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"Now the Nazis have trampled down the flourishing life and strife of the Luxembourg democracy." (Pierre Dupong, Mai 1942) In den ersten Monaten ihres Exils beklagte die luxemburgische Regierung zunächst den Verlust der Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität des Landes, die von den Nationalsozialisten durch die Besatzung Luxemburgs im Mai 1940 zerstört worden waren. Mit zunehmender Annäherung an die alliierten Verbündeten entdeckten Staatschefin und Minister indes während des Exils 'Demokratie' als Leitwert und allmählich auch als Leitmotiv ihrer propagandistischen Selbstbehauptung. Im vorliegenden Buch zeichnet André Linden diesen in der luxemburgischen Geschichtsforschung bislang kaum untersuchten diskursiven Wandel anhand zahlreicher Quellen und Originalzitate chronologisch und spannend zugleich nach.
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Seitenzahl: 445
Veröffentlichungsjahr: 2023
André Linden
Luxemburgs Exilregierung und die Entdeckung des Demokratiebegriffs
Dieses Buch erscheint mit freundlicher Unterstützung des Nationalen Kulturfonds Luxemburg.
ISBN 978-99959-43-52-3
1. Auflage 2021
© capybarabooks, Mersch & Editions forum, Luxemburg 2021
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung und Layout: Kommunikationsdesign Petra Soeltzer
Umschlagfoto: M. Joseph Bech, Außenminister der luxemburgischen Exilregierung (links) auf den Straßen Londons in Begleitung II.KK.HH. Großherzogin Charlotte und Prinzgemahl Félix. Unbekannter Fotograf; 1941/1942; London. Photothèque de la Cour grand-ducale
© Administration des Biens de SAR le Grand-Duc.
E-Book: CPI books, Leck, Germany
Autorenfoto: @ André Linden
Bildnachweise bei den jeweiligen Abbildungen. Die Bildunterschriften der jeweiligen Abbildungen übernehmen die von den Rechteinhabern vorgegebenen Formulierungen.
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www.forum.lu
Inhalt
Einleitung
Hintergrund: Perspektiven auf ‘Demokratie’ im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und darüber hinaus
Thema und Fragestellung
Forschungsstand
Methodik
Quellen
Eingrenzende Überlegungen zu Semantik, raumzeitlichem Kontext und personalem Umfeld im Zusammenhang mit dem Themenkreis ‘luxemburgische Exilregierung’
Konfliktuelles politisches Agieren in den schwierigen Anfängen der Exilregierung bei unterschwelliger Bezugnahme auf ‘Demokratie’
Drei symptomatische Konfliktepisoden im Spannungsfeld zwischen traditioneller Neutralitätspolitik und neuer Bündnisorientierung
Konflikt zwischen Exilministern und in Luxemburg verbliebenen Politikern: Ausgrenzungen und Rücktrittsforderungen (Juli – August 1940)
Krise zwischen Exilministern und Monarchin: Rückkehrpläne der Großherzogin (Juli – August 1940)
Differenzen zwischen Exilministern: Kürzung einer Radioansprache des Premierministers in Montreal durch den Außenminister in London (Dezember 1940 – Januar 1941)
Benachbarte Problemfelder
Zweifel an der Haltung der luxemburgischen Bevölkerung
Reibungspunkte mit dynastischer Staatsführung
Dissens über Sitzfrage zwischen London und Montreal
Anfänge der Propaganda ohne ausdrückliche Thematisierung von ‘Demokratie’ (September 1940 – Februar 1941)
Internationale Öffentlichkeitsarbeit
Ansprachen an luxemburgische Radiohörer
Rede vor luxemburgisch-stämmigen Amerikanern
Fazit
Konstruktion eines Narrativs luxemburgischer ‘Demokratie’ im Zuge der Annäherung an englisch-amerikanische Bündnispartner
Berufung auf ‘Demokratie’ seitens führender Politiker der Aufnahmeländer USA und Großbritannien
Erste Verwendungen von ‘Demokratie’ durch die Exilregierung in Kontexten interalliierter Zusammenarbeit
Verwendung von ‘Demokratie’ in Entwürfen für die Ansprache und Pressemitteilung von Großherzogin Charlotte bei der Ankunft in New York am 4. Oktober 1940
Eindeutiges Bekenntnis zu Bündnispartnern als Königsweg zur Thematisierung von ‘Demokratie’ (November 1940)
Erfolge im Zusammenhang mit ‘Demokratie’ in den USA und in Großbritannien (April – Mai 1941)
Berufung auf ‘Demokratie’ in der Ansprache von Premierminister Dupong bei der ersten interalliierten Konferenz in London am 12. Juni 1941
Berufung auf ‘Demokratie’ in einem Artikel von Regierungssekretär Léon Schaus (Juni 1941)
Berufung auf ‘Demokratie’ in einem Bericht von Arbeitsminister Pierre Krier (Juni 1941)
Unterschiedliche Impulse bezüglich ‘Demokratie’ für die Exilregierung (August 1941 – Januar 1942)
Berufung auf ‘Demokratie’ in einer Botschaft aus Luxemburg an die Exilregierung bei einem Empfang in der Washingtoner Vertretung am 6. August 1941
Die Atlantikcharta als Signal für hohes Anschlusspotenzial an die Hoffnungsträger USA und Großbritannien mittels ‘Demokratie’ (August 1941)
Charta der Vereinten Nationen: ‘Menschenrechte’ als Ergänzung und Alternative zu ‘Demokratie’ (1. Januar 1942)
Umrisse eines auf ‘Demokratie’ fokussierten Narrativs der Exilregierung (September 1941 – Mai 1942)
Konzept für eine Pressepolitik (September 1941)
‘Demokratie’ neben anderen Leitwerten im Entwurf für die Nullnummer des Luxembourg Bulletin (10. September 1941)
Berufung auf ‘Demokratie’ in der Ansprache von Außenminister Bech bei der zweiten interalliierten Konferenz in London am 24. September 1941
Propagandaoffensive zum zweiten Jahrestag der NS-Besetzung im Licht von ‘Demokratie’ (10. Mai 1942)
Exkurs: Vorlagen für ‘Demokratie’ aus der Zwischenkriegszeit?
Ausblick
Verbindung von ‘Demokratie’ und ‘Monarchie’ in der Propaganda der Exilregierung
Fünf weitere Varianten der Entfaltung von ‘Demokratie’
‘Demokratie’ und die wirtschaftlich-soziale Lage in Luxemburg
‘Demokratie’ und die Position Luxemburgs im Geflecht internationaler Beziehungen
‘Demokratie’ und die Grundwerte menschlicher Zivilisation
‘Demokratie’ als Aktivposten der luxemburgischen Kriegsleistungsbilanz
‘Demokratie’ und der Parteienstreit innerhalb der Exilregierung
Ansätze zur Normalisierung von ‘Demokratie’ im Zuge der Rückkehr der Exilregierung nach Luxemburg (September 1944 – Mai 1945)
Schlussbetrachtung
Anhang
Chronologische Übersicht Mai 1940 – Februar 1941
Grußbotschaft der Großherzogin an den New Yorker Bürgermeister (17. September 1944)
Vergleich zweier Textfassungen in New Yorker und Londoner Ausgaben des Luxembourg Bulletin
Tabelle zur Datierung der Drucklegung
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Sonstige Webseiten
Anmerkungen
Danksagung
Einleitung
Hintergrund: Perspektiven auf ‘Demokratie’ im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und darüber hinaus
‘Demokratie’ gilt als zentraler Begriff der politischen Orientierung, häufig in unmittelbarer Abgrenzung zum Zweiten Weltkrieg. In seinem Eintrag über ‘Demokratie’ im begriffsgeschichtlichen Grundlagenwerk von 1972, Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, lieferte der Historiker Werner Conze eine entsprechende Erläuterung für die Verankerung von ‘Demokratie’ im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als Gegenentwurf zur vorherigen NS-Diktatur: „Es war verständlich, dass nach 1945 der Demokratiebegriff im deutschen Bereich nicht nur wieder aufgenommen, sondern erfüllt mit den Werten der Freiheit (freiheitliche Ordnung) und des Rechts (Rechtsstaat) zum Gegenbegriff gegen Faschismus bzw. totalitäre Diktatur wurde.“1
Indirekt nahm im Jahr 2013 die damalige Vizepräsidentin der Europäischen Kommission Viviane Reding Bezug auf das Ende des Zweiten Weltkriegs, und zwar in den ersten Sätzen ihres Vorworts zu einer Broschüre der Europäischen Kommission über L’Europe des citoyens. Comprendre la construction européenne, worin sie Europa als „Raum von Demokratie, Freiheit und besonderen Werten“ bezeichnete.2 Das Narrativ von Europa als „Raum von Demokratie“ und als „Friedensprojekt“ wird zwar als Abkehr von einem über „Jahrtausende“ hinweg immer wieder neu aufflammenden „Bruderkrieg“ dargestellt, aber die Datierung der Anfänge im Jahr 2013 auf „vor etwa siebzig Jahren“ verweist auf die Zeit nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945.
Bereits Conze machte jedoch darauf aufmerksam, dass durch die zunehmende Verbreitung des Begriffs ‘Demokratie’ der Verdacht einer Floskel und „Leerformel“ aufkommen kann.3 Dies galt, als in der Zeit des Kalten Krieges konkurrierende politische Systeme wie etwa die damalige, an der westlichen Staatengemeinschaft orientierte Bundesrepublik Deutschland und die an der Sowjetunion und den Ländern des Ostblocks ausgerichtete Deutsche Demokratische Republik das Prädikat ‘Demokratie’ als politisches Gütesiegel jeweils für sich beanspruchten. Dies galt ebenso in den späten Sechzigerjahren, als außerparlamentarische Gruppen „im Namen der Demokratie [sprachen], im betonten Gegensatz zur Demokratie der Bundesrepublik, zum großen Teil aber auch unter Ablehnung der DDR bzw. der SU“. Conze ordnet derartige Entwicklungen in den weltweiten Zusammenhang der Ausweitung von ‘Demokratie’ zu einem „allumfassenden Idolbegriff“ ein, entsprechend dem Befund eines UNESCO-Symposiums von 1951, den er abschließend zu seinem Eintrag zitiert, dass „vielleicht erstmals in der Geschichte ‘Demokratie’ von einflussreichen Vertretern der verschiedenen Richtungen als die eigentliche Idealumschreibung aller Systeme politischer und sozialer Organisation in Anspruch genommen wurde“4. Die Tatsache, dass dieser UNESCO-Befund sechs Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht wurde, lässt die Frage aufkommen, inwiefern er nicht auch unter dessen Einfluss stand. Gleiches könnte, mit Einschränkungen und aus größerem zeitlichen Abstand, für Conzes Eintrag von 1972 gelten.
Aus der Sicht einer ideologiekritischen Sozialgeschichte wurde in jüngerer Zeit, beispielsweise 2015 in einem Zeitungsartikel des Historikers Denis Scuto5 im Anschluss an einen Vortrag des belgischen Zeitgeschichtlers Pieter Lagrou6, der Vorwurf erhoben, das Narrativ von ‘Demokratie’ als europäischem Friedensprojekt sei in Wahrheit eine Art erbauliche „große Erzählung über den Triumph von Demokratie und Menschenrechten“, mittels derer den Menschen „der Gründungsmythos der Europäischen Union eingeschärft“ werden solle: „[Pieter Lagrou] a commencé par décrire un nouveau mythe, véhiculé à travers manuels scolaires, médias, expositions et discours commémoratifs sur l’intégration européenne. Après les mythes fondateurs sur les nations du 20e siècle, on nous inculque maintenant le mythe fondateur sur l’intégration européenne.“ Chronologisch würde diese im Märchenton vorgetragene und dadurch ironisch verfremdete ‚Meistererzählung‘7 zwei Jahrhunderte umfassen, von 1789, dem Anfangsjahr der Französischen Revolution, bis 1989, dem Fall der Berliner Mauer. Ihr Leitmotiv sei die ‘demokratische’ Überwindung autoritärer und totalitärer Herrschaftssysteme, zumal im Zweiten Weltkrieg unter maßgeblicher Hilfe aus England und Amerika.
Aus der größeren kulturellen und räumlichen Distanz der Global- und Kolonialgeschichte erstellte der indische Historiker Dipesh Chakrabarty8 um die Jahrtausendwende in seinem Werk über „Europa als Provinz“ jedoch die Diagnose, ‘Demokratie’ bilde zusammen mit einer Reihe signifikanter anderer Kategorien so etwas wie ein Begriffspaket der „politischen Moderne“. Begriffe wie „Bürgerschaft, Staat, Zivilgesellschaft, Öffentlichkeit, Menschenrechte, Gleichheit vor dem Gesetz, Individuum, Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre, die Idee des Subjekts, Demokratie, Souveränität des Volkes, soziale Gerechtigkeit, wissenschaftliche Vernunft usw.“, die ihren Höhepunkt im Europa der Aufklärung und des 19.Jahrhunderts gefunden hätten, würden zusammen eine Art „unvermeidliche, und in gewissem Sinne unverzichtbare Vision des Allgemein-Menschlichen“ darstellen. In der Feststellung von Chakrabarty, dieser „Humanismus der Aufklärung“ sei als Verheißung in den Kolonien zwar gepredigt, aber seine praktische Umsetzung den Kolonisierten von den Kolonialmächten nicht gewährt worden, zeigt sich wohl eine vergleichbare Skepsis wie im „Märchen“-Vorwurf von Pieter Lagrou. Mit der Diagnose dagegen, die ursprünglich europäische Begriffsfamilie, einschließlich ‘Demokratie’, sei heute globales Erbe und universaler Maßstab9, bewegt sich Chakrabarty letzten Endes nahe am UNESCO-Befund von ‘Demokratie’ als einer allgemein beanspruchten „Idealumschreibung“.
Die Aktualität des Demokratiebegriffs als Norm behauptet sich tatsächlich weiterhin im europäischen Kontext, dies trotz einflussreicher Publikationen, die den Anfang eines „post-demokratischen“ Zeitalters erörtert haben.10 Ein jüngst eingerichteter Förderschwerpunkt der Gerda Henkel Stiftung ist dem Themenkreis „Demokratie als Utopie, Erfahrung und Bedrohung“ gewidmet.11 ‘Demokratie’ fungiert als Leitwert in der Rede für eine neue europapolitische Initiative des französischen Präsidenten Macron. In einem Vortrag am 26.September 2018 an der Sorbonne mit dem Titel Pour une Europe souveraine, unie et démocratique bezeichnete Macron ‘Demokratie’ als „Wesensmerkmal des europäischen Projektes“, wobei es gelte, sie gegen autoritäre Anfeindungen wie in den 1930er Jahren zu verteidigen.12 Ein ähnlicher Hinweis auf Schwächen des Systems der parlamentarischen Demokratie im Frankreich der 1930er Jahre findet sich in einem Brief von Charles de Gaulle vom 8.Juli 1941. Der General, welcher zu diesem Zeitpunkt im Exil daran arbeitete, sich als Führer und Vertreter eines „Freien Frankreich“ (France Libre) aufzubauen, äußerte darin deutliche Skepsis gegen eine öffentliche Positionierung seiner Bewegung unter Berufung auf ‘Demokratie’ als politischem Leitwert.13 Die dabei angestellte Vermutung de Gaulles, die Berufung auf ‘Demokratie’ sei dazu geeignet, auf die lobende Zustimmung der amerikanischen Machthaber zu stoßen, traf ohne Zweifel auf den Präsidenten Franklin D. Roosevelt zu, ebenso wie auf den britischen Premierminister Winston Churchill.
Mit ihrem Gang ins Exil nach England und Nordamerika ab September 1940, im Zuge einer sich zwischen Mai und August 1940 nur schrittweise vollziehenden Einreihung in das angelsächsische Bündnis, begab sich die luxemburgische Staatsführung mithin in geografische und politische Räume, in denen ‘Demokratie’ hoch im Kurs stand, sei es, wie bei Churchill, als allgemeiner Gegenbegriff zum Nationalsozialismus, sei es, wie bei Roosevelt, als eine der Säulen moderner Zivilisation. Auf der anderen Seite des Spektrums stand eine in Luxemburg zurückgebliebene Bevölkerung, die, wie etwa ein Tagebucheintrag aus dem Sommer 1943 nahelegt, die Eingliederung in NS-Deutschland wohl ablehnen mochte, ansonsten aber gegenüber der weiteren politischen Zukunft zuweilen sogar annähernd gleichgültig eingestellt sein konnte, und sei es auch nur aus Erschöpfung: „Wir Luxemburger wollen vor allem Luxemburger bleiben und nicht zu einem nationalsozialistischen Deutschland, das uns abstößt, geschlagen werden, einerlei wie der kommende luxemburgische Staat in Zukunft politisch organisiert werden soll.“14 Es stellt sich somit in doppelter Hinsicht die Frage nach dem Stellenwert von ‘Demokratie’ im Kontext der luxemburgischen Exilregierung während des Zweiten Weltkriegs: außenpolitisch mit Blick auf die Eingliederung in das internationale Bündnis; innenpolitisch in Bezug auf die Kommunikation mit der luxemburgischen Bevölkerung.
Thema und Fragestellung
Am 10.Mai 1940, dem Tag des Einmarsches deutscher Truppen in Luxemburg, flohen die Staatschefin und vier Regierungsmitglieder ins Ausland. Es handelte sich neben Großherzogin Charlotte um Regierungschef Pierre Dupong, Außenminister Joseph Bech, Arbeitsminister Pierre Krier und Justizminister Victor Bodson. Nach Zwischenaufenthalten in Frankreich und Portugal wurde eine Exilregierung mit doppeltem Sitz in London (Großbritannien) und in Montreal (Kanada) gebildet.15
Die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegende Fragestellung gründet in einem Aufsatz, den ich 2002 auf Einladung des Geschichtsmuseums der Stadt Luxemburg geschrieben habe. Thema waren die Radioansprachen von Großherzogin Charlotte aus dem Exil an die luxemburgische Bevölkerung. Der Aufsatz wurde als Teil des Begleitbandes zu einer Ausstellung veröffentlicht, die unter dem Titel „… t’wor alles net esou einfach. Zehn Fragen an die Geschichte Luxemburgs im Zweiten Weltkrieg“ vom 11.Mai bis zum 3.November 2002 im Geschichtsmuseum der Stadt Luxemburg gezeigt wurde.16 Anders als bei der Annahme des Auftrags erwartet, stand jedoch keine Sammlung der großherzoglichen Ansprachen während der Kriegsjahre zur Verfügung. Der Redaktion des Aufsatzes mussten Recherchen im luxemburgischen Nationalarchiv vorausgehen, um überhaupt einen Korpus von Reden der Staatschefin aus dem Exil zusammenstellen zu können.17 Dies geschah mit der Unterstützung des Historikers Serge Hoffmann, dem damals verantwortlichen Archivar. Aufgrund seiner Anregung, sich nicht nur für die Frage zu interessieren, wogegen sich die Ansprachen gerichtet hätten, sondern auch, wofür sie sich einsetzten, rückte das Thema ‘Demokratie’ als ein potenzieller Leitwert in den Fokus meines Beitrags.
Tatsächlich gab es für eine solche Annahme von ‘Demokratie’ als einem positiven Leitwert gute Gründe. Die erste Ansprache der Staatschefin nach ihrer Rückkehr aus dem Exil, in einer parlamentarischen Feierstunde am 16.April 1945, gipfelte in der Verkündung, „auch im Land Luxemburg das Programm verwirklichen zu wollen, welches die großen Anführer der Demokratie der Menschheit vorgeschlagen“ hätten. In der emphatischen Zielvorgabe schwang ein Nachklang der programmatischen Four-Freedoms-Rede von Franklin D. Roosevelt am 6.Januar 1941 mit, sowie der als Atlantikcharta in die Geschichte eingegangenen Bündniserklärung vom 14.August 1941 zwischen dem amerikanischen Präsidenten und dem englischen Premierminister Winston Churchill.18
Das Studium des zum damaligen Zeitpunkt zusammengestellten Redenkorpus führte jedoch zu dem überraschenden Befund, dass in 14Ansprachen der Großherzogin aus dem Exil an die luxemburgische Bevölkerung Ausdrücke wie ‘Demokratie’ und ‘demokratisch’ im Grunde nur einmal vorkamen, und zwar, auch hier in enger Anlehnung an die Four-Freedoms-Rede und unter ausdrücklicher Erwähnung der Atlantikcharta, durch die Nennung der „großen demokratischen Anführer, Churchill und Roosevelt“ in der Ansprache vom 13.September 1942.19 Andererseits machten Beiträge in dem von der Exilregierung in London sowie in New York und Montreal herausgegebenen Luxembourg Bulletin deutlich, dass Bezugnahmen auf ‘Demokratie’ durchaus zu deren propagandistischem Repertoire gehörten. So brachte Premierminister Dupong am 1.Juli 1942 in der englischen Ausgabe seine Zuversicht zum Ausdruck, die „demokratischen Freiheiten in Luxemburg würden die Autoren der Atlantikcharta mit Freude erfüllt haben“20. In den Radioansprachen der Großherzogin an die luxemburgische Bevölkerung selbst, beispielsweise im September und Dezember 1941, wurden „Freiheit, Würde und Menschenrechte“ jedoch statt mit ‘Demokratie’ eher mit „christlichen Idealen wie Solidarität und Brüderlichkeit“ in Verbindung gebracht, und zwar im Kontext eines „zweitausendjährigen Kampfes“ gegen den „Rückfall in Heidentum und Sklaverei“.21 Darüber hinaus ließ ein mit Luxembourg – A True Democracy betitelter Aufsatz in der nordamerikanischen Ausgabe des Luxemburg Bulletin vom 5.Januar 1943 erkennen, dass zumindest für das amerikanische Publikum Erklärungsbedarf bestand hinsichtlich der Verträglichkeit von Monarchie und ‘Demokratie’. Insgesamt erschien im Licht dieser Befunde der Gebrauch des Begriffs ‘Demokratie’ im Kontext der Exilregierung zunehmend als vielschichtig und klärungsbedürftig.22
Aus diesem Ergebnis entwickelte sich der Forschungsansatz, welcher der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt. Über die Ansprachen der Großherzogin an die luxemburgische Bevölkerung hinaus sollen weitere Quellen erschlossen werden, die den Gebrauch von Ausdrücken wie ‘Demokratie’ und ‘demokratisch’ usw. im Umfeld der Exilregierung verständlich machen können. Ziel ist es, unterschiedliche Gebrauchssituationen und die damit verbundenen Bedeutungsfelder besser zu verstehen, sowie etwaige mit dem Gebrauch von ‘Demokratie’ einhergehende Vorteile und Chancen bzw. Nachteile und Risiken für die verschiedenen Mitglieder und Akteure im Umfeld der Exilregierung zu erhellen. Die leitende Forschungsfrage lautet entsprechend: Was ist der Stellenwert von ‘Demokratie’ als Leitwert von Propaganda und Kommunikation im Kontext der luxemburgischen Regierung im Exil während des Zweiten Weltkriegs?
Um die Spannweite der Fragestellung zu erläutern, ist eine Unterscheidung nützlich, die der Historiker Gilbert Trausch im Kontext von Gedenk- und Erinnerungskultur vorgebracht hat. Zum 50.Jahrestag der Zwangsrekrutierung und der sich daran anschließenden Proteststreiks in den Monaten August und September 1942 hielt Trausch am 9.November 1992 eine feierliche Ansprache in luxemburgischer Sprache zum Thema: „Wie Luxemburg auf die Probe gestellt wurde“. In den Schlussworten vollzog der Redner einen für Debatten sowohl während als auch nach dem Zweiten Weltkrieg charakteristischen Schritt der Verallgemeinerung von nationalen zu allgemein menschlichenWerten.23 In seiner Auflistung hätten neben „Freiheit“, „Würde des Menschen“ und „Menschenrechten“ auch Ausdrücke wie ‘Demokratie’ und ‘demokratisch’ ihren Platz finden können, und das nicht nur in Bezug auf Resistenzbewegungen, sondern auch im Kontext der Exilregierung.
Nicht jeder Gebrauch von ‘demokratisch’ erfolgte dagegen in solch hochgesteckter Absicht. Am anderen Ende der Skala situierte sich beispielsweise der Informationskommissar der Exilregierung André Wolff, als er im September 1945 rückblickend feststellte, man habe den Amerikanern zunächst erklären müssen, Luxemburg sei ein unabhängiger und demokratischer Staat gewesen und keinOperettenstaat.24 Der Gebrauch des Ausdrucks ‘demokratisch’ erfolgt hier vor allem deskriptiv und die normative Komponente ist eher von untergeordneter Bedeutung. Es geht darum, darüber zu informieren, dass im Großherzogtum Luxemburg vor der deutschen Besatzung die politische Staatsform durch ein bestimmtes Regelwerk gekennzeichnet war, und weniger darum, eine höhere Moralität des luxemburgischen Staatswesens durch ‘Demokratie’ als Distinktionsmerkmal zu beanspruchen.
Entsprechend sollen in dieser Arbeit sowohl eher emphatisch herausgehobene als auch eher deskriptiv neutrale Verwendungsweisen in Betracht gezogen werden, wenn nach dem Stellenwert von ‘Demokratie’ und ‘demokratisch’ in Kommunikation und Propaganda im Kontext der Exilregierung gefragt wird.
Forschungsstand
In der internationalen Historiografie hat die Analyse des Gebrauchs der Ausdrücke ‘Demokratie’, ‘demokratisch’ usw. aus begriffsgeschichtlicher Perspektive durch einen Sammelband von 2018 unter dem Titel Democracy in Modern Europe. A Conceptual History an neuer Aktualität gewonnen.25 Er enthält jedoch keinen Aufsatz über Luxemburg, und auch der Zweite Weltkrieg wird kaum berührt. Im Frühjahr 2019 widmete das Journal of Modern European History dem Thema, wie sich Narrative von ‘Demokratie’ in verschiedenen europäischen Ländern entfaltet haben, eine Sonderausgabe.26 Auch hier ist kein Aufsatz über Luxemburg enthalten; allerdings wird der Zweite Weltkrieg beispielsweise in der Studie über niederländische Narrative von ‘Demokratie’ als zentraler Wendepunkt beschrieben.27
Auch in der luxemburgischen Historiografie gibt es im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg kaum Studien zum Themenkreis ‘Demokratie’; weder allgemein noch im besonderen Kontext der Exilregierung. Die grundlegende Arbeit des Politologen und Historikers Michel Dormal über Demokratisierung und Nationsbildung in Luxemburg reicht bis 1940.28 Einige Schlussbetrachtungen betreffen die Zeit nach 1945. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs wird ausgeblendet, möglicherweise aufgrund der komplexen Quellenlage, möglicherweise aber auch wegen einer unterschwelligen Kontinuitätsthese, der zufolge es auf lange Sicht keine allzu großen Unterschiede in der politischen Landschaft zwischen Vor- und Nachkriegszeit gab.
In den Studien von Émile Haag und Émile Krier über die Exilregierung im Jahr 1940 sowie von Georges Heisbourg über die Exilregierung in den Jahren 1940 bis 1944 ist ‘Demokratie’ nicht ausdrücklich Thema.29 Eine Reihe der von den Autoren zitierten Quellen nimmt jedoch Bezug darauf. Thierry Grosbois bearbeitet das Thema ‘luxemburgische Exilregierung’ in mehreren Untersuchungen zur Genese der Europäischen Union30 und zur luxemburgischen Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg. Auch hier, ebenso wie in der Arbeit desselben Autors über die Haltung und das Agieren der luxemburgischen Exilregierung bei der Frage der Judenverfolgung, wird ‘Demokratie’ höchstens indirekt angesprochen.31 Grosbois’ Dissertation von 2010 über Grundlagen und Vorformen des politischen Europa-Gedankens im Kontext des Zweiten Weltkriegs konnte bis zum Abschluss dieser Arbeit nicht eingesehen werden.32 ‘Demokratie’ ist ebenfalls nicht ausdrücklich Thema in den grundlegenden Studien von Paul Dostert33 und Vincent Artuso34, die sich vorrangig auf die innenpolitische Lage Luxemburgs im Zweiten Weltkrieg konzentrieren.
Thematisierungen von ‘Demokratie’ im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg gibt es in der luxemburgischen Geschichtsschreibung allenfalls bei der Frage nach einer angemessenen Beschreibung der unter den verschiedenen luxemburgischen Resistenzgruppierungen vorherrschenden Motivationen und Ziele. Bei einem internationalen Kolloquium im Jahr 2002 über den Zusammenhang zwischen politischen Strömungen und Resistenz lud der Historiker Serge Hoffmann dazu ein, über die „patriotischen“ Beweggründe hinaus den Blick offen zu halten für „politische und ideologische“ Beweggründe zum Widerstand. Der programmatische Titel einer Rezension der 2003 erschienenen Kongressakten unterstrich entsprechend, es „gäbe sehr wohl eine Debatte“, und zwar um den Gegensatz zwischen „patriotischen“ und „antifaschistischen“ Widerstandsmotivationen.35 Mit der zuspitzenden Gegenüberstellung von Nationalismus und Antifaschismus verschob sich das Thema in Richtung einer Positionierung der verschiedenen Resistenzgruppen innerhalb des politischen Rechts-Links-Spektrums, wobei ‘demokratisch’ der linken Seite zugeordnet wurde.36 Mit Blick auf die Beweggründe und vor allem die Ziele der Exilregierung erscheint eine derartige Zuordnung unbefriedigend, selbst wenn der Zugehörigkeit von je zwei Ministern zur Partei der Rechten und zur Arbeiter-Partei Rechnung getragen wird.
Hinweise zum Themenkreis ‘Demokratie’ im Zusammenhang mit den politischen Auseinandersetzungen der unmittelbaren Nachkriegszeit zwischen der zurückgekehrten Exilregierung und den als Unio’n auftretenden Widerstandsgruppen finden sich in einem längeren Zeitungsartikel von Gilbert Trausch.37 Der Historiker Marius Remackel untersucht in seiner Abschlussarbeit für die Lehramtsprüfung die parlamentarischen Vorgänge um die Bildung einer Beratenden Kammer von 1945, mit der die Minister der zurückgekehrten Exilregierung sich eine zusätzliche ‘demokratische’ Legitimation zu verschaffen suchten.38 Hinweise zum Themenkreis ‘Demokratie’ im weiteren Umfeld des Zweiten Weltkriegs, auch im Kontext der Exilregierung, finden sich ebenfalls in Studien zur luxemburgischen Parteiengeschichte und in biografischen Arbeiten über einzelne Politiker. Hervorgehoben seien für die Parteien Gilbert Trausch über die Partei der Rechten und die Christlich-Soziale Volkspartei;39 Ben Fayot über die Arbeiter-Partei und den Sozialismus40 sowie Rob Roemen über den Liberalismus.41 In jüngerer Zeit veröffentlichte Mauve Carbonell eine biografische Studie über Victor Bodson.42 Des Weiteren sind längere Zeitungsartikel von Gilbert Trausch über Pierre Dupong43 zu erwähnen, sowie eine Publikation über Leben und Wirken von Joseph Bech.44
Anlässlich der rezenten Feiern ihres jeweils hundertjährigen Bestehens der Tageszeitung Tageblatt (2013) und der freien Gewerkschaften (2016), welche beide auf der linken Seite des politischen Spektrums in Luxemburg angesiedelt sind, wurden umfangreiche Aufsatzsammlungen über die Geschichte dieser Jubilare veröffentlicht. Das Thema ‘Demokratie’ im Umfeld der Exilregierung kommt jedoch als solches weder in Un Journal dans son siècle. Tageblatt 1913-201345 noch in 100Joer fräi Gewerkschaften 1916-2016. Contributions à l’histoire du mouvement syndical luxembourgeois46 ausdrücklich zur Sprache. Dennoch werden in den Beiträgen von Wolfgang Alt47 sowie von Nicole Kerschen48 und Ben Fayot49 Aspekte beleuchtet, die für die vorliegende Untersuchung von Belang sind.
Eine spezifische Studie über den Themenkreis ‘Demokratie’ im Kontext der luxemburgischen Exilregierung im Zweiten Weltkrieg steht noch aus. Die vorliegende Arbeit will dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schließen.
Methodik
Im Zeitalter der Massenmedien und der Massenpropaganda während des Zweiten Weltkriegs, als das Radio eine zentrale Rolle spielte, gewannen Fragen des Wortgebrauchs eine herausragende Bedeutung. Eine geglückte Formulierung in einer Ansprache konnte bei der Verbreitung von Ideen und Überzeugungen entscheidend sein. Roosevelts „Arsenal of Democracy“ und seine „Four Freedoms“ geben dafür eindrückliche Beispiele. Für eine Regierung wie die luxemburgische, welche über keinerlei Mittel der militärischen Auseinandersetzung verfügte, und die auf Kommunikation und Propaganda als wichtigste Instrumente für die Verteidigung der eigenen Interessen angewiesen war, wurde das ständige Bemühen um optimale verbale Kommunikation zur Überlebensfrage. Gerade in diesem Kontext scheint das Studium der Verwendung eines politischen Leitbegriffs wie ‘Demokratie’50 von besonderem Interesse.
Die vorliegende Arbeit zielt auf eine erste Erkundung des Untersuchungsgebiets. Sie erforscht den Gebrauch des Ausdrucks ‘Demokratie’ im Kontext der luxemburgischen Exilregierung während des Zweiten Weltkriegs in begriffsgeschichtlicher Hinsicht. Dazu bedient sie sich der Verfahren historisch-hermeneutischer Textkritik. Die Analyse beruht auf einem rein qualitativen Ansatz, ohne Rückgriff auf quantitative Auswertung. Die Frage nach den Gründen für die Verwendung eines Ausdrucks ist von besonderem Interesse, wenn ein redaktionelles Auswahlverhalten nachgewiesen werden kann, in dem Ausdrücke gegenüber anderen bevorzugt oder verworfen wurden. Ziel ist es dann jeweils, so weit als möglich im entsprechenden Kontext plausible Hypothesen über die Kriterien aufzustellen, welche die Selektion beeinflussten. Besondere methodische Verfahren und Instrumente, wie Diskursanalyse oder computergestützte Textanalyse, die in weiterführenden Untersuchungen von Interesse sein könnten, kommen in der vorliegenden Arbeit nicht zum Einsatz.
Entsprechend der Ausgangsbeobachtung, dass der Ausdruck ‘Demokratie’ in den großherzoglichen Ansprachen an die luxemburgische Bevölkerung vergleichsweise wenig gebraucht wird, geht es zunächst um den Versuch, mittels archivalischer Recherche die Genealogie des Begriffs ‘Demokratie’ im Gebrauch der Exilregierung zu rekonstruieren und zu verstehen, wann und wo der Terminus im Gebrauch der Exilregierung überhaupt erstmalig vorkam. So weit als möglich, gilt es anhand einer breiteren Quellenbasis chronologisch einzuordnen, wie es zu den ersten ausdrücklichen Verwendungen von ‘Demokratie’ kam und was dabei die herausragenden Bedeutungsfelder waren. Insofern die Regierungsmacht der Minister im Kern auf ‘demokratischer’ Legitimation beruhte, stellt sich zudem die Frage, inwiefern unterschwellige Bezugnahmen auf ‘Demokratie’ vor der ausdrücklichen Verwendung des Ausdrucks im Kontext der Exilregierung eine Wirkungsmacht entfalteten und, wenn ja, in welchen Zusammenhängen.51
Insgesamt soll als Leitfaden die Empfehlung von Chakrabarty dienen, bei der historischen Erkundung von Grundbegriffen wie ‘Demokratie’ das Augenmerk eher auf die Frage zu richten, was in einem gegebenen Zeitrahmen mit diesen Ausdrücken gemacht wurde, als zu versuchen, ihre jeweilige Bedeutung in den entsprechenden Gebrauchssituationen genau zu definieren.52 Demgemäß liegt im Folgenden bei der Erkundung der Gebrauchskontexte von ‘Demokratie’ und der Erschließung ihrer Varianten und Steigerungsformen im Kontext der luxemburgischen Exilregierung das Hauptaugenmerk darauf, den propagandistischen Mehrwehrt von ‘Demokratie’ zu ergründen und die Umrisse eines luxemburgischen ‘Demokratie’-Narrativs nachzuzeichnen, mittels dessen versucht wurde, die propagandistischen Ziele der Exilregierung zu erreichen.
Quellen
Eine vollständige Auflistung der für die vorliegende Arbeit gesichteten Quellen würde den vorgegebenen Rahmen überschreiten. Um überhaupt erste Verwendungen und Gebrauchsfälle von ‘Demokratie’ im Kontext der Exilregierung zu lokalisieren, war es erforderlich, auf breiter Basis nach Zufallsfunden zu suchen, was besonders bei nicht-digitalisierten Quellen mit hohem Zeitaufwand verbunden war. Etliche Beispiele aus der unerwartet hohen Zahl von Fundstellen konnten bei der Aufarbeitung des Materials und der Zusammenstellung der Belege für die vorliegende Arbeit nicht berücksichtigt werden. Im Folgenden sollen vor allem diejenigen Quellen hervorgehoben werden, auf die bei der Niederschrift auszugsweise zurückgegriffen wurde.
Im Vordergrund stehen zunächst die grundlegenden Arbeiten über die luxemburgische Exilregierung von Haag/Krier und Heisbourg, die ausgedehnte Quellenteile enthalten. Unter dem Titel Seconde partie. Les Documents veröffentlichen Haag/Krier in einem vom Überblickstext getrennten Teil insgesamt 68Dokumente, die über den Zeitraum vom 9.Mai 1940 bis zum 8.Januar 1941 reichen.53 Die Texte stammen zum größten Teil aus den Privatarchiven der Zeitzeugen Guillaume Konsbruck und Victor Bodson. Sie sind auf Wunsch der Leihgeber in anonymisierter Form gekennzeichnet worden.54 Haag/Krier haben zudem offenbar zahlreiche Interviews und ergänzende persönliche Befragungen mit Zeitzeugen aus dem Umfeld der Exilregierung durchgeführt. Nach jetzigem Kenntnisstand sind diese, mit einer Ausnahme55, der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht worden. Ihr Inhalt fließt jedoch in den ersten Teil des Bandes Première partie. L’Histoire mit ein, was in den jeweiligen Anmerkungen, ohne zusätzlich zitierten Wortlaut, besonders gekennzeichnet wird, beispielsweise mit „Témoignage oral Guill Konsbruck“ oder „Notes et témoignages personnels de Guill Konsbruck“.56 Bei Heisbourg finden sich neben vollständigen Quellendokumenten, die in den vier Bänden jeweils im Anhang zitiert werden, im Text selbst zum Teil sehr ausführliche Zitate aus Briefen, die häufig über mehrere Seiten gehen.57 Texte, die im Original in englischer Sprache verfasst wurden, werden von Heisbourg sehr oft in französischer Übersetzung wiedergegeben.
Besonders für das Jahr 1940 scheint die Quellenlage komplex und sie ergibt gelegentlich widersprüchliche Befunde.58 Das Buch von Haag/Krier über das Jahr 1940 ermöglicht tiefere Einblicke in die Abfolge der Ereignisse. Der Überblickstext, in den die Ergebnisse der Befragungen von Zeitzeugen eingeflossen sind, und die Quellentexte reduzieren eine von Heisbourg beklagte Unübersichtlichkeit zumindest teilweise. Die tabellarische Übersicht im Anhang beruht weitgehend auf dieser Studie.
Aus dem Fundus des Nationalarchivs (ANLux) wurden vor allem Quellen aus den Bereichen Affaires étrangères – Gouvernement en Exil (AE-GtEx) und Affaires étrangères – Ambassade de Washington (AE-AW) gesichtet, vereinzelt auch aus der Dokumentensammlung Pro London. Die Unterlagen sind zum Teil auf Papier zugänglich, zum Teil auf Mikrofilm. Es handelt sich vielfach um undatierte Entwürfe für Ansprachen ohne Autorenangabe, aber auch um Durchschläge von Briefen. Diese sind teilweise chronologisch geordnet; es fehlen jedoch fast immer die Anlagen, auf die in den Schreiben Bezug genommen wird. Auch werden nur die von einer Stelle versandten Briefe gesammelt, nicht aber die Antworten darauf. Verschiedene Ordner enthalten Konferenzunterlagen sowie Informationsmaterial, Berichte und Presseausschnitte, bei gelegentlich vollständiger, jedoch auch häufig fehlender Datierung oder Zuschreibung eines Autors.
Auf drei propagandistische Publikationen der Exilregierung ist in der vorliegenden Arbeit verschiedentlich zurückgegriffen worden.
Das Luxembourg Bulletin ist eine Informationsbroschüre der luxemburgischen Regierung in englischer Sprache. Entsprechend den unterschiedlichen Aufenthaltsorten von Staatsoberhaupt Großherzogin Charlotte, Regierungschef Pierre Dupong, Außenminister Joseph Bech, Arbeitsminister Pierre Krier und Justizminister Victor Bodson, vornehmlich in Großbritannien, Kanada und den Vereinigten Staaten, erschien das Luxembourg Bulletin ab Mai 1942 unregelmäßig, in etwa zweimonatigem Abstand, in zwei nicht deckungsgleichen Ausgaben, welche zum einen in London, zum andern bis Number 12, February – April 1944 zunächst in Montreal und New York, ab Number 13, October – November 1944 schließlich nur noch in New York herausgegeben wurden.59
Bei diesem Hauptmittel der schriftlichen Propaganda der Exilregierung handelte es sich um ein publizistisches Mitteilungsorgan, in dem Originalbeiträge erstmals veröffentlicht wurden und worin für wichtig gehaltene Reden nachgedruckt und auf diese Weise einem breiteren angelsächsischen Publikum zugänglich gemacht wurden; dies neben Nachrichten über die Aktivitäten der Exilregierung im Ausland und über Vorkommnisse im besetzten Luxemburg selbst.
Anders als etwa die 2018 von der luxemburgischen Nationalbibliothek digital zugänglich gemachte Fassung nahelegt, begann die öffentliche Geschichte des Luxembourg Bulletin nicht mit der Seriennummer 1 der Londoner Ausgabe vom Mai 1942. Laut Georges Heisbourg gab es 1942 bereits zwei vorherige Nummern.60 Die erste sei am Nationalfeiertag, dem 23.Januar 1942 erschienen. Die zweite, auf den 19.April 1942 datierte Ausgabe sei wegen drucktechnischer Unzulänglichkeiten nicht vertrieben, sondern, in verändertem Format, durch die neue Seriennummer 1 am 10.Mai 1942 ersetzt worden.
Der Rückgriff auf das Luxembourg Bulletin bietet den Vorteil, dass es sich um dokumentierte Publikationen handelt, dies im Unterschied zu Archivmaterial, bei dem Entwürfe, in handschriftlicher Form oder als Durchschläge von Typoskripten, häufig weder datiert noch mit Angaben über die Autoren versehen sind. Bei Entwürfen, die als Reden einer bestimmten Person zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort oder über einen bestimmten Radiosender eindeutig gekennzeichnet sind, liegt dennoch häufig keine Information darüber vor, ob und wenn ja, in welcher letztgültigen Fassung die Rede schließlich gehalten worden ist. Bei Redeentwürfen für bestimmte Personen ist zudem nicht klar, ob diese Person auch als Verfasser des Textes gelten kann. Mehrere Texte durchliefen Korrekturvorgänge mit mehreren Verfassern. Handschriftliche Entwürfe können ebenso wie Typoskripte diktiert worden sein. Die Zuschreibung von Reden zu bestimmten Funktionsträgern in veröffentlichten Fassungen des Luxembourg Bulletin bietet insofern eine vergleichsweise verlässlichere Grundlage, selbst wenn auch hier die Frage der Autorenschaft vielfach offenbleiben muss. Besonders im Fall der Reden der Staatschefin dürfte von vornherein davon ausgegangen werden können, dass diese Beiträge von Ministern oder engsten Mitarbeitern vorbereitet wurden.
Das sogenannte Grey Book ist eine einmalige Publikation in englischer Sprache, worin, entsprechend dem Titel, die Lage in Luxemburg vor und nach dem Einmarsch der deutschen Truppen gegenübergestellt wird.61 Es findet sich keine Jahresangabe im Impressum, jedoch ist das Vorwort von Außenminister Bech auf den 10.Mai 1942 datiert.
Als im Frühjahr 1941 in New York die Zweimonatszeitschrift Belgium durch private Initiative im Umfeld belgischer Exilkreise entstand, bot diese der luxemburgischen Propaganda eine erste Plattform. Gleich in der im März 1941 erschienenen ersten Nummer signierte Prinz Félix einen Beitrag, der mit Unbroken in spirit, a people waits übertitelt war.62 Heisbourg berichtet von mehreren Artikeln über Luxemburg aus dem Umfeld der Exilregierung.63 Trotz verschiedener Anfragen ist es nicht gelungen, ein Originalexemplar dieser Zeitschrift einzusehen. Auszüge und auch ganze Artikel konnten jedoch im luxemburgischen Nationalarchiv gefunden werden, zum Teil in auf Papier gedruckten Exemplaren einer Presseschau64 der Exilregierung, zum andern in zwei Briefwechseln auf Mikrofilm.65
Scraps lautet der Titel einer Sammlung aus dem Privatarchiv des Historikers Paul Lesch. Es handelt sich um etwas mehr als hundert Blatt Fotokopien in A3-Format, die etwa zur Hälfte durchnummeriert sind. Sie zeigen vor allem Reproduktionen amerikanischer und kanadischer Zeitungsausschnitte, die bis auf eine Ausnahme aus der Zeit des Exils stammen. Die erste Fotokopie zeigt den Namen Scraps in Großbuchstaben auf dem Deckel einer Art Album. Dieses stammt vermutlich aus dem Umfeld des großherzoglichen Hofes, möglicherweise von Guillaume Konsbruck; jedoch gibt es keine genaueren Angaben. Die Sammlung Scraps liegt nur als Fotokopie vor, ohne dass das Album im Original hätte eingesehen werden können. Es kann also auch nicht von einer Vollständigkeit der Kopie gegenüber dem Original ausgegangen werden.66
Sporadische Originalzitate zum Themenkreis ‘Demokratie’ finden sich in den im Abschnitt „Forschungsstand“ angeführten Arbeiten zur Biografie einzelner luxemburgischer Politiker und zur Parteiengeschichte Luxemburgs. Hervorgehoben als Quellen seien noch drei sehr unterschiedliche Dokumente, denen man aus verschiedenen Gründen die Einordnung in den Bereich wissenschaftlicher Texte nicht zubilligen möchte, wenngleich jedes auf seine Art einen hohen Wahrheitsgehalt für sich beansprucht. In einem Grenzbereich zwischen faktenorientierter biografischer Rekonstruktion und erinnerndem Gedenken ist das materialreiche Lebensbild angesiedelt, das die Gewerkschaftlerin Lily Krier-Becker von ihrem Ehegatten und politischen Weggefährten Pierre Krier zeichnet.67 Es enthält ebenfalls längere Zitate aus Berichten und Aufzeichnungen von Pierre Krier. Der szenenreiche autobiografische Bericht des amerikanischen Diplomaten George Platt Waller über die erste Zeit der NS-Besatzung in Luxemburg, die er als Augenzeuge erlebte, und über seine Rückkehr in die USA im Sommer 1941, verfolgt auch das Ziel einer persönlichen Rechtfertigung und Neupositionierung im Umfeld der Exilregierung.68 Die persönliche Abrechnung des Journalisten Henri Koch-Kent mit den Ministern der Exilregierung gibt sich dagegen faktengespickt, wobei die hochgradig polemische Zuspitzung der Glaubhaftigkeit im Wege steht. ‘Demokratie’ ist jedoch Thema in einigen Zitaten, welche die gespannte Atmosphäre im Londoner Exil und in Luxemburg bei Kriegsende belegen.69
Die luxemburgische Presse der unmittelbaren Nachkriegszeit berichtete ausführlich über die Vorkommnisse aus der Zeit der Rückkehr der Exilregierung bis zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit. Die Zeitungen sind über die digitale Plattform der Nationalbibliothek eluxemburgensia konsultiert worden.70
Mit Unterstützung der Konservatoren des Centre national de l’audiovisuel (CNA) konnten audiovisuelle Quellen erschlossen werden. Es handelt sich um zum Teil nur sehr kurze Ton- und/oder Filmaufnahmen mit Botschaften von Großherzogin Charlotte vor der Rückkehr nach Luxemburg, die mit vergleichbaren Aufnahmen in den Filmen Heim ins Reich und Léif Lëtzebuerger abgeglichen werden konnten. Von besonderem Interesse sind auch die zeitgenössischen Radioreportagen über die Ansprachen im Parlament (Émile Reuter, Charlotte) und im Rathaus (Gaston Diederich) sowie die Begeisterungskundgebungen der Bevölkerung bei den Feierlichkeiten anlässlich der Rückkehr der Staatschefin. In den Tonaufnahmen wird die ganz eigene atmosphärische Dichte der Ereignisse spürbar.71
Die Ansprachen des amerikanischen Präsidenten Roosevelt entstammen der digitalen Sammlung Franklin D. Roosevelt, Master Speech File, 1898-1945 aus der Franklin D. Roosevelt Presidential Library & Museum.72 Es wurden auch Ansprachen von Premierminister Churchill über digitale Quellen konsultiert.73 Als weitere nützliche Internetseiten seien vor allem die digitalen Dokumentensammlungen der Vereinten Nationen74, das The Avalon Project von der Yale Law School und die Webseite www.jewishvirtuallibrary.org genannt.75
Eingrenzende Überlegungen zu Semantik, raumzeitlichem Kontext und personalem Umfeld im Zusammenhang mit dem Themenkreis ‘luxemburgische Exilregierung’
Der Terminus ‘Exil’ ist von luxemburgischen Historikern sowohl als zu ,positiv‘76 als auch als zu ,negativ‘77 gewertet worden. Heisbourg verweist auf die zeitgenössische Akzeptanz des Ausdrucks „Exilregierungen“ nach der kurzen Erwägung von „Zuflucht“ und „Asyl“ als möglichen Alternativen.78 Diese Orientierung am zeitgenössischen Kontext entspricht der Argumentation der deutschen Historikerin Julia Eichenberg, der die Leitung eines aktuellen transnationalen Forschungsprojektes über Exilregierungen in London obliegt. In Bezug auf den Ausdruck „Flucht“ unterstreicht sie, es sei auch bei „königlichen und demokratischen Staatsoberhäuptern bis hin zu Ministern, Politikern und Intellektuellen wichtig, […] im Blick zu behalten, dass es sich hier um Flüchtlinge gemäß der rechtlichen Definition der Zeit handelte.“79
Eine zweite Überlegung betrifft die Zusammensetzung einer ‘luxemburgischen Regierung im Exil’. Mit dem Werktitel La Grande-Duchesse et son gouvernement pendant la deuxième guerre mondiale halten Haag und Krier an der formalen Trennung zwischen Staatsoberhaupt und Regierung fest und optieren insofern für einen restriktiven, auf die Minister bezogenen Begriff von ‘Regierung’. Heisbourg entscheidet sich dagegen mit dem Titel Le Gouvernement luxembourgeois en exil ausdrücklich für einen Gebrauch des Ausdrucks ‘Regierung’ „in einem weiten Sinne“80. Seine Begründung verweist auf das Gebot der damals gültigen luxemburgischen Verfassung, demzufolge die ausführende Gewalt zwar allein in großherzoglicher Hand lag, Weisungen des Staatsoberhaupts jedoch nur gültig waren, nachdem ein politisch verantwortlicher Minister sie gegengezeichnet hatte. Die entsprechende Idee einer weiteren Bedeutung von ‘Exilregierung’ liegt auch der vorliegenden Arbeit zugrunde.
Zum ‘Kontext’ der luxemburgischen Regierung im Exil gehören die räumliche und zeitliche Eingrenzung sowie das personale Umfeld.
Der Herrschaftsanspruch einer ‘demokratisch’ legitimierten luxemburgischen Regierung bezog sich auf das luxemburgische Staatsgebiet und vollzog sich innerhalb von dessen Grenzen. Der räumliche Aktionsradius der Exilregierung war hingegen beträchtlich, nicht nur, weil sie mit Montreal und London ihren Sitz auf zwei Kontinente verteilt hatte. Auch nachdem ihre Flucht in Großbritannien und Kanada ein jeweils vorläufiges Ende gefunden hatte, reisten die Minister und die Staatschefin oft und weit, sowohl auf dem nordamerikanischen Kontinent als auch zwischen den USA, Kanada und England.81 Gerade im Hinblick auf den in der Rede von der ‘luxemburgischen Regierung im Exil’ mitschwingenden nationalen Fokus scheint es sinnvoll, sich die geografisch verstreuten Mitglieder der Exilregierung vor allem als ein transnationales Netzwerk vorzustellen, dessen einzelne Komponenten sich sporadisch und in unterschiedlichen Konstellationen zu hochbeweglichen regionalen, nationalen und interkontinentalen Reisegruppen und Aktionseinheiten formierten, um ihren Anspruch auf ‘demokratische’ Legitimität für das luxemburgische Staatsgebiet zu verteidigen.
Der Historiker Guy Thewes unterscheidet in seinem Handbuch über luxemburgische Regierungen die „Exilregierung“ (Gouvernement en exil, 10.Mai 1940 bis 23.September 1944) von der unmittelbar darauffolgenden „Regierung der Befreiung“ (Gouvernement de la libération, 23.September 1944 bis 14.November 1945). Deren Ablösung durch die „Regierung der nationalen Einheit“ (Gouvernement de l’union nationale) erfolgte im Anschluss an die ersten parlamentarischen Wahlen der Nachkriegszeit vom 21.Oktober 1945.82
Die Hervorhebung einer „Regierung der Befreiung“ ist für die Zwecke eines chronologischen Handbuchs von Nutzen.83 Die positiv besetzte Wortschöpfung kontrastiert jedoch mit den politischen Auseinandersetzungen in derselben Zeitspanne. Vertreter der im Lande verbliebenen Widerstandsbewegungen erhoben hartnäckig und in zuweilen ungewöhnlich scharfer Form gegenüber den heimgekehrten sogenannten „Londoner“ Ministern den Vorwurf einer ‘demokratisch’ illegitimen Machtanmaßung. Thewes unterstreicht, dass die Einrichtung einer „Beratenden Kammer“ (Assemblée consultative) anstelle des umkämpften Rumpfparlaments, auf die sich die Gruppe der heimgekehrten Exilminister stützte, das Ziel einer besseren „demokratischen Legitimierung“ dieser Regierung verfolgte, und hebt damit die Relevanz für ‘Demokratie’ hervor.84 Die vorliegende Arbeit bezieht sich, wenn im zeitlichen Sinne vom ‘Kontext’ der Exilregierung die Rede ist, stets auf die Zeit bis zu den ersten Wahlen nach dem Krieg und der Bildung einer „Regierung der nationalen Einheit“ am 14.November 1945.
Über den Personenkreis des monarchischen Staatsoberhaupts und der gewählten Regierungsvertreter hinaus gab es weitere Akteure, die über mehr oder weniger große Handlungsspielräume verfügten. Im dynastischen Umfeld zählten dazu Guillaume Konsbruck und Hugues Le Gallais. Konsbruck diente als ranghoher Leutnant in der luxemburgischen Armee und als Flügeladjutant (aide-de-camp) von Prinz Félix. Während des Exils erfüllte er letztere Funktion ebenfalls für Großherzogin Charlotte.85 In seiner Doppelfunktion war Konsbruck ein wesentliches Verbindungsglied zwischen der großherzoglichen Familie und den Ministern der Regierung. Hugues Le Gallais, vormaliger Repräsentant des luxemburgischen Stahlunternehmens Arbed-Columeta in den USA und Japan, amtierte als Beauftragter der Regierung und des Hofes (chargé d’affaires und chambellan) in Washington. Er konnte sich am 8.November 1940 als Sonderbotschafter im Rang eines ministre plénipotentiaire beim amerikanischen Präsidenten in Washington vorstellen.86 Luxemburgische Flüchtlinge wurden im Umfeld der Exilminister als eine Art neutrale Experten ohne weitere ‘demokratische’ Legitimierung mit Sonderaufgaben betraut. Zu ihnen gehörten beispielsweise der Jugendrichter und Chefscout Georges Schommer, der Finanzexperte Charles Heuertz und der Automobiltourismus-Manager André Wolff, die verschiedentlich Funktionen in der politischen Propaganda ausübten.87
Sowohl die Staatschefin als auch die Minister waren zusammen mit ihren Ehegatten geflüchtet. Die Beispiele von Prinz Félix und Lily Krier-Becker illustrieren, wie familiäre Konstellationen in der Situation des Exils zu ungewöhnlichen Problemstellungen führen konnten, unterschwellig auch im Hinblick auf ‘Demokratie’. Prinz Félix erfüllte als Ehegatte von Großherzogin Charlotte zwar keinen eindeutigen politischen und staatlichen Auftrag, dürfte aber dennoch bei Regierungsentscheidungen ein informelles Mitspracherecht gehabt haben, und zwar nicht nur dann, wenn sie die großherzogliche Familie betrafen. Jene Berichte etwa, die Konsbruck im Fluchtjahr 1940 an Prinz Félix schickte, nachdem dieser bereits mit den Kindern der großherzoglichen Familie nach Amerika gereist war, während die Staatschefin mit den Ministern in Lissabon zurückblieb, gingen erklärtermaßen darüber hinaus: „Je pense que Votre Altesse Royale sera heureuse de savoir comment les affaires et la situation se dessinent. Si je n’importune pas trop Monseigneur, je tâcherai de faire parvenir à Votre Altesse Royale régulièrement un aperçu sur les évènements et faits, pour sa propre gouverne et éventuellement pour L’aider à travailler pour le pays et Ses Souverains.“88 Die lobende Äußerung von Außenminister Bech in seinem Bericht vom 16.November 1940 an Großherzogin Charlotte, der Prinz habe „gute Arbeit im Dienste seines Landes“ geleistet, weist in dieselbe Richtung einer akzeptierten Mitwirkung an den Aktivitäten der Exilregierung.89 Lily Krier-Becker, die Gattin von Arbeitsminister Pierre Krier, besaß ebenfalls keinen regierungsamtlichen Auftrag. Als gewerkschaftliche Aktivistin, die bereits vor ihrer Heirat mit Pierre Krier politisch tätig gewesen war, war sie dennoch sowohl allein als auch gemeinsam mit ihrem Mann durch zahlreiche Medienauftritte vielfältig aktiv, was die Kritik von Premierminister Dupong hervorrief.90
Die Söhne und Töchter, die 1940 zusammen mit ihren Eltern als Kinder und Jugendliche aus Luxemburg flohen, um vier oder fünf Jahre später als Jugendliche und junge Erwachsene zurückzukehren, lieferten eigene Beiträge. Prinz Jean begann eine militärische Ausbildung beim Regiment der Irish Guards und wendete sich erstmals zum Jahresende 1942 sowie zum Jahresbeginn 1943 in Radioansprachen an die luxemburgische Bevölkerung.91 Lambert Dupong, der älteste Sohn des Premierministers, verfasste einen mehrseitigen Bericht über die Fluchtgründe der Regierung, der aufgrund seiner Ausführlichkeit kaum ohne väterliche Vorgaben zustande gekommen sein konnte, und der dem Premierminister wiederum bei der Vorbereitung seiner Silvesteransprache von 1940 an die luxemburgische Bevölkerung gedient haben könnte.92
Gruppenbild II.KK.HH. Großherzogin Charlotte und Prinzgemahl Félix mit ihren engsten Mitarbeitern. Unter ihren Begleitern erkennt man: S.E. M. Joseph Bech, Außenminister der luxemburgischen Exilregierung; S.E.M. Pierre Krier, Arbeitsminister der luxemburgischen Exilregierung (3. von rechts); S.E. M. André Clasen, Botschafter des Großherzogtums Luxemburg im Vereinigten Königreich (rechts von der Großherzogin [vermutlich]); M. Georges Schommer, Beauftragter für die Beziehungen mit den luxemburgischen Immigranten in den USA. Unbekannter Fotograf; 26.September 1941; London, England. Photothèque de la Cour grand-ducale © Administration des Biens de SAR le Grand-Duc.
Luxemburgs Exilregierung war kein Einzelfall. In ihrer Studie über nach London geflüchtete politische Eliten listet Julia Eichenberg neun Herkunftsländer auf, wobei sie die gemeinsame internationale Ausrichtung der hochrangigen Akteure hervorhebt: „So waren in London die Exilregierungen und Nationalkomitees von neun Ländern mit durchaus verschiedenem Status unter den Alliierten vor Ort: die Vertreter des Freien Frankreichs, die Exilregierungen der Niederlande, Belgiens, Luxemburgs, Norwegens, Polens, der Tschechoslowakei, Griechenlands und Jugoslawiens.“93 Mit dem Begriff einer ‘luxemburgischen Exil-Regierung’ stellt sich in diesem internationalen Umfeld das Problem der kleinen Dimension des Landes. Die Idee einer ‘Regierung’ verweist auf einen begleitenden Apparat von Beamten und Bediensteten, eingebettet in einen weiteren Kreis von Unterstützern und Ratgebern, die, je nach Größe des Landes, eine vergleichsweise umfangreiche Personengruppe bilden. Impliziert der Begriff ‘Exilregierung’ insofern nicht von vornherein eine Größenordnung, welche die Anzahl von Personen, die dem Umfeld der luxemburgischen Regierung zugerechnet werden können, bei Weitem übersteigt?94
Von M. Joseph Bech im Namen der luxemburgischen Exilregierung im Januar 1942 anlässlich des Geburtstags I.K.H. Großherzogin Charlotte gegebener Empfang. M. Bech steht vor einer großen britischen Flagge. Unbekannter Fotograf; 23.Januar 1942; Kanada [vermutlich]. Photothèque de la Cour grand-ducale © Administration des Biens de SAR le Grand-Duc.
Aus dieser Sicht scheint es geboten, sich die vergleichsweise geringe Größe der Personengruppe kontinuierlich zu vergegenwärtigen, um mögliche perspektivische Verzerrungen aufgrund der unterschiedlichen Größenverhältnisse zu vermeiden. Die Frage stellt sich zum Beispiel, inwiefern Vorgänge innerhalb der kleinen Personengruppe als politische Abläufe zu analysieren sind, bei denen die Akteure trotz aller Turbulenzen die Spielregeln des verfassungsmäßigen ‘demokratischen’ Umgangs innerhalb der konstitutionellen Monarchie Luxemburgs zu respektieren suchten, oder als gruppendynamische Prozesse zwischen Einzelpersonen, deren zuweilen weit divergierendes Rollenverständnis ‘demokratische’ Zusammenarbeit in den Hintergrund drängen konnte.95
Auf der anderen Seite, mit Blick auf die Konzeption der Exilregierung als einem hochmobilen transnationalen Netzwerk, zeigt sich, dass einzelne Akteure der luxemburgischen Exilregierung aufgrund ihres besonderen gesellschaftlichen Rangs oder wegen besonderer beruflicher und außerberuflicher Funktionen die Möglichkeit besaßen, Beziehungen zu anderen, zum Teil weitreichenden transnationalen Netzwerken außerhalb des herkömmlichen regierungsamtlichen Aktionsradius zu knüpfen. Herausragende Beispiele hierfür bilden nicht nur die Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen zwischen königlichen europäischen Herrscherhäusern auf Seiten der großherzoglichen Familie oder die weltweiten wirtschaftlichen Verbindungen des ehemaligen Stahl-Managers Le Gallais über Arbed-Columeta, sondern auch die internationalen gewerkschaftlichen Kontakte eines Arbeitsministers Krier. Weitere Beispiele für transnationale Interaktionsmöglichkeiten und Austauschbeziehungen in weitgespannten Netzwerken stellten die internationalen Verbindungen von André Wolff als ehemaligem Direktor des Touring Club in Luxemburg oder von Georges Schommer als oberstem luxemburgischen Pfadfinder dar. Unterschiedliche Ausgangspositionen zum Themenkreis ‘Demokratie’ im Umfeld der Exilregierung wurden auch aus dieser Sicht nicht nur durch parteipolitische Orientierungen im engeren Sinn beeinflusst.
In ihren Überlegungen zum Londoner Exil kommt es Eichenberg darauf an, für die „europäischen Exilanten auf der Flucht […] die transnationale gemeinsame Erfahrung zu betonen“96:
„Die Anwesenheit der europäischen Exilregierungen und geflüchteten Machthaber, Beamten und Intellektuellen veränderte London und transformierte die Hauptstadt des British Empire beinahe über Nacht in eine europäische Metropole. […] So schufen sowohl die Anwesenheit der Europäer als auch die Bereitschaft der Briten, sich (zumindest vorübergehend) auf die neue Rolle als Zufluchtsort einzulassen, einen Mikrokosmos, der enge politische Kommunikation unter zeitlich und räumlich verdichteten Umständen erlaubte: den ‘London Moment’.“97
In Bezug auf die exilierten luxemburgischen Eliten stellt sich die Frage, inwiefern es nicht angebracht ist, neben einem ‘London Moment’ in ähnlicher Weise einen ‘Montreal Moment’, einen ‘Washington Moment’ oder überhaupt einen ‘Exil Moment’ anzunehmen? Zu prüfen ist demnach, inwiefern die sozialen und raumzeitlichen „Verdichtungen“ nicht nur „transnationale gemeinsame Erfahrungen“, sondern, damit einhergehend, gerade mit Blick auf ‘Demokratie’, „Fenster der Möglichkeiten“98 für transnationale gemeinsame Lernprozesse der luxemburgischen Exilregierung gezeitigt haben. Dieser Hypothese von Exil als einem Lernort von ‘Demokratie’ für die luxemburgischen Regierungsflüchtlinge soll in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden.
Konfliktuelles politisches Agieren in den schwierigen Anfängen der Exilregierung bei unterschwelliger Bezugnahme auf ‘Demokratie’
In seiner Besprechung des Buches von Émile Haag und Émile Krier sowie des ersten Bandes von Georges Heisbourg spricht der Journalist Paul Cerf von der „Verwandlung des kleinen neutralen Großherzogtums in einen vollwertigen Bündnispartner“99. Die Forschungsfrage lässt sich entsprechend präzisieren: Wie verändert sich der Stellenwert von ‘Demokratie’ im Zuge der Aufgabe einer Politik der Neutralität zugunsten einer Politik der Einordnung in das Lager der Alliierten? Die Beantwortung dieser Frage beleuchtet zunächst Konflikte mit unterschwelliger Bezugnahme auf ‘Demokratie’ im Spannungsfeld zwischen traditioneller Neutralitätspolitik und anstehender neuer Bündnisorientierung. Den Ausgangspunkt bildet die Flucht am 10.Mai 1940. Chronologisch liegt der Schwerpunkt dabei auf Entwicklungen im Lissabonner Exil in den Monaten Juli und August 1940, und danach zwischen September 1940 und Februar 1941, nachdem die Exilregierung sich zwischen zwei Kontinenten auf das britische London und das kanadische Montreal verteilt hatte, zusätzlich zum nordamerikanischen Washington als Sitz der diplomatischen Vertretung Luxemburgs in den USA.
Nach der Abreise von Prinz Félix und den großherzoglichen Kindern auf einem amerikanischen Kriegsschiff am 15.Juli 1940 führten mehrere Ereignisse zu Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Exilregierung. Die Einsetzung einer Zivilverwaltung in Luxemburg brachte einen Wendepunkt. Am 6.August 1940 fand der Einzug von Gauleiter Gustav Simon in Luxemburg unter dem Schutz eines Polizeibataillons von 800Mann statt. Seine programmatische Ansprache auf der Place d’Armes enthielt als zentrale Botschaft, Luxemburg sei seinem Wesen und seiner Geschichte nach deutsch. In den darauffolgenden Wochen verkündete der Gauleiter mehrere gesetzliche Maßnahmen, welche die Souveränität des Landes einschränkten. Am 13.August 1940 erklärte Simon in einer Ansprache, die Verfassung Luxemburgs sei durch das Exil der Großherzogin außer Kraft gesetzt, und die Beamten seien von ihrem Treueeid gegenüber der Staatschefin entbunden.100 Hinzu kamen das Verbot der geopolitischen Bezeichnungen Großherzogtum und Land Luxemburg, sowie eine sprachpolitische Regelung zugunsten der deutschen Sprache, bei Entfernung französischer Ortsbezeichnungen und Personennamen aus dem öffentlichen Raum und dem behördlichen Schriftverkehr. Die Untersagung der politischen Parteien am 23.August wurde auf entsprechenden Plakaten über das Verbot für alle Parteien bekanntgemacht. Dabei wurde ‘Demokratie’ ausdrücklich als Zielscheibe der Maßnahme genannt: „Das Zeitalter der Demokratie hat sein Ende erreicht. Der Parlamentarismus ist im Begriffe unterzugehen […].“101
Insgesamt bewirkten diese Maßnahmen eine deutliche Annäherung an England und die USA. Am 27. bzw. am 29.August reisten Außenminister Bech und Großherzogin Charlotte nach London. Am 4.September kam es in Washington zur Verteilung einer Protestnote an alle diplomatischen Vertretungen (außer der deutschen) durch Le Gallais, in Einverständnis mit Prinz Félix, gegen die Abschaffung der luxemburgischen Verfassung. Großherzogin Charlotte wandte sich am 5.September aus London in einer Ansprache über die BBC erstmals seit ihrer Flucht an die luxemburgische Bevölkerung. Nach der Rückkehr der Großherzogin und des Außenministers nach Lissabon am 6.September folgte am 25.September 1940 die Einschiffung von Premierminister Dupong mit seiner Ehefrau und einer Gruppe von Luxemburgern nach New York, sowie am 2.Oktober 1940 die Einschiffung von Justizminister Bodson, dessen Familie, den Kindern von Dupong und einer weiteren Gruppe von Luxemburgern, ebenfalls nach New York. Am 3.Oktober 1940 reisten Großherzogin Charlotte und ihr Gefolge ab. Es kam zu ersten Auftritten der Staatschefin vor der amerikanischen Öffentlichkeit. Bei der Ankunft in New York am 4.Oktober 1940 richtete sie am Flughafen eine Ansprache an die wartenden Journalisten. Am 5.Oktober gab sie eine Pressekonferenz. Am 20.Oktober waren Großherzogin Charlotte, Prinz Félix und Erbgroßherzog Jean zum Abendessen bei Präsident Roosevelt und dessen Gattin im Weißen Haus. Die Niederlassung der Exilminister Dupong und Bodson mit ihren eigenen Familien sowie Angehörigen von Bech und Krier im kanadischen Montreal war am 6.November abgeschlossen, etwa anderthalb Wochen nach der Ankunft von Großherzogin Charlotte und ihrem Gefolge in Montreal am 24.Oktober 1940. Außenminister Bech flog am 22.Oktober 1940 nach London als seinem neuen Dienstsitz. Am 6.November 1940 traf er den englischen Außenminister Lord Halifax. Arbeitsminister Krier landete am 24.Dezember 1940 im englischen Bristol und kam erstmals am 28.Dezember mit Außenminister Bech in London zusammen.
Nach heutigem Kenntnisstand können keine Verwendungen von Ausdrücken wie ‘Demokratie’ und ‘demokratisch’ in öffentlichen Verlautbarungen der Exilregierung aus diesem Zeitabschnitt nachgewiesen werden. Das Thema ‘Demokratie’ begleitete das Verhalten der Akteure dennoch unterschwellig, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
Drei symptomatische Konfliktepisoden im Spannungsfeld zwischen traditioneller Neutralitätspolitik und neuer Bündnisorientierung
Konflikt zwischen Exilministern und in Luxemburg verbliebenen Politikern: Ausgrenzungen und Rücktrittsforderungen (Juli – August 1940)
Vier Dokumente aus Luxemburg belegen eine tiefgreifende Krise zwischen den geflüchteten Ministern in Lissabon und den politischen Meinungsführern, die in Luxemburg zurückgeblieben waren.
Am 12.Juli 1940 erfolgte die Übergabe eines Telegramms zu Händen von Außenminister Bech mit einer Botschaft, welche „an Großherzogin Charlotte persönlich“ und „an die Regierung des Großherzogtums Luxemburg in der Person von Premierminister Dupong“ gerichtet war.102 Heisbourg hat eine komplexe Zustellung über mehrere Stationen geschildert, die die Isolation der Exilregierung veranschaulicht.103 Parlamentspräsident Reuter hatte dem amerikanischen Diplomaten Georges Platt Waller, der zu diesem Zeitpunkt noch in Luxemburg amtierte, die in deutscher Sprache verfasste Botschaft ausgehändigt, welche dieser am 1.Juli an die amerikanische Vertretung nach Berlin schickte. Von dort ging eine englische Übersetzung über den Atlantik an das amerikanische Außenministerium in Washington und von dort wiederum zurück an die amerikanische Gesandtschaft in Lissabon, wo die Übergabe an Außenminister Bech erfolgte.
Im Kern besagte die Botschaft, die Staatschefin möge nach Luxemburg zurückkehren, während die Exilminister abtreten sollten. Durch die Bildung einer neuen Regierung im Großherzogtum sollte ein Auskommen mit der deutschen Reichsregierung gefunden und auf diese Weise der Fortbestand des luxemburgischen Staates in relativer Unabhängigkeit gesichert werden:
„The Luxemburg people urgently desires the return of Her Royal Highness The Grand-Duchess of Luxemburg to Luxemburg, in order to restore the constitutional government and executive authority. They regret the departure of the Government which took place on May 10, and express through the agency of the Chamber of Deputies the wish that the Government makes possible by its resignation the formation of a constitutional government in Luxemburg as quickly as possible.“104
Dem Begleittext von Waller zufolge handelte der Absender, Parlamentspräsident Reuter, im Auftrag einer für das Abgeordnetenhaus repräsentativen parlamentarischen Kommission: „The President of the Luxemburg Chamber of Deputies is commissioned by a Parliamentary Committee, in which all groups in the Chamber are represented […].“105 Heisbourg hebt hervor, dass die Sitzungsprotokolle der luxemburgischen Abgeordnetenkammer keinen Eintrag über eine derartige Botschaft vermerken. Er vermutet, die Entscheidung, diese Botschaft überhaupt zu schicken, sei „in kleinem Kreis“ getroffen worden.106 Die Exilminister sahen sich insofern mit einer Rücktrittsforderung seitens der luxemburgischen politischen Eliten konfrontiert, deren ‘demokratische’ Verfahrensgrundlage zwar fraglich war, die sich aber ausdrücklich auf einen „drängenden Wunsch des luxemburgischen Volkes“ berief.
Am 25.Juli 1940 erreichte Großherzogin Charlotte ein zweites, direkt an sie gerichtetes persönliches Schreiben, welches Waller selbst am 12.Juli 1940 verfasst hatte. Es wurde der Staatschefin durch einen amerikanischen Marineattaché namens Gade persönlich übergeben. Die Botschaft belegt den schweren Reputationsverlust der Minister und die Spaltung der öffentlichen Wahrnehmung in Luxemburg zwischen einer ‚guten‘ Großherzogin und einer ‚schlechten‘ Regierung: „Luxembourg public opinion and Chamber have lost all confidence in former Government of Luxembourg […]. Entire population including Chamber have utmost loyalty and confidence in Grand Duchess, they draw the sharpest distinction between her and the activities of her government.“107 Waller unterstrich, dass die Vorwürfe aus der Bevölkerung sich gegen die Tatsache der Flucht und die Zusammenarbeit mit ausländischen Bündnismächten richteten, wodurch der Status eines neutralen Landes preisgegeben worden wäre: „Population deplores flight of Cabinet; population deplores activities of the Cabinet in Paris in associating Luxembourg with allied forces causing Germany to officially stigmatise Luxembourg as enemy country.“ Heisbourg hebt zu Recht hervor, dass diese Botschaft sich durch eine verletzende Ausdrucksweise gegenüber den Ministern auszeichnete.108
Anfang August folgten zwei weitere Dokumente. Am 2.August kam es zur Übergabe eines Berichts vom 26.Juni von Albert Wehrer, dem Präsidenten der zu diesem Zeitpunkt noch amtierenden Verwaltungskommission, an die Exilregierung.109 Vermutlich im selben Zeitraum erreichte auch ein Memorandum vom 5.