Macht und Müdigkeit - Antje Kapek - E-Book

Macht und Müdigkeit E-Book

Antje Kapek

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Beschreibung

Wege aus der kollektiven Erschöpfung

18-Stunden-Tage, Dauererreichbarkeit, keine Zeit für Familie oder die eigene Gesundheit: Zehn Jahre lang sah so Antje Kapeks Alltag als Politikerin aus – bis es ihr reichte. Der Preis war zu hoch. Auch ein Großteil der Bevölkerung leidet unter Erschöpfung und fordert mehr Zeit für Selbstfürsorge. Doch wie sollen völlig übermüdete Politiker*innen, die selbst keine Zeit für Lebensqualität haben, bessere Bedingungen für alle schaffen? Erschöpfte Regierungen treffen keine guten Entscheidungen – und das betrifft uns alle, warnt Kapek. Klug knüpft sie Verbindungen zwischen politischem Leistungsdenken, starren Machtstrukturen und sozialen Missständen.

Ein klares Nein zur Selbstausbeutung und ein starkes Plädoyer dafür, gesellschaftlich neue Wege zu gehen.

»Erschöpfung kennen alle Menschen. Antje Kapek legt nicht nur den Finger in die Wunde – sie zeigt auch Wege aus der Krise auf.« Lisa Paus, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bündnis 90/Die Grünen

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Seitenzahl: 246

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Manchmal muss man aufhören, um so richtig anzufangen

18-Stunden-Tage, Dauererreichbarkeit, keine Zeit für Familie oder die eigene Gesundheit: Zehn Jahre lang sah so Antje Kapeks Alltag als Politikerin aus – bis es ihr reichte. Der Preis war zu hoch.

Auch ein Großteil der Bevölkerung leidet unter Erschöpfung, fordert mehr Work-Life-Balance und Zeit für Selbstfürsorge. Doch wie sollen völlig übermüdete Politiker*innen, die selbst keine Zeit für Lebensqualität haben, bessere Bedingungen für alle schaffen?

Erschöpfte Regierungen treffen keine guten Entscheidungen – und das betrifft uns alle, warnt Kapek. Klug knüpft sie Verbindungen zwischen politischem Leistungsdenken, starren Machtstrukturen und sozialen Missständen: ein klares Nein zur Selbstausbeutung und ein starkes Plädoyer dafür, gesellschaftlich neue Wege zu gehen.

Antje Kapek

mitAnna Maas

Macht undMüdigkeit

Eine überfällige Kritik unserer Politik der Selbstausbeutung

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die Ereignisse in diesem Buch sind größtenteils so geschehen wie hier wiedergegeben. Für den dramatischen Effekt und aus Gründen des Personenschutzes sind jedoch einige Namen und Ereignisse so verfremdet worden, dass die darin handelnden Personen nicht erkennbar sind.

Copyright © 2023 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -motiv: zero-media.net, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-30884-1V002

www.koesel.de

Inhalt

Vorwort

Teil 1 Status Quo Der drohende Kollaps

Interview im Krankenhaus – Grenzüberschreitungen als Normalität

Macht und Müdigkeit – Einblicke in den Politikalltag

Alle haben Stress – Die ausgelaugte Gesellschaft

Teil 2 Die kollektive Erschöpfung Ein Erklärungsversuch

Warum wir politische Lösungen brauchen

Der erste Schritt – Macht verstehen

Emanzipation – Bitte mehr davon!

Das kapitalistische Denken

Teil 3 Revolte statt Resignation Wie wir Veränderung anstoßen können

Veränderung ist möglich

Sprechen wir über Antidiskriminierung

Neuer Leistungsbegriff und gesunde Arbeit

Wie wir Fachkräftemangel bekämpfen

Teil 4 Die Umkehr lohnt sich Wie wir endlich etwas bewegen

Krisenfest werden

Dank

Quellen und Lesenswertes

Vorwort

Im Leben einer Spitzenpolitikerin gibt es keine Pausen. Ich habe dieses Leben lange geführt und kann sagen: Das Rad dreht sich immer weiter. Das politische Geschäft beginnt jeden Tag aufs Neue sehr früh am Morgen – und endet sehr spät.

Politikerin zu sein ist natürlich aufregend, erfüllend und voller Chancen, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Aber das geht nur, wenn noch Kraftstoff im Tank ist. Sobald dieser aufgebraucht ist, rollt es sich langsam aus … bis zum Stillstand. Das gilt übrigens nicht nur für Politiker*innen, sondern für alle Menschen.

Die Kunst besteht also darin, die eigenen Kraftreserven zu schonen und regelmäßig aufzufüllen, bevor die Erschöpfung droht. Diese Erkenntnis ist nicht besonders überraschend oder neu, aber unsere Gesellschaft ist nicht darauf ausgelegt, dass wir sie ernst nehmen und Maßnahmen ergreifen, um uns selbst zu schützen. Die meisten von uns glauben, immer weiter auf Hochtouren fahren zu müssen, weil es ihr vorläufiges Überleben sichert oder weil sie gelernt haben, dass es normal ist und dazugehört. Letzteres ist vor allem in der Politik ein weit verbreiteter Glaubenssatz. Aber wer ständig am Limit arbeitet, kann keine guten Entscheidungen treffen. Das können wir gerade für unsere Politik nicht wollen. Denn wer verpasst, eigene Grenzen zu respektieren, wird diese überschreiten und damit sich selbst und schlimmstenfalls sogar anderen schaden.

Im Februar 2022, genau zwei Tage vor Beginn des grauenhaften Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine, habe ich meinen Rücktritt als Fraktionsvorsitzende der Grünen Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus erklärt. Nach zehn Jahren als Spitzenpolitikerin war das keine einfache Entscheidung. Doch die Erschöpfung war zu groß und der Wille, mich dem permanenten Kampf zu stellen, erloschen. Ich hatte meine menschlichen Bedürfnisse wie Schlaf, Erholung, Durst oder Hunger viel zu lange ignoriert. Meine Selbstbeherrschung und Routinen unterdrückten grundlegende Gefühle wie Wut, Trauer, Schmerz oder Angst. Mein Alltag bot kaum Platz für Familie und Freundschaften. Und für diesen nahezu unmenschlichen Arbeitseinsatz, den ich Tag und Nacht erbrachte, fehlte dann auch noch die Wertschätzung. Ich konnte nicht mehr. Aber vor allem wollte ich nicht mehr.

Die Wochen nach meinem Rücktritt waren in vielerlei Hinsicht hart für mich. Gerade noch 24/7 im Dauereinsatz, im nächsten Moment das absolute Nichts. Ich war eine Hochleistungspolitikerin auf kaltem Entzug, die von einem Moment auf den anderen zu Hause saß und nicht wusste, wie sie mit der plötzlichen Stille umgehen solle. Gleichzeitig schrieben mir Hunderte von Menschen Nachrichten voller Zuspruch und Anerkennung für diesen Schritt, den die wenigsten Menschen gehen würden beziehungsweise gehen könnten. Sie schienen meine offene Kommunikation zu schätzen und erzählten mir, dass es ihnen auf die eine oder andere Art ganz genauso ginge wie mir – auch wenn ihr Leben eigentlich ein ganz anderes war. Meine ehrliche Erklärung zu den Gründen meines Rücktritts gab ihnen das Gefühl, nicht allein mit ihrer Überlastung zu sein. Auch die Interviewanfragen der Presse rissen nicht ab. Bis heute melden sich Journalist*innen von Magazinen, Podcasts und Fernsehformaten und wollen mit mir über Themen wie Stressmanagement, Leistungsgesellschaft, Erschöpfung und Work-Life-Balance sprechen – und natürlich über die Hintergründe meines Rücktritts.

Am Anfang erschien mir das Interesse noch normal. Doch nach einigen Monaten stellte ich den Journalist*innen die Frage, warum sie immer noch Artikel darüber schreiben wollten. Ich dachte, dass die Geschichte mittlerweile »ausgelutscht« sei. Die Antwort war immer die gleiche: »Wir müssen darüber sprechen, weil es uns allen so geht. Weil es ein wichtiges Thema in unserer Gesellschaft ist.«

Das ließ mich aufhorchen. Ich stellte mir die Frage, warum immer mehr Menschen von Erschöpfung und Journalist*innen sogar von einer »erschöpften Gesellschaft« sprachen.1 Ich suchte nach Ursachen für dieses Phänomen und nach Antworten auf die Frage, was wir dagegen tun können und welche politischen Möglichkeiten es gibt, diesen Ursachen entgegenzuwirken. Damit war die Idee für dieses Buch geboren.

Ich habe spätestens in den Wochen und Monaten nach meinem Rücktritt verstanden, dass der Grund für meine Erschöpfung nicht individuell, sondern systemisch ist. Die gute Nachricht: Politik kann Systeme ändern. Das zu tun, ist mein Anspruch.

Das Ergebnis halten Sie in Ihren Händen. Dieses Buch ist keine Biografie, kein Mental-Health-Ratgeber und auch keine wissenschaftliche Abhandlung. Es ist der Blick einer Politikerin hinter die Kulissen des Systems mit dem Wunsch, Veränderung zu bewirken. Es ist der Versuch, persönliche Erfahrungen und Beobachtungen mit Studien abzugleichen und brauchbare Schlüsse daraus zu ziehen. Diese sind mit Sicherheit nicht abschließend und erheben keinen absoluten Anspruch auf Vollständigkeit, doch ihr Ziel ist es, eine breitere politische Debatte anzuregen. Eine Debatte, die nachhaltige Veränderung zum Besseren in unserer Gesellschaft anstoßen kann. Konstruktives Feedback ist deshalb ausdrücklich erwünscht und willkommen.

Bevor wir nun loslegen, möchte ich noch einige Begrifflichkeiten erläutern, die uns auf den folgenden Seiten immer wieder begegnen werden.

Wenn ich in diesem Buch über »Frauen« und »Männer« spreche, meine ich damit keine unveränderbaren biologischen Geschlechter, sondern soziale Konstrukte, verbunden mit stereotypen Zuschreibungen der Geschlechter auf das binäre System. Durch diese Orientierung an Stereotypen, kulturellen Standards und gesellschaftlichen Normen entsteht eine (un-)bewusste »Inszenierung«, die bei der Betrachtung als »weiblich« oder »männlich« gelesen wird. Diese Lesart entspricht dabei nicht unbedingt der Geschlechtsidentität der Person. Denn es gibt bekanntermaßen nicht nur zwei Geschlechter, weshalb wir uns grundsätzlich davon verabschieden müssen, von »der Frau« und »dem Mann« zu sprechen.2

Ich habe mich dennoch dafür entschieden, genau diese Begriffe und entsprechende Konstellationen in den Blick zu nehmen, gerade weil sie in unserer Gesellschaft als vermeintliche »Norm« gelten. Tatsächlich ist es ein Problem, dass das heteronormative, monogame Familienkonstrukt stets als Grundlage für Studien genutzt wird und somit kaum wissenschaftliche Untersuchungen zu alternativen Modellen vorhanden sind. Somit bildet bereits die Studienlage nicht die gesamte Vielfalt unserer Lebenswirklichkeit ab. Jede Familie ist anders, Voraussetzungen und Umfelder sind unterschiedlich. Ich verwende diese Formulierungen (»Familie«, »Mann«, »Frau«), um zu zeigen, wie sie von unserer Gesellschaft mit Bedeutungen gefüllt werden – und wie auf dieser Grundlage Diskriminierungen, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten entstehen und weitergeführt werden. Denn es geht mir darum, die strukturellen Standards, die überhaupt erst zu unserer Wahrnehmung führen, kritisch zu hinterfragen, um die Problematik zu erkennen und Lösungsansätze definieren zu können.

Alle Anekdoten aus meinem persönlichen und beruflichen Umfeld sind zudem natürlich anonymisiert und wenn nötig fiktionalisiert, um keine Rückschlüsse auf bestimmte Personen zuzulassen, denen diese Darstellungen gegebenenfalls schaden könnten.

Ich wünsche Ihnen nun viel Spaß und hoffentlich viele Erkenntnisse und Gedanken beim Lesen,

Ihre Antje Kapek

Teil

1

Status Quo  Der drohende Kollaps

Interview im Krankenhaus –

Grenzüberschreitungen als Normalität

Gleichmäßig pulsiert der Herzschlag meines ungeborenen Kindes auf dem CTG, bis das Klingeln meines Handys das Gerät übertönt. Ich befinde mich im Vorraum des OP-Saals eines Krankenhauses und werde gerade auf die Geburt vorbereitet, als ich den Anruf entgegennehme.

Ein Redakteur eines Radiosenders ist dran: »Hallo Frau Kapek, können wir Ihnen ein paar Fragen bezüglich der Müllproblematik bei Großveranstaltungen im Tiergarten stellen?«

»Klar«, antworte ich routiniert. Und dann gebe ich wenige Minuten vor der Geburt meiner Tochter ein Radiointerview.

Das war 2013. Nur etwa eine Stunde nach dem Interview hielt ich mein zweites Kind im Arm. Es erschien mir völlig normal, buchstäblich bis zur letzten Minute der Schwangerschaft zu arbeiten. Noch fünf Tage vor der Geburt hatte ich acht Stunden in der sengenden Hitze am Brandenburger Tor gesessen, um den damaligen amerikanischen Präsidenten Barack Obama zu hören, der zu Besuch in Berlin war. So ein historisches Ereignis verpasst man ja nicht.

Ich war zu dieser Zeit nicht einmal ein Jahr lang Fraktionsvorsitzende der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus. Im Oktober 2012 wurde ich in dieses Amt gewählt – genau einen Tag später erfuhr ich, dass ich wieder schwanger war. Wäre die Reihenfolge andersherum gewesen, wäre ich vermutlich nie Fraktionsvorsitzende geworden. Die Balance zwischen den Herausforderungen der Mutterschaft und der Verantwortung im Job ist nicht nur in der Politik ein Thema, das mit einem andauernden Kampf verbunden ist und regelmäßig in Frust und Enttäuschung endet.

Doch ein Zurück oder gar Aufgeben war keine Option. Ich wusste: Ich will das unbedingt – irgendwie bekommen wir das schon hin. Und das haben wir auch. Allerdings nur, weil ich einen sehr engagierten und verantwortungsvollen Partner habe, der mir bis heute regelmäßig den Rücken freihält und große Teile der Care-Arbeit übernimmt. Doch selbst mit diesem Support war mir damals noch nicht vollständig klar, was es bedeuten würde, ein Baby, ein Kleinkind und meine Leitungsfunktion unter einen Hut zu bekommen.

Nur einen Tag nach der Geburt meiner Tochter holte mich die Arbeit im Krankenhaus ein. Es mussten Entscheidungen getroffen, Verträge unterschrieben und die Arbeitsfähigkeit der Fraktion gewährleistet werden. So wie die Kapitänin nicht von Bord des Schiffes gehen kann – auch nicht für die Geburt eines Kindes –, so muss auch im Politikbetrieb jeden Tag Kurs gehalten werden. Tagespolitik wartet nicht und nimmt keine Rücksicht auf persönliche Umstände. So wurde das Krankenhausbett zum Büro umfunktioniert: In den folgenden Tagen führte ich von dort aus Telefonate, schrieb Dutzende von Mails und beantwortete Messenger-Nachrichten. Alles, während ich gleichzeitig am Tropf hing und körperlich wie psychisch einiges zu verarbeiten hatte.

Für mich war so ein Verhalten völlig normal und auch in meinem Arbeitsumfeld fand es niemand seltsam, dass ich mir keine Pause gönnte. Im Gegenteil: Es kam eher die Frage auf, wann ich denn endlich wieder im Büro sei. So war ich geradezu dankbar für diese Momente im Krankenhaus, in denen ich ja immerhin nicht physisch anwesend sein musste, sondern »nur« Mails und Telefonate erledigte. Erst durch die Reaktion von Menschen außerhalb der Politik fiel mir auf, dass dies mitnichten für alle Menschen normal ist.

Natürlich waren meine Familie und Freunde regelmäßig genervt, enttäuscht oder wütend über den Umstand, dass die Politik bis in die intimsten Ecken unseres Privatlebens vordrang. Aber sie haben sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt (und nur noch gelegentlich mit mir geschimpft).

So gab es in den zehn Jahren als Fraktionsvorsitzende keine Ferien oder Auszeiten, in denen ich nicht telefonisch an Krisensitzungen teilgenommen oder unter dem Tisch beim Abendessen »nur mal kurz« eine Mail getippt hätte. Bei Bergtouren wanderte meine Familie voraus, während ich ständig auf der Suche nach dem höchsten Punkt mit dem besten Handyempfang war. Und selbst bei Geburtstagen verfolgte ich mitunter per Kopfhörer Videokonferenzen und verschwand für eigene Wortbeiträge kurz auf der Toilette.

»Selbst schuld!«, werden jetzt einige sagen. »Augen auf bei der Berufswahl!« Es sei doch meine freie Entscheidung, ob ich im Krankenhausbett auf das Smartphone schaue oder nicht. Doch was in der Theorie so einfach klingt, ist in der Praxis um einiges komplizierter. Denn Krisenmanagement wartet nicht darauf, bis die Geburtstagsfeier beendet ist, und dem Redaktionsschluss ist es egal, ob du mit dem Kind beim Zahnarzt sitzt. Zeit ist sehr oft ein kritischer Faktor, der in der Politik alle betrifft – und zunehmend auch in andere Gesellschaftsbereiche und Berufszweige überschwappt. Dementsprechend müssen sich persönliche »Befindlichkeiten« – auch wenn es eigentlich Grundbedürfnisse sind – dem Zeitdruck unterordnen. Wer dazu nicht bereit ist, kann in diesem Beruf nicht viel bewirken. So einfach, so brutal. Deshalb lautet das Credo: Sei immer und jederzeit erreichbar und leistungsbereit. Schaffst du deine Arbeit am Tag nicht, dann schieb eine Nachtschicht ein.

Kolleg*innen und Bürger*innen erwarten, dass Politiker*innen in Führungspositionen jederzeit funktionieren und ansprechbar sind. Auf familiäre Verpflichtungen wird keine Rücksicht genommen. Ebenso wenig auf Erschöpfung nach Belastungsphasen oder sogar Krankheit. Sie werden deshalb oft verheimlicht.

Als beste Beispiele dafür könnten die Reaktionen auf die wiederkehrenden Zitteranfälle von Angela Merkel 2019 oder die verheimlichte Sorge von Anne Spiegel um ihren schwer erkrankten Mann im Sommer 2021 gelten. Sicherlich haben diese Politikerinnen auch Fehler in der Außenkommunikation gemacht. Aber der Fakt, dass es in der Öffentlichkeit und in der Politik geradezu null Verständnis dafür gab, dass diese Frauen auch einfach Menschen mit Bedürfnissen sind, ist schockierend.

So wurde beispielsweise das Zittern von Merkel, das laut ihrer eigenen Aussage den Grund hatte, dass sie zu wenig getrunken habe, in der Berichterstattung sofort als politische Schwäche ausgelegt: »Drei Zitteranfälle in drei Wochen – kann Merkel so noch die volle Leistung als Kanzlerin bringen?«3

Auch ich habe diese Erfahrung immer wieder gemacht. Egal, was im Privatleben passierte, die Funktion steht vor der Menschlichkeit. Mein Interview im Kreissaal ist nur eines von sehr vielen Beispielen dafür, welche Anforderungen ein Job in der Politik mit sich bringt. Wer Einfluss haben und etwas bewegen will, muss überall dabei sein und kann es sich nicht erlauben, sich rauszuziehen. So funktioniert Politik bis heute.

Ich glaube, dass die meisten Politiker*innen tatsächlich ein unheimlich hohes Maß an Resilienz haben müssen, also eine große psychische Widerstandskraft, um schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen. Sie müssen mehr aushalten. Mehr Belastung, mehr Gegenwind, mehr Kritik. Es sind Menschen, die gern auf der Bühne stehen und bereit sind, viel Verantwortung zu tragen. Menschen, die als Erste die Hand heben, wenn gefragt wird, wer sich kümmert, auch wenn ihnen der konstante Einsatz viel abverlangt.

Der Lohn für all die Herausforderungen ist ein Beruf mit Verantwortung und der Gewissheit, etwas bewirken zu können. Das Wissen, dass durch die eigene Arbeit anderen Menschen geholfen werden oder schädliche Politik beendet werden kann, wiegt so viel, dass es das Ungleichgewicht zwischen Arbeit und Erholung immer wieder in den Schatten stellt.

Selbst wenn einigen Politiker*innen hin und wieder auffällt, dass sich dieser Lebensstil auf Dauer negativ auf die Gesundheit auswirkt, so reden sie sich schnell ein, dies sei ja nur eine Phase, die in ein paar Wochen wieder vorüber sei. Doch Menschen sind keine Roboter. Auch Politiker*innen nicht. Und für alle Menschen gilt: Körperliche und geistige Ressourcen sind endlich.

Man kann jahrelang über den eigenen Leistungsgrenzen leben und die Symptome der Überlastung kaschieren. Doch selbst, wenn dies keine unmittelbaren Auswirkungen haben sollte, leidet auf lange Sicht doch die Lebensqualität – und damit auch die Qualität der Arbeit. Regeneration und die Pflege sozialer Kontakte sind kein Luxus, sondern eine Grundbedingung, um gesund zu bleiben. Im politischen Umfeld ist es dennoch oft schwierig, diese menschlichen Bedürfnisse zu erfüllen. Die hohe Leistungs- und Einsatzbereitschaft verändert Menschen und macht sie weder gesünder noch sympathischer.

Es gibt beispielsweise Abgeordnete, die sogar mit schweren Entzündungen und Fieber zwölf Stunden am Verhandlungstisch sitzen. Eigentlich sind jegliche Kraftreserven aufgebraucht – und trotzdem powern sie weiter. Kein Wunder, dass dabei die Laune kippt: Es wird gemotzt, geschimpft und beleidigt. Diese Grundstimmung überträgt sich auf alle und das Arbeiten wird deutlich unentspannter. Auf Angriffe folgen Gegenangriffe, und statt Ergebnisse und Lösungen zu finden, schaukelt sich die unsachliche Diskussion hoch. Empathie und das Gefühl, an einem Strang zu ziehen, gehen schlimmstenfalls völlig verloren.

So traf ich einmal eine Kollegin morgens um 7 Uhr im Berliner Abgeordnetenhaus. Wir waren beide auf dem Weg zu einer Sitzung. Ich war extrem müde und erklärte ihr, dass ich unbedingt einen Kaffee brauche. Ich hatte »dank« einer Kombination aus viel Arbeit und schlaflosen Kindern gerade einmal drei Stunden geschlafen und stöhnte, wie anstrengend dieser Morgen sei.

»Mh«, machte meine Kollegin. »So ist das halt. Du hast dir das doch ausgesucht als Fraktionsvorsitzende. Wenn du die Verantwortung nicht willst, dann gib sie halt ab!«

Ich runzelte die Stirn, sagte nichts mehr und holte mir meinen Kaffee. Ich fand das eine ziemlich überzogene Reaktion auf einen einfachen Ausdruck von Müdigkeit.

In dieser Manier verliefen allerdings viele Gespräche. Die leiseste Kritik an den Arbeitsbedingungen in der Politik oder der schwierigen Vereinbarkeit von Politalltag und Familie führte nicht etwa zu Verständnis und einem gemeinsamen Austausch darüber, wie es besser gehen könnte, sondern provozierte Kritik an der persönlichen Arbeitseinstellung. Ich solle doch froh sein und dürfe mich nun wirklich nicht beschweren. Andere würden alles dafür geben, an meiner Stelle zu sein.

Lange habe ich das einfach so hingenommen, bis ich irgendwann nicht mehr konnte. Diese Form menschlicher Verletzlichkeit zu akzeptieren, ist nicht einfach, und gerade deshalb war es mir ein Anliegen, über meine Beweggründe auch öffentlich zu sprechen. Denn Erschöpfung ist nichts, wofür man sich schämen muss. Viele Menschen in meinem politischen Umfeld kennen das Gefühl, eigentlich aussteigen zu wollen, auch wenn sie nicht darüber sprechen – und viele andere Menschen außerhalb der Politik ebenfalls.4

Diese kollektiven Ermüdungserfahrungen zeigen: Erschöpfung ist nicht (nur) individuell, sondern systemisch bedingt. Der Rahmen, in dem wir gesellschaftlich funktionieren müssen, ermüdet uns, raubt Kraft und ist von Ungerechtigkeiten durchzogen. Und das wird für uns zum echten Problem.

Wenn eine Spitzenposition zu bekleiden bedeutet, dass man Familie, Freundeskreis und das eigene Leben hintanstellen oder sogar völlig aufgeben muss, kann etwas nicht stimmen.

Swen Schulz, ehemaliges Mitglied des Bundestags der SPD-Fraktion, erzählte in einem ZEIT-Artikel, dass er sich bewusst gegen die späten Abendtermine entschieden hatte. Er hatte seine Grenzen definiert und diese durchgezogen. Eigentlich ein gutes Vorbild – oder? Doch sein Verhalten hatte Konsequenzen:

Keine Hintergrundkreise, Kamingespräche, Klüngelrunden. Der Preis für seine Entscheidung war hoch: Schulz ist schlechter vernetzt als andere, auch in der SPD. Die Genossen lieben ihre informellen Zirkel. ›Karriereförderlich ist eine familienorientierte Abendplanung sicher nicht‹, sagt Schulz.5

Kurz darauf zog er sich politisch zurück und gab sein Mandat auf. So schien es nicht zu funktionieren.

Wer also vorne mitspielen will, muss die Politik immer an die erste Stelle setzen. Auch wenn dies nur mit Hängen und Würgen funktioniert.

Als mein zweites Kind neun Monate alt war und ich seit der Geburt keine einzige Nacht mehr als ein bis zwei Stunden am Stück geschlafen hatte, gab ich einem großen Fernsehsender ein Interview. Ich merkte gleich zu Beginn, dass ich mich kaum konzentrieren konnte. Der Schlafmangel steckte mir so tief in den Knochen, dass ich Wortfindungsschwierigkeiten hatte und meine politische Botschaft einfach nicht auf den Punkt bringen konnte. Ständig verhaspelte ich mich und wir mussten wieder und wieder neu ansetzen. Der Redakteur bohrte weiter, fragte immer wieder nach, ließ nicht locker und drängte mich so sehr, dass ich am Ende eine Kollegin dazu holen musste, um mir bei der Formulierung meiner wichtigsten Aussagen zu helfen. Sehr unangenehm!

Ein paar Minuten später beäugte mich diese Kollegin skeptisch und sagte: »Beim nächsten Mal solltest du dich wirklich besser vorbereiten.«

Ich war in dem Moment von dieser Reaktion so überrumpelt, dass ich ernsthaft um Fassung ringen musste. Aber es hilft ja alles nichts. Es war keine Zeit, länger darüber nachzudenken. Die Plenarsitzung lief weiter und mein Stuhl stand in der ersten Reihe – gut platziert unter der wachsamen Beobachtung der Fernsehkameras. Also hieß es: Ärger runterschlucken, tief durchatmen und weiter geht’s.

»Du bist der Flaschenhals – die finale Entscheidungsinstanz«, sagten mir Mitarbeitende regelmäßig. Ich trug Verantwortung und wollte es auch genau so. Denn wer Verantwortung hat, kann eigene Themen einbringen und umsetzen, die Richtung vorgeben, Entscheidungen treffen und politischen Einfluss ausüben.

Ich konnte Weichen für das erste Antidiskriminierungsgesetz in ganz Deutschland stellen und handelte mehr Geld für mehr Mieter*innenschutz aus. Ich setzte ein kostenloses Schüler*innenticket für alle Kinder in Berlin durch, verhinderte (zumindest bis heute) die Randbebauung des Tempelhofer Feldes und kämpfte gegen den Weiterbau des Autobahnrings A100 in Berlin.

All das sind Dinge, die nach meiner Überzeugung das Leben von sehr vielen Menschen zum Guten beeinflussen. Ist es nicht wichtiger, eine Familie vor der Zwangsräumung zu schützen, als auf ein Konzert zu gehen? Ist es nicht wichtiger, dafür zu sorgen, dass Grundschulkinder ein kostenloses warmes Mittagessen am Tag bekommen, als selbst Sport zu machen? Ich bin der Meinung: Ja, das ist es. Es ist wichtig, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen, auch wenn das bedeutet, das eigene Leben manchmal hintanzustellen.

Trotzdem hatte ich ständig ein schlechtes Gewissen, mir selbst und anderen gegenüber. Nahm ich Familientermine wahr, wurde ich meinem Job nicht gerecht. Arbeitete ich viel (oder nebenbei auf dem Spielplatz), wurde ich meinen Kindern nicht gerecht. Aber das wurde mir in seiner vollständigen Konsequenz erst viel später bewusst. Meine Kinder standen um 6.30 Uhr auf, meine politische Arbeit startete gegen 7.30 Uhr. Wenn beide Kinder aus dem Haus waren, besorgte ich mir bestenfalls noch einen Kaffee und saß dann am Schreibtisch, im Abgeordnetenhaus, in Sitzungen, gab Interviews, hatte Außentermine und im Anschluss oft weitere Sitzungen. Bis 22.00, 23.00, 24.00 Uhr, manchmal länger. Jeden Tag, auch am Wochenende. Ich habe es phasenweise kaum geschafft, zwischendurch ein Glas Wasser zu trinken.

»Ist halt gerade so«, sagte ich oft zu meinem Mann. »Das ist eine intensive Phase.« Diese »Phase«, wie ich sie nannte, fand jedoch kein Ende. Aus den Wochen wurden Monate, aus den Monaten Jahre.

Als eine Lehrerin meines Kindes ein Sabbatical nahm und ich den bohrenden Gedanken »Ich will auch!« nicht mehr ignorieren konnte, fiel mir erstmals auf, dass wohl etwas nicht stimmte. Ich beneidete meinen Schwiegervater, der in Rente ging, und fand das gleichzeitig total irre, weil ich zu dem Zeitpunkt gerade mal Anfang 40 war.

Politisch kamen durch unsere Regierungsbeteiligung ständig neue Konflikte hinzu. Ich spürte, wie Stück für Stück meine Motivation bröckelte, wie meine Laune schlechter und meine Gesichtsfarbe fahler wurde.

Ich resignierte, wenn man mir Vorwürfe machte oder ich die immer gleichen, zähen Diskussionen erlebte. Irgendwann wurde die Resignation größer als die Lust, gegenzuhalten. Flapsig gesagt: Ich hatte die Schnauze voll.

Und so kam es Ende Februar 2022 dazu, dass ich innerhalb von wenigen Tagen für mich den Entschluss fasste: Es reicht. Bis hierhin und nicht weiter. Mein Akku war leer und so beschloss ich Hals über Kopf, zurückzutreten und nach zehn Jahren Fraktionsvorsitz einen Gang runterzuschalten. Ob das politisch klug war, sei dahingestellt. Doch menschlich war es an der Zeit, einen Schlussstrich unter dieses Kapitel zu ziehen. Und nein, ich hatte weder einen Burn-out noch litt ich unter Depressionen. Mein Rücktritt und meine Erschöpfung wurden in dieser Hinsicht oft falsch interpretiert. Ich möchte dies ausdrücklich betonen – allein schon aus Respekt all denjenigen gegenüber, die tatsächlich erkrankt sind. Aber ja, ich war müde, und hatte vor allem keine Lust mehr, zu kämpfen und unter diesen Bedingungen weiterzumachen.

Doch das »Aufgeben« schmerzte. Ein ehemaliges Regierungsmitglied aus Berlin sagte einmal in Koalitionsverhandlungen: »Ich gebe nicht auf. Da müsst ihr mich schon niederkämpfen!« Vielleicht war es in meinem Fall tatsächlich so. Ich wurde – und hatte mich selbst – nach zehn Jahren niedergekämpft.

Macht und Müdigkeit –

Einblicke in den Politikalltag

Die Machtverteilung in der Politik beruht auf Strukturen, die sehr patriarchal geprägt sind. Die Folge sind ein permanenter Wettkampf um Posten, ein rauer Ton und harter Schlagabtausch für alle.

Politiker*innen müssen sich nahezu unerfüllbaren Erwartungen stellen und insbesondere Frauen stehen dabei stets unter besonderer Beobachtung. Dieser Druck verursacht einen andauernden Stress, der gerade auf lange Sicht ermüdend ist.

Die ehemalige neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern brachte es bei ihrem Rücktritt im Januar 2023 auf den Punkt: »Ich weiß, was man für diesen Job braucht, und ich weiß, dass ich nicht mehr genug im Tank habe.«6

Ihr Rücktritt machte weltweit Schlagzeilen. Weil sie ein leuchtendes Vorbild für eine starke und progressive Frau in der Politik war. Aber auch, weil die Art und Weise, wie sie zurücktrat, für viele Menschen neu war. »Ein Rücktritt kann etwas sehr Entwürdigendes haben. […] Ganz anders tritt Jacinda Ardern, 42, die Noch-Premierministerin Neuseelands, zurück«7, kommentierte ZEITONLINE. Sie bewies Menschlichkeit, vor allem sich selbst gegenüber. Sie achtete auf ihre Grenzen und wusste, dass es ungesund wäre, trotz der großen Erschöpfung weiterzumachen. Sie verband Mutterschaft und Spitzenpolitik, Emotionen und Kompetenz. Eigentlich erschreckend, dass wir das auch heute immer noch als Besonderheit empfinden.

Ihr Rücktritt war zwar ein Verlust für die Weltpolitik, aber auch ein wichtiges Signal. Denn damit zeigte sie, dass Politiker*innen auch ganz normale Menschen sind, die Grenzen haben.

Die Macht abzugeben und auf Spitzenpositionen freiwillig zu verzichten, ist für viele andere Politiker*innen undenkbar. In der Politik treffen stark erfolgsorientierte Persönlichkeiten aufeinander, die in die erste Reihe wollen. Denn wer etwas bewegen will, muss sich dafür in der richtigen Position befinden oder das richtige Amt innehaben. Doch um dorthin zu gelangen, muss man auch die entsprechenden Regeln beachten und sich in die Machtspielchen und das System des Politikalltags fügen. Im Grunde genommen ist es wie in der US-Serie House of Cards, nur – in der Regel – nicht ganz so überzeichnet. Auch in Deutschland geht es um Netzwerke und Seilschaften, um gegenseitige Unterstützung, Gefälligkeiten, Loyalitäten und Konkurrenz. Es bilden sich Gruppen, die versuchen, ihren Einfluss zu vergrößern. Um eine Position zu erreichen, muss geschachert werden – es werden Bündnisse eingegangen und Verabredungen getroffen. Nur, wer die Mehrheit hat, gibt den Ton an, bestimmt die Richtung und vor allem das Personal. Gerade die Personalfrage ist ein zentraler Punkt, denn je größer die Macht, desto einfacher ist es, die eigenen Leute auf Posten zu setzen, um über Loyalitäten das eigene Netzwerk und damit den eigenen Einfluss zu vergrößern. Kann dieser nicht mehr gewährleistet werden oder laufen Menschen über, kann es hässlich werden. Beispielsweise werden Kompromisse mit Lobbyverbänden oder Vertreter*innen von Gegenpositionen eingegangen, um eine bevorstehende Abstimmung für die eigene Seite zu entscheiden. In den Verhandlungen der Ampel-Koalition im Frühjahr 2023 konnte man die Ergebnisse nach jedem Koalitionsausschuss sehen: Den einen wurde die schnellere Planung von Autobahnen zugesagt, wenn die anderen dafür mehr Klimaschutz bekamen.8

Wenn Parteispitzen keine eigene Mehrheit mehr haben, wird es besonders prekär. Dann hilft nur noch die Hoffnung, durch eine Massenmobilisierung in Form von Mitgliederentscheiden oder Urabstimmungen unliebsame Kontrahent*innen zu schlagen. Das Prinzip ist folgendes: Wenn ich befürchte, dass ich auf einem regulären Parteitag nicht die Mehrheit der Stimmen der gewählten Delegierten bekomme, dann befrage ich einfach alle Parteimitglieder, in der Hoffnung, dass diese weniger Hintergrundwissen haben und sich dadurch leichter beeinflussen lassen. Wie beispielsweise der Mitgliederentscheid der Berliner SPD im Frühjahr 2023, der die Entscheidung über die Frage, ob sie eine Koalition mit der CDU eingehen sollen, bringen sollte. Auf dem eigentlich dafür vorgesehenen Parteitag war nicht zu erwarten, dass es eine Mehrheit dafür geben würde, da zu viele Kreisverbände bereits ihre Ablehnung einer solchen Koalition erklärt hatten. Also setzte die Parteispitze auf eine Befragung aller Mitglieder und hoffte auf deren Regierungstreue – mit Erfolg. Seit April 2023 steht die Schwarz-Rote Koalition in Berlin. 

Alle, die sich einer solchen Urabstimmung stellen, gehen ein hohes persönliches Risiko ein, denn sie geht mit potenziellen Niederlagen sowie mit Verletzung und Machtverlust einher.

Ein weiteres Beispiel hierfür ist die Abstimmung über die Spitzenkandidat*innen bei den Grünen 2017, die der damalige Parteivorsitzende Cem Özdemir gegen die Kontrahenten Anton Hofreiter und Robert Habeck gewann. Oder auch die Mitgliederbefragung der CDU zur neuen Parteiführung Ende 2021, die Friedrich Merz gewann, obwohl er bei der Kanzlerfrage im Jahr zuvor sehr klar gegen Armin Laschet unterlag.

Je angeschlagener die Gegenseite ist, desto leichter ist sie abzuservieren. Und umgekehrt: Je stärker das Netzwerk einer Person ist, desto schwieriger ist es, sie abzusägen. Gleichzeitig kann eine schwere Niederlage bei nächster Gelegenheit auch wiederum ein Vorteil sein, wie die oben genannten Namen beweisen – weil das Netzwerk dann besonders erstarkt.

Um der Konkurrenz zu schaden, werden mit einfachen psychologischen Methoden Bilder kreiert. Viele davon sind international bekannt: Wladimir Putin, der seinen großen Dobermann mitbringt, um Angela Merkel, die erklärtermaßen Angst vor Hunden hat, einzuschüchtern. Recep Tayyip Erdoğan, der keinen Sessel für Ursula von der Leyen bereitstellt, sondern sie abseits der Männer allein auf dem Sofa platziert. Solche Szenen kommen nicht nur unter internationaler, medialer Beobachtung, sondern auch auf Landesebene vor. Da ist die Hand auf der Schulter, die jemanden im wahrsten Sinne des Wortes (r)unterdrückt. Da ist der Arm, der väterlich um die junge Abgeordnete gelegt wird, um ihr zu zeigen, dass sie hier »die Kleine« ist und nichts zu sagen hat. Je nachdem, in welcher Partei man ist, sind diverse Formen der Diskriminierung gängig. So berichtete unter anderem die frühere FDP-Politikerin Silvana Koch-Mehrin über sexuelle Belästigung im politischen Umfeld.9 Über öffentliche rassistische Äußerungen wird immer wieder berichtet, Boris Palmer und Thilo Sarrazin sind nur zwei von vielen Beispielen – hier ist auch parteiintern von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. In allen Parteien.