Mädchenmeute - Kirsten Fuchs - E-Book

Mädchenmeute E-Book

Kirsten Fuchs

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Beschreibung

Nur widerwillig fährt Charlotte Nowak, fünfzehn und sehr schüchtern, mit sieben anderen Mädchen ins Sommerferiencamp. Doch dort ist schnell alles anders als erwartet: Dinge verschwinden, und als eines Morgens die Gruppenleiterin ausrastet, flüchten die Mädchen, klauen ein Hundefängerauto samt Hunden und fahren ins Erzgebirge, wo eine von ihnen einen alten Stollen kennt. Hier schlagen sie sich durch immer freiere, immer aufregendere und schönere Sommertage zwischen Waldabenteuern und nächtlichen Streifzügen zu Supermarkt-Containern. Charly Nowak merkt, dass sie nicht nur schüchtern ist – doch dann stoßen die Mädchen auf eine brisante DDR-Hinterlassenschaft, die Außenwelt holt sie ein, dann kommt auch noch die erste Liebe … und Charly muss das, was sie gerade an Mut und Freundschaft entdeckt hat, unter Beweis stellen. Mit hinreißender Direktheit und großer Wärme schildert Kirsten Fuchs Ängste und Hoffnungen und alles, was zu jeder neuentdeckten Freiheit dazugehört. Fuchs, für ihre beiden ersten Bücher von der Presse gefeiert, hat mit «Mädchenmeute» einen wunderbar reifen Roman geschrieben, der die großen Fragen des Lebens stellt – die wir am klarsten erkennen, wenn wir jung sind.

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Seitenzahl: 559

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Kirsten Fuchs

Mädchenmeute

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Nur widerwillig fährt Charlotte Nowak, fünfzehn und sehr schüchtern, mit sieben anderen Mädchen ins Sommerferiencamp. Doch dort ist schnell alles anders als erwartet: Dinge verschwinden, und als eines Morgens die Gruppenleiterin ausrastet, flüchten die Mädchen, klauen ein Hundefängerauto samt Hunden und fahren ins Erzgebirge, wo eine von ihnen einen alten Stollen kennt. Hier schlagen sie sich durch immer freiere, immer aufregendere und schönere Sommertage zwischen Waldabenteuern und nächtlichen Streifzügen zu Supermarkt-Containern. Charly Nowak merkt, dass sie nicht nur schüchtern ist – doch dann stoßen die Mädchen auf eine brisante DDR-Hinterlassenschaft, die Außenwelt holt sie ein, dann kommt auch noch die erste Liebe … und Charly muss das, was sie gerade an Mut und Freundschaft entdeckt hat, unter Beweis stellen.

Über Kirsten Fuchs

Für meine Tochter

Teil Eins Das Camp

Es war der Sommer, in dem ich aufhörte, einen knallroten Kopf zu bekommen, wenn ich mehr als drei Wörter sagen sollte. Ich hatte am Ende eine Narbe an der Hand und meinen ersten Kuss bekommen. Ich war sogar fast ein bisschen berühmt geworden. Aber der Reihe nach.

 

Am Anfang hielt mir meine Mutter eine Anzeige aus der Zeitung unter die Nase. Ein Ferien-Fun-Survival-Camp. Mein Muskel zum Schulterzucken war zu der Zeit super trainiert und ungeschlagen im Fliegengewicht der fünfzehnjährigen Mädchen.

Meine Mutter wusste eigentlich, dass Schulterzucken zwar «ja» und «nein» heißen konnte, meistens aber «nein» hieß.

«Das Camp liegt bei Bad Heiligen», las sie aus der Anzeige vor. «Das ist ein beliebtes Seebad. In Heiligen war dieser Maler.»

«Ach, der!», sagte ich.

Drei Wochen später überreichte meine Mutter mir ein Anmeldeformular. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, hätte ich ihr mit einem Jubelschrei um den Hals fallen sollen: «O Mutsch, du bist einfach die Beste!» Sie hatte zu viel Fernsehen gesehen, echt.

«Da muss man sogar eine Bewerbung schicken. Da wollen bestimmt total viele hin. Stell dir mal vor, und von allen Bewerberinnen nehmen sie dann dich.»

Das klang für mich, als ob ein Typ mit Luftballons aus dem Gebüsch springt, wenn man in einen Rest Hundekacke gelatscht war. Mit einem Schild: Sie sind der einhundertste Besucher dieser Hundekacke.

«Oder willst du lieber mit zu Oma?»

Ich zuckte die Schultern. Das Aufregendste im Dorf meiner Oma war, dass manchmal ein Schuppen einfach so zusammenfiel. Im ganzen Ort wohnten nur alte Frauen, denen die Männer weggestorben waren. Die einzige Sehenswürdigkeit dort war der Apothekersohn. Die Witwen humpelten jeden Tag zu ihm.

Wenn ich dort war, begann ich schon nach wenigen Minuten, Schimmel anzusetzen. Oma würde höchstens fragen, ob ich die Haare anders hätte. Sie wollte immerzu über Haare reden. Wahrscheinlich, weil sie nur noch so wenige hatte. Am Kinn zum Beispiel.

Meine Mutter und mein Vater ackerten sich immer durch den Garten. Ging ich raus, musste ich helfen. Blieb ich drin, brüllte mich ein Shopping-Kanal an, den Oma gern sah, obwohl sie nie etwas bestellte.

Also, warum nicht stattdessen in so ein Survival-Camp?

Meine Mama meinte, das wäre gut für mich. War es ja auch, aber sie hatte sicherlich eine andere Art «gut für mich» gemeint.

 

Je mehr Tage vergingen, umso lieber wollte ich mit zur Oma. Der Apothekersohn war wirklich hübsch. Eine Augenweide, sagte Oma. Vielleicht könnte ich mich mit Absicht in ihn verlieben, dann wäre ich schon mal verliebt gewesen.

Im Café neben der Apotheke gab es sogar Internetempfang. Ich könnte mir ein Eis bestellen, und während es schmilzt, im Rätselforum Rätsel aus der Kategorie «Profi» knacken. Ich war in dem Forum als «Schlaufrau» angemeldet. Man konnte sich dort selber Rätsel ausdenken und Punkte vergeben. Je nachdem, wer am schnellsten auf die Lösung gekommen war. Anfang des Sommers lag ich noch knapp in Führung.

Außerdem könnte ich viel zu lesen mitnehmen. Ich fraß Abenteuerromane. Und Krimis. Ich begann, mir Hoffnung zu machen, dass sie mich bei diesem Camp nicht nehmen würden. Warum auch? Ich war ja nicht bei den Pfadfindern oder so.

 

Dann kam ein dicker Umschlag, der nicht in den Briefkasten passte. Die Postbotin klingelte extra. Ich konnte durch die Milchglasscheibe sehen, wie sie draußen stand und sich den Umschlag ansah. Sie war ein Mädchen aus dem Nachbarort, das dieses Jahr seine Ausbildung bei der Post abgeschlossen hatte.

«Post für Sie», sagte sie. Letztes Jahr hätten wir uns noch geduzt.

Auf dem Umschlag waren drei Aufkleber. Solche, die man mit Adressen bedrucken kann. Auf einem stand meine Adresse. Auf dem zweiten stand: «Wilde Mädchen». Auf dem dritten: «Der Wald will nichts von dir. Du willst was vom Wald.» Im Umschlag drin wurde es noch besser: «Herzlichen Glückwunsch, du wirst einen tollen Sommer haben.» Drei Ausrufezeichen. Dann folgte eine Erklärung, warum es besser ist, wenn wir ohne Mobiltelefone anreisen. Wir sollten im Camp lernen, uns zu orientieren. Ganz ohne Technik und Internet. Unser selbständiges Handeln und Denken sollte gefördert werden, ebenso das Erleben der Natur. Unten war ein kleiner Zettel zum Abtrennen. Hiermit berechtige ich Sie, meiner Tochter Pünktchen Pünktchen Pünktchen das Mobiltelefon abzunehmen; falls sie doch eines bei sich hat, bladibla … wird dieses für die Zeit des Camps einbehalten. Erziehungsberechtigter eins und zwei.

Ich war mir sicher, dass meine Mutter das nicht tun würde. Mich ohne Mobiltelefon in den Wald schicken. Sie lachte übertrieben, warf den Kopf in den Nacken. Jaja, das wäre mal eine Umstellung für mich. Manchmal benahm sich meine Mutter, als hätte sie was über Jugendliche gelesen und würde mich mit denen verwechseln, nur weil wir gleich alt waren. Als ob ich ständig am Smartphone hing! Ich hatte zwei Freundinnen. Das war zum einen unsere Katze Nieseweiß, genannt Niesi. Zum anderen war das Severine, die wohnte nebenan. Wenn wir was voneinander wollten, hielten wir die Köpfe aus dem Kinderzimmer und riefen es rüber. So hatten wir es schon immer gemacht. So würde es bleiben. Zum Studieren wollten wir später zusammen nach Potsdam und uns eine kleine Wohnung teilen. Da würden wir nicht mal mehr den Kopf aus dem Fenster halten müssen.

Dieser Mobiltelefonzettel sollte zusammen mit der Anmeldung zurückgeschickt werden. An eine Adresse in Schluchnow. Kannte ich nicht. Klang aber auch so, als ob nur die Schluchnower Schluchnow kannten.

Im Wilde-Mädchen-Umschlag war allerlei Krempel: eine Lupe, eine Trillerpfeife, ein Klappzahnputzbecher. Überall war Pfiffi, das pfiffige Eichhörnchen, drauf. Es hatte ein schwarzes Halstuch um und anstatt Pinselohren zwei Zöpfe. Das Zeug sah aus, als stamme es aus der Kindheit meiner Eltern und wäre inzwischen in einem Container einmal um die Welt gefahren. Die Lupe hatte einen Kratzer, der Klappzahnputzbecher klappte immer wieder von allein zusammen, aus der Trillerpfeife kam Sand. Sollte das so survival-mäßig sein? Extra auf alt gemacht? So wie man selbst eine Schatzkarte bastelt und die Ecken mit dem Feuerzeug ankokelt? War das Camp für Zehnjährige?

Ich fragte meine Mutter, was in der Anmeldung zum Alter gestanden hätte. Sie suchte den Zeitungsschnipsel raus. Er war winzig. Bestimmt die billigste Annonce, die man aufgeben konnte. Da stand ‹ab vierzehn Jahre›. Jetzt hatte ich allerdings Angst, dass auch achtzehn- oder neunzehnjährige Mädchen dabei sein könnten. Die waren schon ganz andere Lebewesen als ich. Da kam ich mir immer vor wie eine Fruchtfliege.

Als Letztes fand ich einen Zettel im Umschlag. Eine Aufzählung, was benötigt wurde und was nicht benötigt wurde. Nicht benötigt wurde zum Beispiel eine Taschenlampe, «wird vom Camp gestellt». Benötigt wurde aber ein Schlafsack, eine Zeckenzange, ein Feuerzeug, festes Schuhwerk (hatte ich gar nicht. Musste extra gekauft werden), Regensachen (hatte ich auch nicht. Haben wir billig gekauft. Hätten wir teurer kaufen sollen), ein Messer mit Etui oder ein Klappmesser (hatte ich nicht. Bekam ich von Papa mit der eindringlichen Aufforderung, dass dieses Messer ihm schon dreimal das Leben gerettet hätte und er es unbedingt wiederbekommen müsse. Jaja, sagte ich), eine Zeigeruhr (hatte ich nicht. Wir kauften eine billige. Auch da hätten wir lieber mehr Geld ausgeben sollen. Die Billige blieb stehen, weil sie zwei Tage nach Beginn der Reise nass wurde. Dabei ging es da erst richtig los).

Als meine Mutter mich am Anreisetag zum Bus brachte, hoffte ich immer noch, jemand würde mich spontan entführen. Treffpunkt war der Busbahnhof in Berlin. Abfahrt: 21 Uhr.

«Oh, spannend», meine Mutter klopfte auf meinen Oberschenkel. «Dass ihr nachts ankommt. Ist das toll!»

«Nee, isses nicht», sagte ich. Meine praktische Draußenjacke raschelte, als ich die Arme verschränkte.

Meine Mutter fand keinen Parkplatz in unmittelbarer Nähe des Busbahnhofes, und deshalb sah mich keine von den Mädchen, mit denen ich die nächsten Wochen verbringen sollte, aus diesem unfassbaren Auto steigen. «Blitzeblank Nowak & Nowak» steht da drauf. Ich hasste das Auto, denn es gab nur zwei Vordersitze. Hinten bei den klappernden Schrubbern und Eimern war ein winziger Klappsitz mit Hüftgurt. Wenn wir zu dritt fuhren, hockte ich da drauf und konnte nicht einmal raussehen, weil die Scheiben ja mit der Werbung beklebt waren. Niemals niemals niemals durfte «Nowak, Nowak und Nowak» auf diesem Auto stehen.

An diesem Tag, als wir zum Camp fuhren, saß ich aber vorne. Mein Abenteuerrucksack war hinten. Bevor ich aus dem Auto stieg, sah ich mich im Rückspiegel an.

«Sieht wirklich schön aus», sagte meine Mutter. Am Vortag hatte sie meine dunkelblonden Haare kinnlang geschnitten. Das würde von meiner länglichen Gesichtsform ablenken … Von meiner langen Nase lenkte es jedenfalls nicht ab.

«Eigentlich siehst du ein bisschen aus wie Prinzessin Diana», sagte sie. Ich warf die Autotür zu und klumpte mit meinen neuen festen Schuhen hinter meiner Mutter her. Der Bus vom Camp war leicht zu finden. «Wildnis für wilde Mädchen» war auf die Seite gesprüht. Der Bus sah aus, als wollte er eines Tages mal ein großer Bus werden.

Ein Mann nahm mir meinen Abenteuerrucksack ab. Der Mann war klein und dünn und hatte ein Eierpflaumengesicht. Der Schirm seines ehemals weißen Basecaps war gelbgeraucht. Der Mann rauchte auch, als er meinen Rucksack hinten in den Bus schob. Da lagen schon etliche Taschen. Ich sah einen abgegriffenen Armeerucksack und einen lila glänzenden Rollkoffer.

Dann schmiss der Busfahrer die Klappe zu. «Na, dann rein mit dir!», sagte er mit kaputter Stimme.

Als Letzte in den Bus zu steigen, war mein liebster Albtraum, gleich nach dem, einen Kurzvortrag über die wichtigsten körperlichen Veränderungen in der Pubertät halten zu müssen. Vor der ganzen Schule, und immer, wenn ich etwas sagen will, rufen alle «Ausziehen!», auch die Lehrer.

Ich hatte vorher meiner Mutter gesagt, dass ich pünktlich sein möchte und wir früh genug losfahren sollten. Sie denkt immer, sie und das Auto wären nicht gealtert. Zu Hause hatte sie noch ihre Haare zu einer wilden Mähne zupfen müssen. Eine halbe Stunde! Dafür, dass sie jetzt aussah wie Nieseweiß, wenn sich der verhasste dicke Kater auf dem Grundstück blicken ließ. Echt, ich weiß nicht, was Eltern ständig an Kindern auszusetzen haben. Die machen doch gar nichts.

«Wir sind Charlotte Nowak», sagte meine Mutter zu der schwarzhaarigen Frau, die vorne im Bus stand. Ich war noch halb draußen.

«Guten Tag, Frau Nowak. Hallo, Charlotte. Wir haben schon auf dich gewartet.» Die Frau winkte kurz, dabei klapperten ihre Armbänder. Sie hatte vier Ketten um den Hals, mit Perlen so groß wie Puppenaugen.

Sie lächelte, als hätte sie Zahnschmerzen. Diese Legomännchenfrisur war doch eine Perücke, oder? Bis auf eine Weste mit hundert Taschen sah sie überhaupt nicht survival aus.

Sie gab meiner Mutter die Hand. Ihr gelber Nagellack leuchtete wahrscheinlich im Dunkeln. Da konnte sie im Camp nachts den Weg zum Plumpsklo finden oder die Wildschweine blenden. Sie war die totale Wildschweinscheuche. Und warum sah sie so angespannt aus?

Das sei der Bruno, sagte sie und zeigte auf den Busfahrer. Sie sei die Inken. Die Ansprechperson. Sie würde gut auf mich aufpassen. Wieso wusste ich sofort, dass das gelogen war, wohingegen mir meine Mutter ganz, ganz, ganz viel Spaß wünschte und mich zum Abschied drückte?

Im Bus roch es nach Keller. Auf den Sitzen hinter dem Busfahrer lagen lauter Beutel. Beutel mit Katzenmotiven. Fünfzehnmal der gleiche Beutel. Alle zugeknotet. Der Kellergeruch kam von den Beuteln.

Ich schaute ratlos in den kleinen Bus. Ein schmaler Gang, links und rechts davon je zwei Sitze, eins, zwei, drei, vier Reihen.

Auf jedem Fenstersitz saß ein Mädchen. Vorne, direkt hinter dem Fahrer, saß eine, die war garantiert noch keine vierzehn. Sie war hellblond, hatte ein Mondgesicht und eine Stupsnase. Wenn ich mich neben sie setzte, müsste ich sie vielleicht adoptieren.

Dahinter saß ein Mädchen mit strubbeligen braunen Haaren. Sie kokelte mit ihren Blicken Löcher in die Fensterscheibe. Sie saß unter dem Notausstiegshammer und sah aus, als säße sie dort mit voller Absicht. Ich fand sie sofort cool.

Sie sah mich kurz an. Ihre Augen brannten lichterloh.

Sie zischte: «Neben mir ist nicht frei. Hier sitzt meine Macke.»

So lernte ich Bea kennen. Ich nannte sie für mich erst einmal Mackemädchen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben waren wir. Mit mir jetzt acht.

Als der Bus aufhörte, mich zu schaukeln, wachte ich auf.

Augenreiben half nichts: Draußen war rabenschwarze Nacht. Im Scheinwerferlicht des Busses konnte ich Bäume sehen. Jede Menge Bäume. Wald also.

Neben mir wachte Mimiko auf. Sie war aus Rheinsberg. Ihr Vater war Japaner. Ihre Mutter Deutsche. Sie war hier, weil ihre Eltern fanden, Mimiko wäre zu selten draußen. Sie hatte mir ihr Smartphone gezeigt und es dann wieder in ihre Jackentasche gleiten lassen. Sie hatte gezwinkert, ich genickt.

Im Businneren wurde das Licht angeschaltet. «So! Alle raus!», kam die Raucherstimme aus den Lautsprechern über unseren Köpfen. Dann hustete der Busfahrer in das Mikrophon. «Entschuldigung!», sagte er, als er fertig war mit Husten. «Hier ist es. Wir sind da.»

Alle rutschten auf ihren Sitzen herum. Köpfe drehten sich hin und her. Tuscheln und Gähnen.

Wir stiegen aus, ich als Vorletzte. Ich sah nach oben zum fahlen Mond, der durch die Baumkronen schien. Halbvoll. Weil es hier so dunkel war, wirkte sein Licht sehr hell. In der Stadt war ein Halbmond keine Lichtquelle. Dort war jede Straßenlaterne ein kleiner Mond. Es nieselte ganz leicht, als würden sich die winzigen Tropfen gar nicht bewegen, als hingen sie einfach in der Luft. Es roch so heftig nach Wald, dass mir komisch wurde. Sonst war ich gerne im Wald, aber Wald war für mich ein Ort, an dem besser Tag war. Ich schnupperte noch einmal in die nasse Luft. Irgendein abartiger Gestank wehte ab und an rüber. Außerdem Brandgeruch.

«Mädels! Bei mir!», rief die Frau. Sie stand im Lichtkegel des Busscheinwerfers. Mit Regenschirm. Wegen der paar Tropfen. Sie konnte kaum eine Faust machen zum Regenschirmhalten, ohne sich mit den langen Fingernägeln beinah die Pulsadern aufzuschlitzen. Über ihrer Schulter hing einer dieser Katzenbeutel. Der klapperte bei jeder Bewegung, zusammen mit den Armreifen.

«Noch mal für alle: Ich bin die Inken, eure Ansprechperson. Ein herzliches Willkommen. Im Namen von mir, dem Team und …», sie lachte wie ein Seehund, «und natürlich im Namen von Pfiffi.»

Neben mir kotzte Mimiko auf den Boden.

Die Inken, immerhin die Ansprechperson, fühlte sich von den Würgegeräuschen nicht angesprochen. Sie redete einfach weiter: «Wir wollten eigentlich mit euch unter freiem Himmel schlafen. Richtig in der Natur. Leider haben wir jetzt nicht so viel Glück mit dem Wetter. Darum haben wir umdisponiert und kommen nun spontan für diese Nacht im Basislager unter. Ich habe auch nur den einen Regenschirm. Leider, leider. Eigentlich braucht ein wildes Mädchen so was ja auch nicht. Oder?»

Die Mädchen hatten sich ihre Kapuzen über die Köpfe gezogen, weil es immer stärker nieselte. Neben mir wischte sich Mimiko den Mund mit einem Taschentuch ab.

Inken schien abzuwarten, ob wir im Chor etwas Zustimmendes rufen würden. Vielleicht: «Ein Pfiffimädchen pfeift auf Regenschirme. Yeah!»

Schweigen im Walde. Zumindest von unserer Seite. Aus dem richtigen Wald kamen alle möglichen Geräusche. Am Boden kroch etwas, in den Büschen hüpfte etwas, flog dann auf und flatterte durch die Wipfel. Kleine Tiere knusperten gezackte Ränder ins Blattwerk, noch kleinere klopften unter der Rinde kurze Nachrichten. Aus dem finsterschwarzen Wald kamen finsterschwarze Geräusche geraschelt, die einen an Wesen glauben ließen, die nicht im Naturführer standen, und wenn, dann im Kapitel Gespenster. Am seltsamsten war ein pfeifendes Geräusch in den Bäumen. Ein hohes Pfeifen und ein tiefes. Das war alles nicht gut, fand ich. Ich sah plötzlich überall zusammengekauerte, schwarz gekleidete Menschen. Wahrscheinlich waren es Büsche. Stand dahinten ein Auto? Es war für einen Busch zu eckig und zu groß. Vielleicht eine Tischtennisplatte.

Ganz in der Nähe rumste es. Ein Mädchen quiekte. Ich zuckte zusammen. Das Mädchen neben mir erschrak über meinen Schreck, und neben ihm erschrak ein weiteres Mädchen über dessen Schreck. Wir alle hatten unterschiedlich hoch gequietscht. Eine Kettenreaktion, die sich anhörte wie ein kurzes Lied.

«Da ist bestimmt nur ein Ast herabgefallen. Benehmt euch nicht wie Hühner und hört auf, hier herumzugackern. Der Wald will nichts von euch. Ihr wollt etwas vom Wald. Merkt euch das», sagte Inken. «Nachher gibt es noch eine kleine Überraschung für euch. Aber ich will nicht zu viel verraten.»

Na bitte, dachte ich, dann kommt bestimmt die richtige Gruppenleiterin, eine sportliche Frau, lustig und cool. Ohne Ketten und Armbänder und Fingernägel wie Mordwerkzeuge.

Ich versuchte, mich zu orientieren. Etwa zwanzig Meter neben dem Bus stand eine flache Baracke. Dahinter noch mehr Baracken. Sie sahen im Mondlicht alle leicht grünlich aus, als wären sie aus einem See geborgen und hier zum Trocknen abgestellt worden.

Die Inken gab uns die Aufgabe, die Katzenbeutel aus dem Bus zu holen und danach das Gepäck auszuladen. Neben unseren Taschen lagen noch große grüne, verwaschene Seesäcke. Fünf Stück. Wir legten alles neben den Bus, auf den immer nasser werdenden Sand. Unsere Schritte drückten den nassen Sand in den trocknen darunter.

Bald waren überall helle Abdrücke.

Bald waren alle wieder dunkel geregnet und weg.

Während wir unsere Sachen hinten aus dem Bus holten, war der Busfahrer mit seiner Taschenlampe zwischen den Baracken herumgelaufen. Als er wiederkam, flüsterte er Inken eine Nachricht zu. Die Flüsternachricht gefiel ihr nicht. Sie zischte aufgeregt. Ich konnte nicht viel verstehen. Nur das, was er sagte. «Reg dich nicht so auf. Hast du deine Tablette schon genommen?» Daraufhin wurde ein Reißverschluss aufgeritscht. Am Ende hörte ich seine brüchige Stimme sagen: «Ich bin doch morgen zurück.»

Ich drehte schnell meinen Kopf weg, als Inken kam. Sie sah mich komisch an. «Was ist, Charlotte Nowak?» Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich zu den anderen. «Das Gepäck muss untergestellt werden.»

Jede nahm ihre Sachen. Im Pulk liefen wir Inken hinterher, als wären wir alle gleich nach dem Schlüpfen auf diese komische Frau geprägt worden. Kaum waren wir einige Meter vom Bus entfernt, hupte dieser genauso heiser wie sein Fahrer und fuhr in den Wald hinein. Das Scheinwerferlicht nahm er mit. Jetzt war mir auch nach Kotzen zumute.

Etwas rasselte, dann leuchtete es auf, und aus der Richtung des Lichtes kam Inkens Stimme. «Mitkommen! Alle!» Sie trug wahrscheinlich eine Stirnlampe.

Dieses hohle Pfeifen nervte mich. Das war kein Tier. Das war, als ob der Wind in eine Röhre fuhr. Also nichts Gruseliges, beschloss ich.

Hinter der ersten Reihe von sieben Baracken war eine Freifläche. Hier wurde der Brandgeruch stärker. Brandgeruch war auch nicht gruselig, beschloss ich. Nur dieser andere Gestank war abartig. Durch das hohe Gras führte ein Trampelpfad, so schmal, dass kein Fuchs durchschnüren konnte, ohne sich bei Morgentau einen nassen Pelz zu holen. Wir schnürten hinter Inken drein. Der Untergrund veränderte sich. Mein neues, festes Schuhwerk sank nicht mehr im Sand ein. Steinplatten. Zwischen den Ritzen Gräser und junge Bäumchen. Etwas klackerte metallisch. Der Regen wurde stärker, und der Wind testete alles auf Haltbarkeit. Neben dem Versammlungsplatz ragten im Dunkeln drei Fahnenmasten auf. Das Mondlicht rutschte daran herunter. Die Drahtseile, die man zum Hochziehen von Fahnen brauchte, wurden vom Wind an die Maste geschlagen. Mimiko flüsterte mir zu, dass sie das alles scheiße fand. Ich flüsterte zurück, dass ich es auch scheiße fand, zumal ich bemerkte, dass meine neue Jacke nicht dicht war. Hinter uns flüsterte ein anderes Mädchen, dass es oberscheiße sei.

Wir waren an einer etwas abseits stehenden Baracke angekommen. Dreimal so lang wie die anderen. Inken holte aus ihrem Katzenbeutel einen riesigen Schlüsselbund und rasselte alle Schlüssel durch. Sie öffnete die Baracke und sagte, wir sollten die Taschen ablegen, um noch die Seesäcke zu holen.

Ich versuchte, immer hinter und vor jemandem zu sein. Das war ganz leicht, denn die anderen Mädchen machten es genauso, sodass wir alle beieinander blieben. Nur Mackemädchen latschte alleine rum. Neben der lief ja auch ihre Macke.

Als alles in der Baracke verstaut war, zeigte Inken auf die Katzenbeutel. «Jede nimmt sich ein Übernachtungspaket. Darin enthalten sind eine kleine Decke, ein praktisches Handtuch und dreiteiliges Campinggeschirr, bestehend aus Teller, Schüssel, Tasse – alles von Pfiffi, dem lustigen, äh, pfiffigen, na, ihr wisst schon. Folgt mir zu den Schlafgelegenheiten.» Die war echt aus einem Aktenordner gefallen. Warmherzig wie ein Tiefkühlprodukt. Bestimmt nannte sie Brot Aufstrichunterlage oder so.

Das sehr junge blonde Mädchen lief plötzlich neben mir. Alles an ihr schlenkerte herum. Sie war in der Phase, wo wir immer die Katzen weggaben. Sie waren noch niedlich, aber konnten geradeaus laufen. So plötzlich, wie sie neben mir aufgetaucht war, so plötzlich henkelte sie sich auch bei mir ein. Jetzt hatte ich sie also doch adoptiert. Ihre langen blonden Haare kitzelten mich am Arm. Sie sagte mit Kinderstimme, dass sie Antonia hieße. Ich bildete mir ein, dass sie nach Vanille roch. Vielleicht war sie in Wahrheit ein Keks.

Inken führte uns zu einer Veranda, über der ein Dach aus Wellplastik war. Der Regen trommelte auf die Wellplastik – hieß das so? Wellblechplastik? Egal. Inken klappte ihren Schirm zusammen und stellte ihn an die Barackenwand, wo er auch am nächsten Morgen noch stand. «Und jetzt ist genau der richtige Moment für die Überraschung.» Sie nahm den klappernden Beutel von ihrer Schulter und ließ uns alle einmal reingreifen. Wir zogen viereckige Pfiffi-Taschenlampen heraus. Sie sahen aus, wie man sich früher die Zukunft vorgestellt hatte.

«Da sind aktuell keine Batterien enthalten. Leider, leider. Aber wir werden natürlich welche nachreichen.»

Von welchem «wir» redete Inken eigentlich die ganze Zeit? Würde der Busfahrer wiederkommen?

«Na, tolle Dinger, oder?», fragte Inken.

Keines der Mädchen sagte was. Inken hätte auch Tannenzapfen austeilen können. Wenn wir genug Tannenzapfen hätten, könnten wir diese in die Gegend werfen und würden schon irgendetwas treffen. Das war fast eine Taschenlampe.

Eine Taschenlampe war in Inkens Beutel übrig geblieben.

«Mädels!», rief sie. «Eine fehlt!»

Die kleine Antonia begann zu weinen.

Ein sehr hübsches Mädchen tat so, als spuckte sie hinter sich.

Ich hätte auch gern irgendwas gemacht. Der Hund vom Nachbarn kratzte sich immer, wenn er nicht weiterwusste.

«WER FEHLT?», kreischte Inken uns an, als ob eine von denen fehlte, die sie gerade anschrie. Gleich danach säuselte sie: «Also, Mädels, wer fehlt?» Das ging so schnell, als ob jemand «hau-ab-komm-her» gesagt hätte.

Das fehlende Mädchen konnte nur Mackemädchen sein. Der traute ich zu, summend auf dem Nachhauseweg zu sein. Die wusste garantiert, wie man einen Wolf zum Heulen brachte.

«Die mit den kurzen Haaren», sagte ein Mädchen aus dem Dunkeln.

Inken schnaufte, dann schrie sie, dass die einzigen Laubbäume zwischen all den Kiefern ihre Blätter einrollten und nun auch wie Nadelbäume aussahen. «TABEA FRANK!»

Schritte näherten sich. «Ich war hinter dem Toilettenhaus, was erledigen. Das Toilettenhaus ist nämlich zugeschlossen, aber so, wie das riecht, will ich da auch nicht rein.»

Inken eilte zu Mackemädchen, Tabea Frank hieß sie also, und versuchte, sie zu umarmen. Sie riss sich die Stirnlampe vom Kopf und leuchtete sich selbst ins Gesicht. Mit der anderen Hand griff sie sich ans Herz: «Ich trage doch die volle Verantwortung für euch. Mädels, macht keinen Unfug, ja? Wir sind mitten im Wald. Ihr dürft niemals, unter keinen Umständen, allein herumlaufen. Ich habe euren Eltern versprochen, auf euch aufzupassen. Das habe ich doch, oder? Ihr habt es gehört. Und das werde ich tun.» Sie sah uns alle nacheinander an. Entweder wusste sie nicht genau, wie man liebevoll guckte, oder sie wollte wirklich aussehen wie ein zwischen die Tür geratenes Frettchen. Dann schaltete sie das Frettchen wieder aus, sagte «alle mitkommen!» und ging los.

«Ich will meinen Koffer», ein Mädchen stand vor der Baracke und bewegte sich nicht. Ich sah im Dunkeln ihr Profil. Sie hatte eine spitze Nase und ein spitzes Kinn. «Ich will meine Sachen!»

«Das heißt ‹möchte bitte›, Yvette», sagte Inken. «Jetzt ist Ruhezeit, und ihr habt euer Übernachtungspaket. Das ist ein Survival-Camp. Wir machen hier Abenteuer.» Mit diesen Worten setzte sich Inken die Lampe wieder auf die Stirn und lief los.

Was soll man machen, wenn die einzige Lichtquelle losläuft? Wir liefen hinterher. Sofort hatte ich wieder Antonia am Arm. Wir gingen ein paar Schritte bis zur ersten Baracke.

«Pro Baracke zwei Mädchen. Du und du», Inken zeigte auf die Mädels und schob sie hinein. Wir gingen zur nächsten Baracke. «Du und du», und Antonia verschwand von meinem Arm.

Inken würde doch nicht auch mit in eine der Baracken kommen? Vor allem bitte nicht mit mir. Oder noch schlimmer: mit einem anderen Mädchen, und ich wäre allein. Dann lieber zu dritt mit Inken. Das erinnerte mich an das Entweder-oder-Spiel, das wir immer in der Schule spielten. Würdest du lieber deine Freundin verraten oder gegen einen Pitbull kämpfen? Solche Fragen.

«Du und du», sagte Inken und schob Yvette und Mimiko in eine Baracke. Ich und Mackemädchen blieben übrig. Tabea Frank. Ich atmete tief ein. Mit der konnte mir wenigstens nichts passieren. Sogar wenn Inken mit in die Baracke kommen würde.

«Schlaft gut!», sagte Inken, leuchtete uns mit ihrer Lampe ins Gesicht und warf die Tür zu. War die wütend, oder wollte sie, dass die Tür auch wirklich zu ist? Wo schlief sie denn? Angst schien sie nicht zu haben. Der Wald wollte ja nichts von ihr, niemand wollte was von ihr. Obwohl der Busfahrer sie schon ein bisschen sehnsüchtig angesehen hatte.

Wir standen eine Weile im Dunkeln, bis sich die Augen daran gewöhnt hatten. Ich tastete mich langsam vor.

«Tabea?», flüsterte ich.

«Sag Bea!», antwortete sie in normaler Lautstärke.

Ich hörte, wie jemand an der Tür fummelte. «Was ist das?», flüsterte ich.

«Das bin ich. Die Tür geht nicht auf.» Sie wurde immer lauter. «Die hat uns eingesperrt. Die hat uns …»

«Bestimmt nicht», flüsterte ich.

«Bestimmt doch. Hier ist keine Türklinke», auf einmal klang das Mackemädchen nicht mehr cool. Sie klapperte am Schloss herum. Dann knipste sie ein Licht an.

«Hast du eine Taschenlampe? Auf der Liste stand doch, dass wir keine brauchen.»

«If hab keine pfeiff Lifte.» Bea hatte sich eine kleine Taschenlampe in den Mund gesteckt und leuchtete auf das Türschloss. Sie holte ein Klappmesser aus der Hose, klappte es auf und bearbeitete das Schloss. Sie hatte die Tür schnell auf. Das Mondlicht fiel herein. Bea knipste die Lampe aus und steckte sie zusammen mit dem Messer weg.

«Wollen wir nicht einfach schlafen?», fragte ich.

«Meinst du, du kannst heute Nacht hier drin schlafen?»

«Vielleicht», flüsterte ich.

«Super, dann mach das. Kannst ja dann vielleicht auch morgen noch am Leben sein.»

«Gehst du ganz weg? Also, kommst du wieder?»

«Ich geh mal nach den anderen sehen.»

Neben dem Regen und dem hohlen Pfeifen war noch ein weiteres Geräusch zu hören. Ein Rauschen. Wasser. War da ein Wasserfall in der Nähe? Den hätte ich doch vorhin schon hören müssen. Im Mondstrahl konnte ich die Betten sehen. Doppelstock. Ich warf den Katzenbeutel hoch und kletterte hinterher. Oben war man doch sicher, oder? Im Katzenbeutel war eine Zudecke. Ganz dünn. Und winzig. Für Kinder. Oder war das eine Tischdecke? Es war so dünnes Chemiefaserzeug. Ich legte mir die Decke um die Schultern, wobei ich etwas Hartes, Rundes an den Ecken fühlte. Druckknöpfe. Ich machte sie zu und verschränkte die Arme, um mich zu wärmen.

Bea stand die ganze Zeit im Türrahmen.

Wie war ich nur auf die Idee gekommen, dass es mit ihr besonders sicher war? Sie war einfach nicht ängstlich genug für Sicherheit.

«Kannst du die Tür wieder zumachen?», bat ich sie.

«Wenn es dir dann bessergeht …»

Damit verschwand sie.

Das Messer von meinem Vater war im Rucksack. Na, da isses gut, hörte ich meinen Vater sagen. Ich habe dir doch auch die Messertasche gegeben, die man an den Gürtel hängen kann, sprach der Vater in meinem Kopf weiter. Ich antwortete ihm nicht.

Klar, hatte ich Angst, aber da war auch ein anderes Gefühl. Eine Unruhe.

Wenn ich begann, im Rätselforum über ein Rätsel nachzudenken, dann wurde ich ganz unruhig, als wäre ich eingesperrt in mir selbst und meine Gedanken bräuchten mehr Platz. Als stießen sie von innen an meinen Kopf. Als ich im Dunklen oben auf dem Doppelstockbett saß, an die dreckige Wand gelehnt und allein, während der Regen auf das Dach klatschte, da hatte ich diese Unruhe.

Irgendetwas hier war komisch. Das Dach war undicht. Nicht weit von mir entfernt tropfte es auf den Boden. Und ich war eventuell doch nicht allein. Etwas huschte an der Wand entlang. Je länger die Nacht dauerte, umso mehr fragte ich mich, ob hier eigentlich irgendetwas NICHT komisch war.

Ich wickelte mich fester in die Pfiffidecke. Sogar ich war komisch. Gerade ich. Und das Wort komisch war auch komisch, und es wurde immer komischer, je häufiger ich es dachte. Komischkomischkomischkomischkomischkomischko…

«Hey! Hey, du!» Ein Zeigefingerspecht klopfte mir auf die Kniescheibe. Im dämmrigen Morgenlicht konnte ich Bea erkennen, die auf der Hälfte der Leiter des Doppelstockbettes stand. Ich musste im Sitzen eingeschlafen sein, mit dem Kopf nach vorne. Eine Mischung aus Schneidersitz und Rolle seitwärts. Mein Nacken war drei Wirbel länger als am Vortag. Ich fühlte mich wie eine Superheldin, nur weil ich die Nacht überstanden hatte. Schlaf-Woman oder so. Mutig schläft sie an den gefährlichsten Orten.

«Inken ist weg. Und unser Gepäck auch», verkündete Bea und sprang von der Leiter. Rums.

Mein Hochgefühl war auch sofort weg. Auf Inken war geschissen, aber das Gepäck? Meine Lieblingsjacke! Eine Trainingsjacke von meinem Vater. Ich hatte sie, ohne zu fragen, vor einem halben Jahr aus dem Schrank genommen. Eine Jacke von der Freiwilligen Feuerwehr Bernitz, wo mein Vater früher war. Mein ganzer Stolz.

Bea ging nach draußen und ließ die Tür sperrangelweit offen. Ich sah, dass es nebelig war. Nacht und Tag zögerten noch bei ihrer Verabschiedung voneinander.

Ein in gelbe Decken gehülltes Mädchen lief am Fenster vorbei, die Große, Schöne. Sie hatte einen dicken geflochtenen Zopf, der wie gebacken aussah. Das war die, die in der Nacht so getan hatte, als würde sie über ihre Schulter spucken.

Die Leiter vom Hochbett quietschte, als ich runterkletterte. Ich blieb kurz vor der Baracke stehen und lauschte. Da war das Rauschen – wieder oder immer noch. Ein Wasserhahn oder ein pullernder Elefant. Es stank wie Letzteres. Oder schlimmer.

Ich hörte Mädchenstimmen. Wo war denn die Schöne hin? Als ich um die Baracke herumgelaufen war, bot sich mir ein irrer Anblick. Ich blieb stehen.

Im Nebel standen gelbe Mönche um ein schwebendes Feuer. Im Feuer sah ich Bea, ihren Oberkörper. Das alles musste eine optische Täuschung sein. Eine weiße Rauchsäule stieg in den grauen Himmel. Als ich näher kam, löste sich das seltsame Bild auf. Die Mönche waren die Mädchen in gelben Pfiffidecken. Das Feuer hatten sie auf einer Tischtennisplatte angezündet, die von hohen Gräsern umwachsen war, sodass der Sockel nicht zu sehen war. Die alte Tischtennisplatte war zu einem steinernen Floß geworden, das über eine Wildwiese trieb. Bea stand auf der anderen Seite des Feuers, ich hatte sie durch die Flammen hindurch gesehen. Das Feuerholz knallte.

Einige Mädchen erschraken und lachten. Von der nächtlichen Angst war nichts mehr übrig.

«… jedenfalls habe ich jetzt nur noch drei Pferde», beendete gerade ein Mädchen seinen Satz. Es war die mit der spitzen Nase und dem spitzen Kinn. Sie hatte lila gefärbte Haare.

«Na, und du heißt Leuchtturm oder was?», fragte sie mich.

Ich begriff den Satz überhaupt nicht. Leuchtturm? Dann wurde ich rot.

Als sie dann noch sagte, «oh und du leuchtest sogar!», lachten alle.

«Das ist Charlotte», sagte Antonia und stellte sich neben mich. Wenn die Kleinste für die Größte spricht, dann ist man als Größte plötzlich kleiner als die Kleinste.

Dreipferdemädchen sah von mir zu Antonia: «Ihr seht aus, als ob ihr beim Hoch- und Tiefbau arbeitet.»

Die Mädchen kicherten. Einige entschuldigten sich bei mir dafür, lachten aber trotzdem.

Ganz kurz glaubte ich, dass eine von ihnen ganz schrill kicherte, dann wurde mir klar, dass da jemand schrie. Nicht weit weg.

Der Schrei wurde schriller und lauter. Wie ein Stich durchs Ohr ins Angstzentrum.

«Mimiko», sagte Bea und rannte los.

Ich sah mich kurz um. Sah Mimiko nicht. Ohne weiter darüber nachzudenken, stürzte ich hinter Bea her. Sie war die Einzige hier, der ich mich blind anvertraut hätte. Und weil sie losrannte und weil ich losrannte, rannten alle los. Um eine Barackenecke, um eine weitere, noch eine. Der Stoff von Beas Hose pfiff atemlos. Ich hinterher, hinter mir alle anderen. Über den Versammlungsplatz, um noch eine Baracke, das hohe nasse Gras peitschte an meine Beine. Woher wusste Bea, wo wir hinmussten? Ich hätte die Schreie nicht so genau zuordnen können. Sie klangen schon viel weiter weg. Und gar nicht wie ein Mädchen. Eher wie ein Junge, der wie ein Mädchen schrie. Wie ein Vogel, der wie ein Junge schrie, der wie ein Mädchen schrie. Ich rannte und rannte. Der Nebel dämpfte alles grau in grauweiß. Dann war nichts mehr zu hören.

Bea blieb stehen. Wir waren an der Baracke, in die wir heute Nacht unsere Rucksäcke gebracht hatten. Die Tür stand offen, obwohl Inken sie abgeschlossen hatte.

Die anderen Mädchen kamen angeflogen wie eine Schar Kanarienvögel, die gelben Pfiffidecken flatterten um ihre Schultern. Als sie bei uns landeten, waren alle aus der Puste, und dass Mimiko nicht hier war, ließ sie nicht gerade ruhiger werden.

«Wer hat denn geschrien?», fragte die Schöne. Sie sah sich um, nach oben – als ob so weit oben jemand sein könnte, nach unten, als ob unter der Erde jemand sein könnte. Sie schien mir etwas verrückt. Dann spuckte sie wieder über ihre Schulter. Das war doch irgend so ein Geisterding, oder?

Der größere Aufreger war, dass die Taschen weg waren. Mein dies, mein das, jammerten alle … bis sie das Blut sahen. Auf dem Boden der Baracke glänzte eine große, dunkelrote Pfütze. Vergessen war mein dies und mein das. Kein Zweifel: Das war Blut. Frisches Blut. Oder doch nicht?

An den Wänden prangten zwei große Schriftzüge und mehrere Symbole. Alle braun. Und verblasst. Das war auf jeden Fall Blut. Aber altes. Das war nicht von letzter Nacht. Den Schriftzug an der hinteren Wand sah man sofort, wenn man reinkam. Da stand: Brüder der Sünde. Das B und das S waren reich verziert, wie der Siegelstempel einer adligen Familie. Wahrscheinlich war dieses Blut durch eine Schablone gespritzt worden. Aus einer Blutsprühdose? Das sind so Fragen, die ich mir vorher auch noch nie gestellt hatte. Gab es Blutsprühdosen? Normalerweise schaute ich bei solchen Fragen sofort im Internet nach. Unwissen störte beim Nachdenken total. Das war dann kein Denken, das war Vermuten. Das war mit einer falschen Karte durch einen unbekannten Wald fahren.

Der andere Schriftzug stand an der Seitenwand über dem Fenster, in einer verschnörkelten Schreibschrift: Orden der gemein Niederdracht.

Über der Schrift glänzte etwas. Hinter «gemein» war «en» ergänzt worden. Das zweite d in Niederdracht war durchgestrichen, daneben stand ein t geschrieben. Die Buchstaben waren frisch. Hier war die Rechtschreibung mit blutigen Mitteln verteidigt worden. Das nahm der ganzen Sache einen großen Teil ihrer Schaurigkeit. Satanisten mit Rechtschreibschwäche waren wie Vampire mit Zahnspangen. Blieb trotzdem die Frage, wo das ganze Blut herkam.

Einige Mädchen gingen ein paar Schritte in die Baracke hinein. Andere drückten sich am Eingang herum, ich stand ganz hinten und schaute über ihre Köpfe. Auf dem dreckigen Linoleumboden sah ich dreckige Fußabdrücke. Mindestens fünf verschiedene Schuhprofile konnte ich unterscheiden. Und da war noch ein halber, ein blutiger Abdruck. Der halbe war nur der vordere Teil eines Schuhs.

«Ein Teufelsfuß!», sagte die Schöne und legte danach eine Hand auf ihren Mund.

«Zumindest haben wir es nicht mit einem Vampir zu tun», sagte eine mit einer karierten Hose und grinste breit, «der hätte nicht das ganze leckere Blut hier so verkleckert, oder?»

«Kennst dich bestimmt aus mit Vampiren? Wegen der Zähne.» Dreipferdemädchens Sprüche waren echt wie am Stromzaun lecken. Mit diesem Spitzgesicht wollte ich auf keinen Fall Ärger bekommen.

«Sag mal, versuchst du, witzig zu sein? Versuch mal lieber, scheiße zu sein. Das könnte dir ganz gut gelingen.» Das war ein Punkt für das Mädchen mit den zugegebenermaßen echt großen Zähnen. Aus ihren Schneidezähnen könnte man Badezimmerfliesen machen. Sie bekam kaum den Mund zu, aber sie grinste sowieso die ganze Zeit, als ob ihr inneres Gedankenradio eine ulkige Sendung nach der anderen brachte. Ich mochte sie. Sie hatte einen Pferdeschwanz, Grübchen und diese Zähne.

«Mann, die Mimiko ist weg, und ihr macht hier Sprüche!», sagte die kleine Antonia.

«Recht hat sie!», stimmte Bea zu.

Ich sah mir das Blut an. Es kam nirgends her, es floss nirgends hin. Es gab keine Spritzer, keine Schmierer. Es lag so friedlich da wie ein Blutsee. Das war bestimmt mindestens … so was schätzte sich echt schwer. Wenn man vier Packungen Milch auskippte, müsste das eine Pfütze von … Mann, keine Ahnung, gab es dazu eine Formel? Liter mal Gerinnung gleich Fläche? Verhielt sich Milch überhaupt wie Blut? Ich schloss die Augen und stellte mich zu Hause in die Küche, dort war der Boden abwischbar. Dann öffnete ich einen Gedankenkühlschrank und nahm vier Packungen Milch raus. Dann noch mal zwei. Ich riss sie Kraft meiner Gedanken auf und kippte eine nach der anderen auf den Boden, den meine Mutter im Alleingang ausgesucht, mein Vater dann allerdings im Alleingang verlegt hatte. Schon nach drei Packungen Milch hatte die Pfütze eine vergleichbare Größe. Nun lass mal Blut noch dicker sein, sagte ich mir. Dann waren das hier gute vier Liter Blut. Ein durchschnittlicher Mensch hat fünf bis sechs Liter Blut. Dann müsste einer also komplett ausgelaufen sein, oder zwei Menschen halb. Wo war Mimiko? Bevor meine Gedankenmutter in die Gedankenküche gerannt kam, die Hände über dem Kopf zusammenschlug und losmeckerte, stupste mich das Mädchen mit den großen Zähnen an. «Hey, träumst du?»

Ich schüttelte den Kopf. Flüsterte ihr zu: «Hier ist bestimmt nichts Schlimmes passiert. Hier hat jemand einfach einen Eimer Blut hingekippt. Vielleicht nicht mal Menschenblut.»

«Echt?», flüsterte sie zurück. «Meinste?»

«Guck mal, keine Spritzer, keine anderen Spuren.»

Ihr Kopf nickte. Ihre ganze Mimik stimmte mir zu. Ein leises: «Stimmt!»

Mir wurde ganz warmheiß und supergut.

«Ich bin Rike!»

«Ich bin Charlotte.»

«Charly», grinste sie. «Okay!» Dann schüttelte sie meine Hand.

 

Als alle Mädchen wieder draußen waren, ging ich einen halben Schritt in die Baracke hinein und sah mich noch einmal um. Ich hielt meinen Fuß neben die Schuhabdrücke. Deutlich größer als meine Schuhe. Und ich hatte keine kleinen Füße. Der äußere Bogen des halben Abdrucks war schräg gestrichelt, darin ein paar gerade Striche. Dann so was wie Waben. Das kam mir bekannt vor. Das waren Chucks, oder? Mann verdammt, hätte ich jetzt gerne in eine Suchmaschine getippt: Sohle von Chucks, Bildersuche. So musste ich wieder meine Augen schließen, den Gedankenflur in unserem Gedankenhaus entlanggehen. Die Gedankenchucks von mir hochheben und druntergucken. Ja, Striche, Striche, Waben. Hatte ich es doch gewusst.

Na prima, nach jemand mit Chucks konnte man echt nicht suchen. Das war ein Stück Heu im Heuhaufen suchen. Eher findet man die Nadel, echt.

Ich ging ganz nah an die Pfütze in der Mitte des Raumes heran. Blutlache, Bildersuche. Frisches Blut, Bildersuche. Wie schnell gerinnt Blut? Hat Schweineblut eine andere Farbe als Menschenblut?

Bea riss mich aus meinen Gedanken. «Willste noch dran lecken? Dann weißte, ob einer von den Kaninchensatanisten Alkohol getrunken hat. Los, komm, die machen Versammlung oder so was.» Sie latschte raus. Sie trug Chucks. Graue. Wieso trug sie kein festes Schuhwerk? Das hatte doch auf der Liste in dem Brief ganz oben gestanden.

Beim Rausgehen sah ich über der Tür eine weitere Blutschmiererei. Ein Kaninchen. Es war mit dem Finger gemalt worden. Hallo! Fingerabdrücke! Geht’s noch?

Kaninchensatanisten, hatte Bea gesagt. Aber sie war doch gar nicht in der Baracke drin gewesen. Von draußen konnte sie es nicht gesehen haben. Und noch etwas fiel mir auf. Bea hatte mich vorhin mit der Nachricht geweckt, dass unser Gepäck weg war. Das heißt, sie hatte es schon gewusst, bevor wir es herausgefunden hatten. Ich trommelte mir mit Zeige- und Mittelfinger auf die Oberlippe. Das hier war ein Echträtsel.

Wo war das Gepäck?

Warum war es weg?

Wer war das?

Verdächtige: alle mit Chucks, vor allem Bea.

Warum sollte sie Blut auskippen? Wo hatte sie das her?

Wo war Mimiko?

 

Draußen standen alle Pfiffidecken-Mönche im Kreis und redeten durcheinander.

Der Nebel hatte sich inzwischen zurück in den Boden gelegt. Die Sonne leuchtete das Barackendorf ordentlich aus – sodass ich mich auf einmal an einem echt schönen Ort befand. Hier könnte man eine phantastische Zeit erleben. Die Vögel klangen fröhlich, übermütig überholten ihre Stimmen sich selbst, schlugen Purzelbäume in den kleinen, gefiederten Kehlen. Eine dicke Frühaufsteherhummel brummte in Richtung Wald davon.

«Also, ich würde jetzt erst einmal das Gepäck suchen.»

«Wir sollten hier schleunigst weg.»

«Ja, aber ohne meine Tasche gehe ich nirgendwohin.»

«Vielleicht sollten wir die Polizei rufen.»

«Wie denn, ohne Smartphone?»

«Wir sollten hier abhauen. Sofort! Eine ist verschwunden und dieses Blut …»

«Vielleicht gibt es hier Geister», überlegte die Schöne und sah sich um.

«Entweder hat Inken Mimiko umgebracht oder …», flüsterte Antonia.

«Oder Mimiko Inken, oder der Busfahrer Mimiko …», sagte ein Mädchen, das bis jetzt noch gar nichts gesagt hatte. Die fettigen Haare hingen ihr wie ein Vorhang übers Gesicht. Sie trug eine braune Wildlederhose und ein schwarzes Jungshemd. «Oder der Busfahrer Inken oder Inken den Busfahrer», leierte sie runter, und währenddessen zuckte ihr Kopf in regelmäßigen Abständen leicht zur Seite, wobei sich der Haarvorhang immer kurz öffnete. Dahinter waren mordshellblaue Augen. Also, wenn ich so aussehen würde, dann würde ich versuchen aufzuhören, so auszusehen. Wenigstens die Haare würde ich mir waschen.

«Ich kann es jedenfalls nicht gewesen sein. Mein Multifunktionstool ist in meinem Rollkoffer. Außerdem mein Zippo mit Gravur und mein Schlafsack mit echten Gänsedaunen», Dreipferdemädchen bog einen Finger nach dem anderen um. Was sie alles besaß. Die Finger reichten gar nicht aus.

«Ein Messer trägt man am Körper.» Der Haarvorhang wurde kurz weggeschüttelt und rutschte wieder zurück. An ihrer Wildlederhose hing eine abgewetzte Messertasche. Die war nicht extra für das Camp angeschafft worden. Die trug sie immer.

«Ich glaube nicht, dass hier was Schlimmes passiert ist», sagte jemand meine Worte, aber ich war es nicht. Neben mir stand Rike, und sie stupste mich. Ich tat nichts.

«Also, bei dem Blut», sagte Rike, «da gab es keine Spur hin und keine weg, und auch keine Spritzer. Das sieht eher so aus, als ob jemand einen Eimer ausgekippt hätte.»

Alle nickten. Ich freute mich.

«Das kann ja zu dem Camp dazugehören. Ein Test oder so. Oder ein Spiel», überlegte Rike.

«Trotzdem ist Mimiko weg. Und das Gepäck.» Antonia kratzte an ihrer kleinen Nase.

«Wir sollten Inken suchen.»

«Wir müssen Mimiko suchen.»

«Wir sollten echt die Polizei …»

«Nee, nichts Polizei», unterbrach Bea. «Inken ist weg. Die müssen wir hier nicht suchen.»

«Woher willst du das wissen?» Dreipferdemädchen schob ihr spitzes Kinn nach vorne.

«Ich habe sie schon gesucht. Sie war nicht da.»

«Du brauchst so ein Survival-Camp gar nicht mehr, oder? Indianername Die-alles-schon-weiß, oder wie?»

«Na, du brauchst so ein Camp auf jeden Fall. Indianername Lila-gefärbter-Unfrieden.»

«Ich heiße Yvette. Falls du dich fragst, wer deine neue beste Freundin ist. Die Yvette. Und die will nicht nur spielen.»

«Fein, ich bin Bea. Ich höre dir auch gern zu, wenn du nichts sagst.»

Sicherlich hätte das noch lang so weitergehen können, wenn Antonia nicht gequietscht hätte: «Der Bus, ich höre den Bus. Ich glaube, der Bus kommt. Hört ihr den auch?»

Ich hörte dieses Wasserrauschen, und dann hörte ich auch den Bus.

Rike sagte: «Wir können nichts hören, wenn du die ganze Zeit schreist.»

Antonia hielt sich mit beiden Händen den Mund zu.

Tatsächlich tuckerte ein Geräusch im Wald. Der Bus. Oder jedenfalls ein Bus.

«Ach, Scheiße. Ich dachte, sie kommen nicht wieder», sagte Bea. Auch ich war nicht scharf darauf, den Tiefkühler Inken wiederzusehen, aber inzwischen hatte ich einen Frühstückshunger, der zu Kompromissen bereit war. Bestimmt gab es gleich Pfiffi-Minztee und ein paar gelbe Pfiffi-Brötchen.

Wir machten uns auf den Weg zum Eingang des Barackendorfes. Dorthin, wo die Straße aus dem Wald kam und dann einfach zu Sand wurde.

Das Tor bestand aus zwei eckigen Backsteinsäulen. Links eine. Rechts eine. Geschätzter Abstand knapp eine Busbreite. Geschätzte Höhe drei Meter. Auf jeder der Säulen war ein Rest Torbogen zu sehen. Ein braunes, gebogenes Schild. In der Mitte fehlte der größte Teil. Bestimmt hing dieser mittlere Teil im Heimatmuseum der Region. Oder ein verrückter Sammler hatte ihn bei eBay ersteigert.

Aus dem Metall waren Buchstaben ausgestanzt, durch die man hindurchsehen konnte.

«NNAML OIP», Dreipferdemädchen Yvette schüttelte den Kopf, «was soll das denn heißen?»

Ich flüsterte Rike zu: «Sie muss es von der anderen Seite lesen.»

Rike grinste und knuffte mich mit dem Ellenbogen.

Davon ermutigt, flüsterte ich weiter: «Das war bestimmt ein Pionierferienlager. Vielleicht Ernst Thälmann.»

Als Rike mich komisch ansah, schob ich nach: «So hieß die Fabrik, wo meine Eltern früher gearbeitet haben. Irgendein Kommunist.» Das sagte meine Oma immer. Inzwischen sagte sie es, wann immer irgendein Name fiel. Selbst wenn Nachbars Hündin warf und die Welpen Rolli, Trolli und Schwarzer-Fleck-am-Nacken hießen, behauptete meine Oma, das wären irgendwelche Kommunisten.

«Man muss es von der anderen Seite lesen», sagte Rike laut. «Das hieß bestimmt Pionierferienlager Ernst Thälmann.» Sie hatte wirklich eine große Klappe.

«Woher willst du das wissen?», zischte Yvette.

Rike sah mich kurz an, und ich glaube, noch bevor ich meinen Kopf leicht schüttelte, sagte sie: «Ich habe nachgedacht. Mit meinem Gehirn. Das Ding zum Nachdenken. Im Kopf.»

Ich war froh, dass Rike nicht die Aufmerksamkeit auf mich gelenkt hatte. Dankbar lächelte ich sie an. Sie grinste zurück.

Zwischen den Bäumen kam der Bus in Sichtweite. Auf der Seite der Schriftzug: Wildnis für wilde Mädchen. Er rumpelte durch den Kiefernwald und blieb erst stehen, als die Straße zu Ende war. Direkt vor uns. Die Vorderreifen standen schon fast im Sand.

Vorne saß nur der Fahrer, der speckige Bruno. Er starrte uns durch die Scheibe an, dann kam er raus.

«Wo ist unser Gepäck?», fragte Yvette.

Wusste er nicht. «Inken kommt abends. Baumaterial muss ausgeladen werden. Is drin und hinten.» Er hustete und zeigte mit seinen unrasierten Fingern zum Bus. Dann setzte er sich auf einen Baumstumpf und versuchte, dort festzuwachsen.

Wir legten unsere Pfiffidecken ab und luden aus. Dazu bildeten wir eine Kette. Ein Brett nach dem anderen wurde aus dem Bus gereicht. Es waren zerlegte Regale und Schränke, alte Türen und Bretter. Auf einigen Brettern hatte jahrelang irgendwas draufgelegen. Wie durch eine aufwendige Form der Belichtung waren Schattenrisse auf dem Holz entstanden. Ich hatte mal im Fotolabor meiner Schule so was gemacht. Mit Blättern, die wir am Staudamm gesammelt hatten. Aber auf Fotopapier, nicht auf Brettern. Auf den Brettern waren ganz deutlich Schlüssel zu erkennen. Auf einem anderen Schlösser. Bei anderen war nicht so klar zu sehen, was das alles gewesen war. Rahmen, Bücher, Portemonnaies. Dann erkannte ich noch was: Ketten, Haarreifen, Armreifen.

Nach den versifften Brettern luden wir alte Latten ab, dann olle Leisten. Zum Schluss riesige Planen. Schwarz mit einer Schrift drauf. Bestimmt fünf oder sechs Stück. Man konnte nicht lesen, was da stand, weil die Planen zusammengefaltet waren.

«Damit kann man nichts bauen», sagte das Mädchen mit dem Messer an der Lederhose. Sie zeigte auf den Haufen Zeug, und der Ärmel ihres schwarzen Hemdes verrutschte. Die Oberarme waren weiß. Die Unterarme aber total braun. Ihre Stirn hinter dem Haarvorhang war blass und pickelig. Sie hatte sich nicht gesonnt. Sie war einfach oft draußen und immer mit diesem aufgekrempelten Hemd. Sie war auch eine Art Echträtsel. Warum diese Bräune? Warum diese Haare? Warum die Hose, das Hemd, das Messer?

«Wir brauchen Schrauben», sagte sie zum Busfahrer. «Und Schraubendreher.»

«Da sind Nägel drin», antwortete er und zeigte auf einen weiteren Katzenbeutel. «Hammer gibt’s nicht. Müsst ihr Steine nehmen. Inken kommt bald.»

Das Messermädchen nickte und verfiel wieder in ihr tiefes Schweigen. Sie war von allen die komischste. Mit Abstand.

Als wir alles ausgeladen hatten, verabschiedete sich der Bruno mit der wenig konkreten Information: «Inken kommt. Inken kommt gleich. Bald.»

Yvette stellte sich vor ihm auf und bedrohte ihn mit ihrem hochgereckten Kinn. «Fahr uns zum Bahnhof!», sagte sie. Das klang – drei oder vier Pferde hin oder her – nicht nach guter Kinderstube. Wie heißt das? Würdest du uns bitte zu einem Bahnhof fahren? Außerdem hatte sie uns gar nicht gefragt, ob wir zum Bahnhof wollten.

Der Busfahrer schüttelte den Kopf und zeigte wegwerfend in die Umgebung: «Hier, ihr habt doch euer Camp. Fängt doch gerade erst an. Eure Eltern haben doch ordentlich Geld dafür bezahlt.» Er stieg in den Bus, lupfte das speckige Basecap und fuhr ab.

Wir sahen ihn nie wieder.

Yvette keifte ihm hinterher, dass ihr Vater ihn wegen «vernachlässigter Aufsichtspflicht» verklagen werde, und danach könne man ihn aus dem Toaster kratzen. Ein bisschen rot war sie geworden, während sie sich aufregte. Das sah ganz schlimm aus zu ihren lila Haaren. Ich fragte mich, warum sie überhaupt hier war.

Inken kam weder gleich noch bald. Das machte uns weder froh noch traurig. Gegen Mittag veränderte sich die Stimmung. Der Hunger ist ein böses Tier, das liebe Tiere frisst.

Einige Mädchen setzten sich sehr heftig für das Hierbleiben ein. Unter anderem Rike. Sie sagte, sie habe lange für das Camp gespart und wolle hier was lernen.

«Du hast dafür gespart?», fragte Yvette. Sie schien das Wort «gespart» noch nie vorher ausgesprochen zu haben.

«Ja, sogar gearbeitet.»

Sie wollte bestimmt, dass niemand es sah, aber man sah es: Das beeindruckte Yvette total. Dann reckte sie die piksige Nase hoch: «Hast du als Fahrkartenautomat gearbeitet? Oder als Osterhase?»

«Nee, wenn du es wissen willst. Ich habe meinen Körper verkauft.» Rike nickte langsam. «An Zahnfetischisten.»

Wir lachten. Laut und frei und in den Tag hinein. Yvette lachte mit.

Sie war übrigens auch für Hierbleiben. Sie sagte, Inken müsse erst mal wiederkommen und erklären, was das hier soll. Das klang wie von einem Erwachsenen. So blöde! Ich meine Erwachsene! Sie wollen ständig freihaben, und wenn sie dann freihaben, putzen sie das Klo von außen.

Als wir abstimmten, hob sich mein Arm für Bleiben.

«Warum?», fragte ich meinen Arm, denn mein Kopf wusste es nicht so genau. Acht Gründe gab es:

das Gepäck wieder haben wollen (die Trainingsjacke von Papa)

mit Rike befreundet sein wollen

wissen wollen, wer die Kaninchensatanisten sind (wissen wollen, ob sie verpickelt zwölf sind oder wenigstens verpickelt fünfzehn)

wissen wollen, was mit dem Messermädchen war

Bea beeindrucken wollen (vielleicht sogar mit ihr befreundet sein wollen)

nicht zur Oma wollen (nirgendwo sonst hinwollen)

alles wissen wollen (alles)

wollen!

Das Wollen war so stark wie ein Niesreiz. Ich glaube, in dem Moment brach ein Teil meine Pubertät voll durch. Das Wollen oder Nichtwollen. Irgendwie so was.

Nur ein Mädchen war fürs Nach-Hause-Fahren. Die Schöne. Ein braunhaariges Rapunzel, ein gut genährtes mit roten, runden Wangen. Anuschka hieß sie. Sie sagte, ihre Eltern seien verreist und wir sollten einfach alle mit zu ihr kommen. Essen gäbe es auch genug. Das sei doch besser als hier. Sie komme aus dem Erzgebirge, da sei es überhaupt schön.

Das klang zwar alles richtig, aber ich war trotzdem dagegen. Vielleicht gerade, weil sie so erwachsen wirkte, weil sie so sanft und klug redete. Und weil bei mir ja gerade erst das pubertäre Wollen und Nichtwollen ausgebrochen waren.

 

Fünf zu eins fürs Hierbleiben. Jemand fehlte. Ich sah gleich, dass es Bea war, aber ich sagte nichts. Da ich jetzt für das Sagen von Sachen, die ich selbst nicht sagen wollte, jemanden neben mir stehen hatte, dem ich nur sagen musste, was ich nicht sagen wollte, sagte ich also leise zu Rike, dass Bea fort wäre.

«Tabea fehlt!», verkündete Rike.

Während wir herumdiskutiert hatten, war Bea unbemerkt im Wald verschwunden. Und als wir dann herumdiskutierten, warum hier einer nach dem anderen verschwand, tauchte zumindest Bea wieder auf. Plötzlich stand sie da, einen Stock über der Schulter, an dem hinten eine zusammengeknotete Pfiffidecke hing. Wie ein Müllerbursche, der mit seinem Bündel hinaus in die Welt geschickt worden war. In der Decke hatte sie Himbeeren, einige Baumpilze, Brennnesseln, Löwenzahn und anderes Gewächs.

Für mich war Bea größer als groß. Ich glaube, sie war das einzige Mädchen, dem Chuck Norris guten Tag sagen würde.

«Das sind Hallimasche, da kann deinem Bauche unwohl werden», sagte das Messermädchen.

«Ich weiß», sagte Bea. «Ich will sie kochen, Freigunda.»

«Freigunda?», fragte Rike. «Echt? Ohne Scheiß?»

Freigunda nickte.

Wo kam sie her, diese Freigunda, und fuhr man da mit der Zeitreisemaschine hin?

«Ich koche die Hallimasche, aber dazu brauche ich einen Topf. Yvette? Weißt du, wo einer ist?» Beas Augen grinsten.

Die Angesprochene benutzte ihr Kinn als Zeigefinger: «Die da hat gesagt, dass sie ihr Gehirn benutzen kann. Soll sie suchen!» Sie zeigte, ohne hinzusehen, auf Rike. Rike wiederum zeigte ihre großen Zähne und dann auf mich. Mir blieb fast das Herz stehen. Sie wollte doch jetzt nicht verpetzen, dass ich die mit dem Gehirn war.

«Charlotte und ich gehen suchen.»

Da schlug mein Herz wieder. Stark und froh. ‹Charlotte und ich› klang in meinen Ohren sehr gut.

«Kann ich mit?», fragte die kleine Antonia.

‹Charlotte, Rike und die kleine Antonia› klang nicht ganz so gut und fühlte sich ein bisschen an wie Mutter-Vater-Kind, aber okay.

Ich nickte.

«Bringt mal auch Wasser mit!», rief uns Bea hinterher.

Ich nickte. Alter, das war das coolste Nicken, das ich je genickt hatte.

Antonia hatte einen Plan. «Wir müssen das Gepäck suchen. Der Seesack, den ich gestern getragen habe, da könnte ein Topf drin gewesen sein. Der war ganz leicht, aber hart. Hat auch so geklungen. So hohl.»

«Du kannst also Töpfe durch Seesäcke hindurch hören», Rike grinste.

Wir liefen an der Baracke mit dem Wellplastedach vorbei. Inkes Regenschirm lehnte noch dort. Wieso hatte sie den nicht mitgenommen?

Wir kamen auf den größeren Platz in der Mitte des Barackendorfes. Dahinter zwei weitere Reihen mit Baracken.

«Das wäre so absolut, wenn Inken nicht wiederkäme», fand Antonia.

«Absolut was?», fragte Rike.

«Einfach absolut. Das sagt man so», sagte Antonia.

Wir liefen auf eine längliche Baracke zu. Sie hatte einen Schornstein. Das hier war bestimmt die Küchenbaracke. Und wenn irgendwo ein Topf wäre, dann hier. Die Tür war verschlossen. Rike trat einmal dagegen, aber das war der Tür egal. Wie an den anderen Türen im ganzen Ferienlager war auch hier ein neuer Riegel angebracht, an dem ein Vorhängeschloss hing. Wo die Schrauben in den Türrahmen gedreht worden waren, hatten sie das Holz splittern lassen, und diese helle Splitterstelle war höchstens ein paar Wochen alt.

Wir schlugen mit einem Astknüppel ein zugenageltes Fenster ein, und Antonia kletterte per Räuberleiter über meine Schulter in die Baracke. Rike hinterher. Ich musste nur wenige Minuten draußen warten, da hörte ich Antonia piepsen: «Kein Topf zu sehen!» Drinnen kicherte es. «Aber ein Eimer!»

Es rumpelte. «Vorsicht! Gelbes Flugobjekt!», rief Rike, und ein gelber Eimer kam durch das Fenster rausgeflogen. Er landete auf dem Sand-Tannennadel-Teppich vor meinen Füßen.

«Kannst ja schon mal Wasser holen gehen.» Rike steckte ihren Grinsekopf aus dem Fenster.

Eigentlich wollte ich nicht alleine Wasser holen gehen. «Eigentlich ist der Waschlappen ein Brett», sagte meine Mutter immer, wenn ich eigentlich sagte. Also ging ich Wasser holen. ‹Imkerei Dietrich, Dürfen 7› stand auf dem Eimer. Und da drunter eine Biene, die einen ebensolchen Eimer trug. Dürfen, sollen, müssen dachte ich. Am Eimerrand meinte ich, ein bisschen Rot zu sehen. Schlecht weggewischt. Rot in einem Imkereieimer. War da das Blut drin gewesen? Kam es aus Dürfen? Wo lag Dürfen?

Während ich nachdachte, ging ich dorthin, wo das ständige Rauschen herkam, das ich nachts schon gehört hatte. Ein pissender Elefant konnte es nicht sein. Der wäre doch längst leergepisst und würde inzwischen platt wie ein Bettvorleger herumliegen. Es roch aber echt nach Pisse oder etwas noch Schlimmerem.

Ich musste an der Baracke vorbei, in der unsere Taschen gewesen waren. Hier sah es aus, als hätten am Morgen die Wildschweine getanzt. Für jeden Fährtenleser ein Albtraum: aufgeregte Mädchen, sechs mit festem Schuhwerk, eine mit Chucks. Ich konnte kaum noch etwas erkennen. Und dann wollte ich mir wie im Comic die Augen reiben und noch einmal hinschauen. Aber es war kein Trugbild: Da lagen unsere Taschen. Verschlafen aneinandergekuschelt. Das hätten wir vorhin doch gesehen. Um die Taschen drum herum waren die Spuren verwischt. Da hatte jemand hinter sich selbst hergeputzt. Bis ins Gebüsch hinter der Baracke.

Ich schaute kurz in meinem Rucksack nach, ob noch alles da war.

Was sollte das hier? Waren das die Kaninchensatanisten gewesen? Waren sie noch in der Nähe? Sie hatten bei der Aktion bestimmt gegrinst, dass die Zahnspangen im Sonnenlicht blitzten. Aber wieso hätten sie ihre eigenen Schmierereien korrigieren sollen? Und wieso hatten sie die Taschen nicht geklaut? Hätte Bea das alles machen können, in der Zeit, in der sie Pilze sammeln war?

Ich wäre die Größte, wenn ich verkünden würde, dass das Gepäck wieder da ist. Na ja, die Größte war ich sowieso. Ich dachte an den Leuchtturmwitz von Dreipferde-Yvette und wurde gleich noch mal rot. Diesmal vor Wut.

Ich würde es einfach Rike erzählen, und die könnte es dann laut sagen. Ich zog die Trainingsjacke von der Freiwilligen Feuerwehr Bernitz über und ging weiter. Ich sollte ja Wasser holen.

Der pullernde Elefant musste hinter der nächsten Baracke sein. Ich lief auf das Rauschen zu, am Zirpen vorbei und durch das Zwitschern durch. Nur das Knurren wurde nicht leiser. Das war mein Bauch.

Vor einer ebenso langen Baracke wie der Küchenbaracke kam eine Wasserleitung aus dem Boden. Etwa vier Meter lang und gebogen wie ein flaches Tor für eine noch nicht erfundene Sportart. Flachball. Insgesamt acht Wasserhähne kamen aus dem Rohr. Aus zwei Hähnen lief ununterbrochen das Wasser. Eine beachtliche Pfütze war entstanden, fast ein Teich. Ich stand eine Weile da mit dem Eimer in der Hand, dann hatte ich mich entschieden. Schnell zog ich Schuhe und Hose aus und fühlte mit dem kleinen Zeh vor, wie kalt das Wasser war. Es war tief aus der Erde gekommen, und die Kälte der Nacht hatte darin gebadet. Die Gänsehaut kroch mir bis in die Achselhöhlen. Bis zu den Knien musste ich ins trübe Wasser waten, bis ich bei den Wasserhähnen war. Ich bekam die Scheißdinger nicht zugedreht, ich konnte drehen, wie ich wollte. Verdammt! Es sah aus, als hätte jemand mit einem Hammer auf die Wasserhähne geschlagen. Einige Stellen waren abgeplatzt und silbern.

Ich gab auf und wollte seitlich aus dem Teich raus, da zuckte mein Fuß schneller weg, als mein Kopf begriff.

Irgendwas.

In dem Wasser.

Weich.

Groß.

Ich quiekte und machte einen Schritt. Dabei trat ich noch mal drauf. Auf was auch immer. Da lag etwas. Oder jemand. Ich wollte wegrennen, und diesmal verstand der Kopf schneller als der Fuß. Ich drehte mich um, rutschte weg und stürzte halb hin. Mit der rechten Hand landete ich im Wasser, stützte mich gleich wieder auf, rannte. Ich schnappte mir meine Hose und Schuhe und raste zur Küchenbaracke. Da war aber niemand. Also rannte ich weiter.

In der Mitte des Barackenlagers blieb ich stehen und verschnaufte. Erst mal Hose und Schuhe anziehen. War ich auf Inken getreten? War das Mimiko? Wo waren die beiden hin? Inken konnte uns doch nicht hier alleinlassen. Wieso lief das Wasser? Was sollte das mit dem Gepäck?