Signalstörung - Kirsten Fuchs - E-Book

Signalstörung E-Book

Kirsten Fuchs

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Schnoddrig, spielerisch und in hundert Farben: Kirsten Fuchs erzählt von den Momenten, in denen das Leben passiert. Da spielen ein Junge und ein Mädchen Fußball auf den Färöerinseln und merken fast gar nicht, wie sie sich ineinander verlieben. Ein Vater bekommt einen Herzinfarkt, während seine Tochter versucht, auf dem Balkon eine Spinne zu retten. Ein Typ wacht mit seinem Fahrradschloss um den Hals auf, reimt sich die letzte Nacht zusammen und ist für immer von Kneipen kuriert. Und den Irrwitz von Hartz IV hat noch niemand so auf den Punkt gebracht: «Für Leistungen vom Jobcenter musst du leiden. Ein Konzept wie Salzpflaster.» Es geht um die Liebe, um Abschiede, um Berlin und um die ganze Welt, diese Sauperle, die uns irgendwer vor die Füße geworfen hat. Kirsten Fuchs begeistert als Lesebühnenstar schon seit langem ihr Publikum, sie schreibt Theaterstücke, und ihre vielgelobten Romane gehen in lockerem Ton die großen Fragen des Daseins an. Nun kann man Kirsten Fuchs als glänzende, vielseitige Geschichtenerzählerin entdecken: Ihre mal komischen, mal ernsten, schrägen, schnoddrigen und in hundert anderen Farben leuchtenden Storys erzählen so originell von unserer Gegenwart, wie es selten gelingt, und erfassen wie nebenher das Wesentliche, was einem so beim Leben passieren kann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 239

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kirsten Fuchs

Signalstörung

Storys

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Schnoddrig, spielerisch und in hundert Farben: Kirsten Fuchs erzählt von den Momenten, in denen das Leben passiert.

 

Da spielen ein Junge und ein Mädchen Fußball auf den Färöerinseln und merken fast gar nicht, wie sie sich ineinander verlieben. Ein Vater bekommt einen Herzinfarkt, während seine Tochter versucht, auf dem Balkon eine Spinne zu retten. Ein Typ wacht mit seinem Fahrradschloss um den Hals auf, reimt sich die letzte Nacht zusammen und ist für immer von Kneipen kuriert. Und den Irrwitz von Hartz IV hat noch niemand so auf den Punkt gebracht: «Für Leistungen vom Jobcenter musst du leiden. Ein Konzept wie Salzpflaster.» Es geht um die Liebe, um Abschiede, um Berlin und um die ganze Welt, diese Sauperle, die uns irgendwer vor die Füße geworfen hat.

Kirsten Fuchs begeistert als Lesebühnenstar schon seit langem ihr Publikum, sie schreibt Theaterstücke, und ihre vielgelobten Romane gehen in lockerem Ton die großen Fragen des Daseins an. Nun kann man Kirsten Fuchs als glänzende, vielseitige Geschichtenerzählerin entdecken: Ihre mal komischen, mal ernsten, schrägen, schnoddrigen und in hundert anderen Farben leuchtenden Storys erzählen so originell von unserer Gegenwart, wie es selten gelingt, und erfassen wie nebenher das Wesentliche, was einem so beim Leben passieren kann.

Über Kirsten Fuchs

Kirsten Fuchs, 1977 in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) geboren, ist vermutlich die bekannteste und beliebteste Autorin der Berliner Lesebühnenszene. 2003 gewann sie den renommierten Literaturwettbewerb Open Mike, 2005 erschien ihr vielgelobter Debütroman «Die Titanic und Herr Berg». Es folgten die Romane «Heile, heile» und «Mädchenmeute», für den sie 2016 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.

Wal und Fußei

«Wenn nicht küssen, dann Fußball», sagte er und nahm das Messer vom Gürtel. Er begann, einen roten Schwimmer von einem grünen Fischernetz zu schneiden. Kleiner als ein Fußball, oval. Fußei können wir damit spielen.

Also kein Küssen.

In einem Paralleluniversum küssten wir bereits. Unsere Jacken raschelten dabei. Die arktische Sommernacht wäre dann warm. Wir würden in der Sonne sitzen und küssen. Es gab keine Dunkelheit zum Verbergen. Alles und überall war es hell. Und keine Bäume und Sträucher zum Verstecken. Helle Nacht. Langer Kuss.

Aber in diesem Universum kniete Jakub neben der Hafenmauer von Nólsoy und kappte die Schnur zwischen Schwimmer und Netz. Es sah aus, als ob er auf etwas einstach, und in meinem Bauch waren Wollen und Nichtwollen. Was mich anzog, stieß mich ab. Ich hatte einen Yin-und-Yang-Bauch, aber er drehte sich wie eine Zentrifuge, und dem Yin flog der weiße Punkt aus seiner Seite und dem Yang der schwarze Punkt aus der seinen, und dann vermischte sich alles.

Also grau.

Also Fußei.

Reden wollte ich nicht mehr.

Das Gespräch vorhin war falsch abgebogen.

Wir hatten an der Bucht gesessen. So nah, dass sein Geruch mich anging.

Und dann fing ich an: «Das ist die Bucht, in der ihr …»

«Ja, das ist sie», unterbrach er mich. «Die ist besser als die Bucht auf der anderen Seite. Diese hier ist flacher. Das ist besser. Willst du das wirklich wissen? Die hier ist günstig, weil man sie hier besser zusammentreiben kann.»

Und ich frage auch noch weiter: «Und du hast da auch schon …?»

«Ich hab da auch schon.»

Und dann frage ich immer noch weiter: «Und auch Delfine?»

Jakub stand auf, und es gab keine romantische Aussicht mehr. Die Bucht auf der kleinen Färöerinsel war voll von gesunkenem Blut.

Darum Fußei. Statt Küssen. Und statt Reden.

Wir hatten zwei Stunden Aufenthalt, bis die Vogeltouristen wiederkamen. Sie liefen gerade den Berg hinauf zur Schwalbenkolonie. Jakub hatte den Schwimmer abgeschnitten, kickte ihn von einem Fuß auf den anderen, und in dem harten, hohlen Material hallte der Schlag.

«Ist doch Quatsch!», fand ich.

«Alles ist Quatsch. Alles. Alles. Alles», sagte er.

«Alles?», fragte ich.

Und er: «Ja.»

Während ich hoffte, dass ihm etwas einfiel, das nicht Quatsch war, steckte er das Messer wieder an den Gürtel. Jakub war Färinger. Die haben ein Messer am Gürtel. Falls plötzlich die Wale in der Bucht sind.

Die rote Bucht.

«Dahinten ist ein Fußballplatz.» Er lief vorneweg.

Fußei also.

Wir gingen an der Hafenmauer von Nólsoy entlang. Die war roh, mit runden Steinen. Direkt hinter dem Hafen standen als Dorfeingang Walknochen. Ein Bogen aus zwei Rippen. Oder Zähnen. Keine Ahnung. Woher auch?

«Sind die echt?»

«Was sonst?», fragte er.

Ich konnte mir das Tier dazu nicht vorstellen. Ich ließ das Tier in der Luft schweben und setzte ihm diese Knochen an verschiedene Stellen. War das Tier fertig, entließ ich es in die Freiheit des Meeres hinter uns. Es schwamm unsichtbar davon, mit Seepocken überzogen.

«Pottwal», sagte er. «Zwanzig Meter lang kann der sein.»

Mein unsichtbarer Wal fiel auf uns herunter. Er war zu schwer zum Schweben. Eine Illusion musste leicht sein. Jetzt waren wir erschlagen von einem Pottwal, Jakub und ich, und aus unseren Rippen wurde ein kleiner Dorfeingang gebaut. Daneben ein Schild: «Sie hätten ein Paar sein können, doch die romantische Geschichte endete mit einem Fußeispiel.»

Ich spielte gerne Fußball. So hin- und herschießen. Nur so. Nicht richtig. So wie jemand Schach spielt, der nur die Regeln kennt. Wenn so jemand gegen jemanden spielt, der richtig spielen kann, dann war das Spiel sofort vorbei. Wegen der Schäfereröffnung oder so.

«Kannst du richtig gut Fußball spielen?», fragte ich den Rücken vor mir.

«Nicht wie ein Brasilianer. Nur wie ein Färinger. Und du?»

«Nicht wie eine Deutsche», sagte ich. «Vielleicht wie ein Kind.»

Ich hatte immer mit meinem Bruder Fußball gespielt. Er war älter, aber nett. Er spielte so, dass ich mithalten konnte. Er hatte ja nur eine kleine Schwester, und wir hatten nur einen Ball. Vielleicht wusste er, dass er sonst hätte allein spielen müssen. So haben wir schubsend gerauft, ohne Regeln, und schossen dem anderen den Ball zwischen den Beinen durch. Ich war nicht schlecht, bildete ich mir ein.

«Ich spiel ganz gut», behauptete ich.

«Gut», sagte Jakub. «Das ist gut. Dann können wir wirklich spielen.»

Dann könnten wir Freunde sein, Kumpel sein. Schwester, Bruder, nichts mit küssen. So könnte es gehen mit dem Mann mit dem Messer.

«Das Spiel der Welt», sagte er. «Wusstest du, dass man das sagt? Das Spiel der Welt. Weil die Welt rund ist und der Ball auch.»

«Unserer nicht.»

«Nein, unserer nicht. Unsere Welt ist anders.»

Ich mochte seinen Akzent. Wie er sich diese fremde Sprache anzog und hinter jedem Vokal der Klang seiner eigenen Sprache durchklang. Wie hinter jedem seiner Sätze die Grammatik der anderen Sprache einem Regal gleich stand, in das Jakub seine Wörter nach alter Gewohnheit legte. Seine As kamen als Echo aus einer anderen Höhle als meine As, und trotzdem war sein A ganz klar ein A. Hinter seinem S zischte etwas anders, und bei seinem L war seine Zunge in anderer Bewegung. Dieses kurze Befremden hält wach. Die Instinkte arbeiteten dann gut. Vielleicht war es das. Ich war einfach besser durchblutet als zu Hause und nicht verliebt.

Die Touristen waren auf dem Bergkamm. Eine bunte Jacke nach der anderen verschwand. Gelbe Jacken, blaue, aber am meisten rote. Ein paar schwarze Jacken dazwischen. Sie alle hatten ein Fernglas und gute Fotoapparate mit. Sie waren von Tórshavn losgezogen, seltene Schwalben zu beobachten, bezahlten viel Geld für die Tour. Eines der schönsten Schiffe von ganz Färöer brachte sie hierher und dann spät in der hellen Nacht zurück nach Tórshavn. Jakub fuhr jede Nacht mit.

Wir hatten einige Abende zusammengesessen, aber stets war er dann verschwunden. Wie in einem Märchen bestieg er das schöne Holzschiff und verschwand vor Mitternacht auf das Meer hinaus. Immer fehlte eine halbe Stunde zum Kuss. Diesen Bann galt es zu brechen.

Also war ich mit in das schöne Schiff gestiegen. Und wir waren gefahren. Die Sonne hoch. Alles gut durchblutet. Das wäre die schönste Nacht geworden, aber erst die Sache mit den Walen und jetzt Fußei.

Es hatte auf dem Schiff süßen Tee gegeben. An einem schmalen Tisch. Wir saßen eng. Die Vogeltouristen zeigten sich die Fotos, die sie schon gemacht hatten. Von Vögeln. Und Eiern. Und ich dachte: Ich werde den Jakub küssen, den schönsten Färinger.

«Hier, noch ein Stück», sagte er, «da!», und zeigte wieder.

Er hatte irgendwo hingezeigt, an den bunten Häusern vorbei. Eines petrolblau und eines dunkelgrün. Eines ganz in klarem Grau, als stünde ein nichtszeigender Spiegel vor den grünen Hängen. Ein warmes Rot, ein kaltes Gelb, ein warmes Gelb, ein kaltes Hellblau. Die Häuser waren schön. Mit Natur als Dach. Die Farben ersetzen locker den Herbst, den es hier nie gab.

Ich lief ihm also hinterher.

Wenn ich ihm gegenüber ging, konnte ich ihn nicht so anstarren, weil er es gesehen hätte. Weil er selber starrte. Wenn ich hinter ihm lief, starrte ich olympisch. Der Mann mit Messer. Gleich musste ich mich selber hauen wegen diesem Mist. Einen Bart hatte er auch. Und Wimpern wie ein Hundewelpe. Solche hellen. Wenn man verliebt war, vergaß man, dass man schon mal verliebt war und dass es nur ein Zustand ist wie Hunger.

«Vorsicht!», sagte er, als ich stolperte.

«Selber!», sagte ich.

Der Fußballplatz war einfach und hart. Ein elender Belag.

Das Tor kein Netz. Der Ball kein Ball.

«Ich kann doch nicht Fußball spielen», versuchte ich.

«Man kann mehr, als man kann», sagte er und schoss mir den roten Schwimmer ran.

Der flog Brusthöhe gegen mich.

Ich fasste mir an die getroffene Stelle.

Es war schon viel zu spät, um nicht mitten in der Partie zu sein, und wenn wir alle Glück hätten, dann wäre am Ende ein Unentschieden entschieden.

«Das tut doch weh», sagte ich.

«Warte!» Er rannte Richtung Hafen davon.

Waren Wale in der Bucht, oder was?

Jakub rannte zur Marjun. Das schöne Schiff lag verlassen im Hafen. Das lackierte Holz glänzte.

Ich stand auf dem einsamsten Fußballplatz der Welt. Im unangegriffenen Torraum.

In den Häusern lagen die Menschen in den Betten, waren müde vom Tag und schliefen. Ob sie es satthatten, dass um Mitternacht die Vogeltouristen kamen, in Jacken, so bunt wie die Häuser von Nólsoy? Zu laut klapperten ihre Ferngläser. Dass Menschen kamen, die das viele Licht aufpumpte und übermütig machte, die den Einwohnern die Nacht zerlatschten, zerpfiffen und Fußball spielten?

Jakub kam zurück. Zwei orange Sicherheitsanzüge überm Arm. Davon gab es im Schiff so viele wie Passagiere reinpassten. Sie schützen vor dem Ertrinken und vor allem vor dem Erfrieren im Wasser.

«Zieh die Jacke aus!», sagte er.

Und das tat ich.

Und er half mir dabei. Und es gab Berührungen.

«Wir spielen beide in der orangen Mannschaft. Oranje. Kennst du?»

«Dänemark, oder?»

«Niederlande.»

Dann zogen wir uns gegenseitig die Reißverschlüsse zu. Reißverschlussbrüderschaft.

«Ist besser, wegen dem Ball.»

«Dem Ei», sagte ich.

«Dem Ei auch», sagte er.

Unser Grinsen war groß, und heillos war ich verliebt.

«Isst du Fleisch?», hatte er bei unserem Gespräch vorhin gefragt. Ich war innerlich immer vegetarisch, aber es riss mich zu oft hin.

«Ja, aber …»

Er lachte. «Du meinst das nicht so? Und vor allem nicht Wale, die frei gelebt haben?»

Er war sich so sicher in diesem Gespräch, dass er nicht mal richtig ins Gespräch reinkam. Ich war in diesem Gespräch fest wie ein Haus und brüllte Argumente aus dem Fenster: die Tiere. Das Blut. Die Moral. Das Falsch. Und das Richtig.

Und Jakub saß außerhalb meines Verhörs, hatte alles schon gehört und auf alles eine Antwort.

«Wie einkaufen mit Messer», sagt er, «und ohne Geld.»

Und dass auf den Färöern nichts wuchs. Was sollte man essen?

«Schau dich mal um.» Er zeigte ringsum. Gras. Wasser. Felsen.

«Ihr könntet ja auch die niedlichen Puffins essen, macht ihr doch auch nicht.»

«Doch, klar», sagt er.

Hätte ich bloß nicht gefragt.

Jetzt knallte ich ihm das Fußei ran. Er drehte sich weg, und ich jubelte. Der war mal drin.

Der Stoff der Anzüge scratchte laut, und ich schwitzte in der orangen Pelle. Das Wasser lief mir zwischen den Brüsten runter. Ich riss die Mütze ab und warf sie irgendwohin. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sie dampfte. Mein Körper war voller Stoffe, und die baute ich jetzt ab. Wenn nicht küssen, dann – «DA!», schrie ich und trat das Fußei so hart, wie ich konnte, an den Pfosten, und die Stange vibrierte.

Jakub lachte und schoss zurück. Ich stellte meine festen Outdoorschuhe in den Weg und bremste das Ei. Dann legte ich es mir zurecht und zielte voll auf ihn.

Er rannte seitlich aus dem Tor und sagte: «So nicht!»

Ich schnaufte in die kalte, helle Nacht. Zwei Stierwolken vor der Nase. Gleich würde ich ihn so umrennen, ohne Ball um. Ohne Ei.

«Gut», sagte er. «Jetzt spielen wir scharf.»

Ich nickte.

«Ich schieße jetzt richtig auf dich.»

Ich nickte. «Mach doch.»

«Wer gewinnt, hat recht», sagte er. «Wenn du es so willst.»

«Passt doch», blaffte ich ihn an. «Der Stärkere gewinnt.»

«Mach’s dir nicht zu einfach.»

Und dann ging’s richtig ab.

1:0

1:1

2:3

3:6

Und dann verlor ich 7:12.

«Das sagt gar nichts», brüllte ich. Und er schoss mir noch mal diesen Scheißschwimmer ran.

Mir tat alles weh.

«Jetzt knutschen?», brüllte ich.

«Shut up!», schrie es aus einem gelben Haus.

Und dann kamen die Vogelkundler zurück. Ihre Wangen waren rot, und sie zwitscherten vergnügt.

Auf dem Rückweg hatte Jakub zu arbeiten. Segel setzen, Fischsuppe für die Vogeltouristen verteilen. Ich aß keine. Obwohl ich gern wollte. Mir tat alles weh. Es wurde immer schlimmer. Da schaukelte uns die Marjun Richtung Heimathafen, und die Vogelleute schnarchten in ihren Kojen. Es war so eng auf dem Schiff. Man musste direkt vom Tisch nach hinten weg, hinter die Vorhänge in die Betten wie in ein Regal kriechen.

«Aua!», sagten wir die ganze Zeit, denn er hatte ja auch blaue Flecken. Ich hatte ihn auch getroffen.

Aber das hatte mit Fußball nichts mehr zu tun.

Wie ich mal in die Kneipe ging, um überhaupt nichts Neues zu erfahren, niemanden kennenzulernen und nichts zu trinken

Ich gehe immerzu in die Kneipe, um nichts Neues zu erfahren, niemanden kennenzulernen und nichts zu trinken. Das war alles früher mal. War früher mal.

Die Amme putze ich dreimal die Woche. Ich schließe auf, halte die Luft an, reiß die Fenster auf, stell die Stühle hoch, und dann kann’s losgehen. Die Luft ist keine Luft, wenn man reinkommt. Der kalte Zigarettengeruch ist so dick, man könnte daraus einen Sarg zimmern. Aus dem Schweißgeruch könnte man einen Möbelpacker kneten, aus dem Biergeruch noch einen zweiten. Der Schweißmöbelpacker winkt den Biermöbelpacker ran und manchmal auch den Kotzemöbelpacker, der auch gern mal vorbeischaut. Hängt davon ab, was für ein Konzert war und wie gut es war, wenn ein Konzert war. Oft wacht auch der Pissemöbelpacker auf, der hängt im Männerklo rum, den hab ich vergessen zu erwähnen, den gibt’s auch noch. Sie heben sich den Sarg aus Zigarettenqualm auf die Schultern, grüßen höflich: «Bis morgen, Delle!», und verziehen sich durchs Fenster. Ich heiß nicht wirklich Delle, man nennt mich nur so, von früher. War früher mal.

Ich beginne meine Arbeit: Fege die Scherben zusammen, die andere zerdeppert haben, und wische auf, was andere verplempert haben, schabe die Wachstropfen von den Tischen, leere und spüle die Ascher, sammle ein und wische ab die eingeschweißten Getränkekarten. Die Amme hat immer auf, wenn sie gebraucht wird, is ’ne gute Amme. Heißt eigentlich Amnesie, aber ich heiß ja auch nich in echt Delle. Das war früher mal.

Die Amme macht am Wochenende morgens ab acht auf, da eiern dann gleich ein paar rein, die noch nicht fertig sind mit Saufen. Is man ja nie fertig mit. Für die ist noch Nacht. Da kommen manchmal so richtige Absturzsoldaten rein, die trinken sich ins Walhalla. Viele Stammbesucher sind so was wie Durchlauferhitzer. Sie trinken kaltes Bier und machen daraus warme Flüssigkeiten. Das habe ich früher auch gemacht. War früher mal.

Während ich putze, laufen draußen vor den geöffneten Fenstern Menschen vorbei, und das Geräusch der Scherben, die ich mit dem nassen Besen herumschiebe, erinnert sie daran, dass eine Nacht vor diesem Tag war, dass ihre Stadt ein Moloch ist, dass es ein Dunkel gibt vor und nach dem Hell, um das Hell herum. Wahrscheinlich denken die Menschen, die an den offenen Fenstern vorbeilaufen, gar nichts, müssen sie auch nicht. Sie bringen die Kinder in die Schulen und Kitas und gehen dann zu einer Arbeit.

Mir geht immer ganz viel im Kopf herum, wenn ich putze. Ich fühl mich steppenwolfig. Ich und der Besen und der Schrubber, wir gegen den Dreck. Ich denke darüber nach, wie absurd es ist, dass der Mensch – der Mensch, sag ich jetzt mal so allgemein und meine aber jeden speziell damit –, dass der Mensch immerzu etwas von außen braucht, darum diese Drogen und dieser ganze Sozialkram, auch ’ne Droge irgendwie. Ich bin froh, dass ich seit Jahren nüchtern bin. War mal anders. Früher mal. Mein Kopf ist wie die Amme, nachdem ich sie geputzt hab. Und davor? Davor war er, wie bevor ich sie geputzt habe. Ich will ernst genommen werden. Warum? Warum? Weil ich vierfünfsechssieben ganze Leben am Tresen gestanden habe, um Zeug zu blubbern.

«Morgen hör ich auf!»

«Klar, Delle, hier haste noch eins!»

«Danke!»

Ich war nicht einer von denen, die da irgendwann mal den Hals voll haben vom Saufen, nee, immer rin. Früher mal.

Ich hole den Schlüssel, um den Tresen abzuwischen. Von dem ganzen Zeug, das so geredet wird, ist der Tresen ganz klebrig. Betrunkene haben so eine schwerfällige Logik, die gar nicht doof ist, aber so langsam. Nicht doof, aber langsam! Kann man nur verstehen, wenn man selbst betrunken ist.

Und diese ganzen Geschichten, die so erzählt werden. Geschichten. Geschichten. Ach, Geschichten: Wir ham mal den Provinzfascho total veräppelt. War der blöd! Wir haben mal ’ne Bierbank durchs Klofenster geklaut. Warum? Warum? Weil die Kneipe uns rausschmeißen wollte, also, nicht die Amme, die schmeißt keinen raus. Wir haben mal so richtig dolle gesoffen und gelacht. Und dann haben wir mal aber so richtig dolle gesoffen, und was haben wir gelacht. Und dann haben wir einmal so mörderisch dolle gesoffen und gelacht …

Ich weiß gar nicht mehr so richtig, wer wir war. Wir, wir, nicht mehr jung, wir hatten doch mal was vor, was war das denn noch mal? Berlin ist für immer jung, und wir wollten das auch sein. Wir haben uns in Alkohol eingelegt und die Konvention des Altwerdens ausgelacht, bis unsere Zähne eklig aussahen, weil keine Krankenversicherung. Da haben wir immer noch gelacht. Dann wurde der Wind kälter und die Zähne schmerzempfindlich, und dann war die fehlende Krankenversicherung schon ein großer Scheiß!

Wir sind mit voller Absicht nichts geworden, und das hat ja auch geklappt.

Wir sind nichts geworden und darauf stolz. Das muss man karrieremäßig auch erst mal durchziehen in so einer Welt, wo dich alle drängen, was zu werden.

Einmal war es knapp mit der Karriere als Nichts: Da hab ich in einem besetzten Haus gewohnt. Es gab nur zwei Regeln: Wer kocht, kocht viel, und alle dürfen davon essen. Wer es aufisst, muss abwaschen. Meistens standen dann in der Küche alle Töpfe voll mit Resten, denn alle ließen so einen Klecks Spaghetti, Eintopf, Erbsensuppe übrig. Manchmal begann es zu schimmeln, manchmal war jemand hungrig, aß alle Reste und wusch alles ab. In einer Vollmondnacht bekamen drei Hündinnen gleichzeitig ihre Welpen. Die waren alle vom selben Vater, einem charmanten Rammler wie wir alle – freie Liebe, yeah! In den nächsten Monaten versuchten wir, die Hundewelpen loszuwerden. Dabei tauchte Corinna auf, sie verliebte sich in einen kleinen Hund und in mich. Corinna lernte gerade Tischlerin. Das wollte ich auch immer, sagte ich ihr. Dann schlief sie das erste Mal bei mir und brachte einen Wecker mit. Sie stellte ihn neben mein Bett, und dann stand dort ein Wecker. Außerdem wollte sie sich umhören nach einem Ausbildungsplatz. Es hat nicht geklappt mit uns. Und sie nahm den Wecker wieder mit.

Ach, diese Geschichten. Das war alles früher mal.

Und das kam so: Einmal bin ich morgens zu Hause aufgewacht und hatte mein Fahrradschloss um die Hüfte. Ging weder nach oben noch nach unten ab. Ausgezogen hatte ich mich vor dem Einschlafen noch, aber das Fahrradschloss hatte ich noch an. Schlüssel? Schlüssel? Keine Ahnung! Bevor ich darüber lachen konnte, fiel mir auf, dass mein Fahrrad dann wohl nicht angeschlossen ist. Mein treues Pferd! Ich zog mir meine Sachen über das Fahrradschloss und ging mein Rad suchen. Ich ging den Weg von zu Hause zur Amnesie. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich den Weg letzte Nacht auch gegangen war, musste ich ja aber, bewies ja mein Aufwachen in den eigenen vier Wänden, zwischen den eigenen vier Kissen. Fahrrad? Fahrrad? War weg! Blieb weg! Ich finde, dass es nichts Fieseres gibt, als einem Mann sein Fahrrad zu klauen. Aber wenn er es nicht anschließt, der Depp, dann ist das seine Schuld.

Hammer hat mir das Fahrradschloss dann mit einer Flex entfernt. Ich habe an diesem Tag aufgehört zu trinken, und wenn man mich fragt, wie ich das geschafft habe, dann sage ich: Ich putze die Amme. Es ist eine schöne Arbeit. Erst isses schmutzig, wie ’ne gute Kneipe zu sein hat, wenn sie zumacht, dann isses sauber, wie ’ne gute Kneipe zu sein hat, wenn sie aufmacht.

«Ach, Delle, du warst ein großer Trinker!», sagt man manchmal zu mir. Das klingt, als wäre das meine Karriere gewesen. Jetzt putze ich die Amme, und ich bin ein großer Putzer.

Wolfsburg: Asche zu Asche

Nachdem ich vier Berichte über Festivals verfassen musste, die nur noch Konsummist für Konsumkids waren, bekam ich endlich mal wieder ein Interview zugeteilt. Mein Chefredakteur wusste genau, wann man mir einen Knochen hinwerfen musste.

Ich fing den Knochen und fuhr los.

Die Band waren zwar Newcomer, aber das neue heiße Ding. Sie spielten eigentlich das, was alle Südstaatenbands spielten, nur schneller. Sie hießen the In and Out. Ich fand sie nicht sonderlich, aber ich verstand schon den Hype. Der Sänger war gerade mal einen Meter groß und hatte einen Bart tätowiert. Die restlichen Bandmitglieder waren Frauen, die angeblich alle was mit dem Sänger hatten.

Ich fuhr nach Wolfsburg und hörte mir dabei noch mal ihre Platte an. Das war schon gutes Geschrammel.

Es war nicht das erste Mal, dass ich für ein Interview nach Wolfsburg fuhr. Die Bands, die durch Deutschland tourten, die brauchten oft einen Zwischengig. Selbst wenn sie da nur für Essen, Schlafplatz und Freibier spielten. Wolfsburg lag gut in der Mitte. Eine Zwischengig-Stadt.

In Berlin hätte ich so leicht keinen Interview-Termin bekommen.

Ich klopfte an die Scheibe vom Paketausgabe. Der einzige vernünftige Club in Wolfsburg.

Drinnen war Licht.

Ron kam zur Tür. Er steckte die Zigarette in den Mund, schloss auf, gab mir seine nasse Hand. «Nur Spülwasser», sagte er und wischte sich an der Schürze ab. «Bist früh, Timmi.»

«Klar, will ja auch die Band für mich alleine.»

«Du, die kommen erst gegen sechs zum Soundcheck.»

«Okay», sagte ich. Ja, das war schon okay. Zwei Stunden nach Wolfsburg, zwei zurück, zwei Warten, eine Stunde Quatschen. Ist kein leichter Beruf. Kein Beruf ist ein leichter Beruf.

«Willst ’nen Kaffee? Ich hab jetzt so Kapseln.»

«Hattest du letztes Mal noch nicht, oder?»

«Nee, Frau Kapselautomat ist neu. Meine beste Kraft.»

Er drückte seine Kippe aus. Der Aschenbecher war ein Schädel.

«Herr Schädel ist aber auch neu, oder?» Ich zeigte drauf.

«Beim Umgraben gefunden.»

Ron war ein komischer Vogel. Ich hatte mich dran gewöhnt, dass er aussah wie Gandhi. Aber je länger man ihn kannte, umso weniger sah er aus wie Gandhi. Eigentlich vor allem die Brille und die Glatze.

«Hast du einen Friedhof umgegraben?»

«Nee, is aus’m Garten. Wir haben ein Haus geerbt. Mit Garten. Und den musste ich erst mal umgraben.»

«Okay, kein Kaffee. Mach mir mal lieber ein Bier auf», sagte ich.

Er hatte schlechte Marken und das Regionale da. Das Regionale schmeckte süß, aber ich mochte es inzwischen. Er zeigte mit dem Finger drauf. Ich nickte.

«Weißt du, von wem der Schädel ist?»

«Nee, aber ich weiß, wer vorher das Haus hatte. Ein saualter Mann. Meine Frau hat den gepflegt. Der war eigentlich ganz nett.» Ron machte sich auch ein Bier auf. Alkoholfrei.

«Was ist denn mit dir los?»

«Jaja, erzähl ich dir gleich. Hat damit zu tun.»

«Okay, ich bin gespannt.»

«Lass bloß das Diktiergerät aus, sonst komm ich in die Klapse.»

Wir stießen erst einmal an.

«Es war ja klar, dass wir das Haus erben würden. Meine Frau hat vorher schon seine Frau gepflegt, bis die vor drei Jahren gestorben ist. Und mit der war das schon abgesprochen. Sie sollte bloß den Alten auch noch pflegen bis zum Schluss. Sind alle davon ausgegangen, dass das nicht mehr lange dauern würde. Ich meine, der war neunzig. Der war im Krieg gewesen, lange, den ganzen Krieg über. Hatte ein schlimmes Bein. Und auch mal was abbekommen. Granate oder so. Niemand hätte gedacht, dass der noch drei Jahre lebt. Meine Frau ist mit unserem Sohn zu ihm ins Haus gezogen, in die obere Etage. Das war alles abgemacht. Sprach ja auch nichts dagegen.» Er steckte sich eine Zigarette an. «Du auch?»

«Rauch nicht mehr. Ist doch sinnlos. Stirbt man ja von.»

«Aber saufen tust du noch?»

«Ja, aber du nicht.»

«Na, dann sind wir ja quitt.»

Ron aschte in den Schädel und erzählte weiter. «Der Alte wurde nicht nur älter als gedacht. Er wurde auch rassistisch. Ein Arschloch. Er schimpfte über alles, was nicht deutsch war. Meine Frau verbot ihm, die Nachrichten anzusehen, weil er das nicht ertrug. Er schimpfte und bekam paar Mal fast einen Herzkasper. Am Anfang hielt sie unserem Sohn die Ohren zu. Dann nahm sie ihn nicht mehr mit zum Alten runter. Fand der Kleine aber auch nicht gut. Er hat den Alten gemocht. Aber wir wollten nicht, dass er diese ganzen Wörter hört. Das N-Wort, das V-Wort, das H-Wort. Echt, von der schlimmsten Sorte.» Er aschte in den Schädel. «Gott sei Dank starb er dann. Und dann sind wir richtig eingezogen. Haben unten alles rausgerissen. Die Möbel verbrannt. So einen verschissenen ovalen Tisch und Bilder, die seine Frau aus Wollfäden gemacht hat. Und das Sofa. Das kannst du dir nicht vorstellen. Braun mit Orange und Dunkelgrün. Da waren Tapeten mit solchen Mustern.» Er zeigte Fußballgröße. «Hätten irgendwelche Hipster bestimmt ’ne Menge Geld für ausgegeben.»

«Ich auch. Ich mag das.»

Ron machte ein Kotzgeräusch. «Oh nee, das sah alles aus wie Peter Alexander und RAF gleichzeitig. Nach so Lederjacken mit spitzen, langen Kragen. Es roch auch alles nach Klistier.»

«Okay, verstehe. Vielleicht hätte ich die Möbel doch nicht gewollt.»

«Wir haben alle zerhackt und verbrannt, kleines Feuerchen im Garten. Meine Frau hat innen alles schön gemacht. Sauber, hell, so landhausmäßig. Hat sie ein Händchen für. Wir wohnen jetzt in einem Traum. Dann hat sie gesagt, mach du den Garten, Ron. Ich stehe ja auf Gartenarbeit. Aber jetzt trink ich alkoholfreies Bier.» Er machte sich noch eins auf. «Ja, also ich habe den Schädel gefunden, und dann ging’s los. Hab hier im Paketausgabe ungefähr um einse Schluss. Alles, was länger geht, übernimmt Stevie. Ich fahr mit dem Fahrrad nach Hause. Darum kann ich normalerweise auch trinken. Ich fahre auf ’nem schön ausgebauten Radweg neben der Landstraße. Zwanzig Minuten, bin ich zu Hause. Ob besoffen oder nüchtern. Und dann vor einem Vierteljahr ging es los. Da stand er nachts immer im Garten. Und hatte Redebedarf.»

Jetzt musste ich doch fragen. «Wer?»

«Der Alte.»

«Sein Geist?»

«Ja, irgendwie so. Und er erzählt mir alles vom Krieg. Immer nur vom Krieg. Egal, was ich sage. Er hört mich sowieso nicht. Aber trotzdem reagiert er auf mich. Wenn ich mit dem Fahrrad ankomme, sitzt er vorne auf der Treppe vom Haus. Dann kommt er zu mir. Also, er sieht mich oder so. Keine Ahnung. Oder hört mich. Riecht mich. Und dann geht es los. Er redet einfach los. Über Schießereien in kleinen Dörfern. Wo er mit geschlossenen Augen geschossen hat, weil er nicht anders konnte. Einfach in die Menschen rein.»

Ron legte ein unsichtbares Gewehr an, schloss die Augen, schoss in den leeren Club rein.

«Ich habe niemand mit Absicht erschossen, sagt er. Niemals hätte ich gemordet. Dann hat er mir von der Verhaftung erzählt. Die Franzosen haben ihn aufgegriffen. Zusammen mit seinen letzten Kameraden. Alles Scheißnazis gewesen, hat er gesagt. Einer schlimmer als der andere. Welche, die mit offenen Augen geschossen