Lyrik erleben - Michael Bahn - E-Book

Lyrik erleben E-Book

Michael Bahn

0,0

Beschreibung

Lesen Sie Gedichte? Nein? Aber das sollten Sie! Weil das Gedicht Ihnen ganz persönlich etwas zu sagen hat. Und was das ist, möchte ich gemeinsam mit Ihnen herausfinden. Dazu begeben wir uns auf eine Reise. Sie und ich und das Gedicht. Und am Ende dieser Reise werden Sie hoffentlich sagen: Lyrik, find ich cool! Doch bevor Sie zugreifen, lesen bitte erst das Vorwort und entscheiden Sie dann, ob Sie Zeit in sich und ein Gedicht investieren möchten. Ein Buch für alle Menschen, die wieder Bock auf Lyrik haben wollen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 179

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bitte: Erst lesen, dann kaufen!

Ich grüße Sie!

Und ich danke Ihnen dafür, dass Sie sich vor dem Kauf die drei Minuten Zeit nehmen, diesen kurzen Text zu lesen. Das ist nämlich äußerst wichtig!

Warum?

Weil ich Sie nicht enttäuschen möchte!

Sie haben doch bestimmt nach diesem Buch gegriffen, weil Sie Hilfe beim Verstehen von Gedichten brauchen. Ja und dafür ist dieses Buch auch geschrieben worden. Es kann Ihnen helfen, Gedichte zu verstehen. So weit, so gut. Und jetzt das … aber … es macht einiges anders, als Sie es aus der Schule kennen.

So, nun ist es raus.

Dies ist kein Schullehrbuch. Es ist ein Buch, das Sie auf eine Reise mitnimmt. Denn Sie lernen hier nicht nur, wie Sie ein Gedicht besser verstehen können. Sie lernen auch etwas über sich selbst! Und dafür brauchen Sie Zeit.

Zeit, Zeit und noch einmal – Zeit!

Die hatten Sie in der Schule häufig nicht. Da mussten Sie ganz schnell eine Analyse und eine Interpretation anfertigen. Aber hier müssen Sie das nicht.

Hier entscheiden Sie, wie schnell oder langsam Sie voranschreiten wollen.

Und am Ende, so hoffe ich, haben Sie einen Weg gefunden, wie Sie sich dem Gedicht ohne Furcht annähern.

Und ja – das hilft auch in Schule und Studium weiter!

Kaufen Sie dieses Buch nur, wenn Sie bereit sind, Zeit in sich selbst und in ein Gedicht zu investieren.

Dr. Michael Bahn, geboren 1981, arbeitet an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, wo er in der Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft lehrt. Seine Arbeitsfelder sind u.a. die Kinder- und Jugendliteratur der DDR sowie künstlerische Transformationsprozesse und deren Einbindung in den Deutschunterricht.

Nach seinem Studium der Literatur-, Sprach- und Religionswissenschaft entwickelte er im Rahmen seiner Dissertation die Theatrale Lyrikuntersuchung (TLU) mit dem Ziel der Umwandlung lyrischer Strukturen in theatrales Spiel.

Daran anknüpfend entstehen in der Zusammenarbeit mit Anke Ulbrich unter dem Dach der von Michael Bahn begründeten Initiative Die Theatrale kleine künstlerisch ausgerichtete Lehr-Lern-Projekte. So finden sich dort u.a. Informationen zur Lernplattform Gedankenskizzen, zum Filmprojekt Lebe mit einem Buch oder zu der Animal Studies aufgreifenden Hörproduktion Das Leben der Tiere.

Weitere Informationen und Kontakt zum Autor erhalten Sie unter:

www.die-theatrale.de

facebook.com/DieTheatrale

instagram.com/roy_the_adventurer

youtube.com/user/MichaelBahnMA

Inhalt

Grundlagen

Warum ich Gedichte liebe

Vom Verstehen zur Interpretation

Vom literarischen Text zum Gedicht

Der literarische Expressionismus in der Lyrik

Gedichtuntersuchung

Verstehen durch Sehen

Verstehen durch Hören

Verstehen durch Fühlen

Nachdenken und Nachfragen

8-Schritte-Wegweiser zum Gedichtverstehen

Ja wie denn nun?

8-Schritte-Wegweiser

Checkliste

Üben und lesen

Einige Stilmittel

Die Sinne schärfen – Gedichte zur Übung

Verwandte oder empfohlene Literatur

Bevor es losgeht, möchte ich noch meinen Dank aussprechen:

Danke, Klarissa und Janin, für eure hilfreichen Anmerkungen.

Danke, Ronny, für Deine Sorgfalt, Inspiration und Liebe!

Grundlagen

Warum ich Gedichte liebe

In Ordnung.

Ich gebe es zu.

Ja, wirklich. Gleich zu Beginn gebe ich es zu: Ich liebe Gedichte.

Und weil ich möchte, dass auch Sie dieses Gefühl mit mir teilen, schreibe ich dieses Buch … oder vielmehr habe ich es deswegen geschrieben. Denn Sie halten es ja bereits in den Händen.

Aber warum eigentlich?

Warum haben Sie dieses Buch gekauft?

Wollen Sie etwas über Gedichte erfahren? Oder wollen Sie vielleicht für eine Prüfung lernen?

Denn falls dem so sein sollte, muss ich Sie ein wenig enttäuschen: In diesem Buch geht es nämlich vor allem um Sie.

Ja, ganz recht, es geht um Sie! Um Sie und Ihre Art, ein Gedicht zu lesen. … Natürlich lernen Sie dabei auch etwas über das Gedicht. Aber im tiefsten Grunde Ihres Herzens wissen Sie bereits, dass es Ihnen eigentlich nur darum geht, den Spaß an der Lyrik wieder zu entdecken. Deshalb haben Sie dieses Buch gekauft … oder geschenkt bekommen.

Ich werde mir also alle Mühe geben, um Sie nicht zu langweilen und damit mir das gelingt, brauche ich Ihre Unterstützung. Sie müssen mir Ihre Phantasie anvertrauen.

Weshalb?

Na damit wir zusammen eine kleines Abenteuer erleben können. Denn nichts weniger liegt vor uns, wenn wir uns dem Gedicht zuwenden.

Und das ist auch der Grund, weshalb ich Gedichte so sehr liebe: Sie laden mich in Welten ein, die mir sonst verschlossen blieben. Sie zeigen mir die Sicht eines anderen Ich und sie können Zeitreisen möglich machen.

Ja, Sie haben richtig gelesen – Zeitreisen!

Natürlich werden Sie nicht leiblich in die Vergangenheit reisen, aber Ihr Gefühl kann das. Es ist eigentlich ganz einfach. Indem Sie sich auf einen dieser kurzen Texte einlassen, knüpfen Sie eine Verbindung zu einem anderen Ich, das oftmals schon eine Weile tot ist. Allerdings ist das nicht immer der Fall. Es gibt ja auch Dichterinnen und Dichter, die unsere Zeitgenossen sind. Aber zumeist lesen wir eben doch Gedichte von Menschen, die vor langer Zeit gelebt haben.

Wie auch immer.

Entscheidend ist eigentlich, dass Sie Ihre Phantasie beim Lesen spielen lassen. Sie füllen die Worte mit Leben. Ihre Erfahrungen bringen sich in das Gedicht ein.

Dadurch erhalten Sie die Möglichkeit, Eindrücke aus der Vergangenheit nachvollziehen zu können. Und zwar ein Gefühl für die oder eine Sicht auf die Welt, in der das Gedicht entstand. Und in dieser Weltsicht verbirgt sich auch etwas, das in der Vergangenheit – damals also – den Schreibprozess in Gang gesetzt hat. Denn jeder Mensch schreibt literarische Texte, um etwas auszudrücken.

Dabei ist es egal, ob es sich um eine Auftragsarbeit oder um das Dichten als freie Kunst handelt – in beiden Fällen soll etwas ausgedrückt werden. Und dieses Etwas schreibt sich immer auch in den Text hinein.

Das heißt nun aber nicht, dass Sie sich auf die Suche danach begeben sollen.

Niemand kann die sogenannte Intention des Autors bis ins letzte Detail nachvollziehen. Wir fragen also nicht danach, was uns der Autor oder die Autorin mit dem Text sagen wollte.

Trotzdem hilft es uns zu wissen, dass ein Text nicht einfach vom Himmel fällt.

Er wird vom Dichter ‚produziert‘.

Das meint, dass seine Struktur zumeist bewusst und reflektiert zusammengesetzt wurde. Nur so kann diesem oben beschriebenen Etwas – dem Initial des Schreibprozesses – ein Ausdruck verliehen werden, der wiederum in einer bestimmten Art und Weise gewählt und aufgeschrieben wurde.

Wenn uns das bewusst wird, dann können wir auch erkennen, dass es Möglichkeiten geben muss, mit unseren eigenen Erfahrungen an dieses Etwas anzuschließen.

Eine dieser Möglichkeiten möchte ich Ihnen hier vorstellen.

Es soll uns darum gehen, einen ersten Zugang zum Gedicht zu finden. Dazu wird es nötig sein, dass Sie sich und Ihre Phantasie beim Lesen beobachten. … Und Sie werden sich Notizen machen müssen – zum Text, zu Ihren Gefühlen, zu Bildern und Klängen.

Wir wagen also gemeinsam das Abenteuer der Interpretation!

Aber nicht so, wie Sie es in der Schule gelernt haben.

Wir gehen ein wenig anders vor.

Obwohl auch wir das Gedicht analysieren werden.

Nur nehmen wir dabei nicht jedes Detail auf, sondern ausschließlich solche, die Ihnen beim Lesen persönlich bedeutsam erscheinen, die Ihre Phantasie wecken. Deshalb werden wir am Ende auch eine andere Art von Interpretation erarbeitet haben, als sie in der Schule oder an der Universität entsteht. Denn wir werden uns auf einen vorhergehenden Schritt konzentrieren – wir entwickeln eine subjektive Textwahrheit, wie ich es nenne.

Wenn Sie Lust haben, sich an der altbekannten schulischen Methode zu orientieren und einen verstärkt analytischen Zugang suchen, empfehle ich Ihnen das „Arbeitsbuch Lyrik“ von Kristin Felsner u.a. oder den unter Wissenschaftlern viel zitierten Dieter Burdorf mit seiner „Einführung in die Gedichtanalyse“.

Die subjektive Textwahrheit (sTW) ist zunächst einmal das Ergebnis einer intensiven Beschäftigung mit dem Text. Sie entsteht Stück für Stück, während wir das Gedicht lesen und darüber nachdenken.

Der Einstieg in die Entwicklung der sTW ist also zum einen das Lesen und zum anderen das Notieren von Fragen, von Besonderheiten oder unverständlichen Stellen sowie von ersten Ideen, worum es in dem Gedicht gehen könnte. Denn diese ersten Notizen werden uns helfen, einen Zugang zum Text zu finden – und sei es über unser Nichtverstehen desselbigen.

Ich hatte doch erwähnt, dass Sie Stift und Papier benötigen würden, nicht wahr?

Aber zurück zur subjektiven Textwahrheit.

Sie besteht aus Beobachtungen der Textoberfläche (der Struktur also) und aus Beobachtungen des Inhalts. Beide sind wichtige Auslöser für die Bilder, die in uns entstehen, wenn wir das Gedicht lesen und wenn wir versuchen, uns das Beschriebene vorzustellen.

Mit anderen Worten fällt auch die sTW genau wie die Form des Gedichts nicht einfach so vom Himmel. Vielmehr beruht sie auf der Gedichtform – und zwar auf der inhaltlichen wie auf der strukturellen. Beide fallen folglich in dem Begriffsteil Text von subjektiver Textwahrheit zusammen.

Doch es gibt noch mehr, das Einfluss darauf nimmt, wie wir ein Gedicht verstehen und was wir in einem Text lesen oder sehen.

Zum Beispiel spielen unsere ganz persönlichen Erfahrungen ebenso eine Rolle wie unser Vorwissen.

Das, was Sie erlebt haben, unterscheidet sich stark von dem, was ich erlebt habe.

Das, was Sie gerade beschäftigt, unterscheidet sich von dem, was mich gerade beschäftigt.

Das, was Sie über die Analyse und Interpretation von Gedichten wissen, unterscheidet sich von dem, was ich darüber weiß.

Das, was Sie … na Sie können sich sicher denken, wie es weitergeht.

Was ich damit klar machen möchte, ist, dass wir einen Text immer aus unserem Wissen und aus unseren Erfahrungen heraus untersuchen und verstehen. Deshalb kann jede Annäherung und jedes Verstehen eines Gedichts nur subjektiver Natur sein. Daher auch der Begriffsteil subjektiv in subjektive Textwahrheit.

Wie bitte?

Sie wollen wissen, ob ich das ernst meine?

Ja, natürlich meine ich das ernst.

Jede Interpretation, jedes Textverstehen ist subjektiv.

Warum dann immer nur die Meinung ihres Deutschlehrers zählte?

Keine Ahnung.

Fragen Sie ihn!

Ich will Ihnen lieber zeigen, dass Sie Ihren subjektiven Blick auf den Text auch beweisen können … oder vielmehr – nachweisen können. Denn das macht das Ergebnis einer guten Textuntersuchung aus, dass es intersubjektiv (zwischen Subjekten) nachweisbar ist.

Klingt kompliziert?

Ist es aber gar nicht.

Das bedeutet nämlich nur, dass Sie anderen Menschen nachvollziehbar erklären können, wie Sie zu dieser oder jener Beobachtung kamen und warum Sie diesen oder jenen Schluss gezogen haben.

Und das können Sie, wenn …

… Sie Ihre eigenen Fragen an den Text beantworten können,

… Ihnen selbst klar ist, worum es im Gedicht geht,

… Sie Ihre subjektive Sicht auf den Text mit dessen Hilfe belegen können.

Denn dann wird Ihr Verständnis zu einer Art von Wahrheit.

Und zwar zu einer subjektiven Wahrheit.

Trotz dieser Einschränkung ist aber das, was Sie da erarbeitet haben, für Sie selbst erst einmal richtig und wahr – denn Sie haben sich das ja nicht einfach so ausgedacht, sondern Sie haben es durchdacht.

Aus dieser inneren Überzeugung heraus und aus der Fähigkeit, diese Überzeugung mit der Textoberfläche zu belegen, entsteht dieser letzte Begriffsteil, der damit die subjektive Textwahrheit komplett macht.

Eigentlich gar nicht so schwer, oder?

Und wissen Sie, was daran so toll ist?

Na?

Ganz einfach – Ihre Sicht auf das Gedicht wird nicht nur ernst genommen. Nein, Ihre Sicht bildet überhaupt erst die Grundlage, auf der sich die subjektive Textwahrheit entwickeln kann. Und mit Hilfe verschiedener Verfahren werden wir gemeinsam diese Sicht schärfen, konkretisieren und intersubjektiv nachvollziehbar machen.

Das heißt nun aber nicht, dass die anderen um Sie herum Ihre Beobachtungen auch teilen müssen.

Ganz im Gegenteil gibt es durch die Subjektivität der Lese- und Denkprozesse sehr viele Möglichkeiten, wie ein Gedicht verstanden werden kann. Schließlich entwickelt jeder Mensch seine eigene subjektive Textwahrheit.

Nun fragen Sie sich vielleicht zwei Dinge:

Wenn jeder Mensch ein Gedicht subjektiv und aus seinem Wissen und den Erfahrungen heraus liest – kann man dann nicht alles in ein Gedicht ‚hineinlesen‘?

Wie ist es überhaupt möglich, dass so viele subjektive Textwahrheiten in einem Text stecken können – wo kommen die her?

Das sind zwei sehr wichtige Fragen, die Sie da stellen.

Lassen Sie mich zunächst Frage Nummer eins beantworten, denn das geht etwas schneller.

Die Antwort auf diese Frage lautet – nein.

Nein, es nicht möglich, alles in ein Gedicht hineinzulesen und das hat drei Gründe.

Erstens: Jedes Gedicht besteht aus einem bestimmten Wortmaterial und einem damit verbundenen Inhalt. Hinzu kommt, dass diese Wörter bewusst so gesetzt, oder zumindest vom Autor freigegeben wurden, und dass sie damit eine bestimmte Struktur bilden. Durch die Struktur werden die Deutungsmöglichkeiten also schon einmal begrenzt.

Zweitens: Auch wenn Sie mit Ihren subjektiven Erfahrungen und Ihrem Wissen an den Text anknüpfen, müssen Sie doch trotzdem eine Auswahl treffen, denn nicht alle Erfahrungen und nicht jedes Wissen passt zu dem Beschriebenen. Auch hier besteht somit eine Einschränkung der Deutungsmöglichkeiten.

Drittens: Da Ihre subjektive Textwahrheit für andere Menschen nachvollziehbar sein soll, müssen Sie diese noch enger an den Text binden. Sie müssen sie mit der Struktur des Gedichts belegen können, was eine erneute Einschränkung … oder vielmehr eine erhöhte Konzentration auf die Verbindung von Text und Textverständnis erfordert.

Sie sehen hoffentlich, dass durch diese drei Gründe nicht alles in einem Text ‚gesehen‘ werden kann.

Es gibt Grenzen, die uns der Text selbst setzt.

Aber kommen wir zu Ihrer zweiten Frage, wie es – bei all diesen Grenzen – dann überhaupt möglich ist, dass sich so viele, verschiedene subjektive Textwahrheiten im Gedicht finden lassen und wo diese eigentlich herkommen.

Diese Frage(n) zu beantworten, wird etwas schwieriger.

Ich muss Sie dazu bitten, sich mit mir auf ein kleines Gedankenexperiment einzulassen, das etwas mehr Zeit benötigt.

Falls Sie darauf keine Lust haben, springen Sie vor zu Seite →.

Ich habe ja bisher behauptet, dass ein Gedicht verschiedene und vor allem vielfältige subjektive Textwahrheiten entstehen lässt.

Ich habe aber auch verdeutlicht, dass es Grenzen in der Textauslegung gibt, die das Gedicht selbst setzt.

Diesen Ausführungen gemeinsam ist, dass sie alle den Begriff Textwahrheit mit dem Begriffsteil subjektiv verbunden haben – woraus sich die Frage ergibt, ob es auch nicht-subjektive Textwahrheiten geben kann.

Und hier beginnt unser kleines Gedankenexperiment.

Wir haben festgehalten, dass subjektive Textwahrheiten im Leseprozess entstehen und dass ‚subjektiv‘ meint, die eigenen Erfahrungen und das eigene Wissen in den Leseprozess mit einzubringen. Geschieht dies nicht, kann eine Textwahrheit nicht subjektiv sein.

Unsere subjektive Textwahrheit hängt also vom Lesen ab, das wiederum eng mit unserem Wissen und den Erfahrungen verknüpft ist.

Oder anders gesagt: Kein Leseprozess, keine subjektive Textwahrheit.

Soweit, so gut.

Unsere nächste Überlegung muss nun lauten: Wenn der Text nicht gelesen wird, gibt es dann trotzdem eine Textwahrheit oder bleibt dann nur der Text übrig?

Dazu müssen wir uns noch einmal daran erinnern, was wir über die subjektive Textwahrheit gesagt haben – nämlich, dass sie unsere Sicht auf den Text ist, unsere Vorstellung davon, worum es in dem Text geht.

Und diese Vorstellung, so haben wir gesagt, ist immer auch mit dem Etwas verbunden, das der Autor ausdrücken wollte.

Dieses Etwas bleibt im Text enthalten, egal ob das Gedicht gelesen wird oder nicht.

Es ruht im Text.

Und da sich aus diesem Etwas alle subjektiven Textwahrheiten entnehmen lassen, wollen wir es die Ur-Textwahrheit (U-TW) nennen.

Sie ist sozusagen die Mutter aller subjektiven Textwahrheiten des jeweiligen Textes.

Die Ur-Textwahrheit beschreibt im Grunde also die Menge aller möglichen subjektiven Textwahrheiten, die ein Gedicht hervorrufen kann, weil in ihr bereits alle (subjektiven) Textwahrheiten enthalten sind.

Den ‚subjektiven‘ Anteil bringen wir selbst ein, den Anteil ‚Textwahrheit‘ bringt der Text größtenteils mit.

Da die Ur-Textwahrheit sehr eng mit dem Text verbunden ist, hängt ihre ‚Größe‘ oder ‚Breite‘ davon ab, wie komplex die Oberfläche eines Textes ist und wie sehr dessen Inhalt von der Realität abweicht.

Ein Beispiel:

Ein Telefonbuch besitzt eine sehr einfache und klare Textstruktur, sein Inhalt ist im besten Fall nah an der Realität (die Namen und Nummern stimmen also überein und sind nicht ausgedacht).

Folglich ist die U-TW des Telefonbuchs sehr klein und sie wird bei aufmerksamem Lesen wohl auch nur eine sTW generieren können. Das heißt, sowohl Sie als auch ich werden dieses Buch völlig gleich lesen und dieselben Namen denselben Nummern zuordnen.

Anders sieht es nun bei einem Gedicht aus. Hier haben wir oftmals eine sehr komplexe, eine verdichtete Textoberfläche vor uns und der dargestellte Inhalt ist nicht eins zu eins mit der Realität identisch. Deswegen ist die U-TW eines Gedichts wesentlich größer und es können unterschiedliche sTW am Ende unserer Leseprozesse stehen – denn wir müssen beim Lesen viel stärker abwägen, welche Bedeutung wir den Wörtern zuordnen und wie wir diese im Kontext der anderen Wörter verstehen.

Zu kompliziert?

Hm.

Lassen Sie mich die U-TW und die sTW etwas bildlicher beschreiben:

Stellen Sie sich einmal vor, die U-TW wäre zu Beginn des Schreibprozesses ein kleiner Wasserquell, der irgendwo in einem Tal leise sprudelt. Um den Quell herum entsteht eine kleine Pfütze und diese Pfütze enthält alle möglichen sTW. Da die Pfütze sehr klein ist, ist auch die Vielzahl an subjektiven Textwahrheiten eher gering. Sehr wahrscheinlich gibt es sogar nur die sTW des Autors, denn ansonsten bekommt niemand die Idee zum Text zu sehen.

Der Autor hat vielleicht eine klare Vorstellung davon, was er ausdrücken möchte – er muss es jedoch erst noch ausdrücken.

Und das macht er auch. Der Schreibprozess schreitet fort.

Dabei geschieht folgendes: Die Textstruktur wird komplexer. Zum einen, weil immer mehr Wörter hinzukommen oder aber, weil der Autor ‚überflüssige‘ Wörter heraus streicht oder er sich neue Wörter ausdenkt, die keiner kennt, die aber gut ausdrücken, was er sagen will.

Zum anderen aber auch, weil der Autor Inhalte zusammenführt, die wir mit unserem Weltwissen so nicht vereinbaren können.

Der Inhalt ist fiktiv, das heißt, er ist nicht mit der Realität gleichzusetzen.

Und als Folge dieser Entwicklung sprudelt unsere Quelle nun stärker, denn es gibt mehr Stellen im Text, an denen wir während des Lesens eine Entscheidung treffen müssen, um ihn verstehen zu können

Die vormals kleine Quelle füllt jetzt das Tal um sich herum zunehmend mit Wasser aus.

Es entsteht ein kleiner Teich, dann ein kleiner See und dieser wächst schließlich zu einem großen Gebirgssee an.

Bis das Gedicht fertiggeschrieben und an die Leser übergeben wurde, ist die Menge an möglichen sTW demnach enorm gewachsen – so wie eben aus der Quelle ein großer See wurde.

Doch mit dem Ende des Schreibprozesses endet auch das Wachstum der Ur-Textwahrheit.

Sie ruht nun als See zwischen den Blätterbergen des Buches.

Und an dieser Stelle kommen Sie und ich ins Spiel.

Denn wenn wir das Buch zur Hand nehmen und das Gedicht lesen, dann ist das, als würden Sie oder ich die Berge hinab ins Tal zu diesem großen See wandern.

Dabei komme ich möglicherweise am südlichen Ende an.

Sie gelangen zum östlichen Teil.

Das hängt eben davon ab, was Sie oder mich gerade beschäftigt, was Sie oder ich schon über den Text wissen und worauf wir jeweils unsere Aufmerksamkeit beim Lesen lenken.

Je besser wir den Text verstehen, umso näher kommen wir dem Ufer, bis wir uns schließlich hinab beugen und unsere Hand in den See tauchen.

Ziehen wir sie nun heraus und lassen wir das Wasser abperlen, bis nur noch ein Wassertropfen an der Spitze unseres Zeigefingers hängt, dann ist dieser Tropfen unsere jeweilige subjektive Textwahrheit.

Beide haben wir ihn dem Wasser, der Ur-Textwahrheit, das im Tal der Blätterberge ruht, entnommen.

Sowohl Ihr Tropfen als auch meiner ist also mit dem Text verbunden. Trotzdem sind beide Tropfen ganz unterschiedlich und vor allem ist Ihr Tropfen der Ihrige und mein Tropfen ist der meine.

Und jetzt passen Sie auf:

Legen wir nun das Buch für einige Jahre beiseite und kehren erst später wieder an den See zurück, so kann es passieren, dass wir plötzlich an einer ganz anderen Stelle ankommen.

Obwohl wir vielleicht am selben Punkt losgehen, nehmen wir dieses Mal eine andere Biegung.

Das liegt an unseren gewachsenen Lebenserfahrungen oder an unserem erweiterten Wissen über Gedichte.

Beides beeinflusst unseren Weg.

Folglich werden wir nie exakt zu dem Platz zurückfinden, an dem wir unsere letzte sTW entnommen haben.

Selbst wenn wir doch wieder relativ nah an diese selbe Stelle herankommen – es wird eine geringfügig andere sein.

Dementsprechend ist auch unsere sTW nicht völlig identisch mit der vorherigen.

Denn wir werden am Ende niemals denselben Tropfen am Finger hängen haben – unser Verständnis des Gedichts hat sich über die Jahre ebenso verändert, wie auch wir uns verändert haben.

Und nun stellen Sie sich noch vor, dass wir beide an diesem See aufeinandertreffen.

Ich zeige Ihnen den Tropfen an meinem Finger und Sie zeigen mir den Tropfen an Ihrem Finger.

Wir vergleichen beide Tropfen miteinander.

Wir stellen Ähnlichkeiten und Unterschiede fest.

Wir können beide eine genaue Beschreibung der Umgebung und des Sees liefern – aber da wir sie aus unterschiedlichen Perspektiven gesehen haben, kommt uns die jeweils andere Beschreibung bekannt und fremd zugleich vor.

Trotzdem beweisen die Tropfen an unseren Fingern, dass wir beide da waren.

Vielleicht lohnt es sich ja, unsere Erfahrungen zu verbinden, um einen Panoramablick auf das Tal und den See zu bekommen?

Damit endet unser kleines Gedankenexperiment.

……

…..

….

..

.

Und?

Haben Sie verstanden, woher die sTW stammt und was die U-TW ausmacht?

Falls nicht, blättern Sie noch einmal zurück.

Nehmen Sie sich Zeit, um die Erklärungen in Ruhe zu lesen und darüber nachzudenken.

Und wenn Sie ein Gefühl dafür haben, was wir zusammen hier machen wollen, dann lesen Sie weiter.

Im folgenden Kapitel möchte ich Ihnen noch etwas mehr über die Verbindung von sTW und Interpretation erzählen.

Vom Verstehen zur Interpretation

Es ist gar nicht so einfach, das subjektive Verstehen eines Gedichts, in Form der subjektiven Textwahrheit, von der Interpretation eines Gedichts zu trennen. Das liegt daran, dass beide Formen des Verstehens aufeinander aufbauen und miteinander verwoben sind.