlen, sein Zimmer aufzuräumen.«»Was ist ein Teenager?« fragte Roxton ehrlich verblüfft. »Und warum hat er kein Hausmädchen, dass das für ihn erledigt? Aber Sie haben recht. Vielleicht weigert sich Ihre pazifistische Neigung, ordentlich zu schießen. Zielen Sie auf den Vogel da oben.« Der Vogel war eine Taube. Und wer in London aufgewachsen ist, stand auf dem Trafalgar Square mindestens einmal in seinem Leben auf der falschen Seite des Verdauungstraktes, wenn die Tiere abhoben. Es mochten Lebewesen sein, aber sie hatten den falschen Mann angekackt. Graham hob das Gewehr, zielte und drückte ab. Die Zielscheibe fiel in der Mitte getroffen um.»Wie hieß das? Reverse Psychology? Sollte ich mir merken.« Graham starrte Roxton wütend an.»Wie hoch ist eigentlich die Wahrscheinlichkeit, dass wir gemütlich irgendwo warten, Jack vorbeikommt und wir ihn mit einem Gewehr ausschalten können?« Roxton zuckte mit den Achseln.»Zwanzig Prozent, schätze ich. Es wird mehr auf eine Jagd hinauslaufen.«»Durch die engen Gassen von Whitechapel.«»So sieht es aus.«»Wäre es dann nicht vernünftiger, wenn ich es mit einer handlicheren Waffe versuche? Einer, mit der ich durch Whitechapel jagen kann, ohne dass gleich die ganze Armee auf meinen Fersen ist?« Roxton kramte in der Tasche und zog einen Colt heraus.»Sowas hier?«»Ja.«»Glauben Sie, damit könnten Sie dem Saurier ernsthaft schaden?«»Ich hoffe es. Ich könnte durch das Auge direkt ins Hirn schießen.« Roxton sah Graham ungläubig an.»Auf jeden Fall würde es das Tier ablenken, bis ich anlegen und zielen kann«, sagte er schließlich. »Und wenn nicht, sind Sie auf jeden Fall näher an ihm dran als ich.« Graham ignorierte den Sarkasmus und griff nach dem Colt. Roxton schob Graham nach vorn. »Fünfzehn Yard. Alle Treffer von weiter weg sind Zufall.«»Damit bin ich bisher sehr gut gefahren.«»Zufall heißt auch Querschläger. Und die können in einem dicht besiedelten Gebiet jeden treffen.« Damit hatte Roxton recht. Graham spürte, dass seine Ohren rot wurden, wie immer, wenn er sich ertappt fühlte. Er hatte nicht im geringsten an die praktische Seite der Jagd gedacht, dass es dabei außer Jäger und Gejagtem noch eine Menge unbeteiligte Zuschauer a.k.a. Kanonenfutter gab. Solche, die er eigentlich schützen wollte. Sollte einer dieser Menschen durch seine eigene Schuld zu Schaden kommen – das war etwas, über das Graham nicht einmal nachdenken wollte. Er gab Roxton den Colt zurück.»Das Training ist zu Ende. Ich schieße nicht.«»Und wie wollen Sie sich gegen den Saurier verteidigen?«»Damit.« Graham zog Mirandas Blitzpistole aus seiner Jackentasche. Roxton starrte das Geräte eine Weile an.»Lady Hastings Erfindergeist in allen Ehren«, sagte er schließlich, »aber ich würde das Ding nicht einmal abfeuern, wenn mir eine ganze Herde wütender Nashörner auf den Fersen wäre.

---ENDE DER LESEPROBE---