Das Imperium der Puppen - Philipp Nathanael Stubbs - E-Book

Das Imperium der Puppen E-Book

Philipp Nathanael Stubbs

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Beschreibung

Künstliche Intelligenz im viktorianischen England? Irgendwie ist Graham dafür verantwortlich. Nicht für die Mechanisatoren, die von echten Menschen kaum zu unterscheiden sind, sondern dafür, dass deren künstliche Intelligenz es für eine gute Idee hält, die Menschheit auszurotten. Davon ahnt er natürlich nichts, als er 150 Jahre später geboren wird. Und auch die ersten dreißig Jahre des Business Analytikers (Sie kennen den Typ: Gut mit Mathe, schlecht mit Menschen) verlaufen relativ ereignislos. Das ändert sich schlagartig, als er, von einer Gruppe Schläger verfolgt, durch eine uralte Tür stolpert, die eine Minute vorher noch gar nicht da war und sich in einem London wiederfindet, das es seit anderthalb Jahrhunderten nicht mehr geben dürfte. Als dann noch sein bester Freund versucht, ihn umzubringen und er im ehrlichen Zweikampf von einer Kakerlake besiegt wird, weiß Graham: Dieser Ort und diese Zeit sind nichts für ihn. Ach ja: Wenn er den Knopf drückt, verschwindet auch Miranda van Storm aus seinem Leben. Und das allein garantiert im Moment die Existenz dieser Welt.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Philipp Nathanael Stubbs

Das Imperium der Puppen

Steampunk-Roman

Rodderik & Storm

Band 1

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über das Buch

Rodderik & Storm - Die Steampunk-Abenteuerserie

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Kapitel 1 - Die Frau im Spiegel

Kapitel 2 - Der Weg in die Schatten

Kapitel 3 - Das Haus der Puppen

Kapitel 4 - Der Bibliothekar

Kapitel 5 - Der Fürst und seine Diener

Kapitel 6 - Theater und Räuberpistolen

Kapitel 7 - Zurück in die Zukunft

Kapitel 8 - Die Herrin der Kakerlaken

Kapitel 9 - Die Pestgasse

Kapitel 10 - Puppenball

Kapitel 11 - Unterlondon

Kapitel 12 - Früher war alles... nein, doch nicht

Kapitel 13 - Auf Diebespfaden

Kapitel 14 - Fleisch und Blut

Kapitel 15 - Lords and Ladies

Kapitel 16 - Verrat im Dunkeln

Kapitel 17 - Alles nur Verrückte

Kapitel 18 - Staatsfeind Nummer 1

Kapitel 19 - Punkt ohne Wiederkehr

Kapitel 20 - Nach dem Sturm

Kapitel 21 - Kein Zurück

Was passiert als Nächstes?

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Rodderik & Storm - Die Steampunk-Abenteuerserie

Impressum

Über das Buch

Ist eine uralte Tür, die vor 2 Sekunden noch nicht da war, ein geeigneter Fluchtweg?

Mit drei Gangstern auf den Fersen stellt sich Graham Rodderik diese Frage nicht erst und landet in einem London, das es seit 150 Jahren nicht mehr geben dürfte – und das überhaupt nicht so ist, wie Dickens es beschrieben hat.

Aber Graham hat andere Probleme: Innerhalb weniger Minuten versaut er es sich mit der Frau seines Lebens, will sein bester Freund ihn umbringen, trifft er einen astreinen Psychopathen, wird von Killermechanoiden gejagt und muss ein Attentat auf Queen Victoria verhindern.

Dabei wollte er doch nur nach Hause, sich vor seinem Rechner setzen und möglichst wenig mit Menschen zu tun haben, die so viel komplizierter sind als statistische Mathematik.

Rodderik & Storm - Die Steampunk-Abenteuerserie

Alle Bücher in der chronologischer Reihenfolge:

Prequel - Die mechanische Braut (exklusiv für Newsletter-Empfänger)

Band 1 - Das Imperium der Puppen

Band 2 - Die verlorene Welt

Band 3 - Die Morde von Whitechapel

Band 4 - Der stille Planet

Band 5 - Abyssus

Kurzgeschichte - Keine Ehre unter Dieben (exklusiv für Newsletter-Empfänger)

Band 6 - Ex Machina (erscheint 2025)

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Die mechanische Braut - Eine Romanze? Nicht ganz. Lustig? Aber hallo!

Was passiert, wenn eine brillante junge Erfinderin, die lieber mechanische Kakerlaken baut als über die Ehe nachzudenken, auf einen reichen, aber leicht überforderten Lord trifft, der genau sie für das Imperium seines Vaters gewinnen soll?Es kommt zu einem Chaos aus aberwitzigen Dialogen, skurrilen Erfindungen und dem wohl unromantischsten Werben der Literaturgeschichte.

Hier geht’s zum Gratisbuch: https://philippnathanaelstubbs.de/gratisbuch

Kapitel 1 - Die Frau im Spiegel

KAFFEE! DANN WIRD NIEMAND VERLETZT!

Graham starrte auf das weiße Porzellan mit der gesprungenen Glasur, ohne etwas davon in sein Hirn aufzunehmen. Das war morgens halb Sieben ohne Koffein auch nicht möglich. Die Tasse hatte ihm Helen Fields, die Sekretärin der kleinen Investmentbude, in der er als Student gejobbt hatte, zum Abschied geschenkt. Das war Ewigkeiten her – zumindest im Investmentbusiness, wo kein Mensch weiter als zwei Monate, geschweige denn zwei Jahre dachte. Entweder hatte die Frau sich keine weiteren Gedanken über das Geschenk gemacht, als dass es das 5-Pfund-Budget nicht überschreiten durfte – oder sie kannte Graham besser, als ihm lieb war. Doch der Aufkleber des Second-Hand-Shops ließ Nr. 1 vermuten. Während der Kaffee aus dem Automaten in die Tasse floss, versuchte Graham, sich ihr Gesicht ins Gedächtnis zurückzurufen. Der Versuch blieb erfolglos.

Der Kaffeestrom versiegte zu früh. Hektisch rot blinkende Lichter zeigten an, dass die Maschine ihren Dienst verweigerte und eine aus dem Innern herauskräuselnde Rauchwolke wies darauf hin, dass sich daran in nächster Zukunft nichts ändern würde. Graham zerrte den Stecker aus der Steckdose und fluchte leise vor sich hin. Dann schnappte er sich seine Tasche und verließ die Wohnung. Die Zeit war knapp, doch der Umweg notwendig. Ohne Koffein war Graham eine Gefahr für sich selbst und seine Mitmenschen.

Eigentlich nur für seine Mitmenschen.

Graham drückte eine Viertelstunde später die Glastür der Starbucks Filiale auf und quetschte die Masse der Neun-Bis-Fünf Bürozombies noch enger zusammen, die auf der Jagd nach etwas Motivation oder wenigstens Koffein geduldig wie Schafe in der Schlange standen. Das unwillige Gemurmel der Gequetschten quittierte Graham mit einem leisen Sorry und dem Versuch, möglichst unsichtbar zu werden.

Graham war kein Schaf wie die anderen hier. Zumindest in seiner Vorstellung. Er war ein Wolf. Er war der aufsteigende Star der Investmentabteilung von Poor, Moore & Moody – was zugegeben ein bescheuerter Name für eine Vermögensverwaltungsagentur ist – hatte den Brooklyn-Deal eingefädelt, geplant und durchgezogen. Einen Deal, der ihm persönlich in wenigen Stunden siebenundzwanzig Millionen Pfund bringen würde. Was für Graham im Grunde genommen nicht mehr als eine Zahl war. Und genau das war der Grund, warum ihn viele seiner Mitmenschen für äußerst seltsam hielten.

Trotzdem war er ein Wolf. Keine Frage. Aber ein Wolf braucht die Schafe, die er fressen konnte. Kein Grund, die Herde zu vergraulen – Investmentbanker hatten im Augenblick sowieso nicht gerade den besten Ruf – deshalb stellte er sich hinten an und wartete.

Die Warteschlange bei Starbucks bestand aus neunzehn Personen, die auf einen jungen, leicht überforderten und ganz sicher unterbezahlten Aushilfsstudenten warteten. Graham überschlug in seinem Kopf, was ihn erwartete: Bei der durchschnittlichen Bearbeitungsdauer von siebenundachtzig Sekunden dauerte es fast achtundzwanzig Minuten bis zu seinem Kaffee. Graham stöhnte. Innerlich. Und ergab sich seinem Schicksal. Ganz so, wie es von einem wohlerzogenen Engländer erwartet wurde.

Eine Jacht musste es sein. Grahams Gedanken hatten die Wartezeit genutzt, um auf Wanderschaft zu gehen. Was stellte man mit siebenundzwanzig Millionen Pfund an? Für einen jungen Mann ohne Familie und nennenswerte weitere Bedürfnisse, dessen Vorstellung von Spaß das Lösen mathematischer Rätsel einschloss, war Geld etwas, was man hatte – und nichts was man brauchte. Fred, sein Boss und Freund seit Internatstagen, hatte ihm erklärt, dass er sich mal etwas Luxus gönnen sollte und dabei eine Jacht erwähnt. Mangels Alternativen hatte sich diese Vorstellung in Grahams Gehirn festgesetzt. Er stellte sich vor, wie er mit aufheulendem Motor, eine beachtliche Bugwelle hinter sich herziehend, am Tower vorbei brauste. Weißes Holz, viel Chrom und schwarzes Leder. Dann tauchte am Horizont eine Insel mit Sandstrand, Palmen und einer offenen Bar auf, die sich zugegebenermaßen nicht in der Nähe von London befand, aber eher nach Grahams Vorstellung vom Paradies aussah1.

»To Go oder hier?« fragte der unterbezahlte Aushilfsstudent hinter der Theke.

   »Was?«

   »To Go oder hier?«

   »To Go natürlich.« Wer hatte schon Zeit und ein so niedriges Selbstbewusstsein, sich bei Starbucks hinzusetzen?

   »Einmal Kaffee schwarz To Go. Kommt sofort.« Kaffee schwarz? Wann hatte er was von Kaffee schwarz gesagt? Oh! Schwarzes Leder. Fing er schon an, Selbstgespräche zu führen? Graham hatte von Typen gehört, die den Stress nicht vertrugen und durchgedreht waren. Der Mann hinter der Theke stellte ihm ein paar Sekunden später den Pappbecher auf den Tresen. Graham zögerte zuzugreifen. Er mochte keinen schwarzen Kaffee. Er mochte Milch und Zucker. Der Barista, der sich schon dem nächsten Kunden zugewandt hatte, drehte sich nochmal um und sah Graham prüfend an.

   »Ist noch was?« Graham zuckte zusammen und griff nach dem Becher.

   »Nein, danke.«

   »Sie sehen nicht gut aus. Vielleicht sollten Sie sich krankmelden.« Aber Graham war schon zur Tür raus.

Auf der Straße nippte Graham an dem bitteren Kaffee und verzog das Gesicht. Er suchte nach einem Mülleimer, als er rechts aus Bodennähe eine Stimme hörte.

   »Etwas Kleingeld, Sir?« Sir. Bald würden ihn alle in der Firma so ansprechen und nicht mit Grams, dem Spitznamen, den er verabscheute. Sir, das hatte einen Klang, selbst wenn es von einem Penner auf der Straße kam.

   »Sie können meinen Kaffee haben.« Die verwitterte Gestalt griff zu.

   »Danke, Sir! Gott segne Sie!« Gott segne mich, wenn ich zu spät komme, dachte Graham. Der Brooklyn Deal war unter Dach und Fach, aber die Umstrukturierung noch nicht. Und ohne Grahams Informationen wäre Fred, der für diesen Teil des Jobs zuständig war, hilflos. Und Freund oder nicht – dann würde Fred den Boss raushängen lassen.

Graham schaute sich um. Die Fußwege waren verstopft mit zielstrebigen Büroangestellten (gut) und trödelnden Touristen (schlecht), die Straßen zugestopft mit Autos. Zu Fuß oder mit dem Taxi bestand keine Chance, durchzukommen. Aber die Busspur war leer. Graham seufzte. Er mochte keine Busse2. Aber ihm blieb keine andere Wahl. Er ging zum Wartehäuschen der City-Linie, die ihn in zehn Minuten in den Finanzdistrikt brächte und dachte darüber nach, was mit der alteingesessenen Frachtschiff-Gesellschaft Brooklyn Limited zu tun wäre, die dank seiner tatkräftigen Mithilfe in wenigen Wochen wieder schwarze Zahlen schreiben würde. Dass der Hauptgrund für diese finanzielle Genesung darin lag, fast alle erfahrenen, langjährigen und britischen Angestellten durch nicht ganz so erfahrene, dafür wesentlich billigere brasilianische Arbeitskräfte zu ersetzen, war ein Fakt, der Graham beim Betrachten wohlformatierter Excel-Tabellen selten zu Bewusstsein kam. Oder um genauer zu sein: nie. Ein Umstand, den er in weniger als achtundvierzig Stunden bitter bereuen sollte.

Es regnete nicht. In einer Stadt wie London war das ein erwähnenswerter Umstand und deshalb war es auch egal, dass das Wartehäuschen vollgepackt mit anderen Pendlern war. Graham stellte daneben und wartete. Er sah nach rechts und nach links, spähte nach einem Anzeichen des roten Doppeldeckers, der sich durch den Verkehr schlängeln sollte und sah wieder nach rechts. Nicht wegen des Busses, sondern wegen der Frau, die mitten auf der Straße stand. Und hingebungsvoll die leere Luft putzte.

Niemand sonst schien die junge Frau zu bemerken. Keiner der Wartenden, keiner der Fußgänger, kein Autofahrer. Auch nicht der, der direkt auf sie zufuhr. Graham sprang nach vorn.

   »Vorsicht!« Ein brutales Hupen war die Antwort.

   »Augen auf, du Trottel!« brüllte der Toyota-Fahrer. Graham sprang zurück und sah die erschrockenen Gesichter der Wartenden. Dann kamen die Geräusche zurück, der ganz normale Verkehr, der weiterging, als wäre nichts gewesen. Aber auch kein Zusammenprall, kein Aufkreischen – er sah wieder nach vorn, auf die Straße, auf die Frau, die ihn jetzt ansah, blass, erschrocken, mit offenem Mund. Und er sah, wie der morgendliche Londoner Berufsverkehr durch sie durchfuhr.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter und zog ihn weiter von der Fahrbahn weg.

   »Alles in Ordnung?«

   »Die, die Frau da...« Graham zeigte zurück auf die Straße, aber da war nichts. Der Mann, der zu der Hand gehörte, sah ebenfalls in die Richtung und runzelte die Stirn.

   »Welche?« Graham suchte weiter nach der Frau, aber fand sie nicht.

   »Sie ist weg. Ich dachte, sie wird... Ach nichts, wahrscheinlich nur Stress.«

   »Aber sonst ist alles in Ordnung?«

   »Ja, ja klar. Nur... Übermüdung.« Der Mann steckte seine Hand in die Manteltasche und zog eine Visitenkarte heraus.

   »Falls Sie mal drüber reden wollen.« Graham las irgendeinen Namen und darunter die Berufsbezeichnung: Psychiater. Er lachte trocken auf.

   »So schlimm ist es noch lange nicht.«

   »Das sehe ich anders. Tun Sie mir einen Gefallen: Bevor Sie diesen endgültigen Abschied wählen, reden Sie mit mir. Die erste Stunde ist gratis.«

   »Ich, äh, das war kein, ich wollte mich nicht umbringen oder so.«

   »Sieht Ihr Unterbewusstsein das genauso?«

   »Ach verdammt, mein Bus kommt. Ich muss los.«

Dreizehn Minuten später betrat Graham sein Büro und hatte den Vorfall schon fast vergessen.

*

Es war weit nach Mitternacht, als Graham die Tür zu seiner Wohnung aufschloss, seinen Rucksack in die eine Ecke warf und seine Schuhe in die andere kickte. Der Tag war überhaupt nicht so gelaufen, wie es sollte. Irgendein Gewerkschafter, der sich profilieren wollte, hatte mitbekommen, was bei Brooklyn Limited lief – nichts Genaues, aber der Typ kannte PM&M und zog seine Schlüsse daraus. Nichts, was vor Gericht Bestand haben würde, aber die Rechtsabteilung wurde nervös und es war Graham, der die Situation analysieren und Gegenmaßnahmen empfehlen musste. Jetzt wollte er nur noch was Essen und ins Bett.

Als er schlief, sah er die seltsame Frau in seinen Träumen.

Den Traum hatte er am nächsten Morgen schon vergessen – aber die Frau nicht. Entgegen seiner Gewohnheit ging er diesmal nicht bei Starbucks vorbei, sondern gleich zur Bushaltestelle. Wenn sie eine Pendlerin wie er war, dann würde sie um die gleiche Zeit vorbeikommen. Graham wartete, aber sie kam nicht. Er wartete sogar etwas länger, als vernünftig war. Er würde zu spät kommen, sein Boss würde ihm einen halbherzigen Anpfiff geben (mehr würde er sich nicht wagen) und das Leben würde weitergehen – es war eben eine Zufallsbegegnung, die sich nicht wiederholen ließ. Mehr nicht. Die 81 schob sich durch den Verkehrsstrom an den Straßenrand, öffnete die Tür, entließ hinten einen Pulk übermüdeter Nachtarbeiter auf den Fußweg und verschlang vorn eine Portion frisch ausgeruhter Schreibtischarbeiter. Graham griff nach der Haltestange und setzte seinen Fuß auf die unterste Stufe, da sah er sie im Augenwinkel. Und einen Sekundenbruchteil später war sie weg, als wäre sie nie da gewesen. Graham zögerte. Er suchte die Menschenmassen ab, aber fand ihr Gesicht nicht wieder.

   »Steigen Sie ein oder wollen Sie da Wurzeln schlagen?« knurrte der Fahrer. Graham zögerte immer noch.

   »Ich...« Der Fahrer drückte auf einen Knopf und die Tür schloss sich. Graham zog seine Aktentasche durch den schmaler werdenden Spalt.

   »Danke, sehr freundlich.« Als Antwort bekam er nur einen ausgestreckten Mittelfinger zu sehen.

»Du siehst beschissen aus«, begrüßte ihn Fred, der so etwas wie sein Boss war. Graham hatte es fast pünktlich ins Büro geschafft und Fred – dessen Bonus ebenfalls vom Erfolg des Brooklyn Deals abhing, war klug genug zu wissen, wann er die Klappe halten sollte. »Hast du schlecht geschlafen?«

   »Schlecht geschlafen hab ich vor zwei Monaten. Danach hab ich damit aufgehört.« Fred lachte. Sie beide kannten das Machogehabe der Investmentleute, die sich nie Schwächen eingestehen würden und damit prahlten, welche neuen Höhen der Selbstausbeutung sie erklommen hatten.

   »Echt, du solltest heute etwas früher Schluss machen. Wir können ja einen trinken gehen.« Fred zwinkerte. »Gibt Neuigkeiten.« Graham nickte. Die wirklich wichtigen Sachen wurden nicht im Büro besprochen, sondern während der Zigarettenpause auf dem Dach. Und seit dem die neuen Nichtrauchergesetze das verboten hatten, beim Bier im Pub. Wenn irgendwann mal ein Alkoholverbot durchgedrückt würde, dann gänge es mit der Wirtschaft bergab.

   »Gegen Sieben in der Bar auf der anderen Straßenseite?«

   »Punkt Sieben. Im Old Dragon, da sind wir unter uns.« Was auch immer Fred hatte, es musste wichtig sein. Graham nickte.

   »Punkt Sieben.« Und er dachte den ganzen Tag darüber nach, was Fred ihm sagen wollte.

Als Graham kurz vor Sieben den Old Dragon betrat, war der Pub vollgepackt mit Feierabend-Trinkern. Die meisten waren hier, um ein Pint oder zwei zu trinken; manche würde bis zur Last Order bleiben und dann gehen – falls sie das dann noch konnten. Normalerweise wäre Graham nie in so einen Pub gegangen, aber er konnte sich vorstellen, warum Fred genau dieses Lokal gewählt hatte: die meisten Gäste hier hatten nichts mit Banken am Hut, nicht mal mit Geld, wenn man die schäbigen Jacken, durchgewetzten Hosen und abgelatschten Schuhe betrachtete. Das hier war der Pub für Bauarbeiter, Hausmeister und den gelegentlichen Penner, der mal einen guten Tag hatte.

Fred wartete bereits an einem der hinteren Tische und winkte Graham zu, der an der Bar sein Bier holte und sich dann durch die Masse schob.

   »Setz dich.« Dann wartete Fred, bis Graham die Hälfte seines Glases in einem Zug leerte. Sein Boss sah ihn dabei die ganze Zeit mit einem eigenartigen Lächeln im Gesicht an.

   »Du siehst aus, als hättest du im Lotto gewonnen.« Freds Grinsen wurde breiter.

   »Hab ich auch, mein Freund.« Dann beugte er sich vor. »Das muss unter uns bleiben, klar?« Graham nickte. »Schwöre.« Graham runzelte die Stirn. Dann hielt er drei Finger in die Luft.

   »Ok, Pfadfinderehrenwort.«

   »Du warst nie bei den Pfadfindern.«

   »Doch.«

   »Echt? Die gibt's noch? Ich dachte, das ist so eine Sache aus dem vorigen Jahrhundert.«

   »So lange ist das auch wieder nicht her. Meine Eltern haben mich hingeschickt. Wollten, dass ich unter Gleichaltrige komme.«

   »Und die haben dich regelmäßig vermöbelt.« Fred zuckte mit den Schultern. »Kenn ich, ging mir genauso. Beim YMCA. Sollte man nicht für möglich halten.«

   »OK und was ist das große Geheimnis?«

   »Ich hatte ein Gespräch mit Moody.« Graham klappte das Kinn runter.

   »Der redet mit dem Fußvolk?« Fred grinste.

   »Zu dem wir beide bald nicht mehr gehören.«

   »Die feuern uns? Aber wieso?« Fred verdrehte die Augen.

   »Schwer von Begriff heute? Du bist doch sonst nicht so. Partner, Grams, Partner. Wenn der Brooklyn-Deal klappt, werde ich zum Partner befördert und du bekommst meinen Job. Und die nächste freie Partnerstelle. Weißt du, was das heißt?« Graham wusste genau, was das hieß. Geld, Privilegien, Macht. Das hieß nicht nur Aufstieg in der Firma, das hieß Aufstieg in der Gesellschaft. Das bedeutete Einladungen in die Partys des Finanzadels. Das hieß alles, worauf es ankam. Und worauf Graham die letzten sechs Jahre hingearbeitet hatte. Fred wartete, bis der Glanz in Grahams Augen am hellsten schien.

   »Alles, was wir tun müssen, ist uns in diesen einen Deal voll reinzuhängen.«

   »Klar. Ich verstehe.«

   »Ich brauch dich fit«, wiederholte Fred eindringlich. »Volle Kraft.«

   »Ich bin fit!«

   »Du siehst aber nicht so aus.« Fred sah sich um. »Hier, ich hab was für dich.« Unter dem Tisch schob er Graham eine Schachtel zu. Graham wollte sich die Packung genauer ansehen, aber Fred drückte seine Hand nach unten. »Lass es nicht jeden sehen.«

   »Was ist das?« Fred zuckte nur mit den Schultern.

   »Ein Koffeinpräparat.«

   »Nur Koffein?«

   »Größtenteils. Vertrau mir einfach. Es hält dich fit.« Graham hielt Freds Blick für einige Sekunden fest. Er kannte Fred schon eine Ewigkeit – sie waren ins gleiche Internat gegangen und am College in dieselben Kurse, hatten sich bei der gleichen Firma beworben und am selben Tag begonnen. Fred war irgendwann Abteilungsleiter geworden und er war es gewesen, der Grahams Idee vom Brooklyn Deal beim Management durchgeboxt hatte. Es gab keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Und sein Blick war offen und ehrlich – mit einem beruhigenden Augenblinzeln. Eins, Eins-Zwei, Pause. Eins, Eins-Zwei, Pause. Graham holte Luft und ließ die Packung in seiner Jackentasche verschwinden.

   »Geht klar.«

   »Eine am Morgen, vertreibt Kummer und Sorgen.«

   »Solange sie meinen außergewöhnlich scharfen Verstand nicht trübt.« Fred grinste.

   »Keine Angst, wird sie nicht.« Dann klopfte er auf die Tischplatte. »Wir sehen uns morgen. Und in drei Wochen spätestens haben wir die Sache hinter uns.«

   »Und dann fängt das schöne Leben an – Bahamas, Malediven, Jacht und Bacardi.« Fred legte den Kopf schräg und sah Graham prüfend an.

   »Auf die faule Haut legen? Wirklich? Keine Lust auf was Größeres?« Graham wurde aufmerksam.

   »Noch größer?«

   »Lass dich überraschen. Bis morgen!«

Der nächste Morgen begann mit einem Hämmern im Schädel. Obwohl Graham nichts weiter getrunken hatte, tobte sich in seinem Kopf eine Heavy Metal Band aus. Benommen stolperte Graham ins Bad und tastete in seinem Spiegelschrank nach ein paar Aspirin. Die Packung, die er fand, war leer, aber er erinnerte sich an eine Notration im Reisekoffer. Die Tabletten waren überlagert, aber besser als nichts. Er schluckte sie auf nüchternen Magen und spülte ein Glas Wasser hinterher. Dann sah er sich im Spiegel an. Das Bild war ernüchternd. Die Haut blass, schwarze Augenringe, die Augen selbst rot. Der Bartschatten hob sich schwarz ab und sah eher nach drei Tagen als nach einer Nacht aus. Nur noch ein paar Tage, sagte sich Graham, dann ist der Deal durch. Sein Blick fiel auf die Pillen, die Fred ihm gestern Abend gegeben hatte. Danach fühlst du dich besser, waren seine Worte. Schaden kann's nicht, dachte sich Graham und warf eine Tablette hinterher.

Eine halbe Stunde später war Graham ein neuer Mensch. Was auch immer in Freds Pillen drin war – es wirkte besser als Kaffee, Koks und Speed zusammen. Graham hatte nicht geglaubt, dass man wirklich jemals alles kristallklar sehen konnte – jetzt erlebte er es. Die ganze Welt lag vor ihm ausgebreitet, logisch, überschaubar und ihm zu Füßen. Er fühlte sich wie ein Gott und diese Welt war nur dazu da, von ihm beherrscht zu werden.

Es gab Ausnahmen: Die Londoner Taxifahrer waren definitiv nicht bereit, von Graham beherrscht zu werden; sie waren nicht einmal bereit, für ihn anzuhalten und ihn mitzunehmen. Missmutig steuerte Graham wieder die Bushaltestelle an. Zum Glück bewegten sich die anderen Fußgänger wie in Zeitlupe und es machte ihm keine Mühe, den schwerfälligen Tagträumern und Faulenzern auszuweichen, die lustlos auf dem Weg zu ihren gehassten Jobs unterwegs waren, wo sie minderwertige Arbeit machten, bis sie am Abend erschöpft (Wovon eigentlich?) und schlecht gelaunt zu ihren Familien zurückkehrten, um diese zu tyrannisieren.

Graham erreichte das Wartehäuschen gerade in dem Moment, in dem die 81 sich wieder ihren Platz im Verkehrsstrom erzwang. Der nächste Bus würde in endlosen zehn Minuten kommen, aber Graham war viel zu gut gelaunt, um sich darüber zu ärgern. Er genoss seine neue Klarheit, beobachtete die Menschen, dann Glasfassaden der Häuser mit den Büros dahinter, dann die Straße. Ein seltsames Flirren in der Luft in seinen Augenwinkeln erregte seine Aufmerksamkeit, so als wären seine Augen überanstrengt. Er wusste, wenn er sich darauf konzentrieren würde, würde es verschwinden – aber diesmal blieb es. Dieses Flirren – es war seltsam. Es bewegte sich nicht, es war gerade, so als würde man nur die Kante einer geschliffenen Glasscheibe sehen, die Scheibe selbst aber nicht. Und es war ein geometrisch exaktes Rechteck mitten in der Luft, wie ein Fenster. Graham sah hinein.

Und jemand schaute zurück.

Es war die Frau von vorgestern, daran bestand kein Zweifel. Und sie sah Graham ebenfalls – daran bestand auch kein Zweifel. Und Graham sah, wie die Taxis, Busse, Motorräder und Autor des morgendlichen Berufsverkehrs durch sie hindurchfuhren, obwohl sie so real war, als würde sie aus Fleisch und Blut dastehen. Aber das konnte nicht sein, oder? Kein anderer Passant schien sie zu bemerken. Und sie wäre aufgefallen. Jede Frau, die so aussah, wäre sofort Zentrum zumindest der männlichen Aufmerksamkeit geworden.

   Die Frau trug ein altmodisches Kleid. Eins, das vielleicht zu Viktorias Zeiten in Mode war, aber sie selbst war jung. Siebzehn höchstens, zu jung um in Grahams Beuteschema zu passen. Das Kleid war zwar nach der Mode des neunzehnten Jahrhunderts geschneidert, aber es sah neu aus. Der Stoff glänzte und hatte keine Flicken. Die Farbe war nicht ausgeblichen, keine Knöpfe, die fehlten. Die Front wurde von einer schweren Lederschürze bedeckt, in der in unzähligen Taschen Werkzeuge gestopft waren. Schraubendreher, Zangen, Saitenschneider und Dinge, die für jemanden nützlich waren, dessen handwerkliche Fähigkeiten die Grahams weit überschritten. Jetzt zog sich das Mädchen aus ihren braunen Locken eine Spezialbrille über die Augen. Die Gläser waren Lupen, so dick wie Flaschenböden und vergrößerten die Augen dahinter, sodass sie aussah wie ein Frosch. Unwillkürlich musste Graham grinsen, dann versperrte ein Bus die Sicht.

   »Wird's heute noch?« knurrte jemand hinter ihm und Graham erwachte aus seinen Gedanken. Das mussten die Pillen sein. Er stieg ein. Als er durchs Fenster auf die Straße sah, war da kein Fenster, keine Frau, nur regenbogenfarbenschimmernde Benzinpfützen und Abgase. Es mussten die Pillen sein.

»Fred?« Graham klopfte vorsichtig an und zog die Tür hinter sich zu, als Fred ihn hereinwinkte.

   »Was ist los, alter Junge?« Graham druckste herum.

   »Die Pillen, die du mir gegeben hast – haben die Nebenwirkungen?« Fred lehnte sich zurück.

   »Bei mir nicht. Aber wer weiß? Was ist los?«

   »Ich sehe da diese Frau.«

   »Das ist eine Nebenwirkung von was anderem.«

   »Nicht das! Sie steht mitten auf der Straße so wie ich dich jetzt sehe, aber keiner sonst sieht sie und die Autos fahren durch sie durch.«

   »Wie viele Pillen hast du genommen?«

   »Nur eine, heute früh.«

   »Die sind absolut ungefährlich. Und wo hast du die Frau gesehen?«

   »An der Bushaltestelle.« Fred schnippte mit den Fingern.

   »Das erklärt alles.«

   »Ach ja?«

   »Spiegelung. Irgendwo in einem der umliegenden Häuser ist ein Fotoshooting und die Glasscheiben der Fenster und des Wartehäuschens reflektieren das. Was du siehst ist nicht mehr als ein Hologramm. Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.«

   »Spiegelung. Klar!« Graham seufzte. »Dass ich nicht selbst drauf gekommen bin.«

   »Dann ist ja alles in Ordnung. Aber...« Fred sah Graham eindringlich an. »...erzähl's trotzdem keinem weiter.«

   »Bin noch nicht verrückt.«

   »Eben.«

Am nächsten Morgen stand Graham eher auf als üblich. Duschte, zog sich an. Er schaute auf Freds Tabletten, die im Bad lagen, nahm keine, steckte aber die Packung ein. Dann ging er nach unten, kaufte sich im Starbucks das, was einem normalen Kaffee am nächsten kam und ging zur Bushaltestelle. Sein Plan war, die Eingänge der Bürohäuser in der Umgebung nach Fotostudios abzusuchen, die Lichtstrahlen der Sonne verfolgen, um herauszufinden, wer diese Frau war.

   Wenn er sie nicht fand, dann wollte er eine dieser Pillen nehmen. Sah Graham die unbekannte Frau dann wieder, dann wusste er, dass die Pillen nicht so harmlos waren, wie Fred sagte. Er machte seinem Freund deshalb keinen Vorwurf; Graham wusste durch unzählige Studentenpartys3, dass Fred einen Magen wie ein Zinkeimer hatte. Was ein Pferd umhaute, brachte ihn nicht einmal zum Schwanken. Es war durchaus möglich, dass Fred die Tabletten vertrug und – gemessen an dem, wie Fred die Welt sah – er davon ausging, dass auch alle anderen keine Nebenwirkungen befürchten mussten.

Die Luft war klar und kalt an diesem Morgen – sogar ein wenig frostig nach der sternklaren Nacht. Dafür schien die Sonne jetzt vom blauen Himmel herunter, ein leichter Wind trieb die Abgaswolken weg, bevor sie die Straßenzüge verstopften und das Atmen unerträglich machten. Eine Stunde später würden sich die Heere der Arbeitenden über die leeren Fußwege schieben, aber jetzt, kurz nach Sonnenaufgang, waren nur ein paar Überreste der Nachtwanderer unterwegs. Graham nahm die Bettler, Obdachlosen und Dealer nicht wahr, die sich in den Hauseingängen verbargen oder in ihren kleinen Pappbehausungen gegen die Kälte verschanzten.

Zuerst ging Graham die Straße ab. Die Werbeplakate in den Fenstern der Büros wiesen auf Steuerberater, Anwaltskanzleien, Versicherungsagenturen, Bauingenieure, Gutachter, Finanzberater und Detektivbüros hinter den Glasscheiben hin. Auf dem Rückweg machte Graham an jedem Eingang halt und las die goldenen, silbernen oder aus Plastik gefertigten Schilder, die Firmen jeder Art und Größe in diesen Steinpalästen vermuten ließen – zu welchem Zweck diese existierten, ließ sich nur in den seltensten Fällen aus den fantasievollen Namen ableiten.

Aber Graham brauchte keine Fantasie – er kannte sich in dem Geschäft aus und er erkannte eine Briefkastenfirma, sobald er eine sah und ein Steuerschlupfloch, selbst wenn es sich als Firma getarnt hatte.

   »Sir, kann ich Ihnen helfen?« Graham drehte sich um und sah einen Berg in Form eines Security-Mannes. Der Mann sah wirklich aus, als ob er Graham helfen wollte: dabei, von hier zu verschwinden, nach Möglichkeit in einem hohen Bogen durch die Luft. Graham lächelte nervös.

   »Ich..., ich suche ein Fotostudio. Es muss hier in der Nähe sein, ich hab nur die Nummer vergessen.« Graham lächelte noch einmal, diesmal hoffnungsvoller. Es blieb unerwidert.

   »Hier gibt es kein Fotostudio.«

   »Sind Sie sicher?«

   »Ich würde ein Fotostudio erkennen, wenn ich eins sehe. Genauso, wie ich Ärger erkenne, wenn ich welchen sehe.«

   »Ich mache keinen Ärger.«

   »Das habe ich auch nicht gesagt.«

   »Dann ist ja gut.« Graham sah noch einmal zu dem Mann. Nein, der würde nicht mit sich reden lassen. Zeit für einen strategischen Rückzug. Graham spürte die Blicke des Mannes auf seinem Rücken noch zwei Blöcke weiter.

»Sieht nicht nach Frachtplänen aus«, kommentierte Fred, nach einem Blick über Grahams Schulter auf den Computermonitor. Graham zuckte zusammen.

   »Das ist...« Fred analysierte das Suchergebnis, das Google ausgeworfen hatte.

   »Fotostudios? Ich hoffe, du willst keine Bewerbungsfotos machen lassen.«

   »Ich? Nein! Quatsch!«

   »Da bin ich ja beruhigt. Also, was ist los?«

   »Diese Frau...«

   »Und damit fing die Misere an.«

   »Das ist Blödsinn. Ich versuche, das Fotostudio zu finden, in dem sie Model ist.«

   »Wie wäre es mit Straße abklappern?«

   »Macht die Security nervös.«

   »Ups. Klingt als hättest du das schon probiert. Ist das die Frau?« Fred hatte schon immer eine fast unnatürliche Beobachtungsgabe gehabt. Und er hatte das Blatt entdeckt, das Graham hastig zwischen seine Papiere geschoben hatte, als die ersten Kollegen nach ihm ins Büro kamen und zog es mit zwei Fingern aus dem Stapel heraus.

   »Mira«, murmelte Fred.

   »Du kennst sie?« Fred sah Graham an. Es lag etwas undefinierbares in seinem Blick – etwas zwischen Erschrecken und Verwunderung. Es verschwand so schnell aus seinen Augen, dass Graham zweifelte, es überhaupt gesehen zu haben.

   »Ich meine Maria. Die Mutter Jesu. Für ein O Gott! reicht die Zeichnung nicht, aber für Maria ist es ok. Ich wusste gar nicht, dass du so gut mit dem Bleistift umgehen kannst.«

   »Gehört nicht unbedingt zu den Kernkompetenzen, die ich bei der Bewerbung für diesen Job angegeben habe.«

   »Notfalls kannst du dich immer noch als Straßenkünstler betätigen, wenn du hier rausfliegst. Und das wirst du, wenn der Deal nicht rechtzeitig über die Bühne geht. Also hopp hopp!« Graham wusste, dass Fred ihn nicht feuern würde. Denn dann könnte er ihm das Leben nicht zu Hölle machen, falls der Deal platzte. »Nette Braut übrigens. Kein Wunder, dass dir nichts anderes mehr durch den Kopf geht. Du brauchst eine Freundin.« Den nächsten Satz sagten beide gleichzeitig:

   »Nach dem Deal!« Fred grinste und ging in sein Büro zurück. Graham drehte sich wieder zum Bildschirm und schloss die Seite mit den Suchergebnissen. In der Gegend um die Bushaltestelle hatte Google keine Fotostudios gefunden. Was hieß, dass es dort keine gab. Graham griff unbewusst in seine Tasche und fand dort die Packung mit Freds Pillen. Eine sollte nicht schaden – es würde ein langer Tag werden.

Als Graham den Bus nach Hause nahm, war er fast der einzige Fahrgast. Unten hatte er einen Penner gesehen4, der sich noch etwas aufwärmen wollte, bevor er irgendwo in einem Pappkarton die Nacht verschlief. Oben knutschte ein verwahrloster Junge ein blasses, pickeliges Mädchen so hingebungsvoll auf der letzten Bank, dass Graham sich nicht sicher war, ob die beiden nicht noch weiter gehen würden. Er setzte sich auf einen Platz im vorderen Drittel, lehnte den Kopf an die kühle Scheibe und schloss die Augen. Freds Pillen waren fantastisch – solange sie wirkten, kam man sich vor wie Superman. Sobald aber ihre Wirkung aufhörte, trat eine bleierne Müdigkeit ein, die Grahams Gehirn betäubte und ihm die Augenlider zudrückte.

Kaum waren seine Lider geschlossen, sah er ihr Bild vor sich. Ihre braunen Augen, die kecke Stupsnase – ein bescheuerter Ausdruck, fand Graham, aber passend – eine ungeheure Wolke lockigen Haares, die ihr rundes Gesicht umrahmten. Er fragte sich, was dieses Mädchen von siebenundzwanzig Millionen Pfund halten würde. Brauchte er wirklich eine Freundin?

Eine Bodenwelle ließ seinen Kopf gegen die Scheibe knallen. Graham öffnete die Augen – und sah das Mädchen immer noch. Und sie sah ihn direkt an, durch die Scheibe! Nein, nicht durch die Scheibe, irgendwo dahinter. Es dauerte einen Augenblick, bis Graham begriff, dass das nicht sein konnte, dass es nur eine Reflektion war. Sein Kopf schnellte herum. Auf der anderen Seite des Busses war nichts. Alle Bankreihen waren leer, selbst das knutschende Paar war verschwunden. Graham sah wieder zurück zur Scheibe, aber sah dort nur das nächtliche London und Dunkelheit. In Sekunden war er die Treppe hinuntergerannt, hatte die Notbremse gezogen, die Notverriegelung gelöst und die Tür aufgezogen. Ohne auf die Flüche des Fahrers zu hören, sprang Graham aus dem langsamer gewordenen Bus und rannte die wenigen hundert Meter zurück, zu der Stelle, wo er die Frau gesehen hatte. Untypisch für London war Graham fast allein auf der Straße. Die wenigen Fahrer, die unterwegs waren, hupten und wichen dem Mann aus, der offensichtlich verwirrt auf dem Mittelstreifen der Fahrbahn stand und sich hilflos in der Gegend umschaute.

Hier war niemand, stellte Graham fest. Kein Fußgänger, kein Pizzabote, keine Security, keine Menschenseele. Graham war sich sicher, dass das hier die Stelle war, an der er die Frau gesehen hatte. Er sah sich noch einmal um, als er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahrnahm. Sofort schnellte sein Kopf in die Richtung. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihre Haare und die seltsame Kleidung, die sie trug: ein hochgeschlossenes, weit aufbauschendes Kleid, der Oberkörper in eine Art Korsett eingeschnürt. Das war die Frau! Ohne nachzudenken rannte Graham ihr nach. Lautes Hupen erschreckte ihn, als der nächste Autofahrer ihm im letzten Moment auswich, aber Graham ließ sich nicht von seinem Ziel abbringen. Er hatte genau gesehen, wohin die Frau verschwunden war: eine schmale Lücke zwischen zwei Bürotürmen, die man auf den ersten Blick für nicht mehr als eine fehlende Verglasung halten konnte.

Als Graham davor stand, glaubte er zuerst, seine Augen spielten ihm einen Streich. Zwischen den Häusern war eine winzige Seitengasse – eigentlich war sie nicht einmal das. Ein schmaler Abstand zwischen den Gebäuden, um irgendeinen Wartungszugang zu erreichen. Breit genug für einen schlanken Mann ohne Platzangst. Aber etwas war seltsam. Obwohl eine Straßenlampe kaum drei Meter entfernt stand, konnte Graham in der Gasse nichts erkennen. Ein eigenartiges Flimmern in der Luft spielte seinen Augen einen Streich. Manchmal sah er sich, manchmal die Kleider einer Frau. Nicht irgendeiner, sondern dieser Frau. Trotzdem zögerte Graham, die Gasse zu betreten. Selbst er hatte von Lockvögeln gehört, die ahnungslose und gutaussehende Opfer in dunkle Ecken lockten, in denen dann finstere Gestalten lauerten. Graham, der wusste, dass er nicht ahnungslos war und sich auch über das zweite Attribut keine Illusionen machte, blieb unschlüssig stehen und lauschte. Konnte er den Atem versteckter Angreifer hören? Er wusste es nicht. Was er aber hörte, war:

   »Das ist der Typ! Hat was von siebenundzwanzig Millionen gefaselt.« Graham sah nach, woher die Stimme kam. Es war nicht die Gasse. Es kam von der Straße hinter ihm. Graham drehte sich um und erkannte das knutschende Pärchen aus dem Bus. Das Mädchen zeigte auf Graham. Sie hatte neben ihren Freund noch ein paar andere Gestalten dabei. Im Kino hätte jeder Zuschauer beim ersten Blick nur ein Wort gedacht: Ärger!

   »Pass auf, dass keine Bullen aufkreuzen! Los! Den schnappen wir uns!« Als der Typ, der das gezischt hatte, auf ihn zu rannte, begann Grahams Herz zu rasen. Gegen diesen mit Leder und Nieten beschlagenen Stier in Menschenform hatte er nicht die geringste Chance. Hilfe war nirgends zu sehen, kein Mensch, kein Polizist, kein Hauseingang, in den er sich flüchten konnte. Außer der Gasse. Mit einem Sprung rettete Graham sich in die Dunkelheit.

Graham ging nur einen Schritt weit in den Durchgang. Irgend etwas stimmte mit seinen Augen nicht – ein eigenartiges Flirren zitterte in der Luft. Kaum war Graham in die Dunkelheit getreten, erkannte er, dass hier vor langer Zeit eine Straße durch eine dünne Wand vom Fußweg abgetrennt und von außen mit einer Fassade verkleidet worden war, sodass kein Mensch mehr sie von außen erkennen konnte. Hätte die Tür nicht offen gestanden, wäre diese Straße niemanden aufgefallen – sie war Graham nicht aufgefallen, denn an genau dieser Stelle war er am Morgen vorbei gelaufen, ohne dass er etwas Außergewöhnliches entdeckt hatte. Aber ein Schritt durch diese Tür und er war in einer anderen Welt.

Graham konnte Kopfsteinpflaster unter seinen Schuhen spüren. Und die Wände rechts und links schienen nicht zu den Gebäuden zu passen, die vorn auf dem Fußweg standen. Hier waren es Fachwerkhäuser, keine Bürotürme. Graham blickte zurück. Er konnte die Tür sehen, aber das Licht spielte einen seltsamen Trick: die Straße dahinter war nicht zu sehen. Dafür waren deutlich Stimmen von dort zu hören.

   »Er ist hier rein!« sagte eine Frauenstimme.

   Eine tiefere, bedrohlichere Stimme sagte: »Steh Schmiere. Den kaufen wir uns.« Und dann zu jemand anderen: »Und du bist sicher, dass der Typ Kohle hat?«

   »Er hat im Schlaf dauernd was von siebenundzwanzig Millionen gemurmelt. Der hat Kohle. Oder ne Kreditkarte.« Graham zögerte nicht: Er knallte die Tür zu und stemmte sich dagegen, entschlossen, diese Tür mit seinem Leben zu verteidigen5.

Graham wartete, bis er wieder etwas anderes außer seinem eigenen Herzschlag hören konnte und suchte mit den Augen die Gasse ab. Er brauchte etwas, womit er die Tür verkeilen konnte. Aber nichts befand sich in Reichweite. Graham lauschte. Von der Straße aus konnte er nichts mehr hören, kein Sturmtrupp, der sich anschickte die Tür – oder die dünne Wand daneben – einzurennen. Es dauerte eine Weile, bis seine Augen sich an das flackernde Licht der Gasse gewöhnt hatten. Was er dann sah, verblüffte ihn.

Graham hatte schon von Nerdkulturen gehört, kleinen Nischen, in die sich weltfremde Menschen zurückzogen, um bessere Zeiten nachzuspielen – aber das hier war die Krone. Die Gasse war kein dreckiger Wartungszugang mehr, sondern das perfekte Replikat einer vergangenen Zeit. Den Asphalt hatte jemand durch Kopfsteinpflaster ersetzt, die glatten Wände der Nachbarhäuser mit Lehm und Ziegeln verblendet. Über den Türen waren an schmiedeeisernen Haltern handbemalte Holzschilder aufgehängt, die die Namen der Geschäfte verkündeten. M. Brown, Werkzeugmacher, P. Potts, Schneider, T. Duke, Transporte – das waren die Schilder, die Graham in der dürftigen Beleuchtung lesen konnte. Das flackernde Licht stammte von einer Gaslaterne weiter hinten. Graham wunderte sich, dass sowas überhaupt noch erlaubt war – offenes Feuer in der Nähe eines explosiven Gases war in Zeiten, in denen die Benutzung eines Feuerzeugs unter Terrorismusverdacht fiel6, wahrscheinlich nicht behördlich genehmigt. Vielleicht war deshalb der Eingang getarnt. Kleine Anarchisten! ging es Graham durch den Kopf. Er hatte nicht vor, wen auch immer deswegen anzuzeigen. Er hatte nicht einmal vor, zurück auf die Straße zu gehen.

Graham lauschte. Von der Straße konnte er nur einzelne Gesprächsfetzen hören.

   »Wo ist er hin?«

   »Er muss durch eine Tür sein!«

   »Hier ist keine Scheißtür!« Die Stimmen waren noch ein Stück entfernt, aber sie kamen näher. Graham konnte sich ausrechnen, dass er allein die Tür nicht gegen drei Angreifer halten konnte, die noch dazu gewaltbereit waren. Mit seinen Blicken suchte er die Gasse ab, bis er eine schmale Tür fand, die ihm vorher noch nicht aufgefallen war. Das kleine Schild darüber verkündete, dass diese Tür zum Sleepy Badger führte, einem Pub, der seinem Namen entsprechend um diese Zeit schon geschlossen hatte. Was Graham aber wirklich ins Auge fiel, war ein Spazierstock, den dort jemand neben den Stufen, die zum Eingang hinauf führten, vergessen hatte. Ein Spazierstock mit einer Eisenspitze, die sich perfekt als Keil eignen würde. Nur leider ein paar Schritte von seiner jetzigen Position entfernt. Um den Stock zu bekommen, musste er die Tür unbewacht lassen.

   »Wenn ich den Typen nicht finde, mach ich dich fertig, Alte!« Grahams Mitgefühl für das blasse Mädchen hielt sich in Grenzen. Aber etwas anderes war ihm aufgefallen: die Stimme war noch ein paar Meter weg. Er musste es riskieren.

Graham ging so weit nach vorn, wie er die Tür noch mit ausgestrecktem Arm zuhalten konnte, dann sprintete er los.

   »Da wackelt was!« brüllte es von der anderen Seite.

   »Los! Dort muss er sich verkrochen haben!« Panisch griff Graham nach dem Stock, wirbelte herum und rannte zurück, die Spitze des Stocks nach vorn gestreckt, auf den schmalen Spalt zwischen Tür und Boden zielend. Von der anderen Seite hörte er, wie harte Stiefelabsätze auf den Fußweg knallten. In der Sekunde, in der er, vom eigenen Schwung getragen, seinen provisorischen Keil in den Spalt rammte, knallte von Draußen etwas Schweres gegen die Tür. Für einen Moment fürchtete Graham, dass der Typ durch den dünnen Metallrahmen brechen würde, aber das geschah nicht. Stattdessen gab es einen Blitz, vielleicht nur eine optische Täuschung, danach war auf der anderen Seite Stille.

Graham vermutete, dass die Glasscheibe der Fassade, die von draußen an der Tür angebracht war, beim Aufprall gesplittert und einer diese Splitter seinem Angreifer die Kehle durchgeschnitten hatte. Auch das erregte nicht Grahams Mitgefühl, der sich völlig sicher war, dass bei einem erfolgreichen Durchbruch er selbst jetzt hier in dieser namenlosen Gasse liegen und verbluten würde. Aber von der anderen Seite war überhaupt nichts zu hören. Waren alle drei tot?7 Hätte es nur einen erwischt, dann würden seine Kumpane diesen Typen wegschleifen und zur nächsten Notaufnahme bringen, oder? Doch Graham konnte von draußen kein einziges Geräusch hören. Vielleicht waren sie auch einfach weggerannt und hatten die Leiche zurückgelassen. Graham lehnte sich gegen die Tür und keuchte. Die Wirkung des Adrenalins, welches bis eben durch seinen Kreislauf geflutet hatte, ebbte langsam ab, das Rauschen in seinen Ohren ließ nach und das dauernde Dröhnen wurde langsamer, bis sich wieder einzelne Herzschläge unterscheiden ließen. Nach einer Weile wurde sich Graham seiner Situation bewusst. Er saß hier in relativer Sicherheit. Aber auf der anderen Seite lag sein Angreifer. Vielleicht tot – vielleicht aber auch nicht. Und Graham konnte nicht ewig hier sitzen bleiben. Irgendwann würde jemand die blutende Gestalt vor der Tür finden und die Polizei rufen. Die würden Graham finden und zu ermitteln beginnen und es würde eine Weile dauern, bis sie die richtigen Fragen stellten und seine Unschuld bestätigten – wenn er Glück hatte. Damit stand fest, er musste hier weg. Bevor sein Gegner sich erholt hatte und bevor die Polizei kam.

Langsam rappelte Graham sich auf und presste zur Sicherheit sein Ohr an die Tür. Er hörte kein schweres Atmen auf der anderen Seite, auch nicht die Stille die jemand verursacht, der kein Geräusch machen will. Aber noch etwas fiel ihm auf: Die Tür, an die er sein Ohr presste, war aus Holz. Dabei war Graham sich sicher gewesen, dass es eine Metalltür gewesen war; mehr noch: eine Gittertür aus Metall, die von außen verkleidet war. Oder auch von innen? Graham hielt sich nicht mit solchen Fragen auf. Vorsichtig öffnete er die Tür und sah durch den Spalt nach draußen. Dann klappte ihm das Kinn nach unten.

1 An einem Sandstrand ohne Menschen konnte man mit einem Blatt Papier und einem Bleistift eine Menge Spaß haben. Vielleicht sollte er sich den Luxus eines Taschenrechners gönnen.

2 Das war nicht ganz korrekt: Graham hatte nichts gegen Busse. Nur gegen die Masse an Passagieren.

3 An den meisten hatte Graham unfreiwillig teilgenommen; es waren diejenigen, die Fred auf ihrer gemeinsamen Bude organisiert hatte.

4 Und war schnell vorbei geschlichen, bevor dieser auch nur den Hauch einer Chance hatte »Etwas Kleingeld, Sir?« zu sagen.

5 Und wenn er es nicht geschafft hätte, wäre sein Leben auch vorbei gewesen. Das lief auf eine Win-Win-Situation im negativen Sinn heraus.

6 Und in der Nähe einer Zigarette erst recht!

7 Bei diesem Gedanken machte sein Herz einen moralisch absolut verwerflichen Freudenhüpfer.

Kapitel 2 - Der Weg in die Schatten

Graham hatte erwartet, eine Straße zu sehen. Mit Straßenlaternen, Autos, Müll aus einem umgekippten Papierkorb und allem, was zu einer Londoner Straße gehört. Er hatte nicht erwartet, einen Holztisch mit zwei Bänken in einem engen Raum zu sehen, der von einem Kaminfeuer erleuchtet wurde.

Graham zuckte zurück. Er musste sich geirrt haben – die Tür zur Straße hin musste woanders sein. Aber das hätte auch bedeutet, dass er sich auf einer Strecke von drei Schritten verlaufen hätte. Was durchaus eine Folge des Schlafmangels sein konnte, er aber nicht für wahrscheinlich hielt. Trotzdem schaute Graham sich um und stellte fest, dass es an dieser Wand keine weiteren Türen gab. Er stand am Ende einer Sackgasse. Weiter vorn ging es auf einen kleinen Platz, aber Graham wollte nicht weiter in die Dunkelheit laufen und komplett die Orientierung verlieren. Es gab nur eine Tür in Richtung Straße und das hieß, der Weg zurück führte dort durch. Hatte er vorhin in der Panik einen ganzen Raum durchquert, ohne es zu merken? Schon möglich.

Plötzlich schnippte Graham mit den Fingern. Versteckte Kamera! Das war es! Besser noch: das würde alles erklären! Diese Straße hier, der Raum, der aufgetaucht war – das alles war nur ein Trick und hunderte versteckte Kameras zeichneten jede seiner Bewegungen und jedes Zucken seines Gesichts auf. Und während er hier drinnen die Tür zugehalten und seine vermeintlichen Verfolger ausgesperrt hatte, hatte draußen ein Team gut geübter Szenenbildner einen Container vor die Tür geschoben, die Szenerie einer hundert Jahre alten Küche lebendig werden lassen und nun waren Gott weiß wie viele Menschen begierig darauf, zu sehen, wie Graham verwirrt durch die Kulissen stolperte. Graham setzte ein siegessicheres Lächeln auf. Nicht mit mir! dachte er. Nein, das hier war alles ganz normal. Es gab eine logische Erklärung und er würde sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen.

Graham atmete tief durch und strich sich mit den Fingern durch die Haare. Wenn ihm das halbe Land zuschaute, dann wollte er gut aussehen. Ohne anzuklopfen öffnete Graham zum zweiten Mal die Tür und trat ein.

   »Hallo!« rief er. »Ich muss hier nur kurz mal durch. Lassen Sie sich nicht stören!« Graham lauschte, aber nichts war zu hören. Keine knarrenden Dielen, kein Schnarchen aus angrenzenden Schlafzimmern, keine eiligen Schritte, die in seine Richtung kamen oder von ihm wegliefen. Das war auch nicht zu erwarten, schließlich handelte es sich hier nur um einen Container, bei dem es keinen angrenzenden Flur gab und keine angrenzenden Räume, in denen Menschen lebten wie in einem richtigen Haus. Das war nur ein Container, sagte sich Graham. Mit zügigem Schritt durchquerte Graham den Raum. Nach seiner Theorie musste es auf der anderen Seite eine zweite Tür geben, durch die er wieder auf die Straße gelangen konnte.

Die gab es aber nicht. Dafür zwei Fenster, durch die Graham auf die Straße sehen konnte. Nur dass es keine moderne Londoner Straße war – es sei denn, die Verwaltung hatte beschlossen, dass Kopfsteinpflaster jetzt der Straßenbelag der Wahl war. Zur Senkung der Schadstoffbelastung war diesen Schreibtischtätern schließlich alles zuzutrauen. Jetzt sah die Straße da draußen aus, wie zu Dickens Zeiten. Graham sah Gaslaternen, eine Regenrinne, die gleichzeitig als Kanalisation diente und Stroh auf dem Pflaster. Wo bekam man heute überhaupt noch Stroh her? Gegenüber – und zwar ziemlich nah gegenüber; keine Chance, dass auf dieser Straße Autos in zwei Richtungen fahren konnten – sah Graham auf der anderen Straßenseite niedrige Haustüren. Die Schilder darüber zeugten vom Stolz der Geschäftsinhaber dahinter: zwei Schneider, ein Tischler, ein Goldschmied und mindestens vier Mechaniker. Alle Schilder waren kunstvoll gearbeitet, jeweils im Stil des zugehörigen Handwerks und klar darauf ausgelegt, ein Zeugnis der Geschicklichkeit ihres Herstellers zu sein. Sie waren liebevoll gepflegt, aber keines davon modern. Diese Fernseh-Fuzzies hatten echt zu viel Geld. Der ganze Aufwand, zusätzlich zu einem Raum noch eine ganze Straße nachzubauen? Obwohl: wahrscheinlich handelte es sich da draußen vor dem Fenster um Monitore und bei dem, was er sah, um die BBC-Aufzeichnung einer opulenten Jane-Austen-Verfilmung.

Wenn das vor dem Fenster Monitore waren, dann machte es keinen Sinn, sie zu öffnen. Graham nahm sich deshalb Zeit, das Zimmer, in dem er stand, genauer zu untersuchen. Es sollte wohl eine Küche darstellen. Grahams Wissen über Küchen in der Neuzeit war schon stark eingeschränkt – das über Küchen aus dem vorigen Jahrhundert tendierte gegen Null. Der Drehspieß über dem offenen Kamin gab den Hinweis. Er klopfte auf den Tisch. Das klang nach massivem Holz und nicht nach billiger TV-Requisite. Dann klopfte er an eine Wand. Das hallte nicht so wieder, wie Graham es von den Blechwänden eines Containers erwartet hatte; das Klopfen wurde verschluckt, als wären die Wände massive Steinmauern. Gut, beim Fernsehen arbeiteten auch Tontechniker, die sich mit schallschluckenden Wandbeschichtungen auskannten.

Die Bänke waren schwer und ebenfalls aus massivem Holz, glattgewetzt durch hunderte von Hosenböden, die im Laufe der Zeit darauf gesessen haben mussten. Das Feuer. Graham sah nachdenklich in den Kamin. Das war kein Elektro-Imitat und auch keine Gasflamme. Das da war ein Holzfeuer und verstieß damit gegen jede baurechtliche Vorschrift und einen verbrannten Finger später hatte Graham keinen Zweifel daran, dass es sich hier nicht um eine Illusion handelte. Wenn das ein Container war, dann mussten sich die Produzenten eine Menge Mühe mit ihrer Sendung geben. Ob das der Pilot ist? Sobald man die Quote erstmal erreicht hatte, konnte man immer noch an der Ausstattung sparen.

Fast unsichtbar im unruhigen Schatten des Kaminfeuers entdeckte Graham schließlich die zweite Tür. Er war beeindruckt vom Aufwand und von der Idee, die derjenige, wer auch immer hierfür verantwortlich war, in die Ausführung gesteckt hatte. Aber es war auch ein wenig creepy und Graham wäre froh darüber gewesen, gleich wieder auf irgendeiner dreckigen, menschenleeren Londoner Straße zu stehen. Graham ging zu der kleinen Seitentür und öffnete sie mit Schwung.

Keine Chance, dass er immer noch in einer Requisite stand. Das hier vor ihm war ein Flur, die Wände rechts und links aus massiven Stein und nicht aus schallschluckendem Schaumstoff. Die Türen waren echte Türen, keine Pappmaché-Nachbildungen. Die Dielen, auf denen er lief, knarrten wie echte Dielen in einem Haus, das mindestens ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hatte. Aber Graham hörte keine Geräusche aus den Zimmern, die irgendwie darauf hindeuteten, dass sich hier noch andere Menschen aufhielten.

Graham lief durch die Küche zurück und öffnete die Hintertür: die selbe enge Gasse, in die er durch eine kleine Tür von einer Londoner Hauptstraße aus getreten war. Graham trat ein paar Schritte vor das Haus, in dem er eben gewesen war, und schaute nach oben. Das Schild über der Tür war alt und im Gegensatz zu den anderen Schildern wohl seit längerer Zeit nicht mehr neu bemalt worden. Was auch immer dort einmal gestanden hatte, war jetzt nicht mehr zu lesen. Über dem Erdgeschoss waren noch zwei weitere Stockwerke, die Fensterläden geschlossen und durch die Spalten der Läden kein Licht zu sehen. Graham achtete darauf, dass die Tür nicht zufiel. Dann rüttelte er an den anderen Türen in der Gasse – sie waren alle abgeschlossen. Graham spielte mit dem Gedanken, die Straße hinunter zu gehen, bis er einen Menschen traf, den er nach diesem Ort fragen konnte. Aber er entschied sich dagegen. Je näher er an dem Punkt blieb, an dem er die Orientierung verloren hatte, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass er den Weg zurück wieder fand. Außerdem war es bei seiner Geschichte möglich, dass der andere Mensch ihn ziemlich schnell ziemlich weit weg bringen würde; an einen Ort, von dem er dann nicht wieder wegkam und in Klamotten, deren Ärmel sich hinter dem Rücken zusammenbinden ließen. Graham drehte um und betrat wieder das seltsame Haus.

Was er brauchte, war ein Plan. Die Bewohner würden sicher nicht begeistert sein, wenn ein Fremder ihr Haus durchwühlte, aber irgendwo musste Graham anfangen. Es musste eine logische Erklärung geben. Hatte ihm jemand K.O.-Tropfen verabreicht und den Blackout genutzt, ihn irgendwohin zu verschleppen? War es eine von diesen perversen TV-Reality-Shows, die ahnungslose Opfer verschleppten und dann dokumentierten, wie sich das Opfer in einer völlig ungewohnten Umgebung zurechtfand? Dann war dieses Haus mit Kameras und Mikrofonen vollgestopft, die sich finden lassen würden und einen Hinweis auf seine Entführer brächten1. Wenn es keine TV-Show war, wer hatte ihn dann entführt? Graham hatte seit der Uni bei Poor, Moore & Moody gearbeitet und war dort nur ein kleines Licht. Oder vielleicht eine mittelhelle Leuchte. Selbst siebenundzwanzig Millionen waren in einer Firma, die mit Milliarden jonglierte, keine große Summe. Graham war spezialisiert auf kleine, dafür komplizierte Fälle. Die, bei denen es Schwierigkeiten geben konnte. Schwierigkeiten in Form von Menschen.

   Das war durchaus eine Möglichkeit, die er in Betracht ziehen musste. Hatten ein paar Angestellte der Brooklyn-Reederei mitbekommen, was wirklich los war und ihn aus dem Verkehr ziehen wollen? Wen auch immer Graham hier treffen würde – es war nicht ganz ausgeschlossen, dass sich derjenige nicht unbedingt als Freund entpuppen würde.

Zuerst musste er herausfinden, wo er war. Automatisch griff Graham nach seinem Smartphone. Falls seine Entführer es ihm nicht abgenommen hatten, konnte er seinen Aufenthaltsort per GPS exakt feststellen. Graham war erleichtert, als seine Finger sich um dessen glatte Form schlossen, denn es bedeutete auch, dass es sich um entsetzlich dumme Entführer handelte. Doch der Blick auf das Display enttäuschte Graham: Kein Netz, sagte der Provider und Keine Satelliten gefunden meldete das GPS.

   »Mist!«, murmelte Graham, als er das Gerät ausschaltete und wegsteckte. Vielleicht ergab sich später eine Gelegenheit, Hilfe zu rufen. Ein leerer Akku wäre dann das Letzte, was er gebrauchen könnte. Nach einem Blick durch die Küche entschied sich Graham, den Rest des Hauses zu durchsuchen. So still, wie es hier war, waren die Besitzer entweder nicht da, oder sie schliefen so tief und fest, dass sie ihn nicht mitbekommen würden. Aber je mehr Graham wusste, desto schneller würde er auch einen Weg wieder raus finden.

Langsam und vorsichtig, jedes Geräusch vermeidend, schlich Graham zur Seitentür. Die kleinen Gaslampen, die an der Wand angebracht waren, verbreiteten ein blaues, flackerndes Licht. Graham hatte sich Gaslicht immer anders vorgestellt: wärmer und orange. Da aber seine einzige Erfahrung mit Gaslicht auf alten Schwarz-Weiß-Fotos von Museumsbesuchen in Kindertagen basierten, konnte er keinen Vergleich anstellen.

Das Licht würde es schwierig machen, sich in die Räume zu schleichen, ohne dort drin jemanden aufzuwecken, aber Graham fand keinen Hahn, an dem er das Gas abdrehen konnte. Mit einem Schulterzucken akzeptierte er das Risiko, als er leise die Klinke der ersten Tür auf der linken Seite herunterdrückte.

Die Vorsicht war unbegründet: er war in der Abstellkammer gelandet. Der Reisigbesen gab den Hinweis darauf, ein paar verbeulte Zinkeimer und ein Regal mit Einmachgläsern, Kerzen und Weinflaschen. Aus einem unbewussten Reflex heraus nahm Graham eine der Flaschen und las das Etikett. Nicht das ganze, sondern nur die Jahreszahl: 1857.

Es gab keine Chance, dass in einem normalen Haushalt so eine Flasche zu finden war. Graham war kein Experte, aber über hundert Jahre alter Wein lagerte in Tresorräumen von Banken und Auktionshäusern und wurde für horrende Summen versteigert. So ein Wein in einer Abstellkammer? Das würde kein normaler Mensch tun. Es sei denn ... Ein Gedanke zuckte durch Grahams Kopf: Was, wenn das hier kein Haus, sondern ein Museum war? Eine exakte Nachbildung eines Anwesens aus Königin Viktorias Zeit. Das würde alles erklären! Und auch, warum hier keine Menschen waren. Ein Museum! Graham atmete tief durch. Ein Museum. Das war es.

Mit diesem Gedanken fiel die Anspannung von Graham ab. Ein Museum bedeutete, dass irgendwann – und zwar eher früher als später – Besucher auftauchen würden. Und das würde bedeuten, dass er hier bald wieder rauskommen würde.

Ohne weiter auf Vorsicht zu achten, ging Graham in den nächsten Raum. Das war eine Werkstatt. Wer auch immer hier arbeiten sollte, hatte eine Menge mit Mechanik und Metallbearbeitung zu tun, aber auch mit Feinschmiedearbeiten, Kunst, Optik und einigen Dingen, mit denen Graham überhaupt nichts anfangen konnte. Er sah Zahnräder, die aus Messingplatten gefeilt und solche, die aus Gusseisen gefertig waren. Kaum eines war größer als ein Handteller, dafür waren viele so klein, dass die Bearbeitung unter der Lupe stattfand. Auf der Werkbank lagen halb fertige und halb auseinandergebaute Mechanismen, funkelnd wie kleine Juwelen im Licht der flackernden Gaslampe, die sogar in diesem Raum installiert war. Nach dem, was er sah, vermutete Graham einen Uhrmacher. So etwas hatte es früher gegeben, vor Digitaluhren, vor Smartphones.

Graham ging zum nächsten Zimmer auf der linken Seite. Wer auch immer hier wohnen sollte, es war nicht der Ordnungsfanatiker aus der Werkstatt. Untypisch für ein Museum lagen hier Sachen kreuz und quer auf den Stühlen und Tischen. Das Bett war so hergerichtet, als hätte jemand darin geschlafen und es anschließend in aller Eile verlassen, weil er verschlafen hatte. Graham betrachtete die Kleidung genauer. Die Sachen mochten einem jungen Mann gehören, der ungefähr die Größe und Statur von Graham hatte. Mit geübten Blick erkannte Graham, dass das Material von guter Qualität, aber kein Luxusprodukt war, eben das, was sich ein gutsituierter Handwerker leisten konnte. Seltsam, dachte Graham, das ich nie von so einem Museum mitten in der City gehört habe. Und das es sich hier halten konnte, während die Immobilienpreise in die Höhe schossen. Graham drehte sich um und inspizierte den ganzen Raum. Etwas störte ihn, etwas fehlte und Graham brauchte eine Weile, bis er darauf kam: es gab keine Hinweistafeln. So etwas gehörte in jedes Museum; kleine Schilder, die die gezeigten Gegenstände erklärten und die Daten präsentierten, aus welchem Jahr, welcher Epoche und welchem Ort die ausgestellten Stücke stammten. Das fehlte hier völlig. Oder war das hier eins der Museen, die nur mit Führung zu betreten waren? Vielleicht hätte es mehr Aufschluss gebracht, die Schubladen zu durchsuchen, aber die waren garantiert mit Alarmanlagen gesichert. Und so sehr Graham sich wünschte, hier rauszukommen: es musste nicht durch die Polizei und in Handschellen sein.

Das nächste Zimmer war ebenfalls ein Schlafzimmer, aber das volle Gegenprogramm zu dem nebenan. So hatte ein Museum auszusehen! Kein Stäubchen in Sicht, die Kleidungsstücke lagen ordentlich zusammengelegt im Schrank oder hingen auf Bügeln. Das Bett war gemacht, die Gegenstände auf dem Toilettentisch penibel angeordnet. In so einem Zimmer lebte kein Mensch, das hier war das Musterbeispiel einer Ausstellung mit dem Titel Leben im 19. Jahrhundert. Aber in einer Nische neben dem Bett stand etwas, was Grahams Aufmerksamkeit fesselte: eine Schneiderpuppe mit einem Kleid. Nicht mit irgendeinem Kleid, sondern dem, welches die Frau immer getragen hatte. Hatte dieser Ort irgendwas mit seinen Halluzinationen zu tun? Die einfachste Erklärung lautete, dass er eine Spiegelung gesehen hatte; nicht die eines Fotomodells, sondern einer jungen Frau, die hier Museumsführungen machte und dabei die Kleidung aus der entsprechenden Zeit trug. War das ihre Arbeitskleidung? Dann gab es hier sicher einen Spind, in dem sich weitere Hinweise finden ließen. Solche, die erklärten, wer diese Frau und was dieser Ort genau war. Graham riskierte es: Ausstellungsstücke mochten alarmgesichert sein, die Sachen der Angestellten waren es normalerweise nicht. Vorsichtig öffnete er den Schrank neben dem Kleid.

Es war kein Kleiderschrank. Es war überhaupt kein Schrank. Es war ein Wunderwerk der Technik, der Traum eines jeden Mechanikers.

Als Graham die Türen öffnete, entfaltete sich der ganze in die Holzkiste dahinter gequetschte Raum und breitete sich in das Zimmer davor aus. Statt nur Stauraum zu sein, beinhaltete dieser Schrank größeres. Es schoben sich Regale, Schubkästen, Ablageflächen, Werkzeughalter und eine Werkbank nach draußen. Als Graham die Tür ganz geöffnet hatte, war das halbe Zimmer, in dem er stand, kein Schlafzimmer mehr, sondern eine Werkstatt. Graham stutzte. Warum eine Werkstatt hier, wenn auf der anderen Seite des Flurs schon eine war? Und warum versteckte das Museum diesen Schatz, der doch wesentlich beeindruckender war, als alles andere in diesem Haus? Doch das, was wirklich Grahams Aufmerksamkeit auf sich zog, war ein dünnes Notizbuch, das in ein Seitenfach geklemmt war. Graham zog es vorsichtig heraus und öffnete es ohne die geringste Spur von schlechtem Gewissen. Wem auch immer dieses Notizbuch gehört haben mochte, er war längst tot und vergessen.

Schon beim ersten Blick sah Graham, dass das Buch einer Frau gehörte. Die Handschrift war weiblich. Der Inhalt nicht. Graham konnte schon von Berufs wegen mit mathematischen Formeln umgehen und betrachtete sich selbst gern als Genie, aber was er hier sah, überstieg seine Auffassungsgabe. Das Buch musste einer zweiten Marie Curie gehören. Oder jemanden in dieser Klasse. Graham hatte nicht die geringste Idee, was hier beschrieben wurde, nur dass es sich um etwas an der Grenze zwischen Mechanik und Physik bewegte. Präzise Miniaturskizzen zeigten detaillierte Geräte, die von einer Art Dampfmaschine angetrieben wurden. Einer Dampfmaschine, die kleiner war als ein Akku, falls es so was jemals gegeben hatte. Aber statt darauf seine Aufmerksamkeit zu lenken, suchte Graham nach etwas anderem: einem Datum, einer Adresse oder einem Namen. Das würde ihm verraten, wo er hier war. Graham blätterte das Notizbuch durch, ohne weiter auf den Inhalt zu achten. Museumsstücke hatten immer eine Inventarnummer und manchmal auch einen Stempel des Instituts, dem das Stück gehörte. Aber nicht dieses Buch. Graham warf einen prüfenden Blick auf die Werkzeuge. Keins davon war inventarisiert. Ob der Schrank als ein einziges Stück geführt wurde? Graham steckte das Buch wieder zurück. Das alles brachte ihn nicht weiter. Aber einer der anderen Räume musste das Verwaltungsbüro sein und spätestens dort würde er seine Antworten finden.

Graham ließ den Schrank offen stehen. Das würde zwar verraten, dass er hier gewesen war und herumgeschnüffelt hatte, aber er hatte keine andere Wahl: ein cleverer Sperrmechanismus hatte die einzelnen Teile so fest verankert, dass sich nichts mehr zurück bewegen ließ. Graham vermutete, dass es sich an einer stabil verankerten Werkbank besser arbeitete.

Graham ging wieder nach draußen auf den Flur und zur letzten verschlossenen Tür. Er hörte gar nicht erst, ob dahinter Geräusche anwesende Personen verrieten, sondern trat gleich ein und ging ein paar Schritte in den Raum. Als sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah er die sechs Personen, die am Tisch saßen. Sie waren unnatürlich still, wie Puppen. Kaum war Graham dieser Gedanke in den Kopf gekommen, sprangen gleichzeitig ihre Augenlider auf, drehten sie synchron ihre Köpfe und sahen Graham an. Nach drei Sekunden lächelten sie.