MacFarlanes Schuld - Mara Laue - E-Book

MacFarlanes Schuld E-Book

Mara Laue

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Beschreibung

Elliot MacFarlane soll seinen Vater getötet haben und Jahre zuvor schon seine Stiefmutter, doch Beweise gibt es nicht. Als auch sein Bruder Ryan ermordet wird, kommt nur eine Person für die Tat infrage. Aber wieder fehlt jeder Beweis. Chief Inspector Bill Wallace will nicht glauben, dass Elliot MacFarlane dreimal der perfekte Mord gelungen ist und setzt alles daran, den Täter zu überführen. Doch dann macht MacFarlanes Schwester Kyleen eine folgenschwere Entdeckung, und die bringt sie in höchste Gefahr. Ein nicht alltäglicher Krimi mit überraschenden Wendungen, spannend bis zum Schluss.

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Seitenzahl: 321

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Anmerkung der Autorin

1.

Dienstag, 2. April

2.

Mittwoch, 3. April

3.

Montag, 8. April

4.

Dienstag, 9. April

5.

Donnerstag, 11. April

6.

Freitag, 12. April

7.

8.

Dienstag, 17. April

Epilog

Mittwoch, 18. April

Wissenswertes

Das schottisches Clanwesen

Clan MacFarlane

Maßeinheiten

Traditionelles schottisches Frühstück

Mister, Master, Miss und Missis

Vom ersten bis zum 100. Buch

Die Hundert

Danksagung

Über die Autorin

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Anmerkung der Autorin

Alle Handlungen und Personen dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten oder Menschen wären Zufall. Die beschriebenen Örtlichkeiten sind dagegen authentisch. Lediglich konkrete Adressen sowie das Anwesen „Alban Hall“ sind aus rechtlichen Gründen frei erfunden.

1.

Dienstag, 2. April

„Da sitzt der Mörder!“ Orson MacFarlane deutete anklagend und mit hasserfüllter Miene auf seinen älteren Bruder Elliot. „Er hat schon meine Mutter umgebracht! Lassen Sie ihn nicht auch noch mit dem Mord an unserem Vater durchkommen!“

Detective Chief Inspector Bill Wallace blickte Elliot MacFarlane ebenso fragend an wie seine Kollegin Annie Armstrong.

Der seufzte und schüttelte den Kopf. „Der. Tod. Deiner. Mutter. War. Ein. Unfall.“ Er betonte jedes einzelne Wort. „Und mit dem Tod unseres Vaters habe ich auch nichts zu tun.“

„Das werden wir noch herausfinden“, gab sich Bill überzeugt.

Er blickte die Anwesenden der Reihe nach an. Die Kinder des verstorbenen Connor MacFarlane waren vollständig im Wohnzimmer des Familiensitzes Alban Hall versammelt. Und schon die Sitzordnung zeigte Bill, welche Dynamik in der Familie offenbar herrschte. Elliot MacFarlane saß in einem Sessel deutlich abseits der anderen. Lediglich seine Schwester Kyleen hatte in einem Sessel neben ihm Platz genommen. Die beiden waren offenbar Zwillinge, denn sie sahen sich extrem ähnlich, was auch daran lag, dass Kyleen kurze Haare trug und eine fast identische Sitzhaltung wie ihr Bruder eingenommen hatte. Ryan, der ältere Bruder der beiden und Connor MacFarlanes Erstgeborener, saß mit seiner Frau Greer auf einer Couch schräg gegenüber, aber in der Ecke, die am weitesten von Elliot entfernt war. Die jüngeren Halbbrüder der drei Geschwister, Orson und Dougal, saßen in Sesseln Elliot gegenüber und hatten diese so weit es ging nach hinten von ihm weggerückt.

Kyleen zeigte ein besorgtes Gesicht, Ryan hatte finster die Brauen zusammengezogen. Seine Frau blickte zu Boden, schielte aber öfter in einer Weise zu Elliot, in der etwas Intimes lag. Orson starrte Elliot unvermindert hasserfüllt an, Dougal musterte ihn abweisend und vorwurfsvoll. Elliot MacFarlane wirkte dagegen fast gelangweilt und eher genervt.

„Fakt ist“, fuhr Bill fort, „dass Ihr Vater mit Cadmium ermordet wurde. Gemäß dem Ergebnis der Obduktion wurde gezielt sein Frühstück – genauer gesagt der Orangensaft – damit vergiftet.“

Zwar hatte Dr. Peadar Crawford, der Hausarzt der Familie, zunächst eine natürliche Todesursache angenommen, da Connor MacFarlane unter schwerem Asthma gelitten hatte und die Symptome einer Cadmiumvergiftung unter anderem auch Atembeschwerden zur Folge hatten. Aber die begleitende Übelkeit und die Kopfschmerzen, die, laut Aussagen der anderen Familienmitglieder, sofort nach dem Trinken des Saftes eingesetzt hatten, waren ihm verdächtig vorgekommen, weshalb er den Fall der Polizei gemeldet hatte. Eine Autopsie war erfolgt und hatte Tod durch Gift ans Tageslicht gebracht, nach dem bereits ein vielköpfiges Durchsuchungsteam im gesamten Haus und auf dem restlichen Anwesen fahndete. Was Tage dauern würde, denn Alban Hall war mit allen dazugehörigen Gebäuden und dem Fuhrpark der Familie riesengroß.

Dass Connor MacFarlanes Tod kein Selbstmord gewesen war, würde ebenfalls akribisch geprüft werden. Elliot MacFarlane hatte sofort den Familienanwalt über den Todesfall informiert. Schon am nächsten Tag war das Testament eröffnet worden, und Elliot MacFarlane erbte, bis auf ein paar Geldzuwendungen für seine Geschwister, alles.

Bill blickte den Mann an. „Der unnatürliche Tod Ihres Vaters ereignete sich nur wenige Wochen, nachdem Sie von Ihrer mehrjährigen Abwesenheit zurückgekommen sind. Das ist doch ein reichlich – wie soll ich sagen? – ungewöhnlicher Zufall.“

„Und dann konntest du es nicht abwarten, dass Dads Testament eröffnet wurde, von dem außer dir niemand etwas wusste!“, ergänzte Ryan MacFarlane.

Elliot schnaubte nur und blickte aus dem Fenster, als ginge ihn das Ganze nichts an. Der Tod seines Vaters schien ihn nicht allzu sehr, wenn überhaupt, zu erschüttern. Seine jetzt mürrische Miene signalisierte, man solle ihn in Ruhe lassen. Ohnehin erweckte der Mann den Eindruck, als wäre mit ihm nicht gut Kirschen essen. Sein sandbraunes, leicht lockiges Haar wirkte ungebändigt und fiel ihm in einer Weise in die wettergegerbte Stirn, die ihm etwas Piratenhaftes verlieh. Seine hellblauen Augen wirkten stechend und sein drahtiger, muskulöser Körper, der allem Anschein nach von körperlicher Arbeit gestählt und nicht im Fitnessstudio künstlich aufgepumpt worden war, riet jedem, sich besser nicht mit ihm anzulegen.

„Möchten Sie nicht darauf antworten, Mr MacFarlane?“, forderte Bill ihn auf.

Der Mann schnaubte erneut. „Warum sollte ich? Außer Ihnen den Hinweis zu geben, der eigentlich überflüssig sein sollte, dass Zufälle passieren und kein Beweis für was auch immer sind. Und von dem Testament wusste ich absolut nichts. Unser Vater hatte mir nur aufgetragen, im Fall seines Todes noch am selben Tag unseren Anwalt über sein Ableben zu informieren. Ich habe nur seine Anweisung befolgt.“

„Du lügst!“ Orson MacFarlane sprang auf. „Du hast ihn umgebracht!“ Er rannte mit erhobener Faust auf Elliot zu.

Der sprang ebenfalls auf und schlug seinem Bruder die Faust ins Gesicht. Orson ging aufschreiend zu Boden. Blut schoss aus seiner Nase, deren Schiefstand zeigte, dass sie gebrochen war.

Bill fuhr hoch und stellte sich zwischen die beiden. „Lassen Sie das!“, befahl er in dem eisigsten Tonfall, den er zustande brachte.

„Bestimmt nicht!“, stellte Elliot MacFarlane unbeeindruckt klar. „Ich lasse mich von keinem Scheißkerl kampflos schlagen. Schon gar nicht von dem da!“ Er deutete mit dem Kinn auf seinen Bruder und funkelte ihn an. „Und ich lasse mich von dir auch nicht ständig als Mörder beschimpfen.“

„Du brutales Arschloch!“, fluchte Dougal MacFarlane. Er kniete sich neben seinen Bruder, legte ihm die Hand auf die Schulter und griff mit der anderen zum Smartphone in seiner Hemdtasche, wohl um eine Ambulanz zu rufen.

Orson rappelte sich auf. „Lass das! Ich kann selbst zum Arzt fahren.“

„Nein, können Sie nicht“, stellte Bill klar. „In Ihrem Zustand sind Sie nicht verkehrstauglich. Und da wir mit der Durchsuchung noch nicht fertig sind, muss ich darauf bestehen, dass Sie hierbleiben, bis wir zumindest Ihre Wohnräume freigegeben haben, damit niemand von Ihnen das Gift aus dem Haus schmuggeln kann. Aber wenn Sie beide einer Leibesvisitation zustimmen, kann Ihr Bruder Sie gern ins Krankenhaus fahren.“

„Ich rufe die Ambulanz“, entschied Dougal und half seinem Bruder in einen Sessel.

Annie blickte Elliot MacFarlane an. „Am besten begleiten Sie uns nachher aufs Revier. Dort können wir uns in Ruhe unterhalten.“

„Nein“, widersprach er. „Es sei denn, Sie nehmen mich fest. In diesem Fall werde ich unverzüglich meine Anwältin anrufen. Ansonsten rede ich hier mit Ihnen und sonst nirgends.“

Der Mann wurde Bill mit jeder Minute unsympathischer. „Gut, dann reden wir hier. Aber hier gibt es doch bestimmt einen Ort, an dem wir ungestört sind.“

Elliot MacFarlane nickte. „Die Bibliothek.“ Er ging zu einer der vier Türen des Raums und überließ es Bill und Annie, daraus die Aufforderung zu entnehmen, ihn zu begleiten.

Sie warfen einander einen kurzen Blick zu und folgten ihm. Eine Polizistin blieb mit den anderen MacFarlanes im Wohnzimmer und achtete darauf, dass niemand den Raum verließ.

Wie viele andere alte Herrenhäuser besaß auch Alban Hall eine Sammlung antiquarischer Bücher, die wohl schon seit Jahrhunderten im Besitz der Familie waren. Und wie die meisten Bibliotheken in solchen Häusern waren auch hier alle Wände mit Bücherschränken vollgestellt und mit Bücherregalen „tapeziert“, die vom Boden bis zur Decke reichten. Auch über den Türen hingen Regale, die alle sehr gut bestückt waren. Die alten und sicherlich wertvollen Bücher befanden sich in den Schränken und waren durch deren Glastüren vor Staub geschützt.

Elliot MacFarlane setzte sich in einen von vier im Kreis stehenden Lesesesseln mit Beistelltischen und überließ es Annie und Bill, sich ebenfalls zu setzen. Er blickte sie reserviert an. Seine Haltung vermittelte Bill den Eindruck, einem Granitblock gegenüberzusitzen, wozu sicherlich auch dessen kantiges Gesicht beitrug. Die beiden setzten sich ihm gegenüber.

„Mr MacFarlane, Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie bisher als Einziger ein starkes Motiv für den Mord an Ihrem Vater haben“, nahm Bill einen neuen Anlauf, ihn zu befragen.

„Habe ich das.“ Gesprochen in einem Tonfall tiefster Verachtung. „Welches sollte das sein?“

„Nun“, übernahm Annie die Antwort, „Sie sind der Alleinerbe. Ihnen gehört jetzt das gesamte Anwesen und auch das Spirituosengeschäft in der Innenstadt, das, laut Aussagen Ihrer Geschwister, wohl eine Goldgrube ist.“

„Das gehört mir schon seit meiner Rückkehr. Mein Vater hat es mir sozusagen als Willkommensgeschenk überschrieben. Hätten Sie Ihre Hausaufgaben gemacht, wüssten Sie das.“

Der spöttische Blick, mit dem er Annie bedachte, missfiel Bill gewaltig, und er bewunderte Annie, dass sie darauf nur mit einem herablassenden Lächeln reagierte.

„Ja, das wissen wir“, stellte Bill klar, obwohl das nicht stimmte. Bisher hatten sie nur ermittelt, dass Elliot MacFarlane alles erbte – ein Vermögen von mehreren Millionen Pfund an Grundbesitz und ein nicht unbescheidenes Geldpolster.

Natürlich war es nicht ungewöhnlich, Haus und Grund nur einem Kind zu vermachen, besonders wenn eine Familie fünf Kinder hatte, was eine Teilung des Besitzes ohne Wertverlust nahezu unmöglich machte. Aber normalerweise erbte das älteste Kind. Elliot MacFarlane war jedoch der Zweitgeborene.

„Sie wussten im Vorfeld von dem Testament zu Ihren Gunsten“, klopfte Bill auf den Busch.

„Nein. Jedenfalls nicht bis zu dessen Eröffnung. Haben Sie mir vorhin nicht zugehört?“

Gelogen, da war Bill sich sicher.

„Warum hat Ihr Vater Ihnen alles vermacht und nicht Ihrem älteren Bruder?“, wollte Annie wissen. „Besonders, da Sie zehn Jahre abwesend waren.“

„Müssen Sie ihn fragen, nicht mich. – Ach, sorry, das geht ja nicht mehr.“

Der Kerl war kein Granitblock, sondern ein Eiszapfen, dem der Tod des eigenen Vaters am Arsch vorbeiging. Was Bills Verdacht erhärtete, dass er der Mörder war.

„Wir fragen aber Sie, Mr MacFarlane“, betonte er. „Was war denn der Grund für Ihre lange Abwesenheit?“

„Geht Sie nichts an.“ MacFarlane verschränkte die Arme vor der Brust, wodurch sich deren Muskeln vorwölbten.

Bill sah das mit einem Anflug von Neid. Obwohl er regelmäßig trainierte, konnten seine Muskeln sich nicht mit MacFarlanes messen. „Wir ermitteln in einem Mord.“ Bill ließ seine Stimme wieder eisig klingen. „Da geht uns alles etwas an. Also?“

MacFarlane sah ihm in die Augen. „Der Unfalltod meiner Stiefmutter. Wie Sie ja vorhin mitbekommen haben, sind deren Söhne überzeugt, dass ich sie umgebracht habe.“

„Haben Sie?“, hakte Annie nach.

„Natürlich nicht. Sonst säße ich im Gefängnis und nicht hier.“

Bill und Annie warteten darauf, dass er fortfahren würde, aber der Mann hatte offenbar nicht die Absicht.

„Wir wären Ihnen wirklich dankbar, wenn wir Ihnen nicht jedes Wort aus der Nase ziehen müssten“, betonte Bill. „Schließlich müsste es doch auch in Ihrem Interesse sein, dass der Mord an Ihrem Vater aufgeklärt wird. Besonders wenn Sie unschuldig sind.“ Auffordernd sah er den Mann an.

Der zuckte mit den Schultern. „Maeve – meine Stiefmutter – und ich haben uns gestritten.“

„Worüber?“, wollte Bill wissen.

MacFarlane verdrehte genervt die Augen. „Sie hatte wieder mal die herrische Stiefmutter rausgekehrt. Wollte mir Vorschriften machen, zu denen sie kein Recht hatte. Ich war schließlich längst erwachsen. Wir haben uns angebrüllt. Ich machte einen Schritt auf sie zu, sie wich zurück, ist gestolpert und über die Brüstung des Turms gestürzt. Mein Vater war Zeuge und hat den Hergang auch der Polizei gegenüber bestätigt. Können Sie alles nachprüfen.“

„Werden wir“, versicherte Bill. „Aber warum sind Sie dann quasi ins Exil gegangen?“

MacFarlane blickte ihn abweisend an, entschied sich dann aber doch zu antworten. „Doug und Orson waren damals erst zehn und zwölf Jahre alt. Unser Vater hielt es für besser, wenn sie mich eine Weile nicht sehen, bis sie den Tod ihrer Mutter verwunden haben. Also habe ich mir eine gut bezahlte Arbeit auf einer Bohrinsel gesucht.“

„Für zehn Jahre?“, vergewisserte sich Annie.

MacFarlane nickte. „Diese Arbeit ist ein verdammter Knochenjob. Die Firma zahlt deshalb jedem einen Bonus von hunderttausend Pfund, der sich von vornherein für zehn Jahre verpflichtet und die auch bis zum Ende durchhält.“ Er zuckte mit den Schultern. „Schaffen die Wenigsten. Aber ich habe es geschafft.“ Er starrte erst Annie, dann Bill kalt in die Augen. „Wie Sie sehen, bin ich ein reicher Mann und hatte keinen Grund, meinen Vater für noch mehr Reichtum umzubringen. Besonders nicht, weil ich bis zur Testamentseröffnung, wie wir alle, davon ausgegangen bin, dass Alban Hall an Ryan fällt. Mir hatte er ja schon das Geschäft überschrieben, und das wirft sehr viel Gewinn ab.“

„Und die Überschreibung hat er – einfach so – aus heiterem Himmel getätigt?“, hakte Bill nach.

Wieder zuckte MacFarlane mit den Schultern. „Klar. Sicherlich ist Ihnen die Geschichte vom verlorenen Sohn aus der Bibel bekannt.“

Die kannte Bill natürlich. Die biblische Geschichte traf allerdings nicht direkt auf MacFarlane zu. Der biblische verlorene Sohn hatte sich sein Erbe ausbezahlen lassen, es verprasst und war am Ende verarmt und reumütig zu seinem Vater zurückgekrochen. Der hatte ihn mit einem Fest empfangen, denn er hatte den Sohn, nicht nur moralisch, für immer verloren geglaubt. Vermutlich hatte Connor MacFarlane seinem Sohn Elliot mit der Schenkung des Geschäfts signalisieren wollen, dass er ihm keine Schuld am Unfalltod seiner Frau gab und ihm den verziehen hatte.

„Mr MacFarlane, Ihr Vater wurde mit Cadmium vergiftet“, wiederholte Bill. „Wir haben natürlich unsere ‚Hausaufgaben’ gemacht und wissen daher, dass Cadmium auch auf Bohrinseln verwendet wird, zum Beispiel für Reinigungsmittel und Schmierstoffe, die auf manchen Bohrinseln selbst hergestellt werden.“

MacFarlane nickte. „Und in etlichen Industriezweigen wie Leuchtmittelverarbeitung, Zahnfüllungen, Schmuckherstellung, Auto- und Flugzeugindustrie, Lacke, Farben, Fototechnik, Insektengifte benutzt man es auch. Und das sind nur die mir bekannten Dinge. Sicherlich gibt es noch weitere Verwendungsbereiche. Doug ist Maler und besitzt garantiert zig Farben, die Cadmium enthalten. Eigentlich sollte er aufgrund dessen Ihr Hauptverdächtiger sein.“ Er blickte Bill spöttisch an. „Oder halten Sie mich ernsthaft für so dumm, dass ich, wenn ich jemanden vergiften wollte, einen Stoff nehme, zu dem ich bei meiner früheren Arbeit Zugang gehabt habe und Ihnen dadurch quasi ins Gesicht brülle, dass ich das war?“

Das wäre in der Tat nicht sehr intelligent. Aber Bill hatte schon erheblich dümmere Handlungen von Mördern erlebt, die sich ihrer selbst und ihres Mordplans so sicher gewesen waren, dass sie an solche Details nicht gedacht hatten. Aber eine Anfrage auf der Bohrinsel, ob dort Cadmium fehlte, stand schon auf seiner geistigen To-do-Liste.

„Ihr Bruder hat aber kein Motiv für den Mord“, stellte Annie fest.

MacFarlane schnaubte. „Ich nenne Ihnen zweihundertfünfzigtausend Gründe! Falls Sie es noch nicht wissen: Alle meine Geschwister haben diese Summe als Erbe erhalten. Sozusagen als Ausgleich dafür, dass nur einer von uns Alban Hall erben konnte.“

„Und das war schon vor der Testamentseröffnung bekannt?“, wollte Annie wissen.

MacFarlane nickte. „Das hat unser Vater uns allen schon sehr früh zugesichert.“

„Wie ‚früh’?“, wollte Bill wissen.

MacFarlane zuckte mit den Schultern. „Er hat es zwischendurch immer mal wieder erwähnt. Auch als wir noch Kinder waren, hat er uns klar gemacht, dass nur einer Alban Hall erben kann. Zwar hat er damals noch keine konkrete Summe genannt, aber immer wieder versichert, dass der Rest von uns ausreichend versorgt sein würde, sofern wir nicht verschwenderisch mit dem Geld umgehen.“ Er nickte. „Und unlängst hat er tatsächlich mal die Summe genannt.“

„Gab es dafür einen besonderen Anlass?“, erkundigte sich Annie.

MacFarlane verzog das Gesicht. „Orson hatte sich lautstark darüber beschwert, dass unser Vater es ‚gewagt’ hatte, mir, dem ‚Mörder’ seiner Frau und Orsons Mutter, den Whiskyshop aus heiterem Himmel zu überschreiben. Unser Vater wies ihn zurecht, dass er nicht neidisch sein sollte, denn er und die anderen wären mit einem Erbe von besagten zweihundertfünfzigtausend Pfund bestens versorgt.“

Und man musste schon wirklich auf ziemlich großem Fuß leben, um damit nicht sehr gut auszukommen, besonders wenn man es gut anlegte, weiterhin einem Beruf nachging und sich nicht auf die faule Haut legte. Falls MacFarlane die Wahrheit sagte, mussten sie die Finanzen der Familie überprüfen, ob vielleicht tatsächlich jemand von den anderen Geschwistern dringend Geld brauchte und das Erbe von einer Viertelmillion Pfund als Mordmotiv ausreichte.

„Wann genau sind Sie von der Bohrinsel zurückgekehrt?“, wollte Bill wissen.

„Am zwanzigsten Januar.“

„Und den Whiskyshop haben Sie wann übernommen?“

„Am fünften Februar. Zumindest habe ich an dem Tag angefangen, dort zu arbeiten. Die notarielle Eigentumsübertragung hat noch ein paar Tage länger gedauert.“

„Würden Sie uns Ihren Laptop geben?“, bat Bill aus reiner Höflichkeit, denn sein Durchsuchungsbeschluss deckte auch die Überprüfung des Browserverlaufs aller im Haus befindlichen Computer ab.

„Nein“, lehnte MacFarlane ab.

Etwas anderes hätte Bill auch gewundert. „Dann eben ohne Ihre Erlaubnis aufgrund unseres richterlichen Beschlusses. Und Ihnen ist hoffentlich klar, dass Experten auch gelöschte Dateien wiederherstellen können.“

MacFarlane schnaubte. „Ich bin ja nicht blöd. Aber glauben Sie ernsthaft, dass ich, wenn ich tatsächlich meinen Vater ermordet hätte, davon irgendwelche Spuren auf meinem eigenen Laptop hinterlassen hätte? Mag ja sein, dass Sie es sonst mit Idioten zu tun haben, die dümmer sind als die Polizei erlaubt. Aber ich gehöre ganz sicher nicht dazu.“

Hatte er gerade indirekt den Mord zugegeben? Bill sah aus den Augenwinkeln, dass Annie ihn bedeutsam anblickte. Ihr ging offenbar der gleiche Gedanke durch den Kopf.

„Was spricht dann dagegen, dass Sie uns Ihr Gerät aushändigen, wenn Sie nichts zu verbergen haben?“

MacFarlane grinste. „Meine Prinzipien.“

Bill juckte es in den Fingern, dem Kerl die Faust ins Gesicht zu schlagen, doch er beherrschte sich selbstverständlich. „Fest steht, dass Ihr Vater mit dem Orangensaft vergiftet wurde, den er zum Frühstück getrunken hat. Da niemand vom Rest der Familie vergiftet wurde, kann das Gift nur direkt in das Glas Ihres Vaters gegeben worden sein. Unbemerkt von allen anderen. Wer hatte Zugang zu seinem Glas?“

„Wir alle, einschließlich Mrs Fraser, unserer Köchin und Haushälterin. Sie stellt uns morgens die Gläser hin und gießt sie voll.“

„Hätte sie ein Motiv, Ihren Vater zu ermorden?“

„Nicht dass ich wüsste. Sie arbeitet schon lange für uns, und wir hatten nie Probleme mit ihr. Oder sie mit uns.“ MacFarlane sah erst ihn, dann Annie an und wieder Bill. „War es das endlich mit Ihren Fragen?“

„Die wir Ihnen stellen wollten – ja“, bestätigte Bill und stand auf. „Vorerst. Vielleicht bleiben Sie besser hier, während wir Ihre Geschwister befragen.“

„So weit kommt’s noch“, knurrte MacFarlane, sprang auf, marschierte an ihm vorbei zur Tür und verließ die Bibliothek.

Wieder überließ er es Bill und Annie, ihm zu folgen.

„Sollten wir vielleicht als Nächstes die Haushälterin befragen?“, schlug Annie vor.

Bill nickte. Das Personal, ob in einer Firma oder einem Privathaus, wurde meistens von den Arbeitgebenden wenig bis gar nicht beachtet, solange sich keine negativen Vorkommnisse ereigneten. Aber diese Leute hatten gerade aufgrund ihrer „Unsichtbarkeit“ oft Einblick in intime Dinge.

Sie fanden Maura Fraser in der Küche bei der Zubereitung des Mittagessens, bewacht von einem Constable, der sich große Mühe gab, nicht wie ein Wachhund zu wirken. Er saß auf einem Stuhl in der Ecke, hatte einen Tee vor sich und las die Edinburgh Gazette. Den Zutaten nach, die Bill auf der Arbeitsplatte sah, gab es Cock-a-Leekie, eine Hühnersuppe mit Lauch – sein Leibgericht. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

Jedoch nur kurz, als er Maura Frasers ängstlichen Blick sah. Ihre Hände zitterten und sie wirkte, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Bill lächelte und hoffte, dass das beruhigend auf sie wirkte.

Er deutete auf die Zutaten. „Ich bin versucht, mich bei Ihnen zum Essen einzuladen. Sie kochen mein Leibgericht. Wie bereiten Sie es zu: Traditionell mit Backpflaumen oder nehmen Sie die Variante mit Rosinen?“

„Pf-Pflaumen, Sir. Die Familie mag das Essen traditionell. Generell.“

„Ich auch.“ Bill lächelte. „Wir dürfen uns setzen?“

„S-selbstverständlich, Sir.“ Mrs Fraser deutete zu den Stühlen auf der anderen Seite der Arbeitsplatte. „Ich – darf doch weiterarbeiten? Sonst ist das Essen nicht rechtzeitig fertig. Sie wissen sicherlich, dass Cock-a-Leekie gute zwei Stunden kochen muss.“

„Natürlich.“ Bill nickte. „Unsere Fragen können Sie auch beim Gemüseschneiden beantworten.“

Mrs Fraser schluckte. Ihre Hände zitterten noch stärker. „Ich habe mit Mr MacFarlanes Tod nichts zu tun!“, platzte sie heraus. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Wirklich nicht!“

Bill hob beschwichtigend die Hände und setzte sich. „Niemand beschuldigt Sie, Mrs Fraser. Schließlich haben Sie doch gar kein Motiv. Oder?“

„Nein, Sir. Nein! Mr MacFarlane war immer gut zu mir und hat mich immer sehr gut bezahlt.“

„Dann haben Sie auch nichts zu befürchten“, versicherte Bill und lächelte wieder. „Wir müssen nur rekonstruieren, wie das Gift in Mr MacFarlanes Orangensaft gekommen ist. Bitte schildern Sie uns, wie das Frühstück jeden Morgen abläuft, einschließlich des Eindeckens des Tisches und alles, was Sie dabei tun.“

Mrs Fraser atmete tief durch. „Mr MacFarlane – senior – hat immer sehr großen Wert darauf gelegt, dass die gesamte Familie zumindest das Frühstück gemeinsam einnimmt. Und an den Wochenenden und an Feiertagen auch die restlichen Mahlzeiten. Weil alle berufstätig sind, sind sie unter der Woche zum Mittagessen selten zu Hause und oft auch nicht zum Abendessen. – Heute sind sie nur alle hier wegen – Ihnen.“ Sie räusperte sich. „Das Frühstück findet immer um sechs Uhr statt. Auch das mag Mr Connor MacFarlane traditionell. Porridge, Würstchen, Eier mit Schinken, gebackene Bohnen, Haggis, Kartoffelscones, gegrillte Tomaten, gebratene Pilze, Lorne Sausage, Blutpudding, Toast und Orangenmarmelade und neben dem Tee auch Orangensaft.“

„Wow!“, meinte Annie. „Das muss ja eine Riesenarbeit sein, das alles für – wie viel: sieben Personen? – zuzubereiten!“

Mrs Fraser nickte. „Die Scones kann ich auf Vorrat backen und wärme sie am nächsten Morgen nur noch auf, den Haggis und den Blutpudding ebenfalls, aber alles andere muss ich frisch kochen und braten.“ Sie seufzte leicht. „Das heißt, ich beginne um halb fünf mit der Arbeit.“

„Für mich wäre das Folter“, meinte Annie.

Mrs Fraser zuckte mit den Schultern. „Ich bin das gewohnt. – Also, während die Dinge, die keine permanente Beaufsichtigung brauchen, kochen und braten, decke ich den Tisch im Esszimmer. Das dauert ungefähr eine Viertelstunde.“

„Und während dieser Zeit sind alle Nahrungsmittel in der Küche unbeaufsichtigt?“, vergewisserte sich Bill.

Mrs Fraser nickte. „Niemand steht so früh auf, und für eine – Beaufsichtigung bestand bisher niemals ein Grund.“ Sie schnitt weiter den Lauch und blickte eine Weile nur darauf.

Bill sah trotzdem, dass sich ihre Augen wieder mit Tränen füllten. „Was ist mit dem Orangensaft?“, wollte er wissen. „Da ausschließlich Mr Connor MacFarlanes Saft vergiftet wurde, muss das gezielt geschehen sein.“

Mrs Fraser schluckte. „Ich fülle alle Gläser im Esszimmer einmal komplett auf und stelle später eine frisch gefüllte Zweiliterkaraffe zum Nachschenken auf den Tisch.“

„Das heißt also, dass die gefüllten Gläser – wie lange unbeaufsichtigt im Esszimmer waren?“, überlegte Annie.

„Bis kurz vor sechs Uhr, wenn die ganze Familie zum Frühstück kommt. Ich lege die Gedecke auf, fülle die Gläser und kehre dann in die Küche zurück. Danach komme ich erst wieder ins Esszimmer, wenn ich das Frühstück serviere.“

„Das heißt also, dass jeder der MacFarlanes die Möglichkeit gehabt hätte, das Gift ins Glas zu tun“, resümierte Bill. „Ich nehme an, es gibt eine feste Sitzordnung bei Tisch.“

Maura Fraser nickte. „Mr MacFarlane sitzt am Kopfende. Der Stuhl neben ihm bleibt seit dem Tod seiner Frau leer. An der rechten Tischseite sitzen Mr Ryan, Mr Elliot und Miss Kyleen, an der linken Mr Orson, Mr  Dougal und Mrs Greer. Immer.“

Demnach war Connor MacFarlane ganz gezielt vergiftet worden. Zwar war Maura Fraser noch nicht entlastet, denn nur weil sie kein offensichtliches Motiv hatte, hieß das nicht, dass es tatsächlich keins gab. Aber Bill wollte diese Möglichkeit im Moment nicht weiter verfolgen; nicht ohne mehr Informationen über das Verhältnis zwischen der Köchin und ihrem Arbeitgeber zu haben.

„Wie lange arbeiten Sie schon für die Familie?“, wollte er wissen.

„Fünfzehn Jahre, Sir.“

„Haben Sie die erste Mrs MacFarlane noch kennengelernt?“

„Nein, Sir. Als ich ins Haus kam, war Mr Connor schon mit Mrs Maeve verheiratet. Master Orson war damals“, sie überlegte einen Moment, „sieben Jahre alt und Master Dougal fünf. Die drei Älteren waren neunzehn und sechzehn.“

„Und Sie arbeiten den ganzen Tag hier?“, hakte Annie nach.

Mrs Fraser nickte. „Ich bin zwar nur für die Küche, das Einkaufen und die Vorräte zuständig – die Reinigung erledigt eine Firma, die einmal die Woche kommt –, aber das ist durchaus ein Vollzeitjob. Meine letzte ‚Amtshandlung’ jeden Tag ist das Vorbereiten des Abendessens und das Decken des Tisches dafür. Danach habe ich Feierabend. Weil abends in der Regel nur kalt gegessen wird, kann ich um drei Uhr Schluss machen.“ Sie lächelte. „Die übrigen Hausarbeiten wie Wäschewaschen und so, machen alle MacFarlanes selbst. Auf diese Art von Selbstständigkeit hat Mr Connor immer sehr großen Wert gelegt. Sonst wäre die Arbeit für mich allein gar nicht zu schaffen.“

Blieben immerhin noch zehn Stunden Arbeit für Maura Fraser, auch wenn darin die eine und andere Pause enthalten war. Man hätte Bill und sicherlich auch Annie schon ein verdammt üppiges Gehalt zahlen müssen, damit sie das freiwillig über Jahre mitgemacht hätten. Die ab und zu fallbedingt zu leistenden unbezahlten Überstunden reichten ihm völlig.

„Dann bekommen Sie doch sicherlich das eine und andere mit, was hier im Haus vor sich geht“, klopfte Annie auf den Busch und lächelte gewinnend.

Mrs Fraser schluckte. „Dazu möchte ich mich nicht äußern.“

„Sie müssen keine Angst haben, Ma’am“, versicherte Bill. „Wir verraten niemandem, was Sie uns erzählen.“

„Och“, seufzte sie und blickte Bill besorgt an, „das müssen Sie gar nicht. Wenn Sie der Familie gegenüber gewisse Dinge erwähnen, können die sich an allen Fingern abzählen, wer Ihnen die Informationen gegeben hat.“ Sie atmete tief durch. „Aber sei es drum. Ich werde sowieso nicht in einem Haus bleiben, in dem jemand von der eigenen Familie – ermordet wurde.“

„Das bringt mich zu einem wichtigen Punkt“, griff Bill das Stichwort auf. „An dem Tag, als Mr MacFarlane starb, waren da nur die Familienmitglieder im Haus? Keine Gäste, sonstige Besucher?“

Mrs Fraser schüttelte den Kopf. „Nur die Familie. Und die vollzählig.“

„Wenn ich das richtig verstanden habe“, warf Annie ein, „dann ist nur Ryan MacFarlane verheiratet. Sind die anderen liiert?“

„Nicht dass ich wüsste.“ Mrs Fraser ging zum Herd und schüttete die kleingeschnittenen Lauchstücke in den Kochtopf. „Zumindest hat niemand von ihnen jemals – Besuch ins Haus gebracht. Jedenfalls nicht, seit sie erwachsen sind.“

„Das ist ungewöhnlich“, meinte Annie. „Gab es dafür einen Grund?“

Mrs Fraser presste die Lippen zusammen und schüttete Backpflaumen in ein Sieb. Die Frage war ihr sichtlich unangenehm.

„Wenn Sie den Dienst hier sowieso aufkündigen wollen“, half Bill ihr, „macht es doch nichts, wenn Sie uns diese Frage beantworten.“

Mrs Fraser seufzte wieder und zuckte mit den Schultern. „Ich denke, es hatte mit Mrs Maeve zu tun. Sie hat ihre eigenen Söhne vergöttert und sie in einer Weise an sich gebunden, die ... Nun, ich kenne mich damit nicht gut aus, aber meiner Einschätzung nach war das nicht gesund. Sie wollte der Mittelpunkt in deren Leben sein. Und – nicht nur in deren Leben.“

Bill und Annie sahen einander an.

„Wie müssen wir das verstehen?“, fragte Annie.

Wieder ein besorgter Blick. Maura Fraser versuchte Zeit zu gewinnen, indem sie die Pflaumen abspülte und sie in den Suppentopf schüttete. Nach einem weiteren, diesmal unsicheren, Blick setzte sie sich zu Bill und Annie an den Tisch.

„Sie verlangte ständige Aufmerksamkeit von ihrem Mann. Ich habe öfter mitbekommen, dass sie ihm eine Szene gemacht hat, wenn er anderweitig zu tun hatte oder sich gar mit den Kindern beschäftigt hat. Und die Aufstände, die sie veranstaltet hat, wenn er mit den drei Älteren etwas unternommen hat, zum Beispiel mit ihnen zur Jagd gegangen ist ...“ Sie verdrehte die Augen. „Das war manchmal wirklich heftig. Und ihre Laune, vielmehr ihren Unmut darüber, hat sie nicht nur an Mr Connor ausgelassen, sondern auch an den drei Älteren.“ Sie zögerte. „Besonders nachdem sie einsehen musste, dass die sie wohl – wie soll ich sagen? – nicht gerade mit offenen Armen in ihre Familie aufgenommen haben.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Das hat man ja öfter, dass die Stiefkinder von der neuen Frau des Vaters nicht begeistert sind, und das war wohl auch hier der Fall. Wie gesagt, als ich ins Haus kam, waren die Älteren schon erwachsen und ließen sich natürlich nichts mehr sagen. Jedenfalls nicht von Mrs Maeve.“

Das deckte sich mit Elliot MacFarlanes Behauptung, sie habe bei seinem Streit mit ihm die „herrische Stiefmutter“ herausgekehrt.

„Was hat das mit der, hm, Abwesenheit von Freundinnen oder Freunden der Kinder zu tun?“, hakte Bill nach.

Maura Fraser zuckte mit den Schultern. „Miss Kyleen hat mal einen Freund mitgebracht, und Mrs Maeve startete augenblicklich die Inquisition, aus welchem ‚Haus’ er stammt, was er beruflich macht, welchen Status seine Eltern haben, und sie hat allen Ernstes gefragt, ob er denn glaube, ‚gut genug’ für eine MacFarlane zu sein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Total übergriffig. Natürlich hat sich Miss Kyleen das nicht gefallen lassen und sich heftig mit ihr gestritten. Aber danach hat niemand von den jungen Leuten jemals wieder einen Freund oder eine Freundin mit ins Haus gebracht. Und die drei Älteren sind Mrs Maeve so weit wie möglich aus dem Weg gegangen.“ Wieder seufzte Mrs Fraser. „Aber Mr Connor war vernarrt in seine Frau und nahm diese Dinge nicht so ernst. Glaube ich jedenfalls.“ Ihr Tonfall drückte aus, dass sie mehr darüber wusste.

„Hat er mal von Scheidung gesprochen?“, wollte Annie wissen. „Denn das muss ihn doch irgendwann tierisch genervt haben.“

Mrs Fraser schüttelte den Kopf. „Nicht in meiner Gegenwart. Und später ist sie zumindest mit Mr Ryan besser ausgekommen.“

„Einfach so?“, entfuhr Bill, denn seiner Erfahrung nach verschwanden ursprüngliche Ressentiments nicht aus heiterem Himmel.

Mrs Fraser nickte. „Zumindest habe ich keinen besonderen Anlass bemerkt. Ich denke, er hatte zu dem Zeitpunkt einfach seinen Frieden damit gemacht, dass Mrs Maeve die neue Frau seines Vaters ist und der sie abgöttisch liebte.“

„Aber mit Elliot MacFarlane gab es häufiger Streit?“, fragte Annie. „Das hat er uns zumindest erzählt.“

Mrs Fraser zuckte mit den Schultern. „Nicht von seiner Seite aus. Womit ich sagen will, dass er meines Wissens die Auseinandersetzungen nicht angefangen hat. Zumindest nie in meiner Gegenwart.“ Sie warf Bill und Annie einen unsicheren Blick zu. „Man soll ja über Tote nichts Schlechtes sagen, aber Mrs Maeve hat mit nahezu jedem einen Streit vom Zaun gebrochen. Regelmäßig. Ich hatte das Gefühl, sie war ein Mensch, der die sprichwörtliche Reihe von guten Tagen einfach nicht aushalten kann. Mal ging es einen Tag gut, ab und zu auch zwei, aber spätestens am dritten Tag brach sie mit irgendwem einen Streit vom Zaun. Mit Mr Connor, ihren Kindern und ganz besonders mit Mr Elliot und Miss Kyleen.“

Was durchaus am Tag ihres Todes eskaliert sein und in einem Mord gegipfelt haben konnte. Schließlich war auch der duldsamste und friedfertigste Mensch irgendwann mit seiner Geduld und Friedfertigkeit am Ende.

„Auch mit Ihnen?“, wollte Annie wissen.

Mrs Fraser nickte. „Mehrmals. Und jedes Mal hat sie mir gedroht, dass sie für meine Entlassung sorgt, wenn ich nicht ‚spure’, wie sie sich ausdrückte.“ Sie presste die Hände zusammen und knetete die Finger. „Und jedes Mal ging es um Nichtigkeiten, die jeder Grundlage entbehrten.“ Das klang verärgert. „Mal war ihr der Tee zu kalt, ihr Lieblingswhisky nicht mehr vorrätig, ein Stück Fleisch angeblich angebrannt, ein Gericht zu wenig gewürzt – und dergleichen Dinge mehr.“ Sie seufzte. „Das ging so lange, bis Mr Connor das mal mitbekommen hat. Er hat ihr kräftig den Kopf gewaschen und ihr gedroht, dass er sie aus dem Haus wirft, wenn sie mich nicht in Ruhe lässt. Von da an hat sie mich ignoriert und behandelt, als wäre ich Luft.“

Bill bekam langsam den Eindruck, dass Maeve MacFarlane erhebliche psychische Probleme gehabt haben musste, denn die geschilderten Verhaltensweisen passten nicht zu einem in sich gefestigten Menschen.

„Waren Sie an dem Tag anwesend, als Mrs MacFarlane den Unfall hatte?“

„In der Küche. Ja. Ich habe aber von allem nichts mitbekommen, bis die Ambulanz kam. Und auch danach nichts. Außer dass die Polizei mich befragt hat. Aber ich konnte denen nichts sagen.“

Ihr Tonfall verriet Bill, dass das nicht hundertprozentig stimmte. „Fällt Ihnen vielleicht im Nachhinein noch etwas ein, das damals nicht zur Sprache kam?“ Er lächelte. „Und keine Sorge: Was immer Sie uns sagen, gereicht Ihnen nicht zum Schaden. Mrs MacFarlanes Tod war bewiesenermaßen ein Unfall.“ Auch wenn er das akribisch überprüfen würde, bevor er das als Fakt akzeptierte.

Mrs Fraser zögerte. „Ich – habe laute Stimmen gehört. Aber nichts verstanden!“

„Wo?“, wollte Annie wissen.

Erneutes Zögern. „Das muss ich Ihnen zeigen. Kommen Sie bitte mal.“ Sie ging zu einem breiten Fenster, öffnete es, lehnte sich halb hinaus und deutete nach rechts. „Hier beginnt der Turm, von dem Mrs Maeve gestürzt ist.“

Bill sah die gewölbte Mauer, die sich an der Gebäudeecke, nur etwa fünf Yards entfernt, drei oder vier Stockwerke in die Höhe schraubte. Auf dieser Seite gab es keine Fenster im Turm. Abgesehen von niedrigen Büschen und Sträuchern, die entlang der gesamten Mauer gepflanzt waren, und Efeu, der sich bis zur oberen Brüstung rankte, bestand der Boden vor dem Haus auf dieser Seite aus einem gepflasterten Hof, der als Parkplatz diente. Die Turmzinne befand sich in ungefähr vierzig Yards Höhe. Wer von dort oben stürzte, prallte auf den Pflastersteinen auf. Das zu überleben war nahezu ausgeschlossen.

„Sie haben also nur – die Leiche gesehen?“, vergewisserte sich Bill.

„Himmel, nein!“ Mrs Fraser hob abwehrend die Hände. „Mrs Maeve ist auf der anderen Seite gestürzt, die man von hier aus nicht sehen kann. Wie gesagt, ich habe erst erfahren, was passiert ist, als die Ambulanz und später die Polizei kam.“

„Was hatte denn Mrs MacFarlane auf dem Turm zu tun?“, überlegte Annie.

„Sie hat sich im Sommer bei schönem Wetter dort oben gesonnt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht gab ihr der Aufenthalt auf dem Turm, wo man das umliegende Land bis zum Firth of Forth überblicken kann, auch das Gefühl, eine Schlossherrin nach altem Vorbild zu sein. Sie – hatte manchmal solche Anwandlungen.“

Bill fragte sich immer mehr, was Connor MacFarlane wohl an einer solchen Frau gefunden hatte, dass er sie nicht nur geheiratet, sondern die Ehe auch noch aufrechterhalten hatte. Bill hätte so eine Frau sofort in den Wind geschossen, sobald er ihre Streitlust bemerkt hätte; von allem anderen ganz zu schweigen. Da hätte die Frau noch so schön oder eine Granate im Bett sein können, so ein Verhalten ruinierte einem doch das Leben.

Mrs Fraser blickte von ihm zu Annie und wieder zurück zu ihm. „Aber ich denke, es geht hier um Mr Connors Tod.“

Bill nickte. „Es kam aber der Vorwurf auf, dass der Tod von Mrs MacFarlane kein Unfall, sondern Mord war. So was müssen wir natürlich überprüfen.“

„Och!“ Mrs Fraser schüttelte den Kopf. „Ich wette, das hat Mr Orson behauptet. Oder Mr Dougal. Die beiden hassen Mr Elliot wie die Pest, weil sie ihm die Schuld an dem Unfall geben.“ Sie seufzte. „Das hat schon angefangen, als Mr Elliot nach dem Unfall noch im Haus war. Master Orson hat ihm ständig aufgelauert und ihn angeschrien, er sei ein Mörder. Hat sogar öfter auf ihn eingeprügelt. Master Dougal hat sich zwar zurückgehalten, aber der arme Junge war – traumatisiert nennt man das wohl und hin- und hergerissen zwischen seiner Liebe zu Master Orson und Mr Elliot. Das arme Kind. Deshalb hat Mr Elliot das Haus wohl verlassen und ist erst vor ein paar Wochen zurückgekommen.“

„Und seine Rückkehr verlief reibungslos?“, wollte Annie wissen. „Wie wurde er aufgenommen?“

Mrs Fraser schluckte, schloss das Fenster, ging zum Herd und überprüfte, wie weit der Cock-a-Leekie schon gediehen war. Für Bill ein klares Manöver, um Zeit zu gewinnen, denn er wusste aus Erfahrung, dass die Suppe nach dem Zugeben der Backpflaumen noch eine ganze Weile kochen musste. Er setzte sich wieder an den Tisch. Annie tat es ihm gleich. Mrs Fraser holte eine Karaffe Mineralwasser und zwei Gläser, stellte sie auf den Tisch und überließ es Annie und Bill sich einzuschenken.

Bill ging nicht auf das Manöver ein. „Wie also verlief Mr Elliots Rückkehr?“, wiederholte er Annies Frage.

„Miss Kyleen war außer sich vor Freude. Mr Orson hat sofort wieder – seinen Hass verspritzt und ihn als Mörder beschimpft, was Mr Connor schließlich dazu veranlasst hat, ihm mit Rauswurf aus Alban Hall zu drohen, wenn er nicht endlich Ruhe gibt. Mr Dougal hat sich zurückgehalten.“

„Und was ist mit Ryan MacFarlane?“, wollte Annie wissen.

Mrs Fraser zuckte mit den Schultern. „Nichts. Also, er und Mr Elliot reden nicht mehr miteinander. Außer wenn es unbedingt nötig ist.“

„Das hat doch bestimmt einen Grund“, war Bill sich sicher.

„Natürlich, Sir. Aber es steht mir nicht zu, das auszuplaudern.“

Bill erinnerte sich an die Blicke, die Ryans Frau ihrem Schwager Elliot mehrmals zugeworfen hatte. „Hat das mit Mrs Greer MacFarlane zu tun?“, vermutete er.

„Och, das wissen Sie schon.“ Das klang erleichtert. Mrs Fraser nickte. „Sie war ursprünglich mit Mr Elliot zusammen. Daran hat zunächst auch sein Fortgehen nichts geändert. Aber ein paar Jahre später hat sie sich Mr Ryan zugewendet und ihn geheiratet.“

„Und davon hat Mr Elliot erst bei seiner Rückkehr erfahren?“, vermutete Annie.

Mrs Fraser schüttelte den Kopf. „Als er zurückkam, wusste er offensichtlich schon davon, also wird es ihm jemand vorher mitgeteilt haben. Sicherlich Miss Kyleen. Früher waren Mr Ryan und Mr Elliot richtig gute Freunde – Brüder im besten Sinn des Wortes. Heute herrscht zwischen ihnen eine Eiszeit, wie sie kälter wohl nicht mehr geht.“

Das konnte Bill sich gut vorstellen. Zwar konnte man seinem Herzen nicht befehlen, wen es zu lieben hatte, aber seiner Meinung nach gab es Konstellationen, bei denen der Anstand gebot, auf die Liebe zu verzichten. Zum Beispiel, wenn die geliebte Frau vorher mit dem eigenen Bruder liiert gewesen war und man im selben Haus wohnte. Oder man klärte die Situation vorab zu aller Zufriedenheit, was offensichtlich hier nicht der Fall gewesen war.

„Wie war denn das Verhältnis von Mr Connor MacFarlane zu seinen Kindern?“, lenkte Bill die Befragung in die gegenwärtig für ihn und Annie wichtigste Richtung.

„Zunächst sehr gut. Er hat sich immer bemüht, sie alle gleich zu behandeln.“ Mrs Fraser lächelte flüchtig. „Aber natürlich hat man trotzdem seinen Liebling, ob man will oder nicht.“

„Leider ja“, stimmte Annie, selbst Mutter dreier Kinder, seufzend zu. „Das Problem ist, dass die Gleichbehandlung nur bedingt klappt, egal wie viel Mühe man sich gibt, und die Kinder natürlich merken, wer der Liebling ist.“

Mrs Fraser nickte heftig. „Und wie! Und so war das auch bei Mr Connor. Nach meinen Beobachtungen ... Ich möchte betonen, dass ich der Familie nicht hinterherspioniert habe, sondern mir manche Dinge einfach im Alltag aufgefallen sind.“

„Selbstverständlich“, beruhigte Bill sie. „Was ist Ihnen aufgefallen?“