5,99 €
Kein Haus, kein Auto, kein Pferd – das Leben als Tinkerer im viktorianischen London erfordert vor allem eins: einen Job, der die Miete und das Essen bezahlt. Miranda mag ihr Vermögen und ihren Titel verloren haben, aber nicht ihre Abenteuerlust, ihr Genie und ihr Selbstbewusstsein. Genau die richtigen Voraussetzungen, um an der Expedition von Professor Challenger teilzunehmen. Der will ein unzugängliches Plateau in Südamerika finden, auf dem angeblich noch Urzeit-Kreaturen existieren, von denen in anderen Teilen der Welt nur noch Knochen zu finden sind. Graham fallen bei der Beschreibung der Mission nur zwei Worte ein: Jurassic Park! Und die Bilder von zerkauten Menschen. Leider glaubt ihm keiner und die einzige Möglichkeit, ein blutiges Ende zu verhindern, ist, sich der Expedition ebenfalls anzuschließen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Philipp Nathanael Stubbs
Die verlorene Welt
Steampunk-Roman
Rodderik & Storm
Band 2
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Über das Buch
Rodderik & Storm - Die Steampunk-Abenteuerserie
Sichere dir jetzt dein kostenloses Buch!
Was bisher geschah
Das Imperium der Puppen
Always and forever
Eiszeit
Challenger accepted
Aufruhr im Institut
Ein Angebot, das man nicht ablehnt
Genius at work
Ein Körnchen Wahrheit
Unter Spannung
Mit Nichts an die Decke
Windhurst
Abgehoben
Einer kommt nicht mit
Ausflug ins Paradies
Aufbruch ins Unbekannte
Sabotage
Grüne Hölle
Der Quarzwald
Begrabene Hoffnung
Der Weg nach oben
Wer hätte das voraussehen können?
Kopflos durch die Nacht
Ausgeraubt
Hoch hinaus
Entführt
Die Kolonie
Zwei Könige und eine Königin
Umwege
Vorspeise
Eine Art Rettung
Eine Art Dessert
Bis das der Tod euch scheidet
Das Ei des Anstoßes
Götterfütterung
Der Plan
Götterdämmerung
Satisfaktion
Zweisitzer
Wie es weitergeht
Danksagung
Sichere dir jetzt dein kostenloses Buch!
Rodderik & Storm - Die Steampunk-Abenteuerserie
Impressum
ÜBER DAS BUCH
Kein Haus, kein Auto, kein Pferd – das Leben als Tinkerer im viktorianischen London erfordert vor allem eins: einen Job, der die Miete und das Essen bezahlt. Miranda mag ihr Vermögen und ihren Titel verloren haben, aber nicht ihre Abenteuerlust, ihr Genie und ihr Selbstbewusstsein. Genau die richtigen Voraussetzungen, um an der Expedition von Professor Challenger teilzunehmen. Der will ein unzugängliches Plateau in Südamerika finden, auf dem angeblich noch Urzeit-Kreaturen existieren, von denen in anderen Teilen der Welt nur noch Knochen zu finden sind.
Graham fallen bei der Beschreibung der Mission nur zwei Worte ein: Jurassic Park! Und die Bilder von zerkauten Menschen. Leider glaubt ihm keiner und die einzige Möglichkeit, ein blutiges Ende zu verhindern, ist, sich der Expedition ebenfalls anzuschließen.
Mehr davon? Ein Gratis-eBook gibts am Ende des Buches!
RODDERIK & STORM - DIE STEAMPUNK-ABENTEUERSERIE
Alle Bücher in der chronologischer Reihenfolge:
Prequel - Die mechanische Braut (exklusiv für Newsletter-Empfänger)
Band 1 - Das Imperium der Puppen
Band 2 - Die verlorene Welt
Band 3 - Die Morde von Whitechapel
Band 4 - Der stille Planet
Band 5 - Abyssus
Kurzgeschichte - Keine Ehre unter Dieben (exklusiv für Newsletter-Empfänger)
Band 6 - Ex Machina (erscheint 2025)
Wenn zwei sich betrügen, dann freut sich der Dritte - falls er überlebt.
Auch Corelius Vanderbild hat einmal klein angefangen. Doch als der Taschendieb und Trickbetrüger den Auftrag bekommt, einem der berüchtigtsten Gangsterbosse Londons ein unbezahlbar wertvolles Gemälde zu stehlen, ist das die Gelegenheit, an der Herausforderung zu wachsen. Oder auf dem Friedhof zu enden.
Du bekommst das eBook “Keine Ehre unter Dieben” geschenkt, wenn du dich meinen VIP-Lesern anschließt.
Klicke hier, um loszulegen: https://philippnathanaelstubbs.de/vip-leserliste/
WAS BISHER GESCHAH
Die einzelnen Bände der Rodderik & Storm Reihe enthalten zwar in sich abgeschlossene Geschichten, ich empfehle aber, die Bücher in der angegebenen Reihenfolge zu lesen, um die Rahmenhandlung mitzubekommen.
Für Quereinsteiger habe ich die hier soweit wie möglich spoilerfrei zusammengefasst:
Aether ist eine wunderbare Sache: unerschöpfliche Energiequelle, vielseitig einsetzbar und umweltfreundlich. Nur einen kleinen Nachteil hat der Stoff: in großen Mengen komprimiert gelagert, bringt er das Zeit-Raum-Gefüge durcheinander.
Das bemerkt der Datenanalyst Graham, als er im heutigen London auf der Flucht vor einer Gruppe Rowdies ist. Im letzten Augenblick kann er er sich in eine enge Gasse retten, die zwei Sekunden vorher noch gar nicht da war. Um anschließend festzustellen, dass der Weg heraus schwieriger ist als hinein und dass er nicht durch ein Method-Acting-Camp stolpert, sondern tatsächlich durch das viktorianische London. Zwar schafft es Miranda – geniale Erfinderin menschenähnlicher Mechanoiden und Besitzerin besagter großen Menge komprimierten Aethers – ihn wieder in seine Zeit zurück zu katapultieren, aber die Zeitreise bleibt nicht ohne Konsequenzen.
Das mit seiner Zukunft etwas nicht stimmt bemerkt Graham, als sein bester Freund sich erstens als Mechanoid entpuppt und zweitens versucht, ihn umzubringen. Mit Hilfe einer Sonde, die Miranda durch die Zeit geschickt hat, springt Graham in die Vergangenheit zurück, um dort herauszufinden, dass Miranda und er nur Schachfiguren im Spiel eines erbarmungslosen Genies mit Weltherrschaftsgelüsten sind. Es gibt nur einen Weg, es aufzuhalten – leider zerstört er jede Möglichkeit zur Rückkehr Grahams in seine eigene Zeit.
ALWAYS AND FOREVER
Graham Rodderik loungierte auf der lindgrünen Chaiselongue – oder tat das, was man auf einer Chaiselongue so eben tut. Er selbst hätte einfach auf einem Sofa gesessen, aber offenbar bestand zwischen diesen zwei Möbelstücken ein Unterschied, der ihm bisher nie aufgefallen war. Was daran lag, dass er sich in seinem alten Leben keine Wohnung leisten konnte, die genug Platz für eine Chaiselongue geboten hätte. So gesehen konnte er froh sein, dass er sich mit Küchenhockern auskannte.Wobei ihm das vollkommen egal war: Er hatte nur Augen für die Frau, die neben ihm saß und in ein Buch vertieft war. Wunderschön und intelligent, ging es ihm durch den Kopf. Fast so wie ich – bloß weiblich. Graham störte nur, dass Miranda dem Buch in ihrer Hand mehr Aufmerksamkeit schenkte als ihm.
Sie hatten das vornehme Stadthaus vor zwei Monaten bezogen. Für Graham war es die luxuriöseste Bleibe, in die er je seinen Fuß setzen durfte, für Miranda das Äquivalent zu einer kleinen Hütte; sie hatte den größten Teil ihres erwachsenen Lebens als Lady Hastings in einem Palast verbracht. Graham fand es immer noch ungerecht, dass man ihr die Mitschuld an den Plänen ihres Mannes gab, Queen Viktoria nebst ganz London auszulöschen. Lord Hastings hatte den Versuch nicht überlebt – dank tatkräftiger Unterstützung Mirandas. Und trotzdem wurde sie degradiert. Oder besser gesagt: gesellschaftlich geächtet. Nicht, dass Miranda viel Wert auf Titel und Stellung legte. Außerdem hatte sie Graham gegenüber bemerkt, dass das Stadthaus immer noch größer war als die kleine Tinkerer-Werkstatt, in der sie aufgewachsen war und dass es deshalb überhaupt keinen Grund gab, sich zu beschweren. Und außerdem hätte die gehobene Gesellschaft die Verbindung zu einem mittel- und herkunftslosen Mann überhaupt nicht akzeptiert, also sollte er gefälligst die Klappe halten.
Dabei hatte sich Graham nicht beschwert. Im Gegenteil, er genoss den Luxus seines neuen Heimes, selbst wenn er nur als Gast darin weilte. Die Familie Hastings – deren letzter Spross Mirandas Ex-Mann war – gehörte zu den ältesten, vermögendsten und mächtigsten Familien des British Empire und hatte das jeden spüren lassen. Entweder direkt, durch einen Umgang, der einfach nur arrogant zu nennen war und sich vom kleinsten Arbeiter bis auf die Peers im britischen Oberhaus erstreckte, oder ebenfalls direkt durch die schamlose Zurschaustellung ihres Reichtums, was einen unmittelbaren Einfluss auf die Anzahl der Freunde der Familie hatte. Der Stammsitz der Hastings, draußen vor den Toren Londons, war ein Palast aus Tausend und einer Nacht. Das Innere. Außen war es eher Minas Morgul. Hastings Manor, das kleine Stadthaus, verfügte über alle Annehmlichkeiten, die Graham sich vorstellen konnte, sogar eine Wassertoilette. Zu einer Zeit, in der Nachttöpfe am Morgen einfach auf die Straße ausgekippt wurden, war das keine Selbstverständlichkeit.
Auch beim Rest der Ausstattung hatte die Familie nicht gespart: Die Wände zierten prächtige Gobelins, aufwendige Stuckarbeiten und wertvolle Gemälde. Beim ersten Besuch war Graham nicht aus dem Staunen herausgekommen, nur erhielt seine Begeisterung einen herben Dämpfer, als Miranda bemerkte, dass man nichts davon essen könne und die Beschlagnahmung des Hastingschen Familienvermögens nichts anderes hieß, als dass sie über kurz oder lang alles verkaufen müsste.»Warum machst du deine Tinkerer Werkstatt nicht wieder auf?« fragte Graham und legte – da er Miranda mittlerweile ziemlich genau kannte – ihr einen Finger auf die Lippen. »Du bist eine intelligente, clevere und unglaublich geschickte junge Frau. Als ich dich kennengelernt habe, hattest du auch ohne Vermögen die fantastischsten Erfindungen gemacht. Ohne einen Penny in der Tasche.«»Aber mit Aether.«»Dann wird es Zeit, etwas Neues zu erfinden.« Die Art, wie Miranda ihn daraufhin angesehen hatte, brachte sein Herz aus dem Takt. Bei dem Wissensstand der Kardiologie im viktorianischen London war das nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
Was Graham außerdem störte, war der Umstand, wie ernst Miranda seinen Rat nahm. Seit seiner Bemerkung widmete sie sich nahezu ausschließlich ihren Büchern und Forschungen – statt ihm. Graham fand es an der Zeit, das zu ändern. Unauffällig neigte er sich in Mirandas Richtung, spitzte vorsichtig die Lippen und schloss die Augen. Und wartete. Miranda hatte die Angewohnheit, ihm beim Umblättern des Buches einen kurzen Seitenblick zuzuwerfen. Es konnte nicht lange dauern; Miranda war eine schnelle Leserin. Graham überlegte, ob er sich die Lippen benetzen sollte. Aber wenn Miranda in genau diesem Augenblick aufschaute, würde sie die heraushängende Zunge nur verstören. Irgendwie brauchte sie länger für die Seite als gewöhnlich. Er hätte einen Blick auf das Buch werfen sollen; mathematische Formeln studierte sie gründlicher; meistens, weil sie Fehler in der Beweisführung korrigierte. Doch er hatte bisher nicht das dafür typische Schnaufen gehört, mit dem Miranda auf Dilettanten reagierte. Er wartete weiter.
Nach einer Ewigkeit – ein rationaler Beobachter hätte gesagt, nach zwei Minuten und sechundzwanzig Sekunden – raschelte Papier, aber das Umblättern der Seite blieb aus. Graham hielt das für ein gutes Zeichen und bereitete sich auf die sanfte Berührung weiblicher Lippen und vielleicht einer neugierigen Zunge vor. In seiner Magengegend begann etwas zu flattern.
»Was exakt wird das?« Graham öffnete die Augen einen schmalen Spalt und versuchte, seinem Blick eine verführerische Note zu geben.»Das ist die eine Hälfte eines Kusses.«»Aha.« Da Durchhaltevermögen den größten Teil des Erfolges ausmacht – so hatte Graham gelesen – blieb er in seiner Position, obwohl danach nichts passierte. Irgendwann würde Miranda nachgeben. »Mach die Augen auf und sieh mich an«, befahl sie schließlich. Ein leichtes Lächeln umspielte Grahams Lippen. Ihm gefiel was er sah: Miranda war für Ende Zwanzig noch in Top-Form: Wildgelockte, braune Haare, rehbraune Augen, tolle Kurven. »Was siehst du?«»Eine bemerkenswert intelligente, willensstarke Frau in einem atemberaubenden, viktorianischen Kleid.« Das Kleid war wirklich atemberaubend. Obwohl Miranda in den letzten Wochen einen enormen gesellschaftlichen Abstieg hinnehmen musste, besaß sie immer noch mehr Kleider als Graham jemals in seinem Leben sein Eigen nennen würde1. Dieses spezielle Exemplar aus smaragdgrüner Seide hatte Miranda auf dem Ball, für den es entworfen worden war, zur Königin der Tanzfläche gemacht.»Und was ist unter diesem Kleid?«»Das wage ich mir kaum vorzustellen.« Das war gelogen. Er wagte es nur nicht, seine Fantasien laut auszusprechen. Miranda konnte manchmal recht impulsiv sein. Oder explosiv.»Unter diesem viktorianischen Kleid ist eine intelligente, willensstarke Frau mit viktorianischen Moralvorstellungen. Ich weiß, die unterscheiden sich von deinen modernen Ansichten, aber so bin ich aufgewachsen.«»Ist nicht schlimm«, murmelte Graham und wurde von Miranda ignoriert.»Das heißt, ein Kuss wird erst nach der korrekten Antwort auf eine bestimmte Frage gewährt.«»Wie lautet die Frage?«»Möchtest du, Graham Rodderik, die hier anwesende Miranda van Storm zu deiner Ehefrau nehmen, sie lieben und sie ehren in guten wie in schlechten Zeiten, bis das der Tod euch scheidet?«»Bis zum Tod?« fragte Graham. »Das ist eine furchtbar lange Zeit.« Er wusste, diese Worte waren ein Fehler, sobald sie seinen Mund verlassen hatten. Die Temperatur im Zimmer fiel signifikant und das Feuer im Kamin fror ein.»Wenn ich dir diese Verpflichtung nicht wert bin, dann bist du mir auch keinen Kuss wert.« Der Ton, in dem Miranda sprach, tötete jeden Gedanken an Romantik gründlich ab. Und desinfizierte den Grund, auf dem er stand. Und wiederholte die Prozedur zur Sicherheit, um jegliches weitere Aufkeimen zu verhindern. Abrupt stand Miranda auf. »Ich gehe jetzt zu Bett.«»Das war nur ein Scherz! Ha ha! Du kennst mich doch!« Das war das eigentliche Problem: Miranda kannte Graham. Er hatte gesagt, was er dachte. Und das war ein Fehler.»Ich würde dir empfehlen, dich nach einer eigenständigen Lebensgrundlage umzusehen. Es scheint mir, als legst du keinen Wert auf eine Partnerin, die dich in schlechten Zeiten unterstützt.«»Miranda, warte doch mal!« Miranda wartete nicht. Mit einem Rauschen ihres Kleides, welches mehr als jedes Wort ihre Enttäuschung zum Ausdruck brachte, ließ sie Graham allein zurück. Er spürte, dass er richtig was versaut hatte.
Vor ein paar Wochen noch hätte Graham nicht einmal gemerkt, dass er mit seiner Bemerkung Miranda verletzt hatte. Vor ein paar Wochen bestand seine Welt hauptsächlich aus Zahlen, Analysen und Aktienwerten. Dann sorgte Miranda mit einem Aetherexperiment für eine Zeitverwirblung2, die Graham hundertfünfzig Jahre in die Vergangenheit saugte. Zwar hatte Miranda es geschafft, Graham wieder in seine Zeit zurückzuschicken, aber leider war der Ausflug in die Vergangenheit nicht ohne Folgen für seine Zukunft geblieben. Heroisch wurde Graham bei seiner zweiten Zeitreise: Er entlarvte die Verschwörung der Puppen, sprengte Mirandas Ehemann in die Luft und zerstörte dabei leider auch den Weg zurück in seine Zeit. Und jetzt hatte er den einzigen Menschen, der all das wert war, vergrault. Er hoffte, dass die Zeit auf seiner Seite stand. Schließlich schuldete sie ihm was.
1 Um es präzise auszudrücken: Graham besaß kein einziges Kleid. Nur drei Anzüge, die sich in siebenundzwanzig verschiedenen Kombinationen tragen ließen, zwei Jeans und siebzehn T-Shirts. Grahams Modeverständnis war durch spätnächtliche Wiederholungen von Miami Vice geprägt worden. Es hätte schlimmer kommen können.
2 Nicht absichtlich.
EISZEIT
Beim Frühstück war die Stimmung genauso eisig wie am Abend zuvor. Graham hatte versucht, Konversation zu betreiben1 und scheiterte damit grandios. Außer einem förmlichen Guten Morgen! hatte Miranda kein Wort gesprochen. Und gesehen hatte er von ihr auch nichts, da Miranda ihr Gesicht hinter der Morgenausgabe der London Times verbarg. Graham überflog die Titelseite auf der Suche nach Gesprächsthemen und stellte fest, dass nichts von dem, was die Zeitungsredakteure für wichtig hielten, in hundertfünfzig Jahren noch Relevanz hatte.»Weißt du, dass keiner der Konflikte, über die sich die Schreiber hier so auslassen, einen Eindruck in den Geschichtsbüchern hinterlässt?«»Interessant«, erwiderte Miranda betont gelangweilt. »Vor allem, dass man das Gleiche auch von anwesenden Personen sagen kann.«»Kannst du mir einen Teil der Zeitung geben?« fragte er ein paar Minuten später. Miranda raschelte kurz, dann warf sie ihm ein Stück zu. Die Stellenanzeigen.»Sehr subtil«, brummte Graham und begann die in winziger Schrift bedruckten Spalten zu lesen. Zum ersten Mal ergab das Wort Bleiwüste einen Sinn: Arbeitgeber warben hier nicht um Angestellte, sie diktierten die Bedingungen, zu denen sie huldvoll bereit waren, einem nichtigen Wurm eine Existenz zu gewähren. Dafür musste man schuften wie ein Sklave und bekam kaum mehr Lohn als einer. »Wie kann man davon leben?« fragte er sich selbst. Laut. Miranda schaute über den Zeitungsrand.»Wovon?« fragte sie.»Hier, diese Stelle als Hausmädchen. Sie soll sich um das Haus kümmern, den Garten, die Kinder und die Küche. Dafür bekommt sie kostenfreie Unterkunft und Verpflegung, dazu zwei Schilling und drei freie Tage. Pro Monat.« Graham hatte keine Ahnung, wie weit man mit zwei Schilling kommen würde, aber er glaubte nicht, dass es viel war. Er selbst lebte ganz bequem – leider von Mirandas Geld. Wann immer Graham intensiver über seine Situation nachdachte, nagte dieser Fakt an seinem Selbstbewusstsein. Miranda zuckte mit den Schultern.»Es gibt schlechtere Stellen.«»Du unterstützt das?« Miranda schaute erstaunt auf, denn das Entsetzen in Grahams Stimme klang echt.»Was soll daran verkehrt sein?«»Das man bei so einem Job kein Leben mehr hat! Kein Wunder, dass Marx den Kommunismus erfindet.«»Wer ist Marx?«»Das kommt noch. Ich glaube, so lange dauert es nicht mehr. Für seinen Kommunismus wurden tausende Menschen umgebracht.«»Von ihm?«»Nein. Ich bezweifle, dass er davon gewusst hat. Oder es gutgeheißen hätte.«»Besser, ich warte bis er auftaucht, bevor ich mir eine Meinung bilde. Hast du vor, dich als Haushälterin zu bewerben?«»Natürlich nicht!«»Dann solltest du weiterlesen.«
Graham las weiter. Leider wurden Analysten mit fortgeschrittenen Computerkenntnissen nicht gesucht; was vor allem am Mangel an Computern liegen musste. Gesucht wurden Angestellte mit hervorragendem Leumund, hervorragender Handschrift und hervorragendem Arbeitswillen und einer natürlichen Abneigung dagegen, hervorragend bezahlt zu werden. Graham scheiterte regelmäßig am letzten Punkt. Er hatte gehofft, das es Stellenanzeigen für Ingenieure gab, die seiner mathematischen Begabung entgegenkamen. Aber die Ingenieure, die gebraucht wurden, sollten Spezialisten in Straßen-, Brücken- und Eisenbahnbau sein und in Indonesien oder einem anderen südostasiatischen Land arbeiten; Dinge, für die Graham keine Befähigung oder auf die er keine Lust hatte.
Vor allem hatte Graham – wenn er das ganz ehrlich sich selbst gegenüber zugeben wollte – keine Lust auf einen Job, der ihn von Miranda entfernen würde. Auch wenn sie unglaublich schwierig beziehungsweise eine Frau war: ihre Intelligenz, ihr Humor und ihre Persönlichkeit waren unvergleichlich. Er hatte auf den wenigen Gesellschaften, zu denen sie eingeladen wurden, niemanden gefunden, der ihr das Wasser reichen konnte. Ihren alten Mentor Horatio vielleicht ausgenommen, aber gegenüber dem alten Mann konnte Miranda durch Optik punkten. Vielleicht sollte er die Wogen wieder glätten.Leider war im Fall Grahams die Beschreibung unbeholfen, wenn es um das weite Gebiet zwischenmenschlicher Beziehungen und Kommunikation ging, eine Untertreibung.»Miranda, wegen deiner Frage gestern...« Er ließ die Worte in der Luft hängen, bis Miranda hinter der Zeitung hervorschaute.»Ja?« fragte sie vollkommen neutral.»Also in meiner Zeit, da ist es ungewöhnlich gleich von Hochzeit zu sprechen. Man lernt sich kennen, lebt zusammen. So zur Probe, ob es klappt. Und erst, wenn man sich ganz sicher ist, heiratet man.«»Auf Probe?«»Ja. Ich finde, das ist eine ganz praktische Lösung.«»Wie das Probeabonnement einer Zeitung?« Graham spürte, wie das Eis unter ihm dünner wurde. Und Risse bekam. Rings um ihn herum.»Es ist vielleicht nicht ganz das Gleiche.«»Ach ja? Worin besteht der Unterschied? Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist bei Nichtgefallen Schluss. Das entspricht nicht meinem Selbstbild. Mich gibt es ganz oder gar nicht. Und auf keinen Fall nur auf Probe!«»Ja, ich meine nur, es ist nichts Persönliches. Ich war nur überrascht. Ich dachte, du als moderne, patente Frau ...« Graham blieben die Worte im Hals stecken, als er Mirandas Gesicht sah. »Es dauert vielleicht noch etwas, bis ich ganz in deiner Zeit angekommen bin.«»Das mag altmodisch sein. Aber ich weiß, was ich mir wert bin.«»Du bist mir auch viel wert.«»Offensichtlich keinen Ehebund.« Graham suchte nach Worten, aber er war sich sicher, dass es im Moment keine richtigen gab. Er zählte auf die Zeit als seinen Verbündeten. Würde Miranda in zehn Jahren die Sache vergessen haben? fragte er sich. Wahrscheinlich nicht.
Graham richtete seinen Blick zurück auf die Zeitung. Eine einzige Anzeige hob sich vom Einerlei der eng bedruckten Zeilen ab. Leise murmelte er vor sich hin, als er sie las:
Professor George Edward Challenger benötigt für eine Exkursion in die unbekannten Gefilde Südamerikas einen tauglichen Sekretär. Dessen Aufgaben umfassen die Protokollierung, Katalogisierung und Darstellung jeglicher neu entdeckter Arten, mit denen im höchsten Umfang zu rechnen ist.
Der Bewerber muss über eine robuste physische Statur verfügen, sich bester Gesundheit erfreuen, verschwiegen, arbeitsam, anspruchslos und zu bedingungslosem Gehorsam bereit sein.
Hier stoppte Graham. Anspruchslos und bedingungsloser Gehorsam, das klang nach Studentenpraktika. Wie es weiterging, erfuhr Graham nicht. Miranda riss ihm die Zeitung aus den Händen.»Das klingt interessant.«»Der Sklavenjob?«»Eine wissenschaftliche Expedition nach Südamerika. Kennst du Südamerika?« Graham überlegte, was das bedeuten sollte. Kennen und kennen sind zwei unterschiedliche Dinge: Graham wusste von Südamerika, dass es ein großer, weiter Kontinent war, auf dessen fruchtbaren Flächen Kaffee und Kokain angebaut wurden und dessen Bewohner entweder zu einem der mächtigen Drogenkartelle gehörten oder zu den Opfern besagter Kartelle. Diese Tatsache hatte ihn davon abgehalten, den Kontinent selbst zu besuchen.»Ich weiß, dass es dort gefährlich ist.« Leider kam Graham mit seinen subtilen Ausdrucksdifferenzen bei Miranda nicht weit.»Woher weißt du das?«»Aus den Nachrichten. Ich lese viel. Wie du.«»Aber du warst noch nie dort?«»Es ist gefährlich.«»Kennst du den Namen Humboldt?« Graham winkte ab.»Logisch. Berühmter Naturforscher.«»Und weißt du, warum er berühmt ist?«»Ich wette, du wirst es mir gleich sagen.«»Weil er keine Angst hatte, nach Südamerika zu gehen.«»Es ist trotzdem gefährlich.«»Nur für jemanden, der sich vor einer lebenslangen Bindung fürchtet. Ich werde noch heute bei Professor Challenger vorsprechen!« Graham klappte das Kinn nach unten.»Du willst nach Südamerika? Weißt du, wie lange man da unterwegs ist?«»Eine Weile.«»Und was ist mit mir?« Miranda zuckte mit den Schultern.»Was soll mit dir sein? Du bist nicht mein Ehemann.«»Ich komme mit.«»Warum?«»Du hast gesagt, ich soll mir einen Job suchen.« Miranda war aus dem Zimmer, bevor Graham den Satz beendet hatte.
Dafür war er schneller präsentabel, was nicht an seiner Geschwindigkeit lag. Die viktorianische Mode räumte Männern einen gewissen Vorteil ein. Die Herren konnten auch ohne einen Valet auskommen, die Dame von Stand brauchte ein Heer von Zofen. Nicht um ihren Reichtum zu zeigen, sondern um die Unmengen an Knöpfen, Schnallen und Schleifen zu schließen, die sich meist am Rücken befanden. Graham wartete bereits auf der Straße und hatte eine kleine Mietdroschke angehalten, als Miranda aus der Tür trat.»Willst du mir den Job wegschnappen?« fragte Miranda spöttisch, als Graham ihr die Tür öffnete.»In dem Fall wäre ich bereits losgefahren.«»Wäre dir zuzutrauen. Steig als Erster ein.«»Warum?«»Damit die Kutsche nicht ohne dich losfährt. Es wäre möglich, dass du dem Kutscher ein falsches Ziel genannt hast.« Graham schaute zum Kutscher, der sich alle Mühe gab, sein Grinsen zu verbergen.»Können wir diesen dummen Streit nicht lassen? Zusammen sind wir ein unschlagbares Team.«»Ist das so etwas Ähnliches wie ein Ehepaar?« Miranda gab dem Kutscher ein Stück Papier. »Bringen Sie uns bitte zu dieser Adresse.«»Klar, Ma'am.« Miranda stutzte und sah sich den Kutscher genauer an. Speckiges Halstuch, Drei-Tage-Bart, fehlende Zähne und ein erloschener Zigarrenstummel im Mund. Sie schaute zu Graham.»Ich habe den Zeitungsjungen gebeten, uns eine günstige Droschke zu besorgen«, erklärte der mit einem Schulterzucken. Miranda wandte sich zum Kutscher.»Können Sie den Zettel lesen?«»Dann tät ick das Doppelte nehmen, Ma'am.«»Und wie wollen Sie uns an unser Ziel bringen, wenn Sie es nicht einmal kennen?«»Dat is keen Problem. Ick fahr einfach durch de ganze Stadt und irgendwann wollnse schon mal raus. Und ick rechne nach Stunden ab.« Ein Augenblinzeln später war der gute Mann nicht mehr allein auf dem Kutschbock. Miranda hatte sich neben ihn geschwungen und starrte ihn an.»Hinten rein! Ich fahre!«»Det is mene Kutsche!« wagte der Mann in einem Anfall von Tapferkeit zu sagen. Eine Entscheidung, die er gleich darauf bereute.»Entweder Sie gehen freiwillig, oder ich werfe Sie runter!« Das Gesicht vor ihm sagte dem Kutscher, dass diese Drohung mehr als ernst gemeint war. Er verfehlte ein paar Sprossen auf seiner Trittleiter, fing sich und warf sich gerade noch in die Kutsche, bevor Miranda losfuhr.»Is Ihre Missis immer so?« fragte er Graham.»Sie ist nicht meine Missis. Ich glaube, das ist das Problem.«
1 Sein Ausdruck war mittlerweile genauso steif wie der seiner Umgebung.
CHALLENGER ACCEPTED
Dass Miranda nicht nach Stunden bezahlt wurde, merkte man an ihrem Fahrstil. Während Graham versuchte, sich drinnen an Haltegriffen und Sitzpolstern festzuhalten, hörte er von draußen Flüche und Verwünschungen. Er wusste, dass es sinnlos war, Miranda zu beruhigen; dazu liebte sie die Geschwindigkeit zu sehr. Graham war heilfroh, dass das Auto noch nicht erfunden war. Ihr Luftschiff war in Sachen Geschwindigkeit zu sehr vom Wind abhängig als dass es für Rennen geeignet wäre und seit dem Aether-Desaster blieb es sowieso am Boden.»Wie hieß die Adresse, zu der Ihre Missis wollte?«»Habe ich mir nicht gemerkt«, rief Graham über das Dröhnen der Metallreifen über dem Kopfsteinpflaster. »Wir wollen zu einem gewissen Professor Challenger.«»Wirklich?« kam die Antwort. »Der Typ mag keenen Besuch.«»Sie kennen ihn?«»Nich persönlich, aber ick hab ihn een paarmal jesehen. Ick weeß ooch, dat die Meesten, die an seiner Tür klingeln, die Treppe runtergeschmissen werden.«»Warum das denn?« Der Kutscher zuckte mit den Schultern.»Hab ick nich jefracht. Et lohnt sich aber zu warten und den Fahrjast dann ins Krankenhaus zu kutschieren. Zwee Fahrten zum Preis von drein.«»Das ist unethisch.«»Keene Ahnung mit die Ethik. Es macht mich, meine Missis und de Kinner satt.«»Wie ist dieser Challenger so?«»Sieht aus wien Bär und hat dat Temperament, als wär er zu früh ausm Winterschlaf geweckt wordn. Er und Ihre Missis werden sich wunnervoll verstehen.«»Sie ist nicht meine ...« In dem Augenblick bremste die Kutsche scharf und blieb stehen. Graham flog mit dem Gesicht auf die gegenüberliegende Bank und brauchte einen Moment, sich aufzurappeln. Das hatte Miranda ganz sicher mit Absicht um des Vorsprungs willen gemacht. Aber das Spiel konnten zwei spielen. Nach ein paar Schritten drehte Graham sich um. Der Kutscher winkte nur ab.»Ick weeß schon Bescheed. Ick warte uff se.«
Die Gegend ließ sich als bürgerlich bezeichnen. Und zwar gut betucht bürgerlich. Die Häuser in der Straße sollten mal mehr und mal weniger bescheiden zeigen, dass die Bewohner es zu einem gewissen Wohlstand gebracht hatten – wenn sie auch nicht an den Prunk herankamen, mit dem die Besitzer alten Geldes ihre Wohnsitze ausstatteten. Und wenn die Villen hier auch nicht prunkvoll waren, dann auf jeden Fall protzig. Dorische Säulen vor den Eingängen sollten aus einer popeligen Holztür ein beeindruckendes Portal machen und schafften es nur zu beweisen, dass Geld und Geschmack zwar mit demselben Buchstaben anfangen, sonst aber nicht viel miteinander zu tun haben. Wobei das Haus, vor dem Miranda und Graham jetzt standen, einen subtilen Unterschied machte. Der Besitzer hatte – obwohl griechische Architektur nach Grahams Meinung nicht nach London passte – wenigstens Ahnung von ihr. Zumindest passte sein Eingangsportal zum Rest des Hauses, während die Statuen im Garten sich in die Komposition einfügten und nicht so dastanden, als hätte der Lieferant sie dort vergessen.»Ist das die Adresse?« fragte Graham.»Sonst wären wir nicht hier«, erwiderte Miranda.
Sie hatten kaum zwei Schritte in den Garten gesetzt, als die Haustür von innen geöffnet wurde.»Wir werden erwartet«, bemerkte Miranda und täuschte sich damit gewaltig. Zwar kam ihnen ein Mann entgegen, aber der hatte keinen Bodenkontakt und verließ das Haus auch nicht freiwillig. In einem hohen Bogen – einer perfekten Parabel sogar – flog er aus der Tür, über die Treppe bis auf den Kies, der den Gartenweg bedeckte. Der Mann rappelte sich benommen auf, schüttelte erst sich und dann seine Faust in Richtung Haus.»Sie werden von mir hören, Challenger! Das wird Konsequenzen haben!« Der Bedrohte bekam davon nichts mit; die Tür war schon wieder zu.
»Geht es Ihnen gut?« fragte Graham mitfühlend – der junge Mann erinnerte Graham an sich selbst. Dass er in seinem Leben nirgends so rausgeflogen war, lag daran, dass er Konfrontationen dieser Art bisher vermeiden konnte. Und dass die Rechtsprechung in Sachen Schadenersatz solche Fortschritte gemacht hatte (noch nicht jetzt, aber in der Zukunft), dass allein die Berührung eines ungebetenen Gastes den Gastgeber um sein Vermögen bringen würde.»Haben Sie das gesehen?« ereiferte sich der Rausgeschmissene.»Ja, haben wir.«»Dann sind Sie meine Zeugen! Ich werde diesen Grobian verklagen, bis ihm Hören und Sehen vergeht!«»Und Sie sind?« unterbrach ihn Miranda.»Eduard Mallone. Ich bin Reporter für die London Gazette.«»Ich habe gehört, Professor Challenger hat etwas gegen Journalisten.«»Das ist kein Grund, einen Mann derart anzugreifen! Das widerspricht jeglicher Form von Sitte und Anstand! Dieser Mann ist ein Tier!«»Nachdem was ich gehört habe«, erwiderte Miranda, »haben ihn die Zeitungen nicht besonders nett behandelt.«»Was können wir dafür, wenn er ohne Beweise verlangt, dass wir seine wilden Fantastereien glauben?«»Es ist also eindeutig seine Schuld.« Mallone musterte Miranda zum ersten Mal richtig.»Wie ich sehe«, bemerkte er, »haben Sie sich von diesem Scharlatan einwickeln lassen. Ich denke nicht, dass ich auf Ihre Dienste angewiesen bin.« Mallone stapfte davon und zog eine Welle selbstgerechten Zorns hinter sich her. Er steuerte die Kutsche an – das einzige Fahrzeug, welches ihn in absehbarer Zeit schnell von hier wegbringen würde – und winkte dem Kutscher. Der schaute zu Miranda, die ihm mit einem leichten Nicken zu verstehen gab, dass seine Dienste nicht länger benötigt wurden und er sich um den neuen Fahrgast kümmern konnte. Graham machte eine Geste mit Daumen und Zeigefinger und zeigte auf Mallone.»Ein Konkurrent weniger«, stellte Miranda fest.»Was hast du jetzt vor?«»Ich werde mit Professor Challenger reden. Er wird ja wohl keine Frau schlagen.«»Und wenn doch?«»Dann schlage ich zurück.« Entschlossen ging Miranda auf die Tür zu und klopfte. Graham stand gerade neben ihr, als die Tür aufgerissen wurde.»Hast du noch immer nicht genug, du Lump!« brüllte der Hausherr.»Nicht die klassische Begrüßung für eine Dame.« Miranda war im Gegensatz zu Graham keinen Millimeter zurückgewichen.
Ein Gorilla – genau an dieses Tier erinnerte der Hausherr Graham. Und an den er den Kutscher auch erinnert hätte, wäre er öfter in den Zoo gegangen. Was natürlich verlangt hätte, zwei oder drei Tage aufs Essen zu verzichten; die Eintrittspreise waren nicht auf Kutscherlöhne ausgerichtet. Das galt nur, falls es den Zoo schon gab und dieser Gorillas hielt. Unbedingt herausfinden! notierte Graham auf seiner geistigen To-do-Liste. Bei den ganzen Kleinigkeiten, die schon darauf standen, würde diese Recherche Probleme haben, unter die Top-Tausend der dringendsten Aufgaben zu kommen. Allerdings imitierte Challenger – denn niemand anders konnte es sein – jetzt ein anderes, wesentlich bekannteres Tier: einen Karpfen. Er schnappte nach Luft.»Verzeihung«, sagte er nach einer Weile aus Höflichkeit und ohne es zu meinen. »Was wollen Sie hier?« Sie bezog sich dabei entweder auf Miranda und Graham oder etwas Unaussprechliches aus der Gosse. Ungerührt hielt ihm Miranda die Hand hin. Der Hausherr, der seinen Wutausbruch um einige Gänge zurückschalten musste, stutzte, griff dann nach der Hand und deutete einen Handkuss an. Gleich darauf zog er überrascht die Luft ein. Miranda hatte die Gelegenheit genutzt, um ihm die Hand zu schütteln. Und kräftiger zugedrückt, als Challenger es erwartet hatte.»Vielen Dank, dass Sie uns empfangen, Professor Challenger«, sagte Miranda und drückte sich an dem Professor vorbei ins Haus. Der sah ihr überrascht nach. Die Gelegenheit nutzte Graham, sich ebenfalls an dem Professor vorbeizumogeln. Challenger schaute verdutzt nach draußen, aber da stand niemand mehr; deshalb warf er die Tür zu.»Lady Hastings! Welch eine Ehre, Sie hier empfangen zu dürfen!« Diese Begrüßung kam nicht von Challenger, sondern von einer Frau, die das komplette Gegenteil des Akademikers war: klein, schmal und nicht wie ein Gorilla aussehend.»Miranda van Storm. Lady Hastings gehört zu einem früheren Leben.« Die Frau lächelte.»Man kann Ihnen den Titel nehmen, aber nicht die Haltung.«»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«»Nicht freundlich, nur wohlerzogen. Aber ich glaube nicht, dass Sie hergekommen sind, um mit mir zu plaudern. Sicher wollten Sie mit meinem Mann sprechen.« Den hatte Graham keine Sekunde aus den Augen gelassen. Während seine Frau freundlich und zivilisiert konversierte, stand er da, als ob man ihm die Banane geklaut hätte, und knirschte mit den Zähnen. »Lassen Sie sich von ihm nicht einschüchtern. Wenn er ungezogen wird, rufen Sie nach mir.« Mit einer angedeuteten Verbeugung entfernte sich Challengers Frau.»Ich hätte nie heiraten sollen«, brummte der Professor und blaffte dann: »In mein Büro!«
Man kann von der Umgebung eines Menschen auf seinen Charakter schließen, dessen war sich Graham sicher. Aber diese Analyse überforderte ihn im Fall des Professors. Messie war auf jeden Fall zutreffend: Der ganze Raum war eine Rumpelkammer; vollgestopft mit allen erdenklichen und außergewöhnlichen Preziosen, Fundstücken, Fossilien, Edelsteinen, Skeletten, Kunstwerken, Masken, Totempfählen, Urnen, Vasen, Journalen, Aufzeichnungen, Zeitungen, Büchern, Daguerreotypien, Lithografien, Tierpräparaten, Versteinerungen, wissenschaftlichen Instrumenten und in der Mitte einem riesigen Schreibtisch. Entweder konnte der Mann nichts wegwerfen, oder er verfügte über einen so wissensdurstigen Geist, dass er an allem Interesse entwickelte. Und unfähig war, eine einmal verfolgte Spur aufzugeben und den zugehörigen Gegenstand zu entsorgen. Hinter dem Schreibtisch stand ein holzgeschnitzter Thron, der nach afrikanischer Arbeit aussah, und auf dem sich Challenger niederließ. Vor dem Schreibtisch standen zwei wesentlich unauffälligere Hocker, die unter Bergen von Papier und Büchern begraben waren. Graham wischte die einfach zur Seite und ließ sich nieder. Dann sprang er auf, fegte den Müll vom zweiten Hocker und wartete, bis Miranda sich gesetzt hatte.»Was wollen Sie?« fragte Challenger barsch in Grahams Richtung. Miranda antwortete.»Ich bin deshalb hier«, sagte sie und hielt dem Professor die Anzeige hin.»Und?« schnauzte der. »Da steht Sekretär. Eine Frau kann ich nicht gebrauchen.« Graham stöhnte innerlich. Ja, die Gleichberechtigung steckte noch in den Kinderschuhen. Oder in einem noch früheren Stadium. Andererseits sprach der Professor hier zu Miranda. Graham war überzeugt, dass sie dem Mann in mehr als einer Sache überlegen war.»Welche Vorteile hat ein Sekretär gegenüber einer Frau?« fragte sie. Challenger setzte seine für besonders begriffsstutzige Studenten reservierte Miene auf und begann zu dozieren.»Eine Exkursion nach Südamerika ist kein Shoppingausflug. Sie ist entbehrungsreich, anstrengend und kräftezehrend. Sie ist alles andere als für eine schwächliche Frauensperson geeignet.«»Diese Tatsachen sind mir bekannt«, bestätigte Miranda. »Und Sie können mir glauben, Professor, dass ich hier nicht vorsprechen würde, wäre ich nicht überzeugt, dass ich für eine derartige Expedition geeignet bin.«»Das müssen Sie mir erst beweisen.« Miranda zuckte nur kurz mit den Schultern.»Kein Problem.« Miranda schob ihren Hocker näher an den Schreibtisch heran, schob einige Papiere zur Seite, um Platz zu machen und stellte ihren Arm auf dem Ellenbogen auf. »Los!«»Was soll das werden?« knurrte Challenger.»Armdrücken. Soweit mir bekannt ist, wird es unter den Matrosen an den Docks als freundschaftlicher Wettbewerb ausgeführt, um festzustellen, wer der Stärkste unter ihnen ist.«»Woher wissen Sie von den Docks?« fragte Challenger.»Von meinen Shoppingausflügen?« Challenger schnaubte verächtlich, knöpfte seinen Hemdsärmel auf und krempelte ihn hoch. Dann packte er Mirandas Hand, sodass Graham schon fürchtete, Knochen brechen zu hören, und brachte sich in Position.»Auf drei«, sagte Miranda.»Der Dünne soll zählen«, erwiderte Challenger.»Graham!« sagte Miranda, bevor er protestieren konnte.»Eins, zwei, drei.« Graham hatte nicht viel Enthusiasmus in das Startkommando gelegt, dafür legte Challenger viel Enthusiasmus in seinen Versuch, Mirandas Arm herunterzudrücken. Und genau das blieb es: ein Versuch. Challenger war darüber genauso verblüfft wie Graham, aber egal was er tat – nichts davon brachte Miranda Arm auch nur einen Millimeter nach unten. Nach einer halben Minute traten die ersten Schweißperlen auf Challengers Gesicht, auf Mirandas blieb es beim Lächeln. Dann wurde es Miranda langweilig. Mit einer kaum wahrnehmbaren Anstrengung drückte sie den Arm des Professors nach unten.»Wow!« sagte Graham. Challenger brummte wie ein missgelaunter Bär.»Hätte ich Ihnen nicht zugetraut«, sagte er schließlich. »Ich sehe trotzdem nicht, wozu ich Sie auf der Expedition gebrauchen könnte. Die Reise ist lang und anstrengend. Erst wochenlang mit dem Schiff, dann mit Packeseln und Kanus rauf in den Dschungel. Das ist keine Reise für eine Dame.«»Warum nehmen Sie kein Luftschiff?« fragte Graham und kassierte dafür von beiden vernichtende Blicke.»Weil Luftschiffe Aethertechnologie benötigen. Und du solltest wissen, dass es da gerade ein paar Probleme gibt«, wurde Graham von Miranda belehrt.»Ist Ihr Begleiter immer so schwer von Begriff?« fragte Challenger.»Normalerweise ist er ein sehr stiller Begleiter«, entgegnete Miranda und warf Graham einen warnenden Blick zu. Der polierte sich die Fingernägel am Aufschlag seiner Jacke und ignorierte die wenig subtilen Andeutungen.»Wenn Sie Ihre Expedition auf die harte Tour durchziehen wollen, stehen wir Ihnen natürlich nicht im Wege. Sie könnten aber auch die begabteste Tinkerin des Empires mit dem Transport der Expeditionsteilnehmer und des Equipments beauftragen. Mit einem Luftschiff schaffen Sie es in einem Bruchteil der Zeit zum Ziel und zurück. Das kann ein entscheidender Vorteil sein. Vielleicht kommt die akademische Konkurrenz ebenfalls auf die Idee, eine Expedition zu starten und das, was auch immer Sie zu finden hoffen, vor Ihnen zu finden.« Challenger wurde blass.»Was haben Sie gehört? Es ist Summerlee, nicht wahr? Dieser hinterhältige Bastard! Ich wusste, dass er hinter meinem Rücken versucht, mir den Ruhm streitig zu machen! Dieser...« Den Rest bekam Graham nicht mit, was an Mirandas Stiefel lag, der gegen sein Schienbein gerammt wurde.»Was soll das?« signalisierte sie. Graham lehnte sich zurück. Mit der unfehlbaren Sicherheit eines Verkäufers, der die Schwachstelle seines Kunden entdeckt und gnadenlos ausnutzt, hatte er Challengers Schwachpunkt gefunden und gedachte ihn auszunutzen.»Ein Mann Ihrer Bedeutung sollte über missgünstige Konkurrenten erhaben sein«, unterbrach er die Tirade des Professors.»Natürlich bin ich das!« blaffte der zurück. »Trotzdem können auch den Größten die gebündelten Kräfte der Kleinen besiegen. Es gibt in Südamerika Ameisen, die ganze Landstriche eliminieren.«»Ja, Feuerameisen. Das ist bekannt.« Miranda hatte gerade fragen wollen, was das für Ameisen sind, klappte ihren Mund aber wieder zu.»Sie kennen den Zug der Feuerameisen?« fragte der Professor erstaunt. »Waren Sie etwa schon mal da?« Graham winkte ab.»Wo ich herkomme, ist es Allgemeinwissen. Ansonsten kenne ich mich nur mit der Wirtschaft aus, die Wissenschaft überlasse ich anderen.«»Ihr Ton gefällt mir nicht, Freundchen.« Challenger beugte sich über seinen Schreibtisch nach vorne. »Vielleicht entscheide ich mich ja tatsächlich, Sie mitzunehmen. Dann werden wir sehen, was Ihre sogenannten Kenntnisse wert sind.«»Falls wir uns entscheiden«, unterbrach ihn Graham, »und ich sage noch nicht, dass wir das tun, also falls wir uns entscheiden, Ihre Expedition zu unterstützen, dann sind dafür zwanzigtausend Pfund fällig. Die Hälfte im Voraus.« Challenger schnappte nach Luft. Miranda ebenfalls.»Raus hier!« brüllte Challenger. »Sie sind ja größenwahnsinnig!« Und Miranda sah Graham an, als ob sie der gleichen Meinung war. Graham störte das überhaupt nicht. Er hatte sein ganzes Berufsleben damit verbracht, Zahlen, Daten und Fakten zu analysieren. Und Menschen. Das half ihm zwar nicht, wenn der in Frage kommende Mensch weiblich war – aber in Geschäftssachen machte ihm keiner was vor. Schon gar nicht ein aufgeblasener Professor.»Ich nehme an, Sie benötigen ein wenig Bedenkzeit. Miranda, wir sollten gehen und dem Professor die Gelegenheit geben, über unser Angebot nachzudenken.« Miranda fehlten die Worte. Graham wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, aber er war sich sicher, dass er es in wenigen Minuten herausfinden würde. Er reichte ihr die Hand und führte sie langsam, aber zielstrebig aus dem Büro des Professors.»Warum sollte ich über Ihr Angebot überhaupt nachdenken?« rief ihm Challenger hinterher. Graham drehte sich noch einmal halb herum.»Weil Sie sonst von den Ameisen aufgefressen werden.«
Es dauerte eine Minute und zweiunddreißig Sekunden, bis Graham herausfand, was Miranda von der ganzen Sache hielt.»Bist du von allen guten Geistern verlassen?« fauchte sie Graham an, kaum dass sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.»Nicht im Geringsten.«»Und was war das da drin? Denkst du im Ernst, dass Challenger uns mitnimmt? Und dann noch für eine solche Wahnsinnssumme? Ich war auf der Suche nach einem Job, der meinen intellektuellen Fähigkeiten entgegenkommt und einigermaßen ordentlich bezahlt wird. Wenn sich das rumspricht, dann werde ich nie wieder Geld verdienen können.« Graham blieb so abrupt stehen, dass Miranda es erst gar nicht mitbekam. Dann ging sie die paar Schritte zurück, baute sich vor Graham auf und schaute ihn mit zornfunkelnden Augen an. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hielt ein Bobby auf seiner Patrouille inne und betrachtete das streitende Paar. Er war offensichtlich verheiratet, denn er hielt Abstand. Auch Graham war sich der Gefahr bewusst, aber er legte trotzdem beide Hände auf Mirandas Schultern, sodass sie nicht weglaufen konnte. Außerdem war es die Ausgangsposition für eine Jiu-Jitsu-Verteidigungsposition, die Graham mal in einer Youtube-Doku gesehen hatte. Die würde ihm nach dem, was er gerade erlebt hatte, zwar nicht viel helfen, aber er fühlte sich etwas sicherer.»Miranda, du bist die intelligenteste, geschickteste und cleverste Person, die ich kenne. Und ich würde es hassen, wenn du dich unter deinem Wert verkaufst. Du kannst die Welt bereisen, unbekannte Gefilde entdecken, bahnbrechende Erfindungen machen. Aber nicht, wenn du zwölf Stunden am Tag für einen Hungerlohn schuftest. Dieser Professor braucht etwas, was du ihm liefern kannst. Und das soll er nicht einfach hinterhergeworfen bekommen. Du bist Miranda van Storm. Keine kleine Tippse.« Miranda machte einige Mal den Mund auf und dann wieder zu.»Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich, »ob ich dich für deine Impertinenz schlagen oder mich für deine Unterstützung bedanken soll.« Bevor Graham dazu kam, ihr eine angebrachte Form des Dankes vorzuschlagen1, zuckte Miranda mit den Schultern. »Ich schätze, ich sollte abwarten, wie die Sache ausgeht. Wenn es schief läuft, werde ich dir das nie verzeihen.« Hinter ihnen ging die Haustür wieder auf. Graham vermutete, dass Challenger sie endlich von seinem Grundstück vertreiben wollte. Doch der blieb im Türrahmen stehen.»Heute Abend werde ich über meine geplante Expedition im Institut berichten. Hören Sie sich das gut an. Und wenn Sie sich dann immer noch an diese Aufgabe wagen, dann sehen wir weiter!« Dann knallte er die Tür zu.
1 Er hatte ein intensives Lippenbekenntnis im Sinn.
AUFRUHR IM INSTITUT
Acht Stunden später hatte Miranda Graham fest im Griff. Und das war auch nötig. Challengers Vortrag im Institut der Geologie war in allen Zeitungen groß angekündigt worden. Die Schlagzeilen waren unterschiedlich: Gemäßigte Blätter hatten angekündigt, dass der bekannte Professor Challenger die recht kontroversen Ergebnisse seiner letzten Südamerika-Expedition verteidigen wolle, die Boulevard-Titel verkündeten, dass der größenwahnsinnige Challenger einen letzten und vergeblichen Versuch unternehmen wolle, Anhänger für seine völlig abstrusen und lächerlichen Behauptungen zu finden. Was für einen Aufruhr ein wissenschaftlicher Vortrag verursachen konnte, hätte Graham sich nicht im Geringsten träumen lassen; nach der Erfindung des Kopierers und erst recht mit der Einführung von Onlinevorlesungen waren akademische Veranstaltungen in der Regel sparsam besucht, sofern keine Anwesenheitskontrolle vorgenommen und Nichterscheinen sanktioniert wurde.
Die ersten Anzeichen, dass es hier anders war, bekamen Miranda und Graham ein paar Straßen vor dem Institut mit, als der Verkehr auf der Straße und den Fußwegen immer dichter wurde.»Die wollen alle Challenger hören«, hatte Graham gesagt und es als Scherz gemeint.»Durchaus möglich. Challenger ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Und er ist umstritten.«»Du meinst, die wollen echt alle zu ihm?«»Was sollten sie sonst tun? Videographen sind recht teuer und nur die wenigsten können sich einen leisten. Genauso wenig wie einen Audiotransmitter.«»Ok, aber warum geht man dann zu einem wissenschaftlichen Vortrag? Warum nicht tanzen oder zu einem Konzert? Irgendwas, wo man Spaß hat?«»Spaß haben?« fragte Miranda als wäre das ein Konzept, von dem sie noch nie gehört hatte. »Wie will die Menschheit Großes erreichen, wenn es nur ums Vergnügen geht?«»Du sagst das, als wäre es etwas Schlechtes.«»Ich habe nichts gegen vergnügliche Aktivitäten. In Maßen.«»Klingt, als hättest du dafür einen Termin im Kalender.«»Ja. Jeden dritten Donnerstag.« Graham sah Miranda von der Seite an. Manchmal trieb sie ihre Scherze mit ihm, aber gerade jetzt konnte er nicht sagen, ob sie es ernst meinte. Die Menschen, die Richtung Institut unterwegs waren, sahen nicht nach Spaß aus. Einige hatten so verbissene Mienen, als ob es in den Krieg gehen würden, andere trugen Protestschilder. Eine Gruppe Studenten übte das Skandieren von Schmähsprüchen. Gegen wen konnte Graham nicht heraushören, das würde sich wohl im Laufe des Abends entscheiden. Er bemerkte den einen oder anderen Polizisten in der Menge, der mit strenger Miene und fester Stimme Ordnung einforderte und damit im Moment noch Erfolg hatte. Aber wenn die Meute in Fahrt kam, würde das anders aussehen.
Graham schob sich durch die Menge, darauf bedacht, niemandem auf die Füße zu treten oder anderweitig den Zündfunken für eine Gewaltorgie zu liefern. Was schwieriger wurde, je näher sie dem Eingang kamen. Außerdem nahm die Dichte der Polizisten zu und die Bewegung der Menschen stockte. Als Graham endlich nahe genug war, verstand er warum.»Ihre Einladung, bitte« forderte ein Beamter einen Mann auf, der in seinem Leben wahrscheinlich noch nie eine Einladung vorweisen musste. Er trug einen Pelzmantel, der ihn in hundert Jahren zum Musterfeindbild aller Tierschützer gemacht hätte, und lief so steif, dass er entweder einen Besen verschluckt1 hatte oder einem der alten Adelshäuser angehörte.»Eine Einladung?« fragte er pikiert.»Ja, Sir. Kein Zutritt ohne Einladung.«»Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?«»Nein, Sir!« sagte der Beamte. Aber sein Gesicht sagte das Gegenteil. Und es sagte, dass er es weidlich genoss, sein Gegenüber auflaufen zu lassen.»Das ist eine Frechheit!« echauffierte sich der Mann.»Nein, Sir! Es ist eine Anweisung von Sir Peel.«»Ich werde Robert von Ihrer Impertinenz berichten, wenn ich morgen mit ihm speise! Dann wird Ihre Karriere ein Ende haben, Sie ... Beamter!« Miranda kicherte.»Sir Peel neigt dazu, Untergebene, die seine Anweisungen zuverlässig ausführen, zu befördern. Aber ich denke, der junge Mann wird auch uns keinen Zutritt gewähren.«»Nicht einmal Lady Hastings?«»Der Mann, der hier gerade abgewiesen wurde, ist Staatssekretär im Innenministerium. Und Peels Männer stehen in dem Ruf, gut zu sein. Ich bin sicher, das Bild einer in Ungnade gefallenen Lady wurde beim morgendlichen Appell gezeigt und jeder weiß, dass ich nicht mehr Rechte habe als ein kleiner Straßendieb.«»Aber warum dieser Aufwand?« fragte Graham. Er spürte, dass auch Miranda, trotz ihrer unbekümmert klingenden Stimme, langsam nervös wurde.»Challenger ist ein äußerst kontroverser Charakter. Und die anderen Professoren der Akademie haben ihre Unterstützer mitgebracht.«»Ich dachte, die besseren Argumente gewinnen in der Wissenschaft.«»So kann man sich irren. Die Studenten da drüben sind nicht zufällig hier. Kann gut sein, dass einer der Kontrahenten sich schlagkräftige Unterstützung mitgebracht hat. Wir nehmen den Hintereingang. Hier lang!« Graham brauchte nicht zu fragen, woher Miranda den Hintereingang kannte. Bevor sie Lady Hastings wurde, hatte Miranda van Storm als Putzfrau gearbeitet, bis in die Privaträume von Queen Viktoria hinein. Es war unwahrscheinlich, dass sie diesen Posten ohne eine gewisse Reputation bekommen hatte – das Putzen einer so bedeutenden Stätte wie des wissenschaftlichen Instituts konnte dazugehören.
Miranda zog Graham rechts an dem beeindruckenden und hell erleuchteten Säulenportal vorbei in eine dunkle Gasse, die wesentlich weniger beeindruckend aussah – weshalb die Erbauer dort auf Beleuchtung verzichtet hatten. Abseits der belebten Straße hatten die Hausherren außerdem nicht auf Schein und Eindruck geachtet: Putz bröckelte ab, Müll häufte sich in den Ecken und dem Mangel an öffentlichen Toiletten wurde hier ebenfalls abgeholfen. Graham schaffte es, die Luft anzuhalten, bis sie vor einer unscheinbaren Tür standen. Miranda klopfte nicht an, sondern drückte die Klinke nach unten. Es war offen.
Der Flur dahinter war schmal und schmucklos – ein Ort, an dem hart und effizient gearbeitet wurde und überflüssiger Schnickschnack fehlte. Der Fußboden bestand aus nackten Holzdielen, die Wände waren nur weiß gekalkt. Schleifspuren und Schadstellen zeugten von Gegenständen, die hier schnell und hastig hin und her getragen wurden.»Warum ist nie jemand auf die Idee gekommen, dass Einbrecher diesen Weg auch nehmen könnten?«»Weil kein Mann von Ehre es wagen würde, in diese Hallen einzubrechen.«»Du weißt schon, dass Diebe nicht unbedingt Männer von Ehre sind.«»Das Institut der Geologie ist ein Hort der Wissenschaften. Jeder Dieb weiß, dass da außer Ruhm und Ehre nichts Verwertbares zu holen ist. Da rüber!« Miranda schob Graham in einen schmalen Durchgang, von dem aus eine noch schmalere Gesindetreppe nach oben führte. Sie endete an einer verborgenen Tür, die zum repräsentativen Teil des Gebäudes führte. Repräsentativ hieß, man hatte mit Prunk nicht gespart: samtbehangene Wände, Teppich, goldene Leuchter. Sie standen auf der Galerie des Versammlungssaals, seitlich neben der Bühne. Leider standen sie nicht allein da; die skandierenden Studenten hatten ebenfalls den Weg hier hoch gefunden.»Entschuldigen Sie«, sagte Miranda und drückte die lärmenden jungen Männer zur Seite. Die wollten etwas sagen, aber die Beschwerden blieben ihnen im Hals stecken, als sie sich einer leibhaftigen, echten, lebenden Frau gegenübersahen. Wenigstens das hat sich nicht geändert, dachte Graham. »Entschuldigen Sie? Darf ich?« Jedes Mal schob sich Miranda weiter nach vorn in Richtung Galeriebrüstung. Graham blieb in ihrem Windschatten und stand gleich darauf mit ihr in der ersten Reihe.
Für den ersten Moment hätte man meinen können, es handele sich dabei um einen Gerichtssaal. Hinter einem langen, erhöht aufgestellten Tisch standen fünf Stühle wie auf der Empore eines Richterkollegiums. Davor, schräg aufgestellt, sodass der Sprecher halb zum Saalpublikum und halb zu den fünf Männern sprechen konnte, befand sich das Rednerpult. Erst jetzt fielen Graham wieder die kleinen Unterschiede der Vergangenheit zu seiner Zeit auf: Ein Mikrofon fehlte, ebenso ein Teleprompter und eine Leinwand für Präsentationen. Ob die Abwesenheit von Powerpoint dem Vortrag gut tat, würde er bald herausfinden. Noch war keiner der Hauptakteure zu sehen, aber der Saal war gut gefüllt. Dank der Peeler – der Männer, die später einmal als Bobbys bekannt für die Sicherheit in London sorgen würden – war der Saal nicht überfüllt. Trotzdem sah Graham, dass es ganze Studentenhorden geschafft hatten, Zutritt zu bekommen. Und nicht alle sahen aus, als wären sie an akademischen Vorträgen interessiert, sondern mehr daran, eine ordentliche Prügelei mitzuerleben.
Aus der ganzen Menge stach besonders ein Mann heraus. Er saß in der ersten Reihe, sichtlich unberührt von dem Tumult um ihn herum. Obwohl er einen Anzug nach der aktuellen Mode trug, passte er nicht herein. Was genau an ihm falsch war, konnte Graham nicht sagen. Er wirkte wie ... Indiana Jones im Hörsaal. Jones war nur echt mit Lederjacke und Peitsche. Naja, so echt wie ein Film nur sein kann.Der Typ unten wirkte so ähnlich: obwohl er perfekt angezogen und frisiert war, sah er aus, als gehörte er auf den Rücken eines Pferdes in der Prärie. Graham wollte Miranda nach ihm fragen, aber in dem Moment kam Bewegung in die Menge.
Fünf Männer schritten den Mittelgang entlang durch den Saal in Richtung Bühne.Miranda tippte Graham in die Seite.»Das ist der akademische Rat. Ungewöhnlich, dass er vollständig antritt.« Graham musste zweimal hinschauen. Die Männer entsprachen nicht ganz seinen Vorstellungen: Nummer Eins sah aus, wie direkt von der Opernbühne gezerrt, der Zweite hinkte, als wäre ihm die gesamte Encyclopedia Britannica auf den Fuß gefallen. Beim Dritten handelte es sich um einen Bart auf zwei Beinen, beim Vierten um ein lebendiges Skelett. Das Komische dabei war, dass diese Männer sich allerbeste Mühe gaben, ernsthaft, bedeutend und allwissend auszusehen. Doch auf der Straße hätte man sie für Bestatter gehalten. Dass Challenger, der Fünfte, in dieser Gruppe herausstach wie ein bunter Hund, sagte bereits alles über ihn.Während die Männer den Saal durchschritten, brandeten Applaus, Bravos und Anfeuerungen aus den Reihen der zugehörigen Unterstützer auf, während von den anderen nur Spottverse und Buh-Rufe kamen. Die Lager wechselten zwischen Unterstützung und Verachtung je weiter die Mitglieder des Rates durch den Saal schritten. Es gab nur eine Ausnahme: Absolut niemand feuerte Challenger an. Ihm wurde von allen Seiten Scharlatan! und Schwindler! zugerufen.»Challenger ist Mitglied im Rat der Akademie?« fragte Graham.»Ja. Die Mitgliedschaft wird auf Lebenszeit verliehen und seine ersten Expeditionen waren bahnbrechend.«»Das mit der Ernennung auf Lebenszeit dürfte dem Verein da unten sauer aufstoßen, oder?«»Die einzige Möglichkeit, Challenger loszuwerden, ist, wenn er selbst zurücktritt.«»Ich glaub nicht, dass er der Typ dafür ist.«»Diesen aufgeblasenen Frosch werden sie schon mit Schimpf und Schande aus dem Institut jagen«, mischte sich einer der nebenstehenden Studenten ein. »Bei den Märchen, die er in seinen Vorlesungen erzählt, fällt es jedem vernünftig denkenden Menschen schwer, ernst zu bleiben. Was wir diesem Typen glauben sollen, ohne dass er einen einzigen Beweis vorlegt, ist ungeheuerlich.« Mangelnde Beweise waren ein berechtigter Einwand. Und er wäre noch glaubwürdiger gewesen, hätte sein Verfechter ihn so klar und deutlich geäußert; leider war dessen Aussprache durch mehrere Pint Starkbier schon arg in Mitleidenschaft gezogen. Graham neigte sich zu Miranda.»Mir ist es egal, ob Challenger recht hat oder nicht, solange er im Voraus bezahlt.«»Und was ist mit unserem Ruf, wenn wir uns an so einer zweifelhaften Expedition beteiligen?«»Wir haben ein Luftschiff, das es nach Südamerika und zurück schafft. Warum wir dort gewesen sind, ist dann zweitrangig.« Miranda zog die Augenbrauen hoch. Sie hatte ihm viel von Ehre unter Tinkerern, dem Stolz auf das selbst Erschaffene und die Verantwortung für das eigene Handeln erzählt. Das hatte Graham schon mal alles unter dem Begriff Ethik gehört; ein Thema, welches in seinem bisherigen Leben keine große Rolle gespielt hatte. Ein Umstand, dem er mehrere Millionen Pfund auf seinem Konto verdankte. Leider in einer Zeitlinie, in die er nicht zurück konnte.
Die Professoren hatten mittlerweile ihre Bühnenplätze eingenommen. Vier von ihnen versuchten respektabel auszusehen, nur Challenger hatte sich zurückgelehnt, als wollte er ein Nickerchen halten. Doch als ein sechster Mann aus dem Schatten des Vorhangs trat, ans Pult ging und dort zweimal mit einem Holzhammer klopfte, wurde es mucksmäuschenstill im Saal. Man konnte wirklich eine Stecknadel fallen hören. Das war auch nötig, denn mangels Mikrofons war der Vorsitzende auf die Saalakustik angewiesen. Die war exzellent, trotzdem musste Graham sich anstrengen, die Worte zu verstehen. Er hörte den Namen Murray, den die Studenten neben ihm murmelten. Und er bekam mit, dass jemand Der alte Nuschler stöhnte – und das war auch das Einzige, was er in den nächsten Minuten verstand.
Professor Murray, erklärte ihm Miranda später, galt als Ikone und als Genie – wenn auch niemand so genau wusste, auf welchem Gebiet. Und wie alle Ikonen und Genies neigte er dazu, sich mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen und sich nicht um die Welt außerhalb seines Kopfes zu kümmern. Zum Beispiel, ob man ihn verstehen würde, wenn er mit gesenktem Kopf am Pult stand und zu seiner weißen Halsbinde sprach.»Lauter! Lauter!« riefen Stimmen aus den hinteren Reihen, ohne dass es ihn störte. Nach einer Weile wurde der Professor enthusiastischer und redete mit der Wasserkaraffe vor ihm. Verstehen konnte man ihn keinen Deut besser. Nach einigen weiteren Sätzen schließlich winkte er einladend mit der Hand in Richtung seiner Kollegen auf der anderen Seite der Bühne, worauf sich einer der Männer erhob und zum Rednerpult schritt.»Das ist Professor Waldron!« flüsterte ein junger Student ehrfürchtig und ergänzte: »Seine Vorlesungen sind eine reine Erleuchtung!« Und du bist ein Ersti, fügte Graham im Geist hinzu. Wirklich, die Ehrfurcht, die dieser Junge dem Professor gegenüber zeigte, sollte sich spätestens im zweiten Semester verlieren. »Seine Theorie der Erdgeschichte ist bahnbrechend!«»Wirklich?« fragte Graham höflich und nickte ihm zu. »Da bin ich aber gespannt.«»Das können Sie auch wirklich sein, mein Herr! Ich kann gar nicht genug von ihm hören. Ich gehe zu jedem seiner Vorträge und ich habe mich in all seine Seminare eingetragen!«»Was Sie nicht sagen«, sagte Miranda. Sie hatte sich etwas vorgebeugt und lächelte den jungen Mann an. Sie hätte ihm auch eine Schlinge um den Hals legen und zuziehen können. Der Jüngling röchelte kurz, lief rot an und verschwand in der Menge. Graham schaute Miranda an und sah in ihren Augen, dass sie das Gleiche über den Jungen dachte wie er: Nerd. Von weiblicher Aufmerksamkeit überfordert und schlagartig zum Schweigen gebracht. Beide grinsten über die gemeinsame Erkenntnis, dann fiel Miranda ein, wen sie angrinste und ihr Lächeln verschwand. Stattdessen konzentrierte sie sich auf Waldrons Rede.Von Waldron hatte sogar Graham schon gehört: Berichte über seine Auftritte, Aufsätze über seine Theorien und Erklärungen neuester wissenschaftlicher Zusammenhänge standen öfter in den Zeitungen, die Miranda abonniert hatte. Der Mann war im Bildungsbürgertum bekannt und beliebt, wahrscheinlich, weil er komplexe Themen einfach erklärte und noch wahrscheinlicher, weil er deutlich sprach. Er war nicht unumstritten, aber man verstand ihn; das hob ihn von seiner Konkurrenz ab.»Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte Kollegen, das ist die Welt, wie wir sie heute kennen.« Dabei wies er auf die Wand hinter sich, wo ein Assistent eine Weltkarte entrollte. Graham warf nur einen flüchtigen Blick darauf. Die Umrisse der Kontinente waren dieselben wie in hundert Jahren. Graham hatte solche Karten schon in der Grundschule gesehen – das Publikum hier anscheinend nicht. Es studierte die Karte gründlich und schweigend. Waldron ließ die Zeit verstreichen, bis die Dramatik der Stille sich steigerte und genau in dem Moment, in dem sie ihren Höhepunkt erreicht hatte und kurz bevor sie zu kippen drohte, brüllte Waldron in den dunklen Zuschauerraum: »Und dies« – in Ermangelung eines Zauberstabs wies er wieder mit dem Zeigefinger hinter sich – »war unsere Welt vor zweihundertfünfzig Millionen Jahren!« Mit maximalem Effekt entrollte der Assistent eine weitere Karte. Die Graham ebenfalls kannte. Pangaea, der Urkontinent. Alle bekannten Erdteile waren schon da, aber zusammengeschoben auf einen großen Klumpen. Nichts Neues, soweit Graham beurteilen konnte. Das Publikum sah es anders. Erstauntes Raunen ging durch die Reihen, Ausrufe der Zustimmung wurden laut, aber auch welche der Ablehnung. Waldron hob die Hand und gebot Ruhe. Es sagte viel über den Mann aus, dass sofort Stille einkehrte.»Diese Erkenntnis mag den einen oder anderen schocken. Und alle, Befürworter und Gegner dieser Theorie, fragen sich eines: Wie soll das geschehen sein? Die Antwort ist so einfach wie ungeheuerlich: Unsere Kontinente sind nichts anderes als gigantische Flöße, die auf tief unter der Erdkruste verborgenen Meeren aus flüssigem Gestein treiben. Gestein, welches wir nur selten zu Gesicht bekommen. Als Magma, das aus Vulkanen direkt aus dem Erdinneren geschleudert wird oder als Lava, die in langsamen Flüssen aus dem tiefsten Inneren der Erde quillt. Sehen Sie hier, meine Damen und Herren, kommen Ihnen diese Formen nicht bekannt vor?« Der Assistent hatte eine neue Karte entrollt. Diesmal zeigte sie den Urkontinent, in dem die Umrisse unserer heutigen Erdteile eingezeichnet waren.»Bei einer Geschwindigkeit von fünf Zentimetern pro Jahr, die für den Menschen praktisch nicht wahrnehmbar ist, dauert es nur zweihundertfünfzig Millionen Jahre, bis aus dem Urkontinent die Erde wird, die wir heute kennen. Was ist aber eine Theorie ohne Beweise? Nun, es ist logisch, dass eine so langsame Bewegung kaum messbar ist. Die Erosion verändert die Küsten stetig und in höherem Maße, als die Kontinente sich bewegen, sodass diese als Messpunkte ungeeignet sind. Wir müssen uns auf andere Hinweise berufen und das, verehrte Zuhörerschaft, ist die Flora und Fauna. Beobachten wir die Tier- und Pflanzenwelt, dann werden wir mit Erstaunen feststellen, dass es Arten gibt, die auf allen Kontinenten vertreten sind, obwohl zwischen ihnen größere Entfernungen liegen, als diese Lebewesen aus eigener Kraft überwunden haben könnten.« Irgendwo in den hinteren Reihen des Publikums wurde es unruhig, erste Zwischenrufe störten die andächtige Stille, mit der die Zuhörer bisher gelauscht hatten. Waldron hob wieder die Hand.»Sehr verehrte Zuhörer, ich weiß bereits, welchen Einwand Sie vorbringen möchten. Könnte es sein, dass der Mensch diesen Kreaturen den Weg geebnet hat? Seit Jahrtausenden befährt er die Ozeane; hätten er diese Pflanzen und Tiere nicht gewollt oder als blinde Passagiere über das Wasser bringen und sich auf allen Kontinenten verbreiten können? Und in der Tat, das wäre möglich. Seit viereinhalb Jahrhunderten ist Amerika ein Teil der Menschengemeinschaft, seit fast achtzig Jahren ist uns Australien bekannt. Natürlich hätten Tiere aus unserer Heimat an jeden Ort dieser Welt gelangen und sich mit der fantastischen Anpassungsfähigkeit der Natur dort ausbreiten können. Aber was ist mit toten Tieren, mit Rassen, die heute ausgestorben sind? Die fantastischen, furchtbaren Saurierechsen?« Waldron ließ ein paar Sekunden Stille einkehren, damit jeder sich die Bilder der Saurier in den Kopf holen konnte. »Kein Mensch kann heute einen Saurier vorsätzlich oder als blinden Passagier auf einen anderen Kontinent bringen, denn diese Tiere sind vor Millionen Jahren ausgestorben.«»Das ist hier die Frage«, wurde Waldron von einem Zwischenrufer unterbrochen. Für einen winzigen Moment war der berühmte Professor aus dem Konzept gebracht, denn der Störer saß nicht im Publikum, sondern auf der Bühne. Graham hatte Challengers Stimme erkannt. Waldron ebenfalls, doch nach einer kurzen Pause entschied er, dass Challenger wohl in Gedanken ganz woanders war und nur laut gedacht hatte. Er räusperte sich und fuhr fort.»Die schrecklichen Echsen bevölkerten vor Millionen Jahren die gesamte Erde. Oder sollte ich besser sagen: Den gesamten und einzigen Kontinent, den es damals gab? Und heute sind nur noch ihre Knochen zu finden.«»Das ist hier die Frage!« unterbrach ihn Challenger noch einmal. Waldron schaute seinen Kollegen irritiert an, doch der ließ sich nicht dazu herab, seine Bemerkung weiter zu kommentieren. Und Waldron entschied sich erneut, den Störer zu ignorieren.»Die Skelette dieser gewaltigen Echsen finden sich heute auf der ganzen Erde. Im fernen China genauso wie an der Küste Englands, in Nordamerika und sogar in Australien! Welche einfache und logische Erklärung gibt es für dieses Phänomen? Nur eine einzige: Alle Kontinente, die wir heute kennen, waren früher vereint. Und nicht nur früher, sondern auch noch vor relativ kurzer Zeit! Denn auch auf dem vor zwei Generationen entdeckten Kontinent Australien lebten bereits Menschen und wie wir wissen, wandelt die Krone der Schöpfung erst seit einem geologisch gesehenen Wimpernschlag auf der Erde! Nur wollte ich mich nicht auf den Menschen als Beweis verlassen, der ja schließlich durch seine angeborene Genialität Mittel und Wege ersonnen hat, die Meere zwischen den Kontinenten zu überwinden. Der Beweis des Fossilberichts aber, dieser Beweis ist unwiderlegbar, denn ausgestorbene Tiere neigen nicht dazu, durch die Ozeane zu schwimmen!«»Das ist hier die Frage!« warf Challenger erneut dazwischen. Diesmal wurde es Waldron zu viel. Er wandte sich an das Komitee an seiner Seite.