Mädchenmeuterei - Kirsten Fuchs - E-Book

Mädchenmeuterei E-Book

Kirsten Fuchs

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Beschreibung

Charlotte Nowak will die Sache am liebsten abbrechen: diese Fahrt auf einem Containerschiff nach Marokko. Niemand soll wissen, wo sie und ihre Freundinnen sich aufhalten. Die vier sind so verschieden, wie man mit sechzehn nur sein kann, sodass es auch mal kracht; und dann haben sie noch Antonia als blinden Passagier an Bord geschmuggelt. Aber Bea, die sie finden müssen, steckt in Schwierigkeiten und braucht Hilfe. Als das Schiff ablegt, wird Charlotte klar: Sie kann nicht mehr zurück und ist nun Teil dieses Schiffes, auf dem einiges nicht stimmt. Der unsympathische Kapitän und der wenig zimperliche Erste Offizier sind viel härter, als es im ohnehin robusten Seemannsleben üblich ist; beim Landgang in Le Havre wird Charlotte in seltsame Transaktionen verwickelt, und dann kommt eine Kiste auf das Schiff, für die die Freundinnen unerwartet Verantwortung übernehmen müssen. Vielleicht geht es hier um illegalen Handel und moderne Sklaverei, vielleicht auch um alte Mythen des Meeres. Auf jeden Fall müssen die fünf sich dem stellen. Ein Abenteuer, das die grandiose Erzählerin Kirsten Fuchs mit umwerfendem Sprachwitz schildert. Ein Roman über Freundschaft, die Freiheit und wer für sie den Preis zahlt.

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Kirsten Fuchs

Mädchenmeuterei

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Charlotte Nowak will die Sache am liebsten abbrechen: diese Fahrt auf einem Containerschiff nach Marokko. Niemand soll wissen, wo sie und ihre Freundinnen sich aufhalten. Die vier sind so verschieden, wie man mit sechzehn nur sein kann, sodass es auch mal kracht; und dann haben sie noch Antonia als blinden Passagier an Bord geschmuggelt. Aber Bea, die sie finden müssen, steckt in Schwierigkeiten und braucht Hilfe. Als das Schiff ablegt, wird Charlotte klar: Sie kann nicht mehr zurück und ist nun Teil dieses Schiffes, auf dem einiges nicht stimmt. Der unsympathische Kapitän und der wenig zimperliche Erste Offizier sind viel härter, als es im ohnehin robusten Seemannsleben üblich ist; beim Landgang in Le Havre wird Charlotte in seltsame Transaktionen verwickelt, und dann kommt eine Kiste auf das Schiff, für die die Freundinnen unerwartet Verantwortung übernehmen müssen. Vielleicht geht es hier um illegalen Handel und moderne Sklaverei, vielleicht auch um alte Mythen des Meeres. Auf jeden Fall müssen die fünf sich dem stellen.

 

Ein Abenteuer, das die grandiose Erzählerin Kirsten Fuchs mit umwerfendem Sprachwitz schildert. Ein Roman über Freundschaft, die Freiheit und wer für sie den Preis zahlt.

Vita

Kirsten Fuchs, 1977 in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) geboren, ist vermutlich die bekannteste und beliebteste Autorin der Berliner Lesebühnenszene. 2003 gewann sie den renommierten Literaturwettbewerb Open Mike, 2005 erschien ihr Debütroman «Die Titanic und Herr Berg». Es folgten die Romane «Heile, heile» und der Bestseller «Mädchenmeute», für den sie 2016 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.

Nach dem Sommer, in dem ich wuchs, kam der Herbst, in dem ich schrumpfte. Es war kein wirkliches Schrumpfen. Ich knickte einfach ein.

Und alle dachten, ich wäre jetzt anders.

Ich war jetzt Charlotte Nowak, die war mal aus einem Camp abgehauen, die hatte mal ein Auto geklaut und Hunde noch dazu, und dann hatte sie im Wald gelebt. Charlotte, die weggelaufen war. Hatte ich ja nicht allein gemacht. Sondern mit den anderen Mädchen zusammen. Dann waren noch drei Jungs dazugekommen, einer davon Jurek, den hatte ich geküsst.

Ich hatte nicht nur einen Freund, sondern auch noch einen Hund. Kajtek, denn den durfte ich nach der ganzen Geschichte behalten. Obwohl er erst seit einem Vierteljahr bei mir lebte, war er in der Zeit so gealtert, als wären Jahre vergangen. Die Tierärztin sagte, dass er Alzheimer habe. Er hörte und sah nicht mehr gut und lief oft ratlos herum. Dann brachte ich ihn ganz langsam in sein Nest und half ihm, sich hinzulegen. Ich zerkleinerte sein Futter, und bevor ich morgens zur Schule ging, zog ich ihm eine Windel an. Ich kümmerte mich gern um ihn, und es war mehr Verantwortung, als ich jemals vorher gehabt hatte.

Klar dachten alle, ich wäre jetzt reifer, irgendwie größer, genau wie sie sich vorher sicher waren, ich sei noch nicht so reif und nicht so groß. Ohne die anderen, mit denen ich im Wald gelebt hatte, war ich aber nur ich. Ohne den Wald war ich einfach zu Hause oder in der Schule. Ich badete an keiner Talsperre, sammelte keine Pilze, legte keinen Tunnel trocken und versteckte mich nicht vor der ganzen Welt. Ich war in meinem Alltag keine Abenteurerin, kein bisschen, und ich war es auch vorher vielleicht nicht gewesen, denn wenn man eine Abenteurerin ist, dann geht man los und will meinetwegen einen Tiger erlegen. Aber ich war einfach losgegangen und hatte zufällig einen Tiger getroffen. So in der Art. Das interessierte die Leute aber so genau gar nicht. Tiger war Tiger.

Jetzt, wo ich berühmt war, schmissen sich lauter Mädchen an mich ran und wollten mit mir befreundet sein. Aber ich hatte genug Freundinnen, wir waren nur leider nicht zusammen, weil alle woanders wohnten. Rike war in Moabit, Antonia in Röntgental, Anuschka in Milchfelsen. Freigunda war ganz weit weg. Sie war ins Mittelalter zurückgekehrt und irgendwo unterwegs mit ihrer riesigen Familie, die als fahrende Leute im Bauwagen lebte. Yvette lebte absurd reich in Kleinmachnow. Und Bea, die mir von allen am wichtigsten war, wohnte in Potsdam. Aber da war sie nie angekommen. Sie war seit einem Vierteljahr verschwunden.

Ich hatte sie nach unserem Abenteuer im Sommer das letzte Mal an einer Weggabelung gesehen. Ich hatte den Forstweg genommen, und sie war ein Stück auf einem verwilderten Weg gelaufen und dann im Dickicht verschwunden. Sie war vermisst, und ich vermisste sie. Sie war von allen Mädchen, mit denen ich den Sommer verbracht hatte, die Wichtigste für mich gewesen. Erst weil ich sie einfach gut fand, weil sie so frei war und geheimnisvoll. Dann weil sie mir als Einziger vertraute. Und dann noch weil sie mich dazu brachte, ein bisschen wie sie zu sein. Aber als sie weg war, fiel ich einfach, genauso tief, wie ich mich hochgestreckt hatte, wieder runter. Als wäre Bea meine Rankhilfe gewesen. Ich war gar nicht gewachsen, nur gerankt. Wenn man so lang ist wie ich, dann kann man gut einknicken und sich dann eigentlich auch gleich einrollen. Jetzt lag ich eingerollt zu Hause rum und wartete auf irgendwas.

So konnte es doch nicht weitergehen. Und so ging es dann ja auch nicht weiter.

Wir liefen wieder weg. Und wir liefen sogar noch weiter weg. Wir liefen aus dem Hafen aus.

Wir wollten erst Bea retten, dann die Tiere und dann die Welt. Na klar, Bea retten – als ob die sich retten lassen würde. Dann schon eher die Welt!

Zum Herbstanfang war mein sechzehnter Geburtstag, und ich konnte wesentlich mehr Leute einladen als nur bloß Severine, die mir bis dahin auch immer gereicht hatte als beste Freundin, einfach weil sie eine verdammt gute beste Freundin war. Aber jetzt hatte ich auf einmal ganz viele Freundinnen, und es kamen auch fast alle zu meinem Geburtstag, obwohl es ein Mittwoch war, aber am Wochenende hatte Oma Siebzigsten, und sie hatte eine Übernachtung für die ganze Familie in einem Hotel gebucht. Ich war sehr glücklich, dass trotzdem fast alle kamen. Yvette und Rike und Antonia. Die wohnten ja nicht so weit entfernt. Freigunda kam natürlich nicht. Das Mittelalter war zu weit weg. Aber sogar Anuschka war da, trotz des weiten Weges. Ihr Vater brachte sie und fuhr sie wieder zurück. Und Jurek war auch da. Sogar Matheo und Ole. Sie waren extra alle drei den weiten Weg mit Matheos Auto gefahren, und nachts fuhren sie wieder zurück, aber ich wurde immerhin sechzehn. Das kleine Volljährig.

Meine Mutter hatte mir als Geschenk eine Liste ausgedruckt, was ich jetzt mit sechzehn alles durfte. Hinter jeden Punkt hatte sie Anmerkungen geschrieben.

Ich durfte in den Ferien länger arbeiten und sowieso mehr Geld verdienen. Mama: «Ferienjob bei Blitzeblank Nowak & Nowak?»

Das war die Putzfirma meiner Eltern. Das hätte sie wahrscheinlich wirklich gerne, aber nur weil sie nie Urlaub machten, musste ich doch nicht auch in den Ferien arbeiten.

Ich durfte ein Konto eröffnen. Mama: Daumen hoch!

Ich durfte wählen. Mama: Daumen hoch!

Ich durfte nicht mehr zum Kinderarzt. Mama: «Frau Nimmesgern.» Weinender Smiley. Ich mochte meine Kinderärztin.

Ich durfte ohne Eltern verreisen. Mama: «Mit unserer Zustimmung. Die Antwort ist: vielleicht. Nicht so weit weg!»

 

Meine Geburtstagsfeier fing mit Schlittschuhlaufen an. Das war schön, also eigentlich, denn erstens fehlten Bea und Freigunda, und zweitens gab es noch einen anderen Grund für eigentlich. Als wir gerade dabei waren, die ausgeliehenen Schlittschuhe anzuziehen (bis auf Yvette, die hatte eigene), summte mein Handy. Am Geburtstag summt ständig das Handy. Es waren sogar zwei Nachrichten. Eine von Oma, die immer absurde Sachen schickte. Wo bekam sie die immer her? Gab’s extra eine App mit absurden Fotos für Omas? Sie schickte ein Foto von einem Igel in einem Eisbecher. Der Igel hatte eine Sonnenbrille auf, und in seiner Sprechblase stand: «Cool, du hast Geburtstag!»

Die andere Nachricht war von, ich musste draufstarren, als würde ich es mit den Augen anfassen, von, echt? Von Bea. Zumindest war sie so unterschrieben, etwas verschlüsselt, aber erkennbar. Ich war erst mal überrascht, dass sie wusste, wann ich Geburtstag habe. Es war ein Satz und ein Video. 2:30 Minuten. Sie schrieb: «Niemandem von der Nachricht etwas sagen. BpunktEpunktApunkt.»

Bevor ich das Video ansehen konnte, zog mich Jurek von der Bank hoch. «Komm, ’ne Runde auf den Arsch fallen.».

An dem Tag begann das mit meinen Händen. Sie juckten erst nur. Nicht nur die Hand, die Jurek festhielt. Die andere auch.

Wir lachten alle viel, Rike und Ole blödelten richtig viel rum, Antonia bekam Schluckauf vor Lachen, Anuschka konnte richtig gut Schlittschuhlaufen, und alles war eigentlich schön. Aber ich war nicht hundert Prozent dabei, habe nur fünfzig Prozent mitgelacht. Auf dem Weg zur Eishalle hatten wir noch über Bea gesprochen, und niemand hatte etwas von ihr gehört. Alle waren beunruhigt, und jetzt bekam ich eine Nachricht von ihr, wenn sie von ihr war. Vielleicht war sie auch gar nicht von ihr. Und ich sollte nichts sagen. Was war das für ein Video? Sang sie einfach Happy Birthday, oder erzählte sie mir, wo sie war? Was sollte ich dann tun? Und schon flog ich wieder auf den Arsch.

«Rutschige Angelegenheit!», lachte Jurek. Wir küssten uns, aber ich küsste nicht hundert Prozent. Meine Hände juckten immer doller. Ich schupperte mit den Handschuhen. «Zieh sie doch aus», hatte Jurek vorgeschlagen und seine Handschuhe ausgezogen. So kalt war es wirklich nicht in der Eishalle. Ich zog einen Handschuh aus, sah, dass ich Pusteln bekommen hatte, zog den Handschuh wieder drüber. «Ich find’s kalt», und schon flog ich wieder auf den Arsch.

Ich war keinen Moment alleine, um mal die Nachricht von Bea anzuhören. Ich war mir sicher, dass die Nachricht von ihr war, auch wenn ich die Nummer nicht kannte, aber ich hatte sowieso noch nie ihre Handynummer gehabt. Wenn sie schlau war, hatte sie sich sowieso eine neue Nummer zugelegt. Sonst hätte man sie schon längst gefunden. Ich schupperte so doll mit den Fleecehandschuhen an den juckenden Händen, dass sie anfingen zu brennen. Die Handschuhe ließ ich auch auf dem Heimweg an, behauptete, dass mir kalt sei. Es war nicht kalt.

Wir fuhren mit dem Bus zu mir. Gute Stimmung! Tolle Freunde! Endlich sechzehn! Juhu! Außerdem Hände wie ein Ameisenhaufen und ein Video von BpunktEpunktApunkt.

Zu Hause auf dem heimischen Klo konnte ich mir meine Hände ansehen. Feuerwehrrot vom Kratzen, richtig tatütata, und dann noch so rote Flecken, unterschiedlich groß, dunkelrot. Die Rötung ging ein bisschen von kaltem Wasser weg, die Flecken blieben. Ich drehte den Wasserhahn ganz auf, damit das Wasser richtig laut rauschte. Dann sah ich mir endlich das Video an. Es war von Bea. Sie war nicht zu sehen, aber ihre Stimme war zu hören. Ein Geburtstagsgruß war es jedenfalls nicht. Das Video war in einem Auto aufgenommen, nur aus dem Fenster gefilmt. Bea redete mit einem Mann. Die Landschaft sah aus wie eine Wüste. Weit weg.

Ab da war ich auch weit weg.

Das zog mir die letzten Prozente Aufmerksamkeit ab. Prozentrechnung, dieses Kuchenaufteilen. Erst war wenigstens noch der halbe Kuchen auf meine Gäste konzentriert, dann nur noch ein Viertel, dann war nichts mehr vom Geburtstagskuchen übrig.

Die ganze Zeit hatte ich die Handschuhe angelassen, obwohl ich schwitzte. Ich zog einen Pulli drüber, damit man das nicht so sah, und schwitzte noch mehr. Alle waren sich sicher, dass ich krank war, und verabschiedeten sich mit «Gute Besserung!». Jurek küsste mich, obwohl er sich anstecken konnte. «Ein bisschen Risiko muss sein. Sonst isses ja langweilig.»

Dann waren alle weg. Meine Mutter machte mir Tee und sagte, dass ich am nächsten Tag zum Arzt gehen sollte, aber nicht mehr zum Kinderarzt, weil sechzehn. Es gongte zur Tagesschau, und meine Eltern begrüßten es, dass ich müde war und schlafen ging, denn gleich kam irgendein Film über die DDR oder aus der DDR. Den wollten sie unbedingt sehen. Papa trug mir noch Kajtek hoch, der nicht mehr die Treppen raufkam, obwohl Papa ihn nachher wieder runtertragen musste, aber ich hatte Geburtstag und wünschte mir, dass Kajtek bei mir war. Ich bekam noch eine Tiefkühllasagne gemacht und aß direkt aus der Alupackung. Während ich aß, zog ich mir im Bett das Video von Bea immer wieder rein, bis ich es auswendig konnte. Jedes Detail.

Video 1

Motorengeräusch. Wackelbild. Aus einem fahrenden Auto gefilmt. Unten ocker oder rötlich, Geröll oder Sand. Sträucher. Darüber hellblau, weiß, Himmel und Wolken. Dazwischen weiche Berge, hellbraun wie ein Kamelhöcker am anderen.

Der Himmel größer als die Erde.

Die Perspektive erhöht. Ein LKW.

«Was filmst du denn da?» Eine Männerstimme.

«Ich film die Blüten, die hier wachsen.» Beas Stimme.

Die Kamera zoomt in die Landschaft. Jetzt werden alle Farben aus dem Tuschkasten gebraucht, denn überall sind Tupfer zu erkennen: Gelb – neon- und sonnenblume –, Rot – dunkel, hell, rosa – und Grün – hell, petrol-, jedes Grün. Und Orange und Weiß. Viel Weiß.

Viele der Blüten flattern in den Sträuchern, an einem Strauch vier verschiedene Blüten.

«Was’n für Blüten? Meinste die Mülltüten?» Die Männerstimme.

«Die Müllblüten der Wüste, genau.» Beas Stimme.

Seine Stimme: «Ja, die werden irgendwo weggeworfen, kilometerweit entfernt. Dann bringt der Wind die her, und sie bleiben hier hängen und versauen die Landschaft. Dabei wohnt hier überhaupt niemand.»

Endloses Motorengeräusch, endlose Wüste, endlose Müllblüten.

Seine Stimme: «Das ist übrigens keine Wüste. Das ist eine Hochebene.»

Endlose Hochebenen. Doch nicht endlos. Video zu Ende.

Ich knüllte die leere Alupackung der Lasagne zusammen und warf sie vom Bett aus in meinen Mülleimer.

Bea redete ganz locker mit dem Mann. Das war also eher keine Entführung. Ich tippte darauf, dass der Mann ihr Vater war. Der war LKW-Fahrer. Das hatte Bea mir im Sommer erzählt und auch, dass sie seit Jahren keinen Kontakt zu ihm hatte. Ihre Eltern waren schon ein paar Jahre geschieden, und ihr Vater hatte sich seitdem eher selten gemeldet. Nicht dass er vorher viel da gewesen war. Da war er ja auch schon LKW-Fahrer gewesen. Trotzdem fand sie ihn besser als ihre Mutter, was vor allem daran lag, dass sie sich mit ihrer Mutter wirklich gar nicht verstand. Wenn ich es richtig begriffen hatte, wollte ihre Mutter so unglaubliche Dinge von ihr, wie dass Bea regelmäßig zur Schule geht und nicht so viel Scheiße baut. Klar, so krasse Sachen wollte ihr Vater nicht von ihr. Der war ja gar nicht da. Mir fiel noch was ein, was ihre Mutter von Bea wollte. Bea sollte sich am Knie operieren lassen, weil es sonst für immer kaputtginge. Aber Bea hatte was gegen Krankenhäuser, überhaupt gegen Räume eigentlich, aber vor allem gegen Krankenhäuser. Sie hatte ein schlimmes Erlebnis gehabt, ein Fahrradsturz, eine Nacht heulend auf Hilfe warten und dann Krankenhaus. Das war auch alles wegen ihres Knies passiert. Aber weggelaufen beziehungsweise mit dem Fahrrad abgehauen war sie, weil ihre Mutter ihr gesagt hatte, dass sie sich scheiden lassen wollte. Seitdem lief Bea eigentlich ständig weg und erlebte dabei ziemlich abgefahrene Sachen. Leider hatte sie nicht so oft Lust gehabt, davon zu erzählen, aber ein bisschen was wusste ich, zum Beispiel von diesem Reiterturnier, an dem sie teilgenommen hatte, obwohl es nur für Männer erlaubt war. Das hatte sie sogar gewonnen. Dann war sie jetzt also zu ihrem Vater abgehauen. Aber wieso hatte die Polizei ihn nicht gefragt, ob seine Tochter bei ihm ist? Oder hatten sie ihn gefragt, und er hatte gelogen? Und wo fuhren die rum, die beiden?

Ich googelte nach Hochebene. Während ich durchlas, was eine Hochebene ist, kratzte ich an meinen Händen, aber nur ganz vorsichtig. Ich wollte nicht wieder so knallrote Feuerwehrpfoten bekommen. Wenn ich nicht so doll kratzte, ging es hoffentlich einfach wieder weg. Aber diese Flecken sahen nicht aus, als ob sie so schnell wieder verschwinden würden, wie sie gekommen waren. Sie waren inzwischen recht groß, und jeder Fleck sah anders aus, wie Umrisse von Ländern. Eine richtige Landkarte. Wo auf diesen Flecken auf der Welt bist du, Bea?

Das Internet wusste, dass es in Europa Hochebenen gab, aber auch in Asien, Afrika und Amerika.

Ich schrieb ihr eine Nachricht: Wo bist du?

Klare und knappe Fragetechnik. Das konnte ich, weil ich sowieso nie viel redete und weil ich gern online solche Detektivrollenspiele machte, sehr erfolgreich sogar. Im Sommer hatte ich sogar einen richtigen Fall gelöst. Also würde ich doch wohl rausbekommen, wo Bea war. Meine Nachricht wurde versendet, graue Haken und dann empfangen, blaue Haken. Wenn Bea meine Nachricht um die Uhrzeit bekam, war sie also noch wach. Ein zweiter Hinweis. Sehr gut.

Ich fertigte eine Liste an. Als Erstes strich ich Europa, denn die Hochebenen hier sahen nicht aus wie Wüsten. Dann recherchierte ich und rechnete aus, wie spät es überall war. Asien konnte ich auch streichen. Da war es überall Nacht. Klar konnte Bea trotzdem wach sein, aber in Indien war es null Uhr fünfzig, in Laos und Thailand sogar schon fast halb drei.

In Osttimor war es zwischen vier und fünf Uhr nachts, fast schon wieder Morgen. Im Iran könnte sie noch gut wach sein. Da war es gerade mal kurz vor dreiundzwanzig Uhr, aber da konnte man doch nicht einfach so einreisen. Das ergab so keinen Sinn. Theoretisch konnte Bea zu jeder Zeit wach sein. Ich änderte meine Taktik und recherchierte über die Einreisebestimmungen der einzelnen Länder. Amerika, Iran, Tibet flogen auf jeden Fall raus. Eigentlich musste man für jede Einreise seinen Pass vorzeigen, und wenn ein als vermisst geltendes Mädchen seinen Pass zeigte, da müsste doch irgendwo eine rote Lampe angehen, und die Flughafenpolizei käme angerannt. Ich ging noch mal die Liste der Länder durch und strich alles, wohin man fliegen musste. USA, Mexiko, Ecuador, Brasilien, Peru und Argentinien. Das war eine Bauchentscheidung. Als Detektivin brauchte man auch ein bisschen Instinkt. Mit dem Zug konnte sie gefahren sein. Oder sie war mit einem Schiff gefahren. Ich kam so nicht weiter.

Ich drehte die Landkarte auf meinen Händen hin und her. Die Länder juckten alle. Nicht kratzen. Davon würden sie größer werden. Dann würden aus meinen kleinen Hand-Ländern ganze Hand-Reiche werden.

Wo bist du?, schrieb ich noch mal. Das Senden dauerte, ein Häkchen, noch ein Häkchen, ein Häkchen blau, noch ein Häkchen blau.

Oben stand: Bea schreibt. Sie schrieb ziemlich lange. Konnte aber auch heißen, dass sie alles wieder löschte und noch mal schrieb oder eingeschlafen war, immerhin war es bei ihr vielleicht bis zu acht Stunden später.

Pling. Kann ich dir nicht sagen. Bitte alles für dich behalten.

Für mich behalten, also geizig und reich gleichzeitig. Ich musste niemand was abgeben. Alles meins. Ich konnte es Kajtek erzählen, der aber gerade friedlich schlief, und wenn er schlief, dann war das gut, dann lief er nicht hin und her. Mama nannte das «Tippeln», und Kajtek tippelte manchmal stundenlang. Er schlief oder lief. Meine Hände machten mich wahnsinnig. Alles für mich behalten war ja mein Haupttalent, und Bea hatte sich von allen Mädchen, mit denen wir abgehauen waren, ausgerechnet mit mir … angefreundet ist nicht das richtige Wort … abgegeben. Einfach weil ich die Klappe hielt. Da könnte sie auch mit einem Baumstumpf befreundet sein. Der hatte sogar noch den Vorteil, dass man drauf sitzen konnte, wenn man wollte. Das stimmte nicht. Das wusste ich auch. Obwohl Bea am liebsten nichts über sich erzählte, hatte sie mir dann ja doch ziemlich viel erzählt. Die Sache mit dem Knie und dass sie schlecht in Räumen sein konnte. Ich mochte sie dadurch noch lieber, also mochte sie überhaupt. Vorher hatte ich sie eher so angehimmelt, aber dann war sie zu mir herabgestiegen. Das klingt vielleicht Stulle. Als wäre ich bloß ein kleiner Wurm. Nein, im Sommer war ich mir sicher gewesen, dass wir befreundet sind. Jetzt dachte ich wieder, dass ich sie toller fand als sie mich. Vermutlich weil sie es einfach war. Sie machte einfach immer, was sie wollte.

Aber warum schickte sie mir so ein Video? Warum hatte sie nicht einfach alles für sich behalten? Warum zog sie mich mit rein? Jetzt hatte ich den Scheiß! So was von! Ich müsste eigentlich sofort die zwei Polizistinnen anrufen, die mich zweimal befragt hatten, weil ich Bea als Letztes gesehen hatte. Ich sollte ihnen sofort sagen, wenn sich Bea meldete.

Ich kratzte an meinen Händen herum. Gut, dass Bea nicht geschrieben hatte, wo sie war. So wusste ich es immerhin nicht. Ich rollte mich unter der Zudecke ein, versuchte zu schlafen.

Kajtek wurde wach und begann zu tippeln. Wenn er tippelte, konnte es bedeuten, dass er mal musste. Er lief hin und her, als suchte er den Sinn des Lebens. Er fand ihn nicht in der einen Zimmerecke und nicht in der anderen, aber dann dachte er, dass der Sinn des Lebens vielleicht unterm Tisch war, also suchte er da. Dabei hechelte er. Motorische Unruhe hieß das. Kann man nichts machen, sagte die Ärztin. Wenn man so jemand in seiner Nähe hatte, wurde man selber unruhig. In der Situation gab es ja nichts zu tun, außer es auszuhalten. Als hätte der Sensenmann schon mal die Tür aufgemacht und gesagt: «Die bleibt jetzt offen, bis es vorbei ist», und es zog kalt rein. Die Tierärztin sagte, dass es ihm sonst gutgehe. Das sei eben so.

«Papaaaaa!», rief ich, und er kam die Treppe hoch, trug Kajtek runter und ging mit ihm raus. Danach trug er ihn wieder zu mir hoch, weil ich ja immer noch Geburtstag hatte.

«Vielleicht musst du die letzten Wochen dann unten schlafen, wenn du bei ihm sein willst.»

«Die letzten Monate, meinst du.»

Er streichelte mir über den Kopf, als wäre ich auch ein Hund. «Was’n mit deinen Händen los?»

Jetzt war es natürlich zu spät, sie schnell in den Pullover zu stecken und «Nichts!» zu behaupten. Ich sah meine Hände an und tat überrascht.

«Es geht weiter», rief meine Mutter von unten.

Mein Vater wendete meine Hände in seinen Händen hin und her, als seien sie misslungene Buletten. «Musst ja morgen sowieso zum Arzt. Kannst du ja deine Hände auch gleich mal zeigen.» Er drehte sich in der Tür noch mal um und zwinkerte mir zu. «Aber nicht mehr zum Kinderarzt.»

Eine halbe Stunde später bekam ich noch ein Video von Bea.

Video 2

Etwas dunkel, Kamera justiert nach.

Beas Stimme: «Das ist die Wohnung von meinem Vater.»

Die Kamera sieht sich um. Ein kleiner Flur, offene Tür zu einer Terrasse, kleines vergittertes Fenster ohne Glas. Schuhregal, zwei Taschen, die abreisebereit dastehen. Ein Spiegel, der Rahmen mit Mosaik verziert, Bea im Spiegel mit Kamera in der Hand. Mädchen mit dunkelbraunen Haaren. Kurz und strubbelig. Viel zu großes Schlafshirt mit NIRVANA-Aufdruck. Sie winkt. Garderobe mit Jacken, Beas Jacke, daneben eine Jeansjacke, hellblau mit NIRVANA-Aufnäher, noch eine Jeansjacke, dunkelblau, gefüttert mit weißem Lammfell.

Kamerablick durch einen Perlenvorhang. Zwei Männer sitzen auf einem Sofa. Einer groß, einer schmaler, etwas jünger. Bea geht durch den Perlenvorhang. Die Perlenschnüre klappern. Die Kamera jetzt nach unten gehalten, als würde sie nicht filmen, sondern nur das Handy in der Hand haben. Bodenfliesen, weiß, Beas Füße in Flipflops.

«Na, Hase, kommste doch Tach sagen? Das ist Amine. Er ist der Oberdisponent bei uns und ein Freund.»

Beas Stimme grüßt auf Französisch. Eine zweite Stimme lacht: «Tachchen reicht auch. Dein Vater hat mir gerade von dir erzählt. Hab gar nicht gewusst, dass er eine Tochter hat.» Er lacht wieder. «Ich bin aus Berlin, also hier geboren, dann als Kind nach Berlin mit meinen Eltern, jetzt wieder zurück. Wie gefällt dir das Land?» Bea sagt: «Schön.» Amine sagt: «Ja, schön ist es hier, oder?»

Die Stimme von Beas Vater: «Wir haben noch ein bisschen was zu bereden. Gehst du schlafen? Morgen geht’s um fünf los.»

«Nacht», sagt Bea, und dann gehen ihre Füße in den Flur. Wieder zum Spiegel. Bea filmt sich ins Gesicht. Das Gesicht verrät nichts.

Am nächsten Tag musste ich zur Hausärztin meiner Eltern. Alleine! Scheiß Sechzehnsein. Klar, ich wollte ja nicht im Kinderwagen hingerollt werden, aber trotzdem. Wenn man schüchtern ist wie ich, hat man manchmal Knoten in den Beinen, in den Armen und in der Zunge. Noch dazu kannte mich die Ärztin natürlich aus der Zeitung, weil im Sommer so viel über uns berichtet worden war. Wie die meisten Leute wäre sie im Leben nicht auf die Idee gekommen, dass ich gar nicht so gern über mein Abenteuer sprach. Auch weil ich sowieso nicht so gern sprach, aber schon gar nicht über mich. Aber sie wollte auch gar nicht über mich reden, sondern über Bea. Noch schlimmer. Sie war sehr interessiert daran, mit mir über Bea zu sprechen. Sie glaubte nicht, dass Bea tot sei, «Mach mal den Mund auf!»

Vermutlich sei das mit den Händen eine Stressreaktion. Ob ich Stress hätte. Ich schüttelte den Kopf.

Etwas Schweiß und Rotwerden später bekam ich ein Rezept für eine Salbe und eine Krankschreibung für zwei Tage. Ich lief nach Hause, die befleckten Hände in den Taschen.

Kajtek hatte sich die Windel ausgezogen und zerpflückt. Im Flur lag eine kleine Watteschneewehe. Der große, dunkle Hund dazwischen und wedelte.

Ich cremte in den nächsten zwei Tagen morgens und abends meine Hände ein, aber es tat sich erst mal nichts. Die Flecken blieben, wie sie waren und wo sie waren. Ich speicherte Beas Nummer unter dem Namen Theresa ab. Das war der Name, der am wenigsten zu ihr passte, fand ich. Ich grübelte mir wahnsinnig viel zusammen, warum die Polizei nicht regelmäßig ihren Vater fragte, ob er wüsste, wo seine Tochter sei. Eigentlich reichte ja auch ein Anruf mit der Aufforderung, dass er sich sofort melden sollte, wenn er was von ihr hört. Konnte ich mir einfach nicht erklären. Am Morgen meines zweiten Kranktages erzählte ich Kajtek alles. Einfach weil ich mit irgendwem darüber reden musste und alle anderen Lebewesen ausschieden, außer vielleicht die Mäuse im Garten, aber die rannten immer weg. Außerdem kannte Kajtek Bea immerhin. Er sah mich aufmerksam an. Dann nickte er. Ich schwöre, er hat genickt, und dann ging der Ausschlag langsam weg.

Nachmittags musste ich zur Kontrolle zu der Ärztin. Da alles prima aussah, bestätigte sie mir, dass alles prima aussah, und schrieb mich gesund. Ich fuhr gerade mit dem Bus zurück nach Hause, als das nächste Video kam. Nachricht von Theresa. Die Kopfhörer hatte ich eh drin, weil ich gerade ein Hörbuch über eine ziemlich geniale Detektivin hörte. Neben mir und hinter mir saß niemand. Ich sah mir sofort das Video an.

Video 3

Wieder Wüste in den satten Wüstenfarben und großer Himmel.

Wolken wie zusammengeschobenes Mehl auf einem gläsernen Küchentisch.

Eine Männerstimme: «Was filmst du da immer?»

Geröllsandfeld, an einem leichten Anstieg zwei große, weiße, arabische Wörter und ein Stern.

«Ich filme den Weg, damit ich wieder zurückfinde, wenn du mich aussetzt.»

Männerstimme lacht. Kamera auf Mann. Mann am riesigen Lenkrad, wippende Federung des Fahrersitzes. Wippender kleiner Bauch des Mannes. Rötlich blondes Haar, leicht lockig. Der Bart eine Kupferdrahtbürste. Mann proper wie ein Gartenapfel, Arme wie Beine. Rechter Arm am Lenkrad, linker Arm aus dem runtergekurbelten Fenster. Dann nimmt er den Arm rein, zieht an einer Zigarette, pustet den Rauch schräg zum Fenster raus.

«Du würdest dich echt wundern, wenn ich dich aussetze, wenn du mich hier so überfällst. Soso.» Er lacht wieder. «Als hätte ich nicht genug andere Sorgen. Mensch, Mensch. Kommst hierher angerauscht wie so eine Chaosprinzessin, klebst dich in meinen Kalli, nachdem mich vor Wochen die Polizei angerufen hat, ob ich zufällig von dir gehört habe. Weihnachten, hab ich gesagt. Und schwupp, da bist du auch schon. Aber es sind Ferien, und deine Mutter weiß, wo du bist, sagst du. Muss ich dir glauben, wenn ich keinen Bock hab, deine Mutter anzurufen. Und hab ich Bock, deine Mutter anzurufen? Nicht wirklich. Und warum soll ich dir nicht glauben? Oder? Oder ich ruf nachher mal deine Mutter an.»

«Papa!»

«Sag Pim.»

Er schaut zu ihr, an der Kamera vorbei. Ein asymmetrisches Gesicht, die Draußen- und die Drinnenseite, jahrelang hier Sonne, da Schatten. Sie filmt auf sein T-Shirt. ‹Forever India›.

«Was haste denn für andere Sorgen?»

«Willst du echt wissen?»

«Was glaubst du denn?»

«Ich bin mir nicht sicher, ob reden immer hilft. Oder ich bin nur nicht dran gewöhnt, mit jemandem über irgendwas zu reden.»

«Du hast doch Amine.»

«Ja, mit dem hab ich auch gestern geredet, aber hat nicht wirklich geholfen.»

Die Kamera weg von ihm, aus dem Fenster auf ihrer Seite. Ziegen, schwarz, weiß mit hängenden Ohren. Ein Junge. Kleine Sträucher, als wären sie einem Riesen aus dem Korb gekrümelt. Die Sträucher stehen so weit auseinander wie Menschen, die sich nicht kennenlernen wollen.

«Ist nicht so gut, wenn du zu viel weißt. Schlimm genug, dass du da bist. Das gibt genug Ärger.»

«Dann gib mir meinen Pass wieder und fahr mich in eine große Stadt, wo ich wegkann.»

«Das haben wir doch geklärt. Ich behalte deinen Pass, bis ich weiß, wie wir dich wieder nach Deutschland kriegen, ohne dass ich Ärger mit deiner Mutter bekomme. Oder dem Jugendamt. War eine Kackidee von dir, Hase.»

«Sag Bea.»

«Ja, klar, Bea, aber war eine Kackidee.»

«Ja, war eine Kackidee.»

«Wie redest du denn?»

«Du bist mein großes Vorbild.»

«Na, wenn du meinst. Also, ich ruf deine Mutter an oder das Jugendamt. Ich weiß nicht, was besser ist. Und dann können wir einen Flug für dich buchen. Der Pass bleibt so lange im Bakje. Da …» Er zeigt auf ein Fach. Beas Hand fasst ins Bild und dann in dieses Fach, nimmt einen Haufen Papiere raus. Es raschelt.

«Nö, der ist nicht hier.»

«Muss aber. Kuck noch mal.»

Video Ende

Der Bus fuhr gerade am Stadtpark vorbei. Dort standen jede Menge Bäume. Das Herbstlaub war halb am Baum, halb am Boden. Ganz anders als Wüste oder Hochebene, die wie Wüste aussah.

Wie ich es mir gedacht hatte: Sie war bei ihrem Vater, sag Pim.

Pim. Was war das denn für ein Name? Und wo waren die beiden?

Da waren diese arabischen Schriftzeichen gewesen. Ich schaute mir das Video noch mal an und stoppte es an der Stelle.

Wieder Wüste in den satten Wüstenfarben und großer Himmel.

Wolken wie zusammengeschobenes Mehl auf einem gläsernen Küchentisch.

Männerstimme: «Was filmst du da immer?»

Geröllsandfeld, an einem leichten Anstieg zwei große, weiße arabische Wörter und ein Stern.

Stopp!

Ein Stern. Die Schrift war weiß, der Stern war grün und aus einer einzigen Linie durchgezeichnet. Das ist das Haus vom Nikolaus und gar nicht fern: ein Stern.

Ich googelte Flaggen mit Stern. Da war er. Grün und aus einer Linie. Marokko.

Ich ließ das Handy sinken. Jetzt wusste ich, wo sie war. Marokko.

Marokko, dachte ich immer wieder. Es wurde richtig ein Rhythmus. Der Bus fuhr. Marokko. Marokko. Marokko. Scheiße! Ich war zu weit gefahren. Ich sprang auf, rannte zur Tür. Die schloss sich. Ich rief irgendwas. Hey, Hallo. Zwei alte Frauen sahen mich an. Jetzt musste ich die lange Station durch den Wald bis zum Friedhof fahren.

Marokko.

Weil ich so in Gedanken war, stieg ich für die zwei Stationen nicht in den Bus in die andere Richtung, sondern lief lieber zurück, bevor ich noch mal mit dem Bus zwei Stationen zu weit fuhr. Und am Haus würde ich ja wohl nicht vorbeilaufen. Vor dem Haus stand ein Polizeiauto.

Ich lief am Haus vorbei und ging zu Severine.

«Haben wir Hausaufgaben?», fragte ich sie und drängelte mich an ihr vorbei.

«Nee. Nix Hausaufgaben.» Sie schloss die Tür hinter mir. «Aber komm doch rein, wo du schon mal drin bist.»

Ich hatte mich seit dem Geburtstag vor zwei Tagen nicht bei ihr gemeldet. Wir sahen uns sonst jeden Tag. Ich stand blöd im Raum, anstatt zum Fenster zu laufen, die Gardine zur Seite zu schieben und nachzusehen, ob das Polizeiauto noch da stand. War ja Blödsinn! Klar stand das noch da.

Und es war relativ realistisch, dass sie mich im Küchenfenster gesehen hatten. Meine Mutter wusste ja auch, wann ich ungefähr vom Arzt zurück sein musste. Da ich die zwei Stationen gelaufen war, kam ich eh schon spät. Wirkte das verdächtig?

«Ich muss mal.» Das wirkte nun wirklich verdächtig. Egal. Vom Klofenster konnte man in unsere Küche sehen. Da saß meine Mutter mit den Polizistinnen Sina Mann und Pernille Waserfall. Die kannte ich ja schon. Mist! Ich saß auf dem Klo, die Pumpe ging mir wie verrückt. Sollte ich Beas Nachrichten löschen? Konnten die den Suchverlauf ansehen – und dann fanden sie Marokko? Marokko, ey! Warum denn Marokko? Ich ließ mein Handy neben dem Klo liegen. Kann ja mal passieren. Ich wurde halt ein bisschen vergesslich, jetzt wo ich sechzehn war.

«Woll’n wir Karaoke machen?» Severine klopfte an die Badtür. «Hast du dich runtergespült?»

Ich hustete angestrengt. «Immer noch ein bisschen angeschlagen.» Dann spülte ich und beeilte mich rauszukommen. Wir knallten zusammen. Sie sah mich an wie jemand, der dich seit der Geburt kennt, alles über dich weiß und gerade merkt, dass irgendwas komisch ist. Wir waren immer zusammen, Kindergarten, Schule, immer, und erzählten uns alles. Ich wusste gar nicht, wie man ihr etwas nicht erzählt.

«Ich muss.»

«Warste doch gerade.»

«Nee. Mit Kajtek raus.»

«Kann ich doch mitkommen.» Sie blieb mir auf den Fersen. Ich drängelte mich raus, wie ich mich reingedrängelt hatte.

«Da steht ein Polizeiauto vor eurer Tür. Was’n da los bei euch? Soll ich mitkommen?»

Menschen mit Locken anlügen war noch schwerer, als andere Menschen anzulügen. Noch dazu beste Freundinnen.

«Nee, ist ’ne Einzelbefragung. Wegen Bea.»

«Ich denk, du musst mit Kajtek raus?»

«Das auch.»

Severine mochte so süß sein, wie sie war, aber sie konnte eine unglaubliche Fresse ziehen, wenn sie was nicht verstand oder nicht gut fand. Jetzt verstand sie mich nicht und fand mich definitiv nicht gut gerade.

«Bis morgen!»

Die paar Schritte bis zum Haus bereitete ich mich darauf vor, jetzt besser zu lügen als gerade bei Severine. Hör zu, sagte ich im Trainerinnentonfall, im Kopf, klar. Hör mir jetzt genau zu, Charlotte Nowak. Du weißt von den Detektivrollenspielen ganz genau, woran man Lügner erkennt: Sie schauen runter. Sie werden unruhig. Sie antworten zu schnell und erklären zu viel. Bleib cool. Hörst du? Bleib einfach cool. Meine Hände begannen zu jucken.

 

Ich schloss auf, hängte den Schlüssel hin, zog schnell die Schuhe aus, und noch bevor meine Mutter mich begrüßte, waren meine Hände wieder in Sicherheitsverwahrung in den Taschen vom Pullover. Ich nickte meiner Mutter zur Begrüßung zu und folgte ihr ins Wohnzimmer. Die Polizistinnen standen kurz auf, aber ich setzte mich sofort hin, also setzten sie sich auch wieder hin. Ich saß da, als müsste ich gleich noch die Füße auf den Tisch legen oder Kaugummi kauen, ich war ja sechzehn. Das erwartete man doch fast schon von mir. Sechzehnsein als Tarnung. Hatte ich ein Schwein. Nee, ich hatte einen Hund. Kajtek kam und wollte begrüßt werden.

«Oh nee, wie riechst du denn?» Ich schob ihn mit dem Knie weg. «Geh mal ab!» Das Gesicht eines alten Hundes ist immer voller unwissender Freude. Er stand da, als hätte ihm jemand einen Hauptgewinn versprochen. Manchmal stupste er so lange gegen meinen Arm, bis ich ihn streichelte. Diesmal begann er aber wieder zu tippeln, Küche, Flur, Wohnzimmer.

«Ich geh mal mit ihm», sagte Papa und ging mal mit ihm.

Meine Mutter wurde weggeschickt. Meine Vernehmung begann.

Wenn sie good cop, bad cop spielten, dann sehr schlecht.

Die dunkelblonde Polizeiobermeister-Anwärterin Sina Mann versuchte, die Nette zu sein. Sie nickte mir zu. Aber sie sah aus wie ein Dompteur, wenn der Löwe keine Lust hat, sich seine Mähne beim Sprung durch den brennenden Reifen anzukokeln. Ihr Blick war eine Peitsche.

Die Polizeiobermeisterin Pernille Waserfall, mit leichtem dänischem Akzent und der hellblauen Augenfarbe des Uniformhemdes, war hingegen wirklich nett. Nett wie Mütter in Kleinkinderfilmen.

Ich wollte ihr sofort mein Tagebuch vorlesen. Sie aber spielte die Harte. Höherer Dienstgrad oder weil sie dachte, dass sie es der Jungen beibringen musste.

Das Stück hieß «Der Verdacht». Personen: die liebe böse Pernille Waserfall, die böse liebe Sina Mann, die verlogene Charlotte Nowak.

Ich konzentrierte mich auf den Schriftzug ihrer Hemden, las mit verschiedenen Betonungen: POlizei, PoLIzei, PolizEI. Und dann konzentrierte ich mich auf PO und EI. Das half mir am meisten.

Pernille Waserfall: «Wir möchten, dass du noch einmal in dich gehst und genau überlegst, ob dir Rabea nicht irgendetwas gesagt hat, das du uns bisher verschwiegen hast.»

Sina Mann: «Auch wenn du es nicht mit Absicht verschwiegen hast.»

Pernille Waserfall: «Aber auch wenn du es mit Absicht nicht erzählt hast, ist jetzt immer noch ein guter Zeitpunkt, es doch zu erzählen.»

Charlotte Nowak: «Nein. Ich hab, glaub ich, alles erzählt.»

Pernille Waserfall: «Glaubst du, oder weißt du?» (Sie sah aus wie eine Natter, die sich konzentrieren musste, weil sie sich aus Versehen selbst einen Knoten in den Schwanz gemacht hatte.)

Charlotte Nowak: «Sicher. Weiß ich.»

Sina Mann: «Irgendeine Kleinigkeit, Charlotte, wo du dachtest, die ist nicht so wichtig …»

Pernille Waserfall: «Oder etwas sehr Wichtiges, wo die Rabea gesagt hat, du sollst es niemandem sagen. Wo du dich als gute Freundin natürlich dran gehalten hast. Aber als gute Bürgerin …»

Sina Mann: «… die du natürlich bist …»

Pernille Waserfall: «… zumindest wenn du dich spätestens jetzt entscheidest, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, die einzig wahre Wahrheit zu sagen.» (Sie pochte ihren langen Zeigefinger auf den Tisch. Jedes Mal, wenn sie «Wahrheit» sagte.)

Sina Mann (versuchte, nicht zu lachen): «Wenn du wirklich etwas nicht erzählt hast, Charlotte, dann kann ich das verstehen. Ich habe auch eine beste Freundin, und die vertraut mir auch ihre Geheimnisse an, und wir tuscheln und sagen, dass die andere das nicht weitersagen darf. Aber weißt du, Charlotte, wenn meine Freundin» – und sie überlegte einen Moment – «Rabea. Wenn meine Freundin Rabea, ja, die heißt wie deine Freundin, wenn Rabea in Schwierigkeiten stecken würde, dann wüsste ich, wie ich entscheiden würde. Dann würde ich lieber erzählen, wo sie ist, bevor sie …»

Pernille Waserfall: «… zerhackt in einer Grube liegt.»

Sina Mann: «Quälen Sie das Mädchen doch nicht so.»

Charlotte Nowak: «Ich versteh das schon. Aber sie hat nichts gesagt.» (Und das war die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit. Ich könnte auch jedes Mal bei dem Wort Wahrheit mit dem Zeigefinger auf den Tisch pochen.)

Pernille Waserfall: «Gut, dann hat sie nichts gesagt. Ihr wart befreundet, weil ihr euch nichts erzählt. Vielleicht wart ihr gar nicht befreundet. Vielleicht gibst du immer nur an damit, dass du mit der berühmten Rabea Adler befreundet bist. Du weißt überhaupt nichts über sie. Du weißt nicht, wo sie schon immer gern mal hinwollte.»

Sina Mann: «Ich glaube dir, dass ihr befreundet seid. Doch, ich glaub dir das, obwohl sie sich bei dir nicht meldet.»

Pernille Waserfall: «Ich glaube ihr das nicht.»

Sina Mann: «Doch, ich glaube ihr.»

Ich schaute auf PO und EI und sagte, dass Bea nichts erwähnt hätte. Und ein bisschen stimmte das ja.

Als die beiden Frauen sich verabschiedeten, gab ich ihnen die Hand, und die begann sofort wieder zu jucken.

Ich wollte kein Abendbrot, und ich wollte nicht zusammen mit meinen Eltern diesen Film sehen, den ich vor zwei Jahren so lustig gefunden hatte. Vor zwei Jahren. Ewigkeiten her!

Papa hatte keine Lust, Kajtek zu mir hochzuschleppen. Ich hatte weder Geburtstag, noch war ich krank. Ich schleppte Kajtek also selber hoch. Er war echt nicht so schwer, nur groß. Ich war froh, dass er so dichtes Fell hatte und ich nicht sah, wie dünn er inzwischen war.

In meinem Zimmer suchte er eine Weile die perfekte Stelle, um sich hinzuplumpsen. Ich legte ihm meine Bettdecke hin. Er buddelte darauf so lange herum, bis ein schönes Knülllager entstanden war.

«Du bist ein komischer Mops», kommentierte ich sein Geraffel, und dann beichtete ich ihm alles, was es zu beichten gab. Er nickte. Gut.

Ich glotzte in mein Zimmer. Es war öde. Ich wollte es schon immer anders haben. Hellblau. Wie am Meer sollte es aussehen, weil ich das Meer mochte. Aber nicht nur so «Sonnenuntergang, ah schön», sondern eher die Tiefsee. Dann wäre Dunkelblau sogar besser für das Zimmer. Oder sogar eine Wand schwarz und dann diese abgefahrenen Tiefseefische drauf-malen.

Meine Mutter hatte mir als Kind immer Seefahrergeschichten erzählt. Das konnte sie richtig gut. Ich hatte ins Kissen gebissen, weil das so spannend war. Sturm, Meuterei, Seeungeheuer, böse Kapitäne, verschlagene Offiziere, treue Matrosen und ein Bootsjunge als Held, bei dem ich mir immer vorstellte, dass es auch ein Mädchen sein könnte.

Als ich lesen konnte, hörte meine Mutter auf, diese Geschichten zu erzählen, und eigentlich war das eine totale Verschwendung ihres Erzähltalents. Als ich sie einmal gefragt habe, warum sie immer Seefahrergeschichten erzählte, lachte sie und sagte, dass sie als Kind Tiefseeforscherin werden wollte. Dass sie darüber so lachte, verstand ich nicht. Das weiß ich noch. War doch nicht lächerlich. Aber sie lachte, weil ihr einfiel, dass sie als Putzfrau ja zumindest ständig mit Wasser zu tun habe. Da musste ich auch lachen.

«Und Papa wollte Seemann werden. Hast du das gewusst?», da musste sie schon wieder lachen, weil Papa ja als Putzmann auch so viel mit Wasser zu tun hatte. «Aber er hätte lieber ein Deck geschrubbt.»

Ich nahm mir zum hundertsten Mal vor, nicht Putzfrau zu werden.

Dann kam mir eine Idee, und die fand ich so genial, dass ich Kajtek weckte, um sie ihm zu erzählen.

Kajtek sah nicht begeistert aus.

«Okay, du fragst dich, warum ich dich dafür extra wecke, aber pass auf», und ich erzählte ihm den ganzen Plan. Nach Marokko. Mit einem Schiff. Mit meinen Eltern, die beide das Meer genauso toll fanden wie ich. Ein bisschen mehr Wasser als ein Putzeimer voll würde ihnen doch bestimmt gefallen. Ich hatte ja ein bisschen Geld verdient mit den Auftritten, die Yvette für uns organisierte, und darum konnte ich das meinen Eltern ganz einfach schenken. «Oder? Was meinst du? Das Geld wäre doch super investiert.»

Kajtek gähnte.

«Maaaann, du verstehst es nicht, oder? Also, pass auf. Bald sind Herbstferien, und meine Eltern haben Hochzeitstag, und huijuijui schenke ich ihnen als Überraschung eine schöne Reise. Natürlich fahre ich mit. Und ganz zufällig fahren wir nach Marokko. Wo ganz zufällig …», ich ging ganz nah an Kajteks Ohr und flüsterte, «… eine gewisse Theresa ist.»

Kajtek schüttelte den Kopf.

«Doch, is so», sagte ich. «Ich glaube nicht, dass Bea mir die Videos nur so geschickt hat. Sie will doch, dass ich zu ihr komme. Vielleicht. Selbst wenn nicht. Ich will zu ihr.»

Kajtek schüttelte wieder den Kopf, weil ihn das Flüstern kitzelte.

«Sag doch nicht gleich nein. Ich kann es doch wenigstens probieren. Und wenn nicht, ist es einfach eine Reise. Nichts weiter.»

Jetzt hatte der Hund echt genug von meinem Geflüster. Er kratzte mit den Pfoten im Ohr und brummte dabei.

Ich klemmte mich an den Laptop, um herauszufinden, ob und wie. Ob und wie engten sich sehr schnell auf eine Containerschifffahrt ein. Na ja, war aber trotzdem ein Schiff. Und eigentlich auch ziemlich spannend. Da waren immerhin ein echter Kapitän und echte Matrosen. Die Preise gingen auch einigermaßen, eben weil es nur eine Containerschifffahrt war und das Schiff ja sowieso fuhr, mit Touristen oder ohne, und weil auch nicht viel Luxus geboten wurde. Kein Buffet oder lustige Abendveranstaltungen. Einfach nur übers Meer fahren. Fand ich gut. Könnte ich viel lesen. Musste ich auch gut finden, denn etwas Nobleres hätte ich nicht bezahlen können. So reich war ich nun auch wieder nicht geworden durch unsere Bekanntheit.

Yvette hatte nach dem Sommer eine Art Vortrag über unser Abenteuer zusammengestellt. Sie war mit einem Fotografen an ein paar Stellen gefahren, wo wir gewesen waren. Diese Fotos zeigten wir bei den Vorträgen und erzählten ein bisschen was. Dann beantworteten wir Fragen. Wir wurden von Schulen und Familienzentren gebucht, manchmal auch in Rathäusern und Gemeindesälen. Yvette machte die Verträge und überwies uns dann unseren Anteil. Es hatte sich eingespielt, dass Antonia, Yvette und ich oft zu diesen Veranstaltungen fuhren. Freigunda nie (kein Bock, keine Zeit), Rike selten (keine Zeit, weil Job), und für Anuschka war es oft zu weit. Außerdem hatte sie gerade in der Schule ordentlich zu tun. Das lief ganz gut mit diesen Auftritten, wie Yvette das nannte, weil sie Vortrag zu schnarchig fand. Ich machte das so mittelgern, zumindest nicht so gern wie Yvette, die für Aufmerksamkeit vermutlich alles getan hätte. Wenn ich die Reise mit dem Containerschiff buchte, wäre danach das Konto wieder leer, aber es gab noch einen Vortrag am Anfang der Herbstferien. Dann hätte ich wieder ein bisschen was, um in Marokko irgendwas Schönes zu kaufen.

Ich schrieb mir zwei Telefonnummern von Reiseveranstaltern auf, die Schiffsreisen nach Marokko anboten. Da müsste ich am nächsten Tag anrufen, obwohl ich anrufen hasste. Ich schrieb eine Mail. Mann, war ich gut. Ich war richtig kribbelig. Eine Schiffsreise. Dann war ich doch wieder eine Abenteurerin. Mit Absicht diesmal sogar. Okay, mit Eltern, aber mit einem Schiff. Auf dem Meer!

An dem Abend kam noch ein neues Video von Bea, und für mich sah jetzt alles anders aus, jetzt wo ich beschlossen hatte, zu ihr zu fahren. Dann könnte ich das alles mit eigenen Augen sehen, was ich bisher nur auf dem Bildschirm gesehen hatte.

Video 4

Pferdewagen, klappriges Pferdchen, klappriger Wagen, klappriger Mann. Der Wagen eigentlich ein Autoanhänger, oben ragen trockene Wurzeln und Äste raus.

Ein Fels ganz einzeln, grauweiß, als hätte ein Riese seinen Kaugummi hingeklebt.

Eine moderne hellblaue Eisenbrücke, Kinderhände, huhu.

Eine Siedlung wie aus einem Stück, ein einziges langes lehmverputztes Stück mit kleinen schwarzen Schießscharten als Fenster. Haus an Haus, weißes Minarett, Ort vorbei.

Strommast vom Typ Skelett einer Rakete, ein Skelettschnabel nach Norden, ein Skelettschnabel nach Süden, ein Skelettschnabel nach Osten. Der Ort ist drei Leitungen groß.

Arabische Musik. Arabische Musik aus.

«Fingers weg von die Knöppe. Frag mich, wenn du was willst.»

«Können wir Musik hören?»

«Nein.»

Kamera zu ihm, eine Aufwachfrisur, Raucharm aus dem Fenster, schwarzes T-Shirt: Indianerhäuptling, Kopf gereckt, Indian Motorcycle.

«Sei nicht sauer, Hase, Arsch voll Ärger, Kopf brummt wie ein Rathaus, und jetzt ist dein Pass auch noch weg. Wenn jetzt Musik läuft, überhitz ich und fahr uns gegen einen Baum.»

Kameraschwenk aus dem Fenster auf Beas Seite und ihre Stimme: «Hier ist gar kein Baum.»

Langes Aus-dem-Fenster-Filmen.

Der Horizont ist fast nie gerade, er geht hoch, geht runter, fällt schroff ab, steigt sanft an, Geröllfeld, wieder Häuser.

Neue andere Würfel, alte graubraune, dreckiges Rosa, kleine Fenster. Lange Wäscheleinen, eine, noch eine und so weiter, den ganzen Ort entlang, Trainingshosen, Jeans, Fleecejacken, Oberteile mit Schrift, grün, weiß, schwarz, Adidas.

Beas Stimme: «Sagst du mir, was du für Probleme hast?»

Pim: «Nicht im Traum.»

Bea: «Und wenn ich bitte, bitte sage?»

Pim: «Auch nein. Glaubst du mir einfach, dass es besser ist, wenn du das nicht weißt?»

Bea: «Nicht im Traum.»

«Gut, dann sag mir, warum du hier bist.»

«Nee.»

«Deine Mutter weiß nämlich doch nicht, wo du steckst. Überraschung!»

«Hast du sie angerufen?»

«Nee. Aber ich hab vorhin mal das schlaue Internet gefragt, und das sagt, dass du gesucht wirst. Irgendwie hast du vergessen, das zu erwähnen, als du mich hier überfallen hast.»

Pause.

«Ich bin echt sauer, und jetzt kann ich dich ohne Pass nicht mal aussetzen. Und zur Polizei kann ich gerade auch nicht.»

«Warum?»

«Also ganz aktuell, weil ich gerade eine Tour habe bis zum Wochenende. Und alles wie immer straff getimt.»

«Du kannst auch einfach bei der Polizei anrufen.»

Er lacht. «Theoretisch.»

«Warum?»

«Maaann! Du hast deine Geheimnisse, ich meine. Was ist zum Beispiel mit deinem Bein los?»

«Nüscht.»

Pim: «Ja, seh schon, bin dein großes Vorbild. Na, fein. So, Kalli hat Durst. Gibt gleich was.» Kamera auf ihn, der das Armaturenbrett des LKWs tätschelt. Dann Blick zu Bea. «Musst du mal für kleine Wühlmäuse?»

Brummeln von Bea.

«Aber zu Pommes-Cola sagst du nicht nein, oder? Die Tanke, die kommt, ist fünf von fünf Tipptopppunkten. Sehr saubere Dusche. Ich muss eh Pause machen, kommt die Wolle runter.» Er fährt sich durch die rotblonden Strubbellocken. «Suppensieb kommt auch ab.» Er reibt sich den Bart. So ein harter Ton, als könnte er sich die Finger dabei abraspeln.

«Radikale Typveränderung.»

Beas Stimme: «Auf der Flucht?»

«Und selbst?»

Aus-dem-Fenster-Aufnahmen:

Rotlehmiger Anstieg, Geröllfelder, daneben saftiges, gewässertes Grün, Anbau.

Dann die Tankstelle, wie über Nacht aus der Landschaft gewachsen, alles bereit, falls an diesem Tag jemand kommt, und es kommt jemand: Bea und ihr Vater, sag Pim.

Die Tankstelle und alles drum rum ist eine Explosion an schön, wegen der Farben schön, wegen der Klarheit schön, wegen der Sonne und den kontrastreichen Schatten. Ein blaues Metallkonstrukt, zwei Pfeiler, ein Bogen, alles intensivblau lackiert. So wie der Himmel gerade aussieht. Dasselbe Blau. Riesige weiße Buchstaben auf dem Bogen. Afriquia. Wie direkt auf den Himmel geschrieben.

«Wow!», sagt Beas Stimme.

«Und die Dusche erst», sagt die Männerstimme.

Ich schrieb: «Geht es dir gut?»

Ich konnte mir die Frage mit den Videos auch selbst beantworten. Es ging ihr nicht gut. Die Stimmung zwischen den beiden war komisch. Sie hatte bestimmt gedacht, dass sie sich super verstehen würden, weil sie sich so ähnlich waren. Hatte zumindest Beas Mutter wohl immer behauptet. Warum war sie zu ihm gegangen? Echt wegen der Knie-OP? Weil sie immer was erleben wollte? Immer wegwollte? Wo ist eigentlich weg? Und wenn man da ist, merkt man das dann überhaupt?

Ich schrieb: Bea, kann ich was für dich tun?

Warum schrieb sie nichts? Pernille Waserfall und Sina Mann hatten recht. Ich hatte einfach nur damit angegeben, so eine coole Freundin zu haben. Sie erzählte mir gar nichts. Na gut, sie erzählte niemandem was. Mir schickte sie zumindest Videos. Da war auch schon das nächste.

Video 5

Ein Glas, Hälfte Cola-farbene Flüssigkeit, Hälfte Luft, Eiswürfel schon klein. Glas steht auf einer Menükarte aus Papier, eine Seite Französisch, andere Seite Arabisch. Fotos von Fleischspießen, Fleisch in Brottasche. Ein gezeichneter Junge, sehr glücklich, weil er eine Tüte Pommes und einen Hamburger hat. 35 dh.

Beas Hand greift nach dem Glas. Aus dem Fenster filmen. Eine sonnenknallig leuchtende Terrakottawand, Terrakottatöpfe mit Palmen mit Wedeln, deren Schatten auf der Hauswand alles nachtanzen. Daneben vier dunkelblaue Emailleschilder, Mosque Hommes drunter auf Arabisch, Mosque Femmes drunter auf Arabisch, Salle d’ablutions Hommes, daneben Femmes, darunter arabisch.

Aus der Richtung Salle d’ablutions Hommes kommt Beas Vater, sag Pim, er läuft seinen Körper ruhig auf die Kamera zu, alles sicher und gleichmäßig. Er sieht so normal aus, aber es ist auffällig, was er alles nicht tut, nicht schwanken, nicht eiern, nicht hopsen, nicht zögern, jede Bewegung schmerzfrei und sicher.

Etwas ist anders: Bart und Haare ab. Sein Gesicht liegt brach.

An der Scheibe, hinter der Bea sitzt, bleibt er stehen, trommelt grinsend dagegen. So eine Freude über die Verwandlung. Dann kommt er rein, Kamera zur Tür, über der Tür, links und rechts neben der Tür: Afriquia, Afriquia, Afriquia.

«Na, ein Babypopo mit Augen, oder?» Er streichelt die glatten Wangen, Augenbrauen hoch und runter gewackelt. «Zehn Jahre jünger, oder? Wenn man die nur in echt einfach abrasieren könnte. Haste was gegessen? Wo ist dein Teller? Haste nichts gegessen? Willste was essen? Mach mal das Ding aus.» Pim mit einem Blitzen in den Augen wie der Weihnachtsmann.

Ding aus.

Ich sah mir das Video noch mal an. Ich wusste nicht, ob ich Beas Vater leiden konnte. Mal war er so brummig und dann so albern. Und immer diese knappen Anweisungen. Komm, sitz, bleib, iss. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Bea gefiel. Die war ja selber so. Und wenn man selber so ist, dann musste das schwer sein, sich so behandeln zu lassen. Bea war auch oft brummig gewesen und so knapp mit dem, was sie sagte. Komisch, dass ich das bei ihr so cool fand, aber bei einem stämmigen Typen nicht. Er machte außerdem ständig Sprüche. Nee, ich mochte den nicht. Ich hatte ihn mir ganz anders vorgestellt, als Bea von ihm erzählt hatte. Vielleicht hatte sie ihn anders in Erinnerung gehabt.

«Brauchst du Hilfe?», schrieb ich. War doch sinnlos. Sie würde nur wieder das nächste Video schicken. Aber irgendwas wollte sie mir damit sagen. Sie erzählte mir schon etwas, aber sehr umständlich. Ich musste alles alleine zusammendenken.

Kajtek furzte und rappelte sich erschrocken hoch. Das war nicht gut. Das hieß, er würde Durchfall bekommen und musste schleunigst raus aus meinem Zimmer und am besten auch aus dem Haus. Ich hatte ihn in Bestzeit runtergetragen, jede Sekunde zählte, Schuhe an, Hund raus. Über die zwei Stufen vor dem Haus lag ein Brett als Rampe für Kajtek. Er konnte verblüffend schnell sein, wenn es darum ging, mit Durchfallantrieb den Rasen zu erreichen. Leider blieb er nie stehen, wenn er Durchfall hatte, sondern lief immer weiter, als könnte er davor weglaufen. Hundelogik. Bevor ich die Erde draufschmeißen konnte, die meine Mutter extra für diese Situationen neben der Treppe bereitgestellt hatte, stand meine Mutter schon in der Tür.

«Ach, Mann!», sagte sie traurig. Sie klang oft so, als wäre Kajtek schon unter dem Rasen anstatt mit jetzt ziemlich guter Laune darauf.

«Vielleicht müssen wir noch mal Frau Dr. Sommer anrufen.» Wieder dieser Tonfall. Was ich ihr hoch anrechnete, war, dass sie nie über die Sauerei selber klagte, sondern immer nur über den armen alten Hund, den sie so bedauerte.

«Nein, die hat gesagt, dass es normal ist.» Ich auch mit dem üblichen Tonfall, wenn es darum ging. Ich holte einen der bereitliegenden Polappen und machte Kajtek sauber, der darauf bestand, am Ende am Polappen zu riechen. Muss man nicht verstehen.

«Soll er wieder hoch?», fragte mein Vater vom Sofa aus.

«Nee.»

Ich gab allen dreien ein Gutenachtküsschen und drehte mich an der Tür noch mal um. «Wollen wir in den Herbstferien nicht mal verreisen?»

«Das wäre schön», fand meine Mutter, und mein Vater blödelte rum, dass er seine Chefin fragen würde, ob er Urlaub bekäme. Er grinste meine Mutter an.

In meinem Zimmer musste ich erst einmal das Fenster aufreißen, um Kajteks Furz rauszulassen. Es hatte angefangen zu regnen, und ich schaute eine Weile raus. Ich stellte mir vor, dass jeder Tropfen ein Meer wäre, in dem ganz kleine Schiffe fuhren, ein jedes mit einer anderen Geschichte und Mannschaft. Ich hielt meine Hand aus dem Fenster und fing eine Geschichte auf.

Von den Reiseanbietern war noch keine Antwort da, aber ein neues Video von Theresa, also Bea.

Video 6

Ein leeres Glas, noch ein leeres Glas, zwei leere Teller, Ketchup-Schmiererei, Pommes-Wischspuren. Kamera raus. Pim steht draußen auf dem Parkplatz, die Augen finster und klein, die Augenbrauen zu Fäusten geballt. Er spricht laut, schreit, beschimpft irgendwas. Da ist niemand, nur jemand in der Freisprecheinrichtung im Ohr. Pim breitet die Arme aus, Nicht-dein-Ernst-Bewegung, dann Hand an den Kopf, Ich-glaub’s-nicht-Griff, dann beide Arme hoch, runter, dann setzt das unsichtbare Orchester ein, alle Instrumente. Er geht zu einem LKW, dunkelblau wie eine Papiertonne. Schriftzug in Weiß, schräg geschrieben, als ob es Geschwindigkeit zeigen soll: Worldwide Surmann.

Bea steht auf, Stuhlbein kreischt auf Fliesen. Bea rennt, Bild schaukelt, Raststättenboden, Fliesen, Ausgangstür, Afriquia, Afriquia, Parkplatzboden, Beas Schuh, anderer Schuh, raschelnde Jacke, Windgeräusch.

Pims Stimme lauter, lauter, noch lauter: französisch, laut, einige Buchstaben gepresst, eine Verfluchung, Druckventil Mund lässt Druck ab, Wörter, die nach Beschimpfungen klingen, einzeln hervorgestoßen, du bist ein – französisch – was, und ein elender – französisch – irgendwas, verdammter … Explosionsbuchstaben, die aus seinen Lippen fliegen.

Pim auf der Metalltreppe zum Fahrerhaus, dunkelblau, Tür auf, Pim schon halb drin.

Eine weitere Männerstimme, mecker, mecker, aufgeregt. Die Stimme kommt angerannt.

Pims Oberkörper taucht wieder aus dem Fahrerhaus auf, Blick nach draußen zu Bea: «Machst’n du hier?» Zu jemand hinter Bea: französisch, beruhigend, erklärend. In die Freisprecheinrichtung: knappe Information, jemanden hinhalten. Zu Bea: «Hab ich gesagt, dass du mir nachrennen sollst? Hab ich das gesagt?»

Beas Stimme, verblüfft: «Nein?»

«Warum bist du mir dann nachgerannt? Natürlich denkt der dann, dass wir hier die Zeche prellen. Hast du gedacht, dass ich ohne dich wegfahre? Ernsthaft? Ja? Vielleicht bin ich nicht der beste Vater, aber ich bin kein Arschloch. Klar?»

Männerstimme von der Seite, französisch, ob denn jetzt mal bezahlt wird, die Pommes und die Cola und das Wasser?

Pims relativ freundliches Gesicht, französisch, Zustimmung, Beruhigung, natürlich, sofort.

Schritte weg vom Mikrophon.

Der intensivblaue Eingang zur Tankstelle, Afriquia, Afriquia, Afriquia, in alle Himmelsrichtungen Afriquia.

Pims Gesicht finster, in die Freisprechanlage, in die Gegend, zum Himmel hoch, ein scharfer Satz, nur zwei Worte zu verstehen: Pass. Erpressung.

Der Himmel antwortet nicht.

Am nächsten Morgen klebte ein Traum an mir. Sina Mann hatte Schlangen auf meinen Bauch gelegt, und die Schlangen waren durch meinen Nabel in meinen Bauch gekrochen, und als sie wieder rauskamen, waren sie grün, und daher wusste die Polizistin, dass ich log. Der Schlangentest, Dinge, die im Traum Sinn ergeben. Weil Sonnabend war, konnte ich noch liegen bleiben, aber alle Gedanken lagen mit mir im Bett, und ich ging lieber duschen. Meine Laune blieb trotzdem ein Matschhaufen. Ich setzte mich zum Frühstücken in die Stube.

«Kann ich einen Film kucken?»

Mein Vater suchte in seinem Vaterkatalog nach einer Vaterantwort und fand «Hast du Hausaufgaben?» eine gute Antwort.

Ich schüttelte den Kopf. Ich wurde inzwischen immer geübter im Lügen, aber es war nicht schön, in etwas gut zu werden, das schlecht war. Das war genauso wie in etwas schlecht zu sein, das gut war, nur dass dann vielleicht noch jemand Mitleid mit einem hätte, wenn es rauskäme. Ich wollte gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn rauskäme, dass ich doch etwas über Beas Verbleib wusste. Das war so anstrengend, und eigentlich war es Scheiße von ihr, mich damit zu belasten und dann auch noch als Einziges zu schreiben, dass ich es niemand sagen durfte. Warum behielt sie dann nicht gleich alles für sich? Vielleicht wusste sie das selber nicht so genau? Ich wollte nicht schon wieder darüber nachgrübeln. Ich schaltete den Fernseher ein und schaltete durch bis zu einem alten Film namens «20000 Meilen unter dem Meer». Eine Kampfszene mit einem Riesenkalmar, der aussah wie eine Schnecke mit angeklebten Gummiarmen, die auf einem Spielzeug-U-Boot herumwackelt.

«Was kuckst du dir denn an?», meine Mutter ließ sich neben mich aufs Sofa plumpsen. «Was für lustige, billige Tricks. Kuck doch mal!», lachte sie. «Wo man so genau sieht, dass das Tricks sind. Das sind die besten.»

«Weißt du noch, wie du mir früher immer diese Seefahrergeschichten erzählt hast?»

«Klar.» Sie legte ihren Arm um mich. «Weil du so ein Schissi warst und ich mir für dich gewünscht habe, dass du ein bisschen mutiger wirst. Und hat ja auch geklappt.» Sie küsste mich. «Große Abenteurerin.»

Ich zuckte erst mal mit den Schultern. Ja, nein, vielleicht. Okay, ein bisschen schon. Eine große Abenteurerin der Organisation, denn vor ein paar Tagen waren die Unterlagen des Reisevermittlers per Mail gekommen. Damit die Überraschung für meine Eltern perfekt wurde, musste ich abenteuerlich ausdrucken, abenteuerlich ausfüllen, bestätigen, dass wir drei volle Mobilität besäßen und eine gute Gehfähigkeit, Treppen und Stufen steigen konnten, auch steile Treppen und hohe Stufen, auch die Gangway auf das Schiff, auch mit Gepäck. Das alles war nötig, weil kein Arzt an Bord war. Ein ärztliches Attest war Gott sei Dank nur bei Personen über fünfundsechzig Jahren nötig. Ich musste unterschreiben, dass niemand schwanger ist, dass wir alles gelesen und verstanden hätten und uns klar war, dass ein Frachtschiff zur Ladungsbeförderung vorgesehen ist und sich darum die Ablege- und Liegezeiten nach den Ladungserfordernissen richten. Dann noch drei Haftungserklärungen, die Reisepässe kopieren, die Unterschriften fälschen. Ich musste abenteuerlich überweisen, abenteuerlich ein Hotel buchen und abenteuerlich mit dem Agenten in Rotterdam Kontakt aufnehmen, auf Englisch.

Ich musste organisieren, dass Magoscha allein die Arbeit meiner Eltern übernahm in der Zeit. Ich versprach ihr einen Zuschlag, und sie war begeistert, weil meine Eltern in all den Jahren nicht einmal Urlaub gemacht hatten und weil ich so ein liebes Kind sei. Severine würde sich um Kajtek kümmern. Die beiden kamen gut miteinander aus, und auch Severines Eltern fanden, dass ich ein liebes Kind und das ja so aufregend sei. Wann ich es meinen Eltern sagen wollte, fragten sie? Wenn alles erledigt ist, sagte ich, denn ich hoffte, dass sie dann auf keinen Fall nein sagen konnten.

Dann war alles erledigt von meiner Liste, was ich zu organisieren hatte. Hatte auch alles geklappt. Ich hatte sogar die Zusatzpunkte, viel über Marokko lesen und mit Mama und Papa nebenbei immer wieder über das Meer und Schiffsreisen reden, abgearbeitet. Meine Eltern bekamen jedes Mal das Seufzen, wenn es um Schiffsreisen ging. Ja, das wäre schön. Eines Tages würden wir das mal machen, sagten sie, und nur ich wusste, dass eines Tages näher rückte.