Machtästhetik in Molières Ballettkomödien - Stefan Wasserbäch - E-Book

Machtästhetik in Molières Ballettkomödien E-Book

Stefan Wasserbäch

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Beschreibung

Mit seinen Ballettkomödien gelingt es Molière, ein Theater der Superlative zu schaffen, das aufgrund seiner künstlerischen Vollkommenheit wie auch seiner machtpolitischen Wirksamkeit die absolutistische Kulturpolitik Ludwigs XIV. über viele Jahre bestimmt. Die vorliegende Studie beleuchtet die politischen und gesellschaftlichen Machtstrukturen sowie deren artistische Repräsentation und Funktion in Molières Ballettkomödien. Sie rekonstruiert die Gattungspoetik der Ballettkomödie und gelangt zu einer kulturhistorischen Neubewertung dieses Totaltheaters.

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Stefan Wasserbäch

Machtästhetik in Moilères Ballettkomödien

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0016-8

Inhalt

WidmungMottoEinleitung1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie1.1 Auftakt und Selbstverständnis einer neuen Gattung1.2 Antike und frühneuzeitliche Quellen der Gattung1.3 Vorklassische und klassische Einflüsse auf die Gattung1.3.1 Das Französische Ballett1.3.2 Ballettmusik1.3.3 Barocke Dramentypen1.4 Die Herausbildung einer neuen Intermedialität – der nouveau langage théâtral1.5 Zeitgenössische Reaktionen auf und poetologische Reflexionen über die Ballettkomödie1.6 Ein Schauspiel als politischer art de plaire1.7 Ein Multimediaspektakel und seine Verortung in der Gattungslandschaft2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie2.1 Dramenstruktur2.1.1 Die dramatische Kommunikationsebene – die figurale Interaktion2.1.2 Die theatralische Kommunikationsebene – die Interdependenz von Spielen und Schauen2.1.3 Die lebensweltliche Kommunikationsebene – die gesellschaftliche Kommunikation über das Fiktionale2.1.4 Die metadramatische Kommunikationsebene – die intermediale figurale InteraktionFazit2.2 Sujetstruktur2.2.1 Handlungsaspekte und Sujetstruktur2.2.2 Raison und déraison2.2.3 Ruse und bêtise2.2.4 Réalité und fictionFazit3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien3.1 Die moralische Weltanschauung der wahren Helden3.1.1 Le Bourgeois gentilhomme3.1.2 Les Fâcheux3.1.3 Les Amants magnifiquesFazit3.2 Die unmoralische Weltanschauung der Narren und Schelme3.2.1 … in der Komödie3.2.2 … im IntermezzoFazit3.3 Die amoralische Weltanschauung der komischen Helden und Harlekin-Figuren3.3.1 Le Mariage forcé3.3.2 Le Bourgeois gentilhomme3.3.3 Le Malade imaginaire3.3.4 La Princesse d’ÉlideFazit3.4 Komische Agonik und Zuschauerlachen4 Der komische Charakter oder die idée fixe als intérêt des amour-propre4.1 La Rochefoucauld und Molière – eine Annäherung4.2 La Rochefoucauld – Anthropologie und Gesellschaft4.2.1 La Rochefoucaulds anthropologisches Verständnis4.2.2 La Rochefoucaulds gesellschaftliches Verständnis4.3 Amour-propre und Individuum – Querschnitt einer Charakterstudie der komischen Helden4.3.1 La folie, c’est moi4.3.2 Moi, je m’aime infiniment4.3.3 Je suis un autre que moi4.3.4 Je ne t’aime que pour m’aimerFazit4.4 Amour-propre und Kollektiv – Intriganten, Helden, Nutznießer und Betrüger4.4.1 Affirmierende Intrigen4.4.2 Negierende Intrigen4.4.3 Überzeugende Heldentaten4.4.4 Nutznießer und BetrügerFazit4.5 Molières Anthropologie im Spiegel von Fiktion und Realität4.6 Anthropologie und Dramenstruktur – eine Zusammenführung5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien5.1 Freie Komik – Artistik5.1.1 Performance und performative Ästhetik in der Ballettkomödie5.1.2 Freie Performance des sprechenden Mimen5.1.3 Freie Performance des tanzenden Mimen5.1.4 Freie Performance des singenden MimenFazit5.2 Sozialkritische Komik – Satire5.2.1 Die Aristokraten5.2.2 Die Bourgeoisen5.2.3 Die FremdenFazit5.3 Moralistische Komik – Anthropologie5.3.1 Dorimènes makabres Spiel5.3.2 Die Doppelzüngigkeiten der Angélique5.3.3 Argans fausse mortFazit5.4 Zur Ästhetik multidimensionaler Komik der Repräsentation6 Absolutistische Kulturpolitik – zwischen puissance und plaisir6.1 Machtostentation – zur Politisierung der absolutistischen Festkultur6.2 Agenda-Setting – des Sonnenkönigs Wunschkonzert6.2.1 Die Grands Divertissements von Versailles und die comédies-ballets6.2.2 Enge Zeitraster6.2.3 Geschickte Themenwahl6.2.4 Tanzender KönigFazit6.3 Prologe und Finale6.3.1 Prologe6.3.2 FinaleFazit6.4 Die Ballettkomödie als ‚Schule der Schicklichkeit‘ im Spiegel des absolutistischen Machtdiskurses6.5 MachtästhetikAusleitungLiteraturverzeichnisPrimärliteraturSekundärliteraturPartiturenAbbildungsverzeichnis

Nach vielen Jahren intensiver Forschung liegt sie nun vor: meine Dissertation. Damit ist es an der Zeit, mich bei all denjenigen zu bedanken, die mich in dieser Phase begleiteten.

Zu besonderem Dank bin ich meinen Bertreuerinnen verpflichtet. Ulrike Sprenger weckte in mir das Interesse an der französischen Klassik und unterstützte mich stets in vielerlei Hinsicht auf höchst konstruktive Art und Weise. Juliane Vogel möchte ich herzlich für ihre äußerst hilfreichen Anmerkungen und nicht zuletzt die anregenden Gespräche danken.

Ebenso geht mein Dank an Miriam Lay Brander, die mich mit bereichernden Ratschlägen in meinem Vorhaben unterstützte. Carmen Heck und Marlene Teetz danke ich für ihre wertvolle Hilfe bei der Literaturverwaltung. Eine weitere große Hilfe war Rainer Rutz, der mein Manuskript lektorierte. Für das originelle Cover danke ich herzlich Yury Vorobyev.

Bedanken möchte ich mich bei meiner Familie und Freunden, die mich auf meinem akademischen Weg begleiteten und unterstützten.

Ihnen allen gilt mein besonderer Dank.

„Quels Spectacles charmants, quels plaisirs goûtons-nous,

Les Dieux mêmes, les Dieux, n’en ont point de plus doux.“

Molière

Einleitung

Die Blütezeit der Ballettkomödie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Frankreich erklärt sich durch die kulturelle und politische Funktion, die diesem Unterhaltungsmedium zuteilwird. Die Ballettkomödie entspricht dem Wunsch der Zeit nach einem Universaltheater, das heißt nach einer Theatergattung, die sowohl tänzerische als auch musikalische Elemente in den Rahmen einer Komödie integriert und alle drei Kunstarten zu einem Gesamtkunstwerk vereinheitlicht: „Comme nous sommes dans un siécle“, so Donneau de Vizé, „où la Musique & les Balets ont des charmes pour tout le monde, & que les spectacles qui en sont remplis sont beaucoup plus suivis que les autres“1. Diesem Verlangen kommt Molière mit seinen Ballettkomödien nach, die einen Großteil (ca. 40 Prozent) am Gesamtwerk des Dramatikers ausmachen.2 Das Innovative an diesem hybriden Genre ist, dass Molière gewillt ist „de ne faire qu’une seule chose du Ballet, et de la Comédie“ (LF3, 150), wie er im Vorwort zu Les Fâcheux, seiner ersten comédie-ballet, programmatisch erläutert. Er verwirklicht damit das antike Ideal der Künstefusion in seinem klassischen Gesamtkunstwerk. Es ist letztlich der multimediale Charakter, der maßgeblich zur Lebhaftigkeit der Ballettkomödie beiträgt und für einen hohen Unterhaltungswert am königlichen Hof sorgt.

Ferner ist im Zuge der Etablierung des absolutistischen Staates eine zunehmende Monopolisierung der Kultur zu konstatieren, infolgedessen den eingesetzten Künsten eine unmissverständliche politische Funktion zugesprochen wird. Vor dem Hintergrund dieser, bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Kardinal Richelieu etablierten Kulturpolitik repräsentiert die Geschlossenheit der Ballettkomödie die absolutistische Herrschaftsform und verhilft ihr zu einem national-einheitlichen Kulturbild Frankreichs. Molières Ballettkomödien sind nunmehr Teil der absolutistischen Machtostentation und tragen zur Kulturpolitik Ludwigs XIV. bei. Die Korrelation von Staatsführung und Kunst soll als Leitgedanke der vorliegenden Studie dienen und unter dem Begriff der ‚Machtästhetik‘ zusammengefasst werden. Dieses duale Konzept subsumiert die machtverklärenden wie auch ästhetischen Ansprüche der Ballettkomödie; es ermöglicht eine interdisziplinär ausgerichtete, dem Untersuchungsgegenstand angemessene Betrachtung mithilfe literatur-, theater- wie auch kulturwissenschaftlicher Methoden: Die Studie beleuchtet im Kontext absolutistischer Kulturpolitik eingehend die politischen Machtdiskurse und gesellschaftlichen Machtstrukturen sowie deren artistische Repräsentation und Funktion in Molières Ballettkomödien. Sie ist gewillt, ein neues Verständnis von Molières Kunst unter der Prämisse eines aktiven Beitrags zum System der absolutistischen Repräsentation Ludwigs XIV. – einer Ästhetisierung der Macht – aufzuzeigen. Obschon des Öfteren in der traditionsreichen Molière-Forschung versucht wurde, die klassische Gesellschaft mithilfe von Molières Komödien zu rekonstruieren, wurde lediglich bei gelungenen Interpretationen der Hintergrund der klassischen Kultur respektive Politik miteinbezogen. Jedoch wurde bislang eine soziokulturelle Lesart speziell der Ballettkomödie, ihre genrebedingte Performance wie auch ihr politisches Wirkungsspektrum im Sinne einer auf dem Phänomen der Komik sich konstituierenden Machtästhetik nicht ins Zentrum der Analysen gerückt. Diese Desiderate sollen mit vorliegender Studie erschlossen werden.

Molières hybrides Genre fordert seit jeher – und bis heute – Philologen heraus, wenn es darum geht, dieses zu definieren beziehungsweise eine Gattungspoetik für dieses zu verfassen. Der Grund hierfür ist im Mangel einer Poetik zu finden; es existiert kein von Molière geschaffenes literaturtheoretisches Regelwerk, sodass sich die Poetik der Ballettkomödie aus der Gesamtheit aller aus dem Dramentext selbst und aus dessen Paratexten erschließbaren Spezifika herleiten muss. In der aktuellen Ausgabe des Dictionnaire de l’Académie Française von 2005 erscheint die comédie-ballet als Untereintrag zu comédie mit einer ungenauen Definition und einem falschen Beispiel: „Comédie-ballet, comédie entremêlée de danses. Psyché est une comédie-ballet.“4 Die Ballettkomödie ist weit mehr als eine Komödie mit Tanzeinlagen und Psyché ist eine tragédie-ballet. Diese stiefmütterliche Betrachtung der Ballettkomödie schlägt sich auch in der Tatsache nieder, dass erst in jüngster Zeit5 die umfangreichen Texte der Tanz- und Musikeinlagen in den Molière-Editionen erscheinen. Trotz einiger Schriften zur Gattung der Ballettkomödie – hierzu zählen insbesondere diverse Publikationen von Maurice Pellison6, Charles Mazouer7 und Stephen H. Fleck8 – liegt eine umfassende Gattungspoetik bis heute nicht vor. Hinsichtlich dieses Desideratums schickt sich die vorliegende Studie an, eine Gattungspoetik der molièreschen Ballettkomödie zum ersten Mal in umfassender Weise zu erstellen, mit dem Ziel einer Präzisierung der Definition wie auch einer Verortung des Genres in der aktuellen Gattungslandschaft. Dabei wird ein Hauptaugenmerk auf der Verzahnung der diversen Kunstsprachen liegen, die in ihrem Zusammenwirken zu einem facettenreichen Darstellungsrepertoire führen und eine neue Theatersprache im klassischen Theater herausbilden. Zudem interessiert in diesem Kontext die Intermedialität, der Homogenisierungsprozess von Komödie und Intermedium, die Dramatisierung und Theatralisierung von Musik- und Tanzeinlagen.

Nach Bestimmung des Forschungsgegenstandes wird zu klären sein, was die Machtästhetik konstituiert und wie sie sich auszeichnet. Hinsichtlich des eben Erwähnten spielt das der Komödie inhärente komische Moment eine Schlüsselrolle, wenn ich davon ausgehe, dass Komik als eine Schnittstelle zwischen Macht und Ästhetik fungiert. Ein fundamentaler Gedanke zu dieser These, der die Komikforschung von der Antike bis in die Neuzeit trotz sämtlicher Differenziertheit der Ansätze leitmotivartig durchdringt, lässt sich als ‚Theorie einer Normabweichung, des Fehlerhaften‘ im Sinne von etwas in verschiedengestaltiger Art und Weise ‚Atypischem‘ resümieren.9 Sonach ist das Komische Ausdruck einer Normabweichung, die sich in den Ballettkomödien im nichtkonformen Betragen einiger Figuren manifestiert. Diese opponieren mit den gültigen bienséance-Vorstellungen des Hofes und liefern sich untereinander wie auch mit den Vertretern der sozialen Schicklichkeit komische Agone. In einem der Gattungstypologie Rechnung tragenden Strukturmodell, bei dem die Assoziation von Sprache, Gesang und Tanz als Grundlage dient, werden die agonalen Strukturen hinsichtlich der Dramen- respektive Sujetstruktur aufgezeigt und das Möglichkeitsspektrum des komischen Agons festgelegt. Zudem soll das Wesen der klassischen Komik anhand dieses theoretischen Konzepts bestimmt und die lebensweltliche Reaktion des Lachens im funktionsgeschichtlichen Kontext von la cour et la ville eruiert werden. Diese strukturalistische Herangehensweise wird sodann mit einer anthropologischen Perspektivierung vertieft und komplettiert. Hierzu bedarf es einer detaillierten Analyse der komischen Helden mittels der Ideen zeitgenössischer französischer Moralisten, da ich davon ausgehe, dass der entfesselte amour-propre dieser Protagonisten als Urheber der konfliktreichen Intrigen bestimmt werden kann, ergo das zentrale komische Moment generiert, das sich in Form einer Normdivergenz in der Handlungswelt manifestiert. Das Etappenziel dieser Studie ist schließlich die Bestimmung der Komik in den Ballettkomödien anhand sozialanthropologischer Hintergründe und deren Verquickung mit der generischen Struktur der Ballettkomödie. Diese Ausführungen fügen sich unter nachstehender Prämisse in den Leitgedanken der Studie ein: Wenn die comédie-ballet für ideologische Zwecke eingesetzt wurde, dann müssen im Dramentext gewisse Strukturen insbesondere in der Konstitution der Komik – dem zentralen Phänomen dieser Ballettkomödien – auffindbar sein, welche die Instrumentalisierung der Ballettkomödien zur Machtostentation und -konsolidierung sicherstellen.

Auf diesen gewonnenen Erkenntnissen aufbauend wird eine gattungsspezifische Komikästhetik anhand des Dualismus von Ästhetik und Ethos unter Berücksichtigung artistisch-performativer, satirischer als auch anthropologischer Aspekte herausgearbeitet, womit die Überlegungen zur Machtästhetik fortgesetzt werden. Funktion und Wirkungsweise der Komik werden unter der Hypothese betrachtet, dass Molières Komik ein ästhetisches Konstrukt klassischer Ganzheit im Spannungsverhältnis von niederer und hoher Kunst widerspiegelt, von reinem Divertissement und tiefsinniger Belehrung – wie die divergenten Haltungen in der Molière-Forschung immer wieder erkennen lassen.

Zum Schluss der Studie werden die Überlegungen zur Komikästhetik in den Ballettkomödien fortgeführt, indem sie in den Kontext absolutistischer Kulturpolitik gesetzt werden. Die Ausführungen orientieren sich hierbei an Michel Foucaults Analytik der Macht10 wie auch an den Forschungsarbeiten zu den absolutistischen Repräsentationstechniken von Jean-Marie Apostolidès11, Peter Burke12 und Louis Marin13 und eruieren die machtpolitische Bedeutung im gattungspoetologischen Spektrum der Ballettkomödien. Diese Abschlussbetrachtung liefert letztlich ein Verständnis zur Machtästhetik in den Ballettkomödien.

1Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie

1.1Auftakt und Selbstverständnis einer neuen Gattung

Das 17. Jahrhundert gilt als das goldene Zeitalter des Theaters und des Balletts in Frankreich. Diese Blütezeit erklärt sich mit der gesellschaftlichen und politischen Funktion, die diesen Unterhaltungsmedien zuteilwird. Es ist sicherlich kein Zufall, dass mit dem Beginn der Selbstregierung Ludwigs XIV. im Jahre 1661 nicht nur ein politischer, sondern auch ein gattungstypologischer Umbruch zu verzeichnen ist. Molière läutet am 17. August desselben Jahres im Park des Château de Vaux-le-Vicomte mit Les Fâcheux die Geburtsstunde einer neuen Theaterära ein. Paul Pellissons Prolog zu besagter Ballettkomödie apostrophiert in panegyrischem Gestus die Exklusivität dieser Komposition „[pour] le plus grand Roi du Monde“ (LF, 151):

Faut-il en sa faveur, que la Terre ou que l’Eau

Produisent à vos yeux un spectacle nouveau?

Qu’il parle, ou qu’il souhaite: Il n’est rien d’impossible:

Lui-même n’est-il pas un miracle visible?

[…]

Je vous montre l’exemple, il s’agit de lui plaire,

Quittez pour quelque temps votre forme ordinaire,

Et paraissons ensemble aux yeux des spectateurs,

Pour ce nouveau Théâtre, autant de vrais Acteurs.1

(LF, 151f.)

Diese programmatische Ouvertüre seiner neuen Kulturschöpfung inszeniert Molière archetypisch sowohl mit der Figur des Satyrn, der literaturgeschichtlich als Kulturbringer und Erfinder der Musik gilt, als auch mit der Figur der Najade, die nicht nur als Fruchtbarkeitsgöttin, sondern vor allem aufgrund ihrer prophetischen Kräfte geschätzt wird. Molière sollte diese prophetische Gabe im Sinne seiner artistischen Ausrichtung ebenfalls vergönnt sein. Er wird mit der prunkvollen Inszenierung seiner Ballettkomödie dem Zeitgeist des plaire wie auch dem königlichen Anspruch eines exklusiven Grand Divertissement gerecht, denn bis zu seinem Tode im Jahr 1673 sollte dieser spectacle nouveau zu den beliebtesten Kulturereignissen am französischen Hof werden und maßgeblich die absolutistische Kulturpolitik prägen.2

Doch worin besteht die poetologische und gattungstypologische Neuheit dieser inszenierten Kunstform? Einen zunächst pragmatischen Hinweis scheint der Avertissement zu Les Fâcheux zu geben, in welchem Molière erläutert, wie aus einer Not heraus, die Idee einer Kombination von Komödie und Ballett entstand:

Le dessein était de donner un Ballet aussi; et comme il n’y avait qu’un petit nombre choisi de Danseurs excellents, on fut contraint de séparer les Entrées de ce Ballet, et l’avis fut de les jeter dans les Entractes de la Comédie, afin que ces intervalles donnassent temps aux mêmes Baladins de revenir sous d’autres habits. (LF, 150)

Das schlichte Dazwischenreihen des Balletts stellt den Künstler nicht zufrieden; er erkennt schon frühzeitig, dass die Zusammenfügung verschiedener künstlerischer Ausdrucksformen nur gelingen kann, wenn der Verlauf der Komödie nicht gestört wird und Ballett und Komödie miteinander verschmelzen: „De sorte que pour ne point rompre aussi le fil de la Pièce, par ces manières d’intermèdes, on s’avisa de les coudre au sujet du mieux que l’on put, et de ne faire qu’une seule chose du Ballet, et de la Comédie.“ (LF, 150)

Die Herausforderung dieses Arrangements besteht darin, sowohl die Dramen- als auch die Sujetstruktur so anzulegen, dass die zwischen den Akten sich ereignenden Intermezzi oder ornements – wie sie Molière zunächst nennt –3 möglichst eng mit der Komödie verbunden werden können, womit ihnen selbst ein Aktionsmoment zugesprochen wird. Obschon die Intermedien für die dramatischen Vorgänge nicht immer zwingend von Belang sind, sind sie dramaturgisch dadurch zu rechtfertigen, dass sie die Komödienhandlung wirkungsvoll vertiefen und akzentuieren.

Eine weitere ästhetische Anforderung resultiert aus dem inhärenten Anspruch, die drei Künste sowie deren Sprachen im Sinne eines Gesamtkunstwerks zu harmonisieren. Es handelt sich hierbei nicht nur um die Synchronisierung der Dialogsprache der gespielten Komödie mit der Sprache des Tanzes, sondern auch um die Integration musikalischer Ausdrucksweisen, die häufig Teile der Komödie samt Intermezzi instrumentell unterlegen. Die hohe Einbettung künstlerischer Darstellungen in Form von Gedichtrezitativen, von Gesang- und Tanzepisoden sowie lazzi in die Mikrodramenstruktur4 der Komödie hebt die Ballettkomödie zusätzlich von herkömmlichen Komödien ab. Dieser Sachverhalt lässt erkennen, dass die Mikrostruktur die Makrostruktur des Genres widerspiegelt. Es ist von einer mise-en-abyme-Struktur der Ballettkomödie zu sprechen: Die comédie-ballet definiert sich durch sich selbst.

Die Heterogenität dieser Kunstwerke zeigt sich ebenso in der Problematik ihrer Bezeichnung, in ihrer Klassifikation, die schon zu Molières Zeiten Schwierigkeiten bereitete. So sind zunächst folgende Werkbetitelungen gewählt worden: comédie, comédie mêlée de danses et de musique, comédie mêlée avec une espèce de comédie en musique et ballet, comédie mêlée de musique et d’entrées de ballet, comédie galante mêlée de musique et d’entrées de ballet, ballet et comédie. Unter dem Terminus comédie-ballet lässt Molière nur das Lustspiel Le Bourgeois gentilhomme erscheinen, das in den Literaturkritiken als die Vollendung dieses Komödientypus Beifall findet und dessen Namenskompositum die Einheit der beiden Kunstformen zu erkennen gibt. Der Begriff sollte jedoch erst im frühen 18. Jahrhundert in der von Marc-Antoine Jolly zusammengestellten Werkedition adaptiert und definitiv für diesen Komödientypus festgelegt werden.5 Es dauert ein weiteres Jahrhundert bis der Begriff in den Dictionnaire de l’Académie française Eingang findet. Die Ballettkomödie wird 1832–1835 in der sechsten Edition des Nachschlagewerkes als Untereintrag zur Komödie angeführt und äußerst rudimentär, ohne Nennung eines repräsentativen Beispiels und Genrevertreters, definiert: „[C]omédie-ballet, se disait autrefois de Certaines comédies dont chaque acte se terminait par un divertissement de danse.“6 Anhand der Vielfältigkeit der ursprünglichen Komödienuntertitel, die unbestritten einen ersichtlicheren Hinweis auf die Spezifität des Genres geben als der Eintrag des Akademiediktionärs, lässt sich die von Molière intendierte Wesensart dieser Kunstwerke herauslesen: Sind es doch Musik, Tanz und Komödie, die das Genre bestimmen und es zugleich als solches definieren – drei Kunstarten verschmolzen zu einer. Hierbei gibt sich das absolutistische Prinzip der discordia concors der Zeit zu erkennen, welches sowohl auf das politische als auch das künstlerische Feld einwirkt.

Strukturell gesehen besteht die Ballettkomödie aus einer binären Anordnung von Komödie und Intermezzo. Alle Einlagen werden in die Komödienhandlung miteinbezogen, worin sich die Ballettkomödie vom einfachen Zwischenspiel unterscheidet.7 Während die Komödie das Ballett integriert, kann die Ballettkomödie als Ganzes selbst im Rahmen der absolutistischen Divertissements überdies in den ballet de cour integriert sein, wie zum Beispiel der Ballet des Muses belegt. Die Intermezzi reichen in der Ballettkomödie von kleinen Sketch-Einlagen, einfachen Tänzen, Pantomimen, Chören, Musikstücken und Rezitationen über Singspiele mythologischen und surrealistischen Charakters, pompös ausgestattete Balletttänze, burleske Typenstücke, fantasievolle und exotische Aufzüge sowie Pastoralen bis hin zu den großen karnevalesken Zeremonien der letzten beiden Werke dieses Genres, Le Bourgeois gentilhomme und Le Malade imaginaire. Die Tänzer der Hofballette sind in diesen Zwischenspielen allegorische und mythische Figuren, Schäfer in den Pastoralen, Menschen aus dem täglichen Leben und Leute aus den Provinzen oder gar aus exotischem Raum. Das Herausstreichen dieser Episoden – aufgrund aufführungstechnischer Engpässe des Theaters in Paris –8 führte zu einer Deformierung der gesamten Ästhetik und entsprach keineswegs der Absicht des Erfinders: „Ce que je vous dirai, c’est qu’il serait à souhaiter que ces sortes d’ouvrages pussent toujours se montrer à vous [les spectateurs, Anm. S.W.] avec les ornements qui les accompagnent chez le Roi“ (AM, 603), wie Molière im Vorwort zu L’Amour médecin für seine Reprisen ausdrücklich wünscht. Die verkürzten Versionen der comédies-ballets wurden von den Theatergängern nicht immer so euphorisch rezipiert wie die Uraufführungen, da die für den spektakulären Charakter der Ballettkomödien sorgenden Intermezzi fehlten. Zudem widersprechen die modifizierten Komödien ob ihrer defizitären Gestaltung dem Zeitgeist der Klassik, der Unterordnung der Teile unter ein harmonisches Ganzes.9 Anhand der negativen Publikumsreaktionen zu den prunklosen Ersatzvarianten lässt sich der kulturell datierte goût mondain10 rekonstruieren. Jenen trifft Molière nicht nur durch das harmonische Arrangement von Dramen- und Sujetstruktur beider Teile, sondern auch durch die Reichhaltigkeit der szenischen Gesamtrepräsentation, die sich am aufwendigen Bühnenbild, an der opulenten Kostümierung und der hohen Anzahl an Schauspielern, Tänzern und Musikern ablesen lässt. Zudem liegt das Novum des spectacle gerade in der selektiven Rollenbesetzung. Den im Eingangszitat erwähnten „vrais Acteurs“ ist eine doppelte Bedeutung zuzusprechen: Mit der Attribuierung „vrais“ wird nicht nur auf die Professionalität der Berufsschauspieler des Illustre Théâtre angespielt, sondern auch auf den Auftritt einer Gesellschaftselite, die sich in den Ballettkomödien lebensecht als Tänzer und Sänger in Szene setzt. Die großzügige Ausstattung für einen einzigen Festtag steigert neben der Tatsache, dass der König sowie ranghohe Adelige bei der Aufführung als Tänzer mitwirken, den Exklusivitätswert der Uraufführungen ins Unermessliche.11

Diese voropernhafte Inszenierung bedarf zur professionellen Umsetzung eines Expertenteams, das sich aus Jean-Baptiste Lully für die Musik, Pierre Beauchamp für das Ballett, Carlo Vigarani für die Bühnentechnik und Molière als Dramaturg, Regisseur, Schauspieler und Hauptkoordinator zusammensetzt.12 Dieses Künstlerquartett arbeitet in den 1660er Jahren Hand in Hand.13 Molières Dramentexte bilden die Grundlage der Spektakel und bestimmen die thematische Realisierung wie auch den Charakter der Veranstaltungen. Die Beiträge der anderen Künstler komplettieren, bereichern und nuancieren die Theaterstücke mit ihrem jeweiligen Kunsthandwerk. Lullys und Beauchamps künstlerische Individualität und Kreativität beeinflussen die musikalischen und choreografischen Stilmittel – den Einsatz von Ton- und Bewegungssemantik – und prägen in signifikanter Weise die Ästhetik der Zwischenspiele. Ihre Beiträge werden indes in die allgemeine Ökonomie des Schauspiels eingeschrieben und tragen zur Konstruktion der Gesamtbedeutung bei, deren Direktive das Privileg des Bühnenautors ist: Molière erdenkt sich die Totalität des Spektakels und die Integration der Ornamentik entsprechend der dramatischen Progression. Er war bei alldem nicht nur Initiator und Urheber der Ballettkomödie, sein Ableben besiegelt zudem das fast gänzliche Ende der Gattung.14 In diesem Sinne gehört die comédie-ballet zuerst und von Grund auf Molière.15

Bereits vor der Zusammenarbeit mit den genannten Künstlern sammelt Molière in seinem wenig bekanntem Ballett Les Incompatibles16 (1655) erste Erfahrungen in der Koordination von diversen Theatersprachen. Dieses Ballett verfasst und leitet er für den Prince de Conti in Montpellier – noch vor den Aufführungen seiner ersten Komödien in Paris. Das Werk ist in zwei Akte gegliedert, die inhaltlich jeweils mit einer Serie von gegeneinander agierenden Oppositionsfiguren versehen sind; zum Beispiel Un vieillard et deux jeunes hommes im vierten Entree des ersten Aktes oder L’Éloquence et une Harengère im dritten Entree des zweiten Aktes. Die Einheit des Balletts besteht im Sinne der im Titel erwähnten Programmatik im Zusammenbringen von Gegensätzen, um deren Kontrastwirkung theatralisch eindrucksvoll entfalten zu können. Es manifestiert sich schon in diesem simplen Ballett das für Molières Dramaturgie fundamentale Prinzip der komischen Agonik, das er in seinen Ballettkomödien weiter verfeinern und ausbauen wird. Zudem verweist das poetologische Konzept auf die komische Gesinnung seines Tanztheaters: „There are moments of comedy which point to the formidable talent to be displayed in later plays of Molière’s career.“17Les Incompatibles ist ein experimentierfreudiges Frühwerk des Künstlers, das auf seine weitere Schaffensphase und auf seine späteren Ballettkomödien einen wichtigen Einfluss haben wird.

Aufgrund der von Molière nicht eindeutig mit comédie-ballet etikettierten Theaterstücke ist man sich über die Gesamtzahl der Ballettkomödien bis heute uneinig. In der Regel ergeben sich Probleme bei der Zuordnung der beiden Theaterstücke Mélicerte und Psyché: Es existieren keine genauen Daten hinsichtlich der Uraufführung von Mélicerte, ja es gilt nicht einmal als gesichert, ob dieses Theaterstück überhaupt aufgeführt wurde. Weitere Zweifel ergeben sich dadurch, dass es ein unvollendetes Werk ist, das aus zwei Akten besteht.18Psyché ist als tragédie-ballet bezeichnet und sollte auch eher als eine Untergattung der Tragödie verstanden werden, weil sich die Balletttragödie sowohl thematisch als auch in ihrer tragischen Ausrichtung strukturell von den anderen Ballettkomödien unterscheidet. Des Weiteren ist anzuführen, dass es sich bei diesem tragédie-ballet um ein dramaturgisches Gemeinschaftswerk von Pierre Corneille, Philippe de Quinault und Molière handelt.19 Demzufolge kann derzeit unter Ausschluss der beiden angeführten Stücke von zwölf molièreschen Ballettkomödien im engeren Sinn ausgegangen werden.

Den zwölf Ballettkomödien entsprechen zwölf Aufführungstage für die jeweiligen Premieren, an denen sie so exklusiv erscheinen, dass ihre Reprisen fast immer Abstriche hinnehmen müssen. Zur Differenzierung werden die Erstaufführungen der zwölf comédies-ballets moliéresques am Hof in ihrer Gesamtheit unter dem Begriff ‚Dodekameron‘ zusammengefasst. Es handelt sich hierbei um eine Kongruenz von Aufführungstagen und der Anzahl literarischer Werke. Für die anstehende Analyse der Theaterstücke ist es dienlich, sich dem idealen Aufführungsgeschehen weitestgehend anzunähern und dieses erscheint mir in den Aufführungsbedingungen des Dodekamerons am besten verwirklicht zu sein. Schließlich die Ballettkomödien in chronologischer Reihenfolge: Les Fâcheux (1661), Le Mariage forcé (1664), La Princesse d’Élide (1664), L’Amour médecin (1665), La Pastorale Comique (1667), Le Sicilien, ou l’Amour peintre (1667), George Dandin ou le Mari confondu (1668), Monsieur de Pourceaugnac (1669), Les Amants magnifiques (1670), Le Bourgeois gentilhomme (1670), La Comtesse d’Escarbagnas (1671) und Le Malade imaginaire (167420).

1.2Antike und frühneuzeitliche Quellen der Gattung

Die historische Fragestellung darf bei einer Gattungspoetik nicht fehlen, denn sie eruiert die kulturellen Wurzeln und gattungshistorischen Traditionen, die unter dem Gesichtspunkt einer Gattungsfusion1 entscheidend für den Stellenwert der Innovation sind: Die Ballettkomödie stellt im Zeitalter der Querelle des Anciens et des Modernes die aristotelische Mimesis im Sinne einer auf Imitation basierenden Dichtkunst infrage, wenn sie mit einer selbstbewussten aemulatio antwortet. Die Neuartigkeit der Gattung für das französische Theater der Klassik betont Molière im Avertissement von 1661 explizit. Zugleich schränkt er seine Entdeckung ein, wenn er sich im Konjunktiv vage auf mögliche antike Autoritäten beruft: „[C]’est un mélange qui est nouveau pour nos Théâtres, et dont on pourrait chercher quelques autorités dans l’Antiquité […].“ (LF, 150) Charles Mazouer sieht in den fehlenden Angaben etwaiger antiker Autoritäten eine Witzelei Molières. Für ihn handelt es sich um den Spott eines Autors, der selbstbewusst der Regelbesessenheit der gelehrten Pedanten trotzt: „Ce genre tout moderne, apparu dans un contexte bien particulier et bien daté, n’a pas de référence dans l’Antiquité.“2 Wenn Molière tatsächlich eine Witzelei im Sinn gehabt hätte, so ist Mazouer darin zuzustimmen, dass diese auf die Pedanterie der Regelvertreter abzielen wollte. Jedoch schließt das Vorwortzitat mögliche Vorformen der Ballettkomödie nicht aus. Dass Molière selbstsicher die Innovation seines geschaffenen Genres nach außen tragen kann und nicht explizit auf antike Autoritäten zurückgreifen muss, um jenes als ‚neu‘ zu rechtfertigen, liegt unter anderem daran, dass bei aller Neuheit gewisse ästhetische, poetologische und gattungstypologische Regeln der gängigen doctrine classique im weitesten Sinne nicht verletzt werden.3 Ferner bekräftigt er stets die vernünftige Seite seiner Komödien, wie beispielsweise im Premier Placet au Roi von Le Tartuffe: „Le Devoir de la Comédie étant de corriger les Hommes, en les divertissant.“ (LT, 191)

Doch wo liegen die antiken Wurzeln, die Molière in konjunktivischer Form andeutet? In welche literaturgeschichtliche Gattungstradition ließe sich die Ballettkomödie einordnen? Antworten auf diese Fragen findet man zunächst im Ursprung der Komödie, bei den Feierlichkeiten um den Dionysos-Kult in der Stadt Megara im 6. und 5. Jahrhundert vor Christus.4 Der Gott des Weines und der Fruchtbarkeit wurde in den nach ihm benannten Dionysien mehrere Tage lang mit burlesken Prozessionen gefeiert, die mitunter Phallusdarstellungen, tanzende und singende Chöre, Satire- und Sketchspiele enthielten. Die Etymologie des griechischen Wortes κωμῳδία (kômôidia) bestätigt diesen Ursprung: Die kômôidoi sind ursprünglich die „Sänger des kômos“, das heißt der dionysischen Prozession, jene, die einen Text – Vorläufer des Komödientextes – interpretierten und improvisierten.5 Man erkennt in dieser vorliterarischen Form Elemente, die an die Ballettkomödien erinnern: Zu nennen sind Tanz, Musik, Satire, bacchantische Einlagen in den Zwischenspielen, der Improvisationscharakter der Situationskomik, das apotheotische Moment wie auch die kulturelle Funktion eines Festspiels. Letzteres dient am Hof von Ludwig XIV. dessen Repräsentationskultur mit größter Schauwirkung. Diese zunächst noch autonomen Bestandteile der Dionysien bestimmen das Wesen der Ballettkomödie, jedoch in einer in erheblichem Maße verfeinerten und strukturierteren Darstellung.

Die dramatische Struktur wird in der Alten Komödie besonders unter Aristophanes elaboriert und gefestigt.6 Es ist interessant und hinweisgebend für das Verständnis der Intermedientradition zugleich, dass die in der Alten Komödie integrierte Parabase7 bereits die Idee einer Intervention in die Hauptkomödienhandlung erkennen lässt. Die Chorinterventionen sind fester Bestandteil des attischen Theaters mit unterschiedlichen Funktionen: Der Chor ist Betrachter und Kommentator des Geschehens, an welchem er sich zugleich als Akteur beteiligt, indem sein Agieren oftmals eine Art Parallelhandlung zur Haupthandlung darstellt.8 Er interveniert ungleichmäßig in die Handlungsphasen des Dramas, das bis dato noch nicht in Akte unterteilt ist. Im Verlauf der Dramenentwicklung verringert sich seine dramatische und thematische Bedeutung, bis er in der Neuen Komödie auf Zwischenaktmusik reduziert wird.

Zu Beginn der hellenistischen Epoche erschließt sich aus der Alten Komödie eine weitere antike Quelle für die Ballettkomödie, die Neue Komödie von Menander. Sie überzeugt das zeitgenössische Publikum mit ihrem politiklosen Sujet, aber auch mit ihrer Struktur, wodurch sie sich von der Alten Komödie absetzt und eine neue Etappe in der europäischen Komödienentwicklung markiert. Die Neue Komödie charakterisiert sich durch das Verschwinden der Wettkämpfe und der Parabase sowie durch die Reduzierung der Chorinterventionen, die fortan nur noch aus kurzen gesungenen und getanzten Intermezzi zwischen den Akten bestehen und nicht mit der Komödienhandlung verbunden sind.9

Als Ausgangspunkt für das Intermedientheater kann das antike Theater aufgefasst werden. Die molièreschen Intermezzi lassen traditionelle Strukturen des antiken Chors erkennen, da jene ebenfalls eine dramatische und thematische Bedeutung haben und ein Aktionsmoment beinhalten. Dennoch unterscheiden sich die klassischen Intermedien von den antiken Chorinterventionen dahingehend, dass sie keine Reflexionsinstanz im Sinne der Parabase verkörpern und keine die Komödienfiktion sistierenden Interventionen darstellen. Sie bereichern durch Spiegelung, Parodierung, Kontrastierung und Weiterführung die Komödienhandlung. Darüber hinaus stellen sie unter formalem Aspekt eine Aktmarkierung dar. Das verbindende Moment zum antiken Chor muss sonach in einer ästhetischen Verschiebung der dramen- und sujetstrukturellen Relevanz der Intermedien gesucht werden. Molières Einheitsstreben führt insgesamt zu einem Gewinn an neuer dramatischer und thematischer Kontinuität und Konformität,10 womit er sich auch von der Neuen Komödie distanziert. Obschon Menander bereits Musik- und Tanzeinlagen als Bereicherung in seine Neue Komödie aufnimmt, erhebt dieser keineswegs den künstlerischen Anspruch Molières, die Dramen- und Sujetstruktur der Zwischenspiele mit der Komödienstruktur ästhetisch harmonisieren zu wollen. Dies hat zur Folge, dass sich die Ballettkomödie im Hinblick auf ihre Komikästhetik von den beiden antiken Komödientypen unterscheiden wird. Das Aktionspotenzial der Intermedien fließt sonach in die Komödienhandlung mit ein und führt zu einer dynamischen Gesamtdarstellung, die aus Ballett und Komödie synergetisch zusammengefügt ist. Die antiken Maßgeblichkeiten – wie man „autorités“ ebenfalls lesen kann – können aufgrund ihrer hybriden Struktur sowie ihrer inspirierenden Künstefusion für Molière als Referenzpunkt gegolten haben.11

Mit der commedia dell’arte wird die neue Ästhetik des französischen Autors überdies durch eine frühneuzeitliche Quelle inspiriert. Abgesehen davon, dass Molière von Tiberio Fiorelli, dem bekannten Schauspieler dieses auch in Frankreich praktizierten Theaters, einiges über seine später verwendete gestische Ästhetik lernt, interessieren im Zusammenhang mit der binären Struktur der Ballettkomödie vordergründig die lazzi. Die komischen Einlagen, die zum festen Bestandteil dieses Theatertypus gehören, werden immer dann ausgespielt, wenn der improvisierte Spielfluss zu stocken droht und das Hauptspiel neu organisiert werden muss.12 Angesichts des Umstandes, dass den Schauspielern der commedia kein vollständiger Rollentext zur Verfügung steht, sondern nur ein grobes Handlungsschema, ein canavaccio oder scenario, ist die Beherrschung der lazzi ein wichtiges Element des Schauspielerrepertoires. Die Akteure vermögen innerhalb ihrer Typenrolle die komischen Gags situationsbezogen einzusetzen wie auch zu variieren und können damit über Engpässe in der Haupthandlung hinwegtäuschen. Die Schlüsselidee liegt in der situationsbezogenen Integration theatralischer Elemente in den Handlungsverlauf des Hauptspiels, wodurch der Eindruck erweckt werden soll, dass sie tatsächlich dazugehören. Die zunächst unfreiwilligen lazzi erfreuen sich großer Beliebtheit und tragen maßgeblich zur Gattungsspezifik bei. In der commedia dell’arte findet man daher eine weitere Spielart von Handlungsinterventionen, die eher zufällig während der Aufführung entstehen und anders motiviert sind als bei Aristophanes und Menander, denn sie geben nicht Musik- und Tanzeinlagen Priorität, sondern Einlagen schauspielerischen Agierens.

Molière kombiniert die aus der antiken und frühneuzeitlichen Interludientradition der Komödie stammende Trias Musik, Tanz und schauspielerisches Agieren in seinen Interludien. Er verschafft ihnen ein starkes Aktionspotenzial, indem er die Musik- und Tanzeinlagen durch die Einbindung in die Dramen- und Sujetstruktur der Komödie dramatisiert wie auch theatralisiert und über das mimische Moment komisiert.

1.3Vorklassische und klassische Einflüsse auf die Gattung

1.3.1Das Französische Ballett

Ein weiterer kultureller wie auch struktureller Einfluss, der die Entstehung der Ballettkomödie begünstigt, ist im ballet de cour1 zu finden, der sich durch seine Mischung aus Musik und Gesang, Rezitativen und Tanz sowie spektakulären Umzügen am Hof auszeichnet:

Les ballets de cour se composaient d’entrées, de vers et de récits. Les entrées étaient muettes; on voyait s’avancer sur le théâtre des personnages dont le poëte avait disposé les caractères, les costumes et les mouvements, en leur donnant à figurer par la danse une espèce d’action. Le programme ou livre distribué aux spectateurs les mettait au fait de ce qu’étaient les danseurs et de ce qu’ils voulaient exprimer. De tout temps on y avait joint quelques madrigaux à la louange des personnes qui devaient paraître dans les divers rôles, et c’était là ce qu’on appelait les vers, qui ne se débitaient pas sur la scène, qui n’entraient pas dans l’action, qu’on lisait, ou des yeux ou à voix basse, dans l’assemblée, sans que les figurants y eussent part, sinon pour en avoir fourni la matière. Les récits, enfin, étaient des tirades débitées ou des couplets chantés par des personnages qui ne dansaient pas, le plus souvent des comédiens, et qui se rapportaient au sujet de chaque entrée.2

Gemäß Anaïs Bazins Definition ist dem ballet de cour nicht der Charakter eines dramatischen Werkes zuzuschreiben; häufig ist er lediglich ein Spektakel, das mit den diversen Künsten zu improvisieren scheint.

Das Hofballett wird mit dem Ballet Comique de la Reine (1581) von Balthasar de Beaujoyeulx im 16. Jahrhundert etabliert. Dieses Ballett dient der monarchischen Propaganda, denn der darin evozierte Aktualitätsbezug zur politischen Lage ist evident: Die Götter überwinden die Zauberin Circe ebenso glorios wie der französische König die Religionskriege. Die im 17. Jahrhundert verstärkte Weiterentwicklung des französischen Tanzspiels ist auf das politische Ereignis der Fronde (1648–1653) zurückzuführen. Inmitten der Regierungskrise repräsentiert der tanzende Dauphin – zum Beispiel im Ballet de la nuit (1653) als mächtiger Apollo – Stärke, Ordnung und Stabilität des monarchischen Systems, das den politischen Unruhen Einhalt gebieten sollte.3 Er gibt den Tanzrhythmus vor und weiß großmächtige Höflinge im Gesellschaftstanz wie auch auf der Bühne zu bändigen. Besonders begnadete Tänzer der Oberschicht haben die Ehre, aktiv auf der Bühne mitzuwirken. Die adeligen Tänzer sind der Inbegriff von Disziplin und dienen mit ihren Auftritten als Paradebeispiel einer vollendeten Systemanpassung und -unterwerfung: „Die Domestizierung und Unterwerfung des gesamten französischen Adels wird im ‚grand bal du roi‘ durch das Zeremoniell stets von neuem sichtbar gemacht und bestätigt.“4 In dieser Zeit setzt sich die Politisierung des Balletts in Frankreich zunehmend durch,5 symbolisiert es doch kulturpolitische Ansichten und legitimiert diese zugleich in ihrer Repräsentation.6 Die machtverklärende Funktion des ballet de cour ist in den comédies-ballets erhalten geblieben, sodass das Erbe der politischen Funktion im neuen Genre fortleben kann.

Zur Ausbildung einer edlen Bewegungsästhetik wird Ludwig XIV. bereits im Kindesalter in seiner, wie sich später zeigen wird, großen Passion für den klassischen Tanz gefördert. Es handelt sich um eine Leidenschaft machtverklärenden Ursprungs, die durch die Gründung der wissenschaftlichen Académie royale de danse im ersten Jahr seiner Selbstregierung institutionell ihren Ausdruck findet. Damit liegt der kulturellen Tanzpraxis erstmals eine wissenschaftlich abgestützte Organisation zugrunde. Die staatliche Verankerung der Tanzeinrichtung fordert die Professionalisierung des Tanztheaters und verstärkt die gesellschaftliche Bedeutung des Tanzes. Das Bestreben und die Entwicklung einer glorreichen Tanzkultur, „die stufenweise Wandlung des Tanzes von höfischer Unterhaltung und Vergnügung zu theatralischer Darstellung“7 unter Ludwig XIV., erklären die tiefe Verankerung des Balletts in der französischen Kulturgeschichte. Der Tanzlehrer Pierre Rameau hebt zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Alleinstellungsmerkmal des schönen Tanzes der Franzosen im Vergleich zu den übrigen Europäern hervor:

Nous pouvons dire à la gloire de notre Nation, qu’elle a le veritable goût de la belle Danse. Presque tous les Etrangers loin d’en disconvenir, viennent depuis près d’un siécle admirer nos Danses, se former dans nos Spectacles & dans nos Ecoles; même il n’y a point de Cour dans l’Europe qui n’ait un Maître à danser de notre Nation.8

Im Zuge der Entwicklung des Tanztheaters ändert sich der Austragungsort der Ballette, die Bühne. Ab 1641 werden sie auf einer erhöhten Bühne aufgeführt, womit ein Perspektivenwechsel der Zuschauer einhergeht.9 Diese neue Bühnenkonstruktion sorgt für eine frontal und fluchtpunktartig auf den Herrscher ausgerichtete Choreografie, die den Tanz aristokratischer und pompöser wirken lässt.10 Dem Ballett wird auf diese Weise die gleiche Bühne wie dem Theater zuteil, eine Veränderung, die eine Kombination der beiden Gattungen im Sinne der Ballettkomödie favorisiert.

Da für die beiden Dynastien – Valois und Bourbonen – höfische Feste ein Kernpunkt ihrer politischen Strategie sind, wird die Beherrschung des Tanzes zu einem wichtigen Bestandteil des neuen Adelsideals. Der Tanz steigt zu einem signifikanten Element im System der repräsentativen Öffentlichkeit des Adels und der Selbstrepräsentation der Monarchie auf. Vermittels der Festchoreografie werden die soziale Rangordnung der Höflinge repräsentiert und die aristokratischen Zuschauer ihrerseits in das ideologische System integriert.11 Zudem wird die Tanzfertigkeit in der Ständegesellschaft als Mittel zur Distinktion gegenüber der avancierenden Bürgerschicht eingesetzt. Tanz zählt nach Nicolas Farets L’Honnête homme ou l’Art de plaire à la cour (1630) nebst anderen Bildungsidealen in allen Erziehungslehren zu den „exercices de galanterie“ der Höflinge, ebenso wie die musikalische Betätigung.12 Dergestalt stiftet das Ballett eine soziale und kulturelle Identität im 17. Jahrhundert.

Ferner lassen tanztheoretische Schriften13 aus der Zeit erkennen, dass der Tanz von gesellschaftlichem Vorteil ist, wenn die Tänzer die Harmonie und die Proportionen des Universums nachempfinden und ein Gefühl für Maß und Anstand entwickeln, wovon das soziale Gefüge profitiert.14 Die Ballettertüchtigung als Instrument zur Wesensverfeinerung begünstigt die Zurschaustellung der honnêtes gens am Hof in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die Art der Selbstpräsentation, der Bewegung, der Gestik und Körperhaltung der honnêtes gens ist nur zu deuten, wenn man versteht, dass ihre Körper durch tägliche Tanzübungen geformt werden. Die daraus resultierende Eleganz trägt zu einem Prestigefetisch der verlorenen politischen Macht bei. Ziel dieser Tanzübungen ist es, die menschliche Natur zur vollkommenen Entfaltung zu bringen. Im damaligen Verständnis ist der Körper eine mechanisch-physikalische Substanz, die es zu modellieren gilt. Im Sinne dieser auf Descartes beruhenden rationalen Funktionalisierung des Körpers muss alles beseitigt werden, was sich dieser entgegensetzt.15 Für den Tanz bedeutet dies, dass Ordnung in die kleinsten motorischen Einheiten und die immer komplizierter werdenden Tanzschritte gebracht werden muss. Die Tanzkunst unterweist die Tanzschüler, eine artifizielle Bewegung so auszuführen, dass sie natürlich erscheint. Die Bewegungsästhetik des 17. Jahrhunderts versteht sich als eine natürliche, als eine der menschlichen Natur angemessene;16 sie wirkt im heutigen somästhetischen Empfinden beinahe paradox. Aufgrund dieses Ausdrucksempfindens ist es für die physische Präsenz in der Gesellschaft von äußerster Wichtigkeit, dass man nicht den Eindruck einer affectation entstehen lässt,17 einer verkrampften Geziertheit, sondern den einer natürlichen Perfektion des Körpers, die auf dem absolutistischen Ordnungsprinzip fußt. Das Ballett ist für seine strenge Formeinhaltung bekannt und spiegelt die strengen gesellschaftlichen Konventionen der Zeit in seinem künstlerischen Ausdruck wider. Es ist das ideale Medium von Herrschafts- und Selbstdarstellung, denn der Tänzer verinnerlicht die Gesellschaftsordnung und kehrt diese aus seinem individuellen Inneren als Selbstdarstellung erneut nach außen.18

Es ist an dieser Stelle festzuhalten, dass der ballet de cour im Komplex von künstlerischem Ausdruck und soziopolitischer Absicht die Funktion erfüllt, den Hof und die höfische Kultur in der Zeit Ludwigs XIV. zu definieren und dem europäischen Ausland Hochschätzung abzunötigen.19 Als bevorzugtes Genre dominiert der ballet de cour bis ins Jahr 1661 die Unterhaltung am Hof. Mit dem Antritt der Alleinregierung sollte sich zusätzlich die comédie-ballet etablieren und mit dem französischen Hofballett koexistieren.20 Der ballet de cour wirkt hinsichtlich seiner soziokulturellen Relevanz auf das Schaffen Molières und damit auf die Ballettkomödien ein. Dieser Einfluss zeichnet sich außerdem durch eine strukturelle Prägung ab, die sich in der hybriden Struktur der Ballettkomödie zu erkennen gibt. Molière gelingt es, im Gegensatz zu den – in Anbetracht mangelnder Synchronisierung von Ballett und Musik – bis dato oft inhaltslosen, unstrukturierten Aufführungen, eine ästhetisch fein abgestimmte Inszenierung zu geben. Die Ballettkomödien schreiben sich somit in die vierte Etappe der Entwicklung des ballet de cour ein, dem Ballett von Isaac de Benserade.21 In der Tat eröffnen Les Fâcheux eine Periode der Koexistenz und bisweilen auch Kooperation zwischen dem inhaltlich und strukturell kohärenteren Ballett von Benserade und den molièreschen Ballettkomödien, die vorherige Tanzkompositionen auf Dauer ersetzen. Dieses Hofballett sticht durch einen dreigliedrigen Aufbau hervor, eine Struktur, die auch in Molières Werken deutlich zu erkennen ist. Nobuko Akiyama fasst sie wie folgt zusammen: „un ou plusieurs récits (partie chantée pour servir à l’intelligence du sujet du ballet), plusieurs entrées (succession de défilés de personnages richement costumés), et le grand ballet final (réunion des personnages des entrées précédentes)“22. Eine ähnliche Beobachtung macht bereits 1641 ein anonymer Zeitgenosse, der in seiner Aussage eine Engführung von Ballett- und Komödienstruktur antizipiert: „Les ballets sont des comédies muettes; les récits séparent les actes, et les entrées des danseurs sont autant de scènes.“23 Über diese strukturelle Verwandtschaft hinaus macht er durch die Gleichsetzung des Balletts mit dem komischen Genre deutlich, dass das Ballett eine verstärkt komisch ausgerichtete Gesinnung haben kann. Neben diesen etablierten Aufführungsstrukturen des Hofballetts finden sich sowohl in den Komödien als auch in den Intermedien des Gesamtkunstwerkes Figuren und Themen des ballet de cour wieder.24 Gemäß der Klassifizierung des Hofballetts in den anonym erschienenen Règles pour faire des Ballets kommen für die Ballettkomödie insbesondere jene Figuren und Themen des galanten (style médiocre) wie auch burlesken (style bas) Stils infrage.25

Das Ballett bekommt in der Ballettkomödie die Funktion einer nonverbalen Sprache innerhalb des Dramentextes zugeschrieben. Man kann mitunter von einer Dramatisierung des Balletts sprechen, von einer Adaptierung des Tanzes an die Gesetzmäßigkeiten der dramatischen Gattung. Dieser Integrationsprozess bringt gleichzeitig eine Theatralisierung des Balletts mit sich, da durch diesen Zusammenschluss eine Vielfalt unterschiedlicher Zeichensysteme entsteht. Im Zuge der Umfunktionalisierung musikalisch begleiteter Balletttänze räumt Molière mit dem zeitgenössischen Dogma auf, dass Musik nur Affekte auszudrücken, aber keine essenziellen dramatischen und theatralischen Bindungen herzustellen vermöge.26 Die dramatische Theatralisierung von Tanz und Musik erzeugt einen semiotischen Mehrwert im Vergleich zum hauptsächlich auf Kostümierung und Bühnenbild ausgelegten frühen Hofballett, das zwar wirkungsvoll und artistisch glänzt, im Grunde aber ohne Handlung ist.27 Unter strukturellem Gesichtspunkt existiert das molièresche Ballett nicht nur im Sinne einer ars gratia artis, sondern ist fester Bestandteil der Komödienhandlung.

Eine zusätzliche Hervorhebung nonverbaler Ausdrucksweise gelingt Molière durch die Integration der in der italienischen Tradition der commedia dell’arte stehenden Pantomimen in den Tanz, womit er eine innovative Richtung in der Tanzkunst einschlägt.28 Der unverkennbare Charakter der Masken generiert ein hohes Maß an allgemeiner Verständlichkeit und zudem eine gewisse Formneutralität, die sich Molière geschickt zunutze macht, indem er das dramaturgische Gerüst des italienischen Erbes mit französischem Eigenleben besetzt.29 Wie bereits an anderer Stelle aufgezeigt, wird der Tanz nicht nur durch die Integration in die Dramen- und Sujetstruktur dramatisiert respektive theatralisiert, sondern insbesondere über das schauspielerische Moment des Agierens komisiert, woraus ein semiotischer und zugleich semantischer Mehrwert für die histoire der Komödie resultiert.

1.3.2Ballettmusik

Im 17. Jahrhundert wird Musik in drei unterschiedliche Stile klassifiziert – ecclesiasticus, cubicularius und theatralis.1 Letzterer bedarf – da für diese Arbeit besonders von Belang – einer genaueren Erfassung. Musik ist, wie Friedrich Böttger feststellt, zu Zeiten Molières fast immer in Verbindung mit Tanz aufgeführt worden.2 Auf diese Weise hält mit dem Aufkommen des Tanzes auch ein musikalisches Moment Einzug in die französische Kultur. Hans Hahnl drückt das komplexe Verhältnis von Ballett und Musik mit der Leidenschaftsmetaphorik zweier Liebender aus und akzentuiert damit die Tragweite ihrer symbiotischen Verbindung:

Die Musik befreit den Tanz zu sich selbst, sie entfesselt und sie bändigt ihn, sie gibt ihm Gesetze, mit denen er nach Belieben verfahren kann. Sie überwältigt ihn, um von ihm überwältigt zu werden […]; ein lebenslanger Kampf mit Vereinigungen [und] Versöhnungen.3

Die Beziehung zwischen den beiden Künsten manifestiert sich darin, dass musikalische Strukturen wie Rhythmik, Klangfarbe und Dynamik choreografisch materialisiert und vice versa choreografische Bewegungsformen akustisch realisiert werden können; Musik im Ballett kann eine stimulierende Funktion für die Bewegungsaktion, aber auch eine begleitende Funktion haben.4 Ferner korrespondiert jeder Balletttanz mit einem spezifischen Musikstück: „[T]he tempo and meter of the music determine the number of step-units per measure of dance, and the affect of the music by and large determines the affect of the dance.“5

Dieses Zusammenspiel ist von der neoplatonischen Lehre der Universumsharmonie bestimmt, die Musik und Tanz eine wohltuende Wirkung auf die Seele der Zuhörer oder Zuschauer zuspricht und trotz des zunehmend ästhetischen Anspruchs der Hoffeste und der damit verbundenen Ästhetisierung des ballet de cour noch bis ins 18. Jahrhundert Gültigkeit hat.6 Da Musik Leidenschaften auszudrücken vermag, kann sie auch die Seele von diesen reinigen.7 Jean Boiseul schildert die ethische Wirkung von Musik im Jahre 1606 wie folgt:

[L]a musique est un excellent don de Dieu, elle recrée, remet les esprits, chasse la melancholie, appaise la colere, arreste la fureur, esmeut les plus stupides, resveille les abestis, esleve à Dieu, esmerveille les hommes de sa beauté & exellence diverse en toutes sortes, & sa gravité & douceur retire du propos de mal faire, esteint les mauvaises conceptions, incite à la vertu.8

Sichtbar wird Musik in den Ballettbewegungen und kann sonach über zwei Vermittlungskanäle, durch das Ohr und das Auge, auf die Seele einwirken.9 Ihr Ziel ist, so Pierre Bardin 1638, „la continuité de l’harmonie“10, die allumfassende Eintracht. Der philosophischen Gesinnung der Musik geschuldet, wirkt sich diese positiv auf eine konfliktfreie staatliche Organisation aus, die den hohen Stellenwert der Musik dadurch legitimiert sieht, denn, wie der Musiklehrer in Le Bourgeois gentilhomme verkündet: „Sans la Musique, un État ne peut subsister […].“ (BG, 270) Mit der starren Ordnung des Kosmos und der daraus abgeleiteten Ordnung der Musik korrespondiert die statische Anschauung vom Menschen in der Gesellschaft,11 die sich in der absolutistischen Ständegesellschaft widerspiegelt. Der positive Einfluss der Musik auf die Gemütszustände der Rezipienten kann vom Staat als Machtmittel genutzt werden, um die Aspirationen seiner Mitglieder auf den richtigen Weg zu bringen.

Über die enge Verbindung zum Tanz hinaus ist Musik auch in eine nahe Beziehung zur Sprache zu setzen. Im Zuge der Bestrebungen nach Reinheit der französischen Sprache, die das Ziel haben, jeden Gedanken und jedes Gefühl in klarster und subtilster Form wiederzugeben, nähert sich die Musikästhetik den Prinzipien der literarischen Klassik jener Zeit an, denn der klare Ausdruck wird auch zu einem ihrer Grundprinzipien: „kein Klang ohne Sinn […], klare Linien, symmetrische Fakturen, echte Kontraste aus [sic] Ausdruck gegensätzlicher Gedanken oder Gefühle“12. Diese Eigenschaften perfektioniert Lully in seinen Kompositionen für das komische Genre, indem er die französischen Qualitäten des Rhythmus und der buffonesken Fantasie mit den musikalischen Qualitäten der Italiener kombiniert.13 Damit bereitet er die französische Barockmusik mit ihrer Formschönheit und ihrem erhabenen Klang für seine Opern vor, deren dichter Instrumentalsatz ein Spiegel des kompakten, aber dennoch klaren Satzbaus der französischen Sprache ist.14 Bevor Lully diese Symbiose zwischen Sprache und Musik umzusetzen vermag, die Einheit von Text und Ton für seine Musik beansprucht, scheint er zunächst noch den Ansichten der Theoretiker seiner Zeit unterworfen zu sein – insbesondere Bénigne de Bacilly –, die postulieren, dass die Musik keine Prosodie-, Rhythmus- und Akzentfehler in der Sprache hervorrufen dürfe.15 Diese Forderungen zeigen, wie Molière den maître de musique in Le Bourgeois gentilhomme sagen lässt – „Il faut […] que l’Air soit accommodé aux Paroles“ (BG, 269) –, dass sich die Musik den sprachlichen Besonderheiten fügen muss, der Musiker dem Poeten letztlich untergeordnet ist. Diese gattungsgeschichtlich begründete Hierarchie manifestiert die Vorrangstellung der Sprache in den Ballettkomödien und lässt nachvollziehbar werden, warum sich Lully künstlerisch weiterentwickeln wird.16

Darüber hinaus zeugen Molières prosaische Passagen in den Ballettkomödien von einem stark musikalischen Moment:

Elle [la prose, Anm. S.W.] a un caractère particulier, que c’est une prose presque toujours chantante et même, en certains passages, mesurée et rythmée. […] [I]l ne lui suffisait pas que sa prose eût la sonorité du verbe; il voulait qu’elle fût propre à faciliter et à soutenir le débit de l’acteur, qu’elle eût du ton d’une façon générale et continue. […] [I]l mêla à sa prose des vers isolés; c’était comme des clous brillants où s’accrochait le souvenir, comme des points lumineux […]. [U]n vers isolé au milieu de la prose frappe l’oreille du spectateur, réveille son attention et saisit son esprit.17

Molière integriert immer wieder isolierte Verse, zumeist Blankverse, in seine Prosa und verstärkt damit das lyrisch-musikalische Element seiner Texte. Dies hat den Effekt, dass der Wechsel des Schreibstils zwischen den dominant lyrischen Intermedien und der dominant prosaischen Komödie harmonischer, weil kohärenter wirkt. Molière appliziert dieses Kompositionsphänomen weitgehend auf seine Ballettkomödien und etabliert derart einen ästhetischen Übergang zwischen dem gesprochenen und dem gesungenen Wort, den der Zuschauer wohlwollend wahrnimmt: „[L]’oreille est surprise de trouver de la musique où elle n’en attendait pas, et du coup elle en met elle-même plus qu’il n’y en a …“18 Die ‚lyrische Klangprosa‘ bedingt nicht nur den einzigartigen Charakter der comédie-ballet, sondern bestimmt Molières ästhetisches Schaffen im Allgemeinen.

1.3.3Barocke Dramentypen

Richelieus Umgestaltung Frankreichs in einen absolutistischen Staat bahnt dem neuen Genre frühzeitig den Weg. Seine Reformen beeinflussen insbesondere die Kulturpolitik, ist er sich doch der Wirkungsmöglichkeiten des Sprechtheaters bewusst. Er errichtet im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts das schönste und größte Theater in Paris, den Palais Royal, und hebt per Dekret im Jahre 1641 die soziale Diskriminierung von Schauspielern auf.1 Bereits elf Jahre zuvor wurde eine institutionelle Voraussetzung geschaffen, die Richelieus Wirken begünstigte: Im Jahre 1630 etablieren sich mit dem Hôtel de Bourgogne, dessen Schauspieler sich auch comédiens du Roi nennen, und dem Théâtre du Marais zwei feste Bühnen in Paris, die der Wanderbühnentradition ein Ende setzen sollten. Im Zuge dieser Institutionalisierung des Theaters wandelt sich das Publikum von ungebildeten Provinzzuschauern zu einem sozial höhergestellten Publikum, zur literarisch-gesellschaftlichen Öffentlichkeit der Hochklassik,2 die sich ungefähr ab der Mitte des Jahrhunderts herauskristallisiert und mit la cour et la ville zusammenfällt. Unter diesem Begriff versteht man nach Erich Auerbach allgemein die aus etwa 6.000 Personen bestehende noblesse d’épée, noblesse de robe sowie einige Angehörige des Großbürgertums, welche die gesellschaftliche Elite und kulturtragende Schicht des 17. Jahrhunderts stellen.3 Das Publikum, an welches sich Molière primär mit seinem Dodekameron richtet, ist la cour. Das erwerbslose Bürgertum gleicht dem adligen Publikum im Bildungsideal und in seiner Funktionslosigkeit, sodass la cour et la ville zu einer geschlossenen Schicht verschmelzen.4 Daher kann davon ausgegangen werden, dass auch Vertreter der haute bourgeoisie den Erstaufführungen der Ballettkomödien beiwohnen. Angesichts des neuen Publikums halten es Richelieu und gelehrte Autoritäten wie Jean de La Bruyère und Jacques Bénigne Bossuet für unumgänglich, das Ende der Farce in Paris zu forcieren, da „bassesse et immoralité des sujets, grossièreté des gestes, saleté des propos“5 der honnêtes gens unwürdig seien. Die traditionelle Farce wird in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts allmählich durch die Komödie ersetzt, wobei gerade in Molières Gesamtwerk farceske Elemente unverkennbar weiterleben.6 Auf diesem neuen kulturellen Boden gedeiht das Sprechtheater. Es etabliert sich dabei eine klassische Theaterkultur und den Höhepunkt komischer Dramatik bilden hier zweifelsohne Molières Komödien.

Die aus Italien stammende Oper, die Mazarin bereits in den 1650er Jahren in Frankreich einführt, existiert in der Gründungszeit des neuen Genres und beeinflusst es in dem Unterfangen, unterschiedliche Künste miteinander kombinieren zu wollen. Im Gegensatz zur comédie-ballet sind die Opern aber in der Tradition der Tragödie geschrieben und unterscheiden sich von ihr durch eine stärkere Betonung der gesungenen Partien. Quinault und Lully experimentieren in dieser Zeit mit diversen Künsten unter den Bezeichnungen tragédie en musique und tragédie lyrique,7 die als erste Versuche einer französischen Oper zu betrachten sind: „[Ils] voulaient ‚marier‘ la poésie et la musique, reconnaissant entre ces deux arts une correspondance fondée sur une métrique commune.“8 Sie setzt sich noch nicht durch, da die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verliehenen Theaterprivilegien diesen Versuchen ein Ende setzen sollten. Außerdem erlischt mit Mazarins Tod 1661 auch das Interesse an der italienischen Kultur in Frankreich.9 Somit kann mit dem politischen Umbruch im selben Jahr, der mit dem Regierungsantritt Ludwigs XIV. einhergeht, auch ein Umbruch in der dramatischen Kunst die Ära der Ballettkomödie einläuten, die nun bis zum Jahre 1672 unter der Direktive Molières aufblühen wird. Die politischen und kulturellen Umstände führen dazu, dass Molière zum offiziellen Repräsentanten der Ballettkomödie avanciert. Danach sollte sich das Blatt wenden und Lully das Kunstpatent der Académie royale de Musique zuteilwerden und die französische Oper die Ballettkomödie substituieren.10

Neben den rein tragischen Genres entwickelt sich zeitgleich die barocke Komödie, die sich stark an spanischen Vorbildern orientiert und sich wie diese für Musik- und Tanzeinlagen öffnet. In diesem Zusammenhang sind es Sallebray und Jean de Rotrou, die mit ihren Theaterstücken auf sich aufmerksam machen. Georges Forestier analysiert einige ihrer Werke als „comédie[s]-ballet[s] avant la lettre“11 und postuliert mit seiner These ein enges Verwandtschaftsverhältnis zu Molières Ballettkomödien, das hier genauer zu eruieren ist. Während sich Sallebray in der Tragikomödie La Belle Égyptienne (1642) damit begnügt, das Ballett ans Ende seiner Komödie zu setzen, um damit die anstehende Hochzeit der Heldin zu feiern, experimentiert Rotrou beispielsweise in La Belle Alphrède (1637) mit der Integration von Balletteinlagen innerhalb der Geschichte. Leider sind diese Versuche in La Belle Alphrède nicht immer geglückt, wie Jacques Scherer in Bezug auf die inkohärente Integration der zweiten Tanzeinlage (Akt V, Szene VI) in die Komödie konstatiert: „[Elle est] inadmissible si l’on prenait au sérieux la fiction théâtrale […].“12 Die thematische Untragbarkeit, die hier angeprangert wird, zeugt von einer dramatischen Autonomie, die auch in weiteren Handlungsepisoden dieser barocken Komödie zutage tritt.13 Selbst die Tatsache, dass die spärlich und zufällig eingestreuten Balletteinlagen nicht zwangsläufig zwischen den Akten erscheinen, unterscheidet diese barocken Vorläufer von der strukturierten klassischen Ballettkomödie, die auf eine Werkkohärenz hin komponiert ist. Des Weiteren integriert Molières Neuschöpfung unter dem klassischen Duktus der Schauspieleintracht anspruchsvollere wie auch umfangreichere Balletteinlagen. Dieses Alleinstellungsmerkmal weist den Intermedien ein zusätzliches Aktionspotenzial zu, das einen semantischen Mehrwert für die Gesamtdarstellung einbringt, wohingegen sich die barocken Zwischenspielkompositionen auf einen ornement zur Komödienhandlung beschränken, auf eine semiotische Bereicherung. Gemein ist den beiden Komödientypen des 17. Jahrhunderts der spektakuläre Charakter ihrer Balletteinlagen, den Molière aber durch den festlichen Aufführungskontext seiner Werke noch übertrumpfen wird. Trotz ihrer ästhetischen Unvollkommenheit sind sie Wegbereiter für Molières comédie-ballet und setzen ein erstes Zeichen in der französischen Kunst der Komödienkomposition.

1.4Die Herausbildung einer neuen Intermedialität – der nouveau langage théâtral

Antike Strömungen, frühneuzeitlicher italienischer Einfluss, das französische Hofballett und barocke Dramentypen bestimmen in Abstimmung mit dem Zeitgeist der französischen Klassik das strukturelle Wesen der Gattung. Die meisten Mischgattungen entwickeln sich zur französischen Oper und forcieren die Musikalität, während sich Molières Hauptaugenmerk auf das Sprechtheater richtet – an erster Stelle steht bei ihm immer noch die Komödie – und er die beiden anderen Theaterformen als artistische Bereicherung integriert. Dieser Fokus initiiert eine noch nie zuvor dagewesene Ausdrucksform der französischen Komödie, letztlich eine neue Theatersprache:

Nous avons donc très clairement des éléments des trois domaines majeurs de toute langue, intégrés dans une fonction poétique qui trace de nouvelles dimensions. Tout ceci forme ce que je crois valoir le nom d’un nouveau langage théâtral.1

Dieser nouveau langage théâtral bildet sich durch die Integration der Intermezzi in die Dramen- und Sujetstruktur der Komödie heraus, sodass Musik und Tanz dramatisiert und theatralisiert werden können. Die beiden hauptsächlich in den Interludien eingesetzten Künste übersetzen das Darzustellende in die Semantik ihrer jeweiligen Sprachen; die Musik in Klänge, der Tanz in Bewegung.2 Dieser semiotische wie auch semantische Mehrwert des nouveau langage théâtral lässt ein gesteigertes Aktionspotenzial auf der französischen Bühne des 17. Jahrhunderts aufkommen, das eine neue, komische Lesart dieser nonverbalen Handlungselemente ermöglicht: Die für die Ballettkomödie spezifische Dramenstruktur weist in Richtung eines neuen ontologischen Komikverständnisses, denn zusätzlich können Musiker und Tänzer zu komischen Effekten beisteuern und neue Kommunikationsprozesse generieren. Patrick Dandrey spricht in diesem Zusammenhang von einem Wendepunkt in der Komödienentwicklung in der französischen Klassik:

Le genre de la comédie-ballet se serait […] offert opportunément pour incarner cette conception nouvelle du rôle de la dramaturgie comique, qui aurait à partir de là tourné le dos à l’esthétique du ridicule pour s’accommoder de la folie des hommes et la transcender en fantaisie débridée à la faveur des divertissements fantasques du ballet de cour.3

1.5Zeitgenössische Reaktionen auf und poetologische Reflexionen über die Ballettkomödie

Zeitgenössische Äußerungen zum Fortschrittscharakter der Ballettkomödie sind im Gegensatz zu den meisten Lobeshymnen der Literaturkritiker heutigen Datums eher rar, weil noch wenig Sensibilität und Bewusstsein im Hinblick auf die Anerkennung der Ballettkomödie als eigenes Genre herrschte. Die Berichterstattungen des königlichen Sekretärs André Félibien sprechen neben diversen Artikeln zeitgenössischer gazettes in der Regel jedoch positiv von diesem Gesamtkunstwerk. Dementsprechend wurde beispielsweise die nach heutigem Empfinden schwierig zu erfassende Handlungseinheit der Ballettkomödie George Dandin von Félibien begeistert aufgenommen, obschon sie eine eigenständige Pastorale enthält:

[I]l est certain qu’elle [la pièce, Anm. S.W.] est composée de parties si diversifiées & si agreables qu’on peut dire qu’il n’en a guere paru sur le Theatre de plus capable de satisfaire tout ensemble l’oreille & les yeux des spectateurs. […] Quoy qu’il semble que ce soit deux Comedies que l’on jouë en mesme temps, dont l’une soit en prose & l’autre en vers, elles sont pourtant si bien unies à un mesme sujet qu’elles ne font qu’une mesme piece & ne representent qu’une seule action.1

Die Kombination aus Prosa- und Versdichtung scheint keinen negativen Einfluss auf die Wahrnehmung der Aufführung als Gesamtkunstwerk zu haben, denn das Zitat zeugt von einer empfundenen Eintracht seitens des Hofsekretärs. Ferner liest man in der gazette vom 12. Oktober 1669 einen Kommentar zur Premiere von Monsieur de Pourceaugnac, welcher bereits eine Sensibilität für die gattungstypologischen Eigenarten erkennen lässt, allerdings weder den Autor noch den Komödientitel erwähnt:

[Leurs Majestez] eurent celui d’une nouvelle Comédie, par la Troupe du Roy, entremeslée d’Entrées de Balet, & de Musique, le tout si bien concerté, qu’il ne se peut rien voir de plus agréable. L’Ouverture s’en fit par un délicieux Concert, suivi d’une Sérénade, de Voix, d’Instrumens, & de Danses: & dans le 4e Intermède, il parut grand nombre de Masques, qui par leurs Chansons, & leurs Danses, plurent grandement aux Spectateurs. La Décoration de la Scène, estoit, pareillement, si superbe, que la magnificence n’éclata pas moins en ce Divertissement, que la galanterie.2

Die Zeichenpluralität höfischer Feste, die mit Blick auf den Aufführungskontext der Ballettkomödie eine zentrale Rolle spielt, erschwert die Destillierung und Abgrenzung des Genres von rein karnevalesken Veranstaltungen. Das Zitat erweckt eher den Eindruck einer heterogenen Darbietung als einer durchstrukturierten Ballettkomödie. Die zeitgenössischen Unsicherheiten bei der Bewertung der Gattung rühren überwiegend daher, dass dem existierenden Signifikat kein entsprechender, offiziell gültiger Signifikant zuzuordnen ist; überdies sind Unsicherheiten bezüglich der Autorenschaft gegeben, die sich aus dem Zusammenwirken der unterschiedlichen Künstler ergeben. Die Beschreibung verweist des Weiteren ausschließlich auf die Intermezzi, die Komödienhandlung bleibt unerwähnt. So vage das zeitgenössische Empfinden für die Kennzeichnung des Gattungsgefüges ist, so einmütig zeigt sich die Begeisterung für die künstlerische Performance sowie die Wahrnehmung der Einträchtigkeit. Das Streben nach Einheit entspricht der poetologischen Intention des molièreschen Dodekamerons, das den goût der Zeit trifft und über den plaire seitens der Zuschauer als willkommenes Echo auf den Autor zurückstrahlt.

Neben Zeitzeugenberichten interessieren unter gattungspoetologischem Aspekt gängige Wörterbücher und Regelpoetiken des 17. Jahrhunderts, die im besten Fall Definitionen und ästhetisches Verstehen der Zeit liefern oder auch aufgrund von Desiderata aufschlussreich sein können. Allgemein lässt sich zu den theoretischen Abhandlungen der Komödie anführen, dass sie in jener Zeit lediglich peripher betrachtet werden.3 Von Molière gibt es überdies, wie erwähnt, keine ausgeführte Poetik zu seinem dramatischen Werk, ja er belustigt sich sogar in der préface zu Les Précieuses ridicules über die poetologischen Bestrebungen seiner Zeitgenossen: