Mädchenname - Ava Lennart - E-Book

Mädchenname E-Book

Ava Lennart

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Beschreibung

Die Juristin Julia steigt aus. Sie verlässt ihren spröden Freund und bewirbt sich spontan auf eine Stellenanzeige als Assistentin in einem Millionärshaushalt an der Côte d’Azur. Mit allen Sinnen genießt sie den Luxus und findet langsam wieder zu sich selbst. Der charmante Sohn des Hauses umgarnt sie, doch der Gärtner des Anwesens Mirabel weckt Gefühle, deren Intensität sich Julia nicht entziehen kann. Eine Saison, die mit Prickeln beginnt, wird bald zu einer emotionalen Achterbahnfahrt. Spätestens als sie ein wohl gehütetes Familiengeheimnis aufdeckt, muss Julia sich eingestehen, dass es in der Liebe keine Garantien gibt. Diese Sommerliebe hat ihr Leben verändert. Aber kann sie auch über Julias Zukunft entscheiden?

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Seitenzahl: 533

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MÄDCHENNAME

KÜSSE AUF MIRABEL

AVA LENNART

Copyright © 2015 by

Zoch/Kapfhamer, Ava Lennart GbR

Liesl-Karlstadt-Str. 19

82152 Planegg

[email protected]

www.avalennart.com

www.facebook.com/AvaLennart

Coverdesign: AGENTSY, Sylvia Togni

unter Verwendung eines Fotos von VeronikaCH bei iStockphoto.com und von eyewave bei Fotolia.com

Lektorat/Korrektorat: Kornelia Schwaben-Beicht, ABC-Lektorat

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

„Ich habe was gegen Millionäre, aber wenn ich die Chance hätte, einer zu werden, könnte ich für nichts garantieren.“

Mark Twain

HIGH NET WORTH INDIVIDUAL

„Vielleicht heirate ich ja auch einen Millionär?“ Julia Sandhagen schob ihren leeren Teller zur Seite und strahlte ihre Freundin Stella an.

Stella grinste. „Mach ruhig. Solange du mich auf deine Yacht einlädst, erlaube ich dir das.“ Sie freute sich, dass Julias anfängliche Trauer weg war. „Nun lies schon vor, was das für ein geheimnisvoller Job sein soll!“

Julia hob theatralisch die Brauen und las die Anzeige vor:

„Für einen langjährigen Kunden suchen wir zur Ergänzung des Teams auf einem Anwesen an der Côte d‘Azur im Zeitraum Juni bis August ein Personal Assistant, der/die auch eine zeitlich überschaubare Betreuung eines distinguierten älteren Herrn mit vorübergehender Immobilität übernimmt. Erfahrung aus der Assistenz von High Net Worth Individuals ist wünschenswert. Weiteres Personal für Reinigung, Garten etc. sind vorhanden. Die gut dotierte Position bietet sehr angenehme Arbeitsbedingungen bei erstklassiger Kost und Logis. Umfang ca. 30 Stunden bei einer 5-Tage-Woche.

Bei Interesse und Qualifikation senden Sie uns bitte Ihre vollständigen Bewerbungsunterlagen.“

Julia ließ den Zeitungsausschnitt sinken.

„Das ist nicht dein Ernst, Julia?“ Stella schaute sie ungläubig an. „Du bist doch Juristin! Und was um Himmels willen ist denn dieses High Net Dingsda überhaupt? Hört sich pervers an.“

Julia verdrehte die Augen. „Es heißt ‚High Net Worth Individual’. Das ist ein anderes Wort für Millionäre. Aber ich gestehe, ich musste das auch erst googeln.“ Schmunzelnd faltete Julia die Seite mit der Stellenanzeige wieder zusammen und steckte sie in ihre Handtasche.

Stella kratzte nachdenklich den Milchschaum aus ihrer Cappuccinotasse. Ihr gemeinsamer Lunch im Kölner Café Alcazar war schon beendet, und sie hätte eigentlich wieder in ihre psychotherapeutische Praxis gemusst, die sie zusammen mit ihrem schwulen Sandkastenfreund Bernd im Belgischen Viertel in Köln betrieb. Aber der unwirtliche Nieselregen vor den Fenstern, der den Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite verschleierte, hielt sie beide auf ihren Plätzen, und sie hatten sich lieber noch einen Kaffee bestellt.

Stella betrachtete ihre beste Freundin genauer. Sie hatten sich seit Monaten nicht mehr gesehen. Ihr gemeinsamer Trip in ein Wellnesshotel auf Elba lag über zwei Jahre zurück. Mehrfach hatte Julia Treffen mit ihr aus fadenscheinigen Gründen abgesagt, was Stella sehr verwundert hatte. Sie selbst, frisch verheiratet mit Steven und mit Kleinkind und Praxis viel um die Ohren, hatte sich sogar ein Wochenende freischaufeln können, um Julia in Zürich zu besuchen. Aber Julia hatte drei Tage vorher wegen eines angeblichen Fristenablaufs bei einem wichtigen Rechtsstreit abgesagt. Ein Ersatztermin war nie Thema gewesen. So war es gekommen, dass sie sich seit Stellas Hochzeit letzten Oktober, also ganze sechs Monate, nicht getroffen hatten.

Aus heiterem Himmel hatte sich Julia aber gestern gemeldet und darum gebeten, ab dem nächsten Tag bei Stella unterzukommen. Vor Freude war Stella mit ihrem glucksenden Töchterlein durch die Wohnung getanzt. Steven hatte angeboten, Antonia von der Krippe abzuholen, damit sie nach Julias Ankunft in Ruhe lunchen könnten.

Stella hatte bereits seit einiger Zeit aus der Ferne die Entwicklung ihrer Freundin kritisch beobachtet. Ihr war aufgefallen, dass Julia trotz oder gerade wegen der vermeintlich blendenden Karriere immer weniger Zeit für die schönen Dinge des Lebens zu bleiben schien.

Julia sah mitgenommen aus, obwohl sie nach Stellas Auffassung mit Überschreiten der dreißig an Attraktivität gewonnen hatte. Vor einem knappen Jahr, zu ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag, hatte sich ihre Freundin von ihrem langen dunkelblonden Haar getrennt und sich einen Bob schneiden lassen. Zum Glück waren die wunderschönen vollen Haare inzwischen wieder gewachsen.

Feine Lachfältchen um Mund und Lider unterstrichen die intelligent blickenden grauen Augen Julias. Ihr in Teenagerzeiten recht extravagantes Outfit war einem dezenteren Stil gewichen. Dies hatte auch mit ihrer beruflichen Entwicklung als Justiziarin in einem großen Schweizer Energiekonzern und ihrer Beziehung mit dem erfolgreichen Partner einer internationalen Großkanzlei zu tun. Marcus Sowieso – seinen Nachnamen konnte sich Stella noch nie merken. Julia war vor vier Jahren der Liebe wegen in die Schweiz gezogen und dort geblieben. Stella hatte ihre Freundin in Köln seitdem schmerzlich vermisst.

Bereits bei der Begrüßung war Stella der unbekannt herbe Zug um Julias Mund aufgefallen. Noch bevor der Kellner die Bestellung aufgenommen hatte, war es aus Julia herausgesprudelt.

„Stella, es tut mir so leid, dass ich in letzter Zeit so furchtbar war.“

„Furchtbar? Ich würde es eher als abwesend bezeichnen.“

„Ja, ich weiß. Es lag allein an mir. Ich würde es ja gerne auf die Arbeit schieben. Oder auf Marcus ...“

Julia runzelte bei der Erwähnung ihres Freundes derart die Stirn, dass Stella bereits ahnte, was jetzt anstand. Sie ergriff in einer tröstenden Geste Julias Hand.

Diese räusperte einen Kloß in ihrem Hals fort. „Wie du dir schon denken kannst … ich habe Marcus verlassen. Es ging einfach nicht mehr.“

Stella, die dem konservativen Marcus noch nie etwas hatte abgewinnen können, schwieg.

Julia hatte während eines Praktikums in Zürich diesen in ihren Augen wunderbaren Mann getroffen. Hals über Kopf brach sie ihre Zelte in Köln ab und zog zu ihm nach Zürich. Schon bald stellte sich heraus, dass Marcus ein sehr „einnehmendes“ Wesen hatte. Als Stella Julia auf Marcus’ krankhafte Eifersucht ansprach, zuckte diese nur mit den Schultern und behauptete: „Er liebt mich eben sehr.“

Die wenigen Male, die Stella Marcus erlebte, schürten in ihr jedoch Zweifel daran, Marcus könnte jemand anderen als sich selbst lieben. Ihrer Freundin Julia zuliebe, die so glücklich schien, hatte sich Stella jedoch jeglichen Kommentar verboten. Bevor Stella mit Steven zusammengekommen war, war sie ohnehin keine gute Adresse als Ratgeber in Beziehungsfragen gewesen – zumindest im privaten Umfeld.

Mit einer kleinen Prise Genugtuung stellte sie jetzt fest, dass ihr damaliger Instinkt sie anscheinend nicht getrogen hatte.

Julia stöhnte nur. „Vier verlorene Jahre. Vier!“ Sie vergrub kopfschüttelnd ihr Gesicht in den Händen. „Kannst du dir vorstellen, dass wir sogar eine Weile lang erfolglos versucht haben, ein Kind zu zeugen?“

Stella schaute erstaunt zu ihr hin. „Aber ich dachte, ihr hättet das Thema fallen gelassen? Ihr seid doch noch nicht mal verheiratet gewesen.“ Im selben Moment, in dem sie diese naiven Worte ausgesprochen hatte, schüttelte sie über sich selbst den Kopf, schließlich war sie auch schwanger geworden, bevor sie Steven geheiratet hatte.

Wenigstens führte diese Aktion bei Julia zu einer kurzen Erheiterung. „Ich weiß, warum du das fragst. Weil man bei einem Typen wie Marcus einfach erwartet, dass die Eheschließung vor der Zeugung erfolgt. Ganz traditionell.“

Stella nickte, während Julia verbittert aus dem Fenster in den trüben Nebel starrte und an ihrer Unterlippe nagte. „Er hat doch tatsächlich gesagt, er wollte erst mal sehen, ob ich überhaupt fruchtbar bin, bevor er mir seinen Namen gibt“, flüsterte Julia, den Blick immer noch im Nirgendwo.

Stella konnte sich ein verächtliches Schnauben nicht verkneifen.

Julia wandte sich ihr zu, ihren ansonsten schönen Mund zu einer Linie verkniffen. „Es ist alles meine eigene Schuld. Ich habe mir das viel zu lange gefallen lassen. Wer hätte gedacht, dass meine Sehnsucht nach einem Mann in meinem Leben so groß ist, dass ich mich über Jahre so demütigen lasse? Und dann noch von einem solchen Idioten! Aber damit ist jetzt Schluss!“

Rigoros hatte sie einen Schluck aus ihrem Wasserglas genommen. In diesem Moment hatte der Kellner das Essen gebracht. Wie um ihren neu gewonnenen Aktionismus zu unterstreichen, hatte Julia energisch ihr Spargelrisotto aufgegabelt.

„Und du hast ihn jetzt abgesägt?“, fragte Stella nach.

„Genau, nachdem er meine Eier mit vertrockneten Pflaumen verglichen hatte, war meine Schmerzgrenze erreicht.“

„Wie bitte? Was hat er?“ Stella ließ fassungslos die Gabel sinken.

Da brach Julia in schallendes Gelächter aus, sodass die älteren Herrschaften am Nachbartisch leicht irritiert herüberblickten. „Ja, stell dir vor! So ein Idiot!“

Stella freute sich, wie in diesem Moment die alte Julia, die sich zu Zeiten vor Marcus souverän und selbstbewusst durchs Leben bewegt hatte, wieder durchschimmerte. Dann fragte sie kauend: „Und wo wohnst du jetzt? Warum hast du mich nicht früher angerufen?“

Als sie ihre Freundin in Marcus’ Penthouse in der noblen Zürcher City zum ersten Mal besucht hatte, konnte sie zwischen dem maskulinen Chrom-Stahl-Ambiente außer einem antiken Stuhl, den Julia aus ihrer Altbauwohnung in Köln mitgenommen hatte, keine weiteren Spuren von Julias altem Leben entdecken.

Julia verzog ihr Gesicht. „Erst war ich eine Woche bei meinen Eltern. Das hat mich allerdings noch mehr Nerven gekostet, weil mein Vater überhaupt nicht verstehen konnte, weshalb ich einen so guten Fang wie Marcus einfach sausen lasse. Ich wollte dich nicht stören, weil ich weiß, du hast grad selbst so viel um die Ohren mit Praxis und Kind.“

„Spinnst du? Du bist meine beste Freundin! Für dich habe ich immer Zeit und Platz. Insbesondere, wenn du Kummer hast und nicht weißt, wohin.“

Julia sah Stella nur vielsagend an und holte aus ihrer Handtasche ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor. „Das ist lieb von dir. Ich habe aber eine viel bessere Lösung. In Kürze bin ich weg. Ich verbringe diesen Sommer in Südfrankreich.“ Julia wedelte mit dem Stück Papier vor Stellas Nase herum.

„Weg? Was meinst du?“

Julia holte tief Luft. Sie entfaltete das Blatt, und Stella erkannte eine Zeitungsseite, augenscheinlich eine Stellenanzeige. „Ich habe mich auf diese Stelle hier beworben und sie – warum auch immer – bekommen. Ich werde also den Sommer an der Côte d’Azur verbringen.“ Jetzt vergnügt, blitzte Julia Stella an und tippte auf eine Anzeige an exponierter Stelle in eleganter Schrifttype.

Stella blieb der Mund offen stehen. Sie hatte tausend Fragen. „Und dein Job? Und danach? Was ist das überhaupt für ein Job?“

Julia neigte sich vor. „Mein Job in Zürich war sowieso furchtbar. Den hätte ich, genau wie Marcus, schon längst schmeißen sollen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es mir gegen den Strich ging, mich nur noch mit Strom und Gas, Kilowatt und Netzbetreibern zu beschäftigen. Was danach kommt, weiß ich noch nicht. Vielleicht heirate ich ja auch einen Millionär?“

Und dann hatte Julia Stella die geheimnisvolle Stellenanzeige vorgelesen.

Nachdem sie noch eine Weile in den Möglichkeiten, die ein solcher Sommer für Julia barg, geschwelgt hatten, hielt Stella plötzlich inne.

„Du weißt aber schon, dass du dir für dieses Abenteuer eine ordentliche Garderobe zulegen musst, oder?“

„Aber ich habe doch eine ordentliche Garderobe!“

Stella rollte die Augen. „Ja, klar, du hast deine Anwältinnen-Outfits. Aber das meine ich doch gar nicht.“

Julia blickte Stella stirnrunzelnd an.

„Jetzt denk doch mal nach, Julia! Du wirst in Südfrankreich sein. Mit Superreichen. Klingelt es? Cocktailpartys, Yachtausflüge, Golf-Events ...“

„Oh Gott, du hast recht!“, fiel es Julia offenbar wie Schuppen von den Augen. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Meinst du, ich muss mit den Leuten dann überall hin? Was muss ich mir denn da alles anschaffen …?“ Sie schaute Stella nachdenklich an.

Um Stellas Mundwinkel spielte bereits ein verschmitztes Lächeln. „Ich glaub, ich hab da bereits eine Idee“, sagte sie und zückte ihr Handy. „Elena kann uns sicher helfen. Sie kennt einige Jetset-Damen. Meine Schwester hat mir mal erzählt, diese Damen hätten ganze Kleiderzimmer. Und ich meine Zimmer und nicht Schränke! Ich ruf Elena mal an.“

Zwei Tage später traf Julia Elena am Friesenplatz. Elena war Stellas zehn Jahre jüngere Schwester, arbeitete als Model und sah auch an diesem Tag einfach umwerfend aus.

Das lag nicht nur an ihrer hochgewachsenen Figur, die in der schlichten schmalen Jeans und dem eng anliegenden Oberteil gut zur Geltung kam. Vielmehr hatte Elenas Gesicht eine besondere Ausstrahlung, die schwer in Worte zu fassen war. Alles schien eine Spur zu groß: die Augen, die Lippen, die Nase. Aber in der Komposition harmonierte alles zu einem stimmigen Ganzen, das insbesondere wegen Elenas natürlich melancholischen Blicks besonders anrührte. Der Modelscout, der sie, als sie gerade mal sechzehn war, in einem Drogeriemarkt angesprochen hatte, hatte dies auf den ersten Blick erfasst. Und ihr Erfolg auf internationalen Laufstegen und Hochglanzmagazinen gab ihm recht.

Julia kannte Elena schon seit deren Geburt. Schließlich hatte sie als Stellas beste Freundin deren Hand gehalten, als Stellas Mutter Katja damals mit Wehen ins Krankenhaus gerauscht war. Dennoch stand sie jedes Mal aufs Neue stumm staunend vor diesem für sie überirdisch schönen Geschöpf.

Elena hatte vor einem guten Jahr den erfolgreichen Kölner Bar- und Eventmanager Gregor de Jong geheiratet, den besten Freund von Stellas Ehemann Steven. Die Ehe schien sie noch schöner gemacht zu haben, und Elenas inneres Strahlen wärmte Julia an diesem nasskalten Nachmittag. Julia umarmte Elena herzlich.

„Hab ich Stella richtig verstanden? Du hast deinen Anwaltsberuf an den Nagel gehängt?“, fragte Elena sie als Erstes.

„Zunächst einmal. Dieser Job an der Côte d’Azur, von dem Stella dir berichtet hat, ist ja nur für diese Saison. Danach habe ich, ehrlich gesagt, überhaupt noch keine Idee, wie es weitergehen soll.“

„Also ich finde das eine klasse Entscheidung. Und sehr mutig. Komm, wir gehen zu Carmen.“

Carmen war die Gattin von Elenas Entdecker und langjährigem Agenten Manni. Sowohl Manni als auch Carmen stammten aus schlichten Verhältnissen. Ihr Sinn fürs Geschäftliche und ihr Ehrgeiz hatten beide zu einer festen Größe in der Kölner Mode- und Jetset-Szene werden lassen.

„Carmens Äußeres ist ein wenig gewöhnungsbedürftig“, warnte Elena Julia schmunzelnd vor. „Aber sie ist eine Seele von Mensch und sehr hilfsbereit.“

Als Carmen lachend die Tür aufriss und Elena in ihre Arme zog, verstand Julia sofort, was Elena gemeint hatte.

Julia schätzte sie auf Anfang sechzig, und Carmen tat wohl alles, um ihr Alter zu verleugnen. Ihr Haar war pechschwarz gefärbt und ihr solariumgegerbtes Gesicht stark geschminkt. Sie hatte gegelte Nägel mit Strassapplikationen. Julia meinte zu erkennen, dass die fuchsiarosa geschminkten Lippen verdächtig aufgepumpt waren. Carmens Outfit, das an einer Sechzehnjährigen vermutlich sexy gewirkt hätte, ließ Julia zweifeln, ob Carmen dieselbe ästhetische Wellenlänge haben würde wie sie.

Als die mit starkem kölschen Akzent sprechende Carmen sie wie eine Tochter in die Arme nahm, war Julia etwas überrumpelt. Freudestrahlend geleitete Carmen sie in ihr „Reich“, wie sie es nannte. Und Julia musste sich eingestehen, dass Stella nicht übertrieben hatte.

Carmens Ankleidezimmer war größer als Julias Wohnzimmer in der Schweiz. Auffällig waren die Ordnung und das System, mit dem die unzähligen Schuhe, Stiefeletten, Pumps, Sandälchen, Accessoires und Taschen in jeder Farbe auf der linken Seite angeordnet waren. Auf der rechten Seite hingegen fanden sich Reihen an Regalen und Kleiderstangen, die thematisch und farblich geordnete Kleidungsstücke aller Art enthielten. Julia fühlte sich fast erschlagen von der Menge.

Carmen beobachtete sie lächelnd. „Elena hat mir erzählt, du wirst den Sommer mit Millionären an der Côte d’Azur verbringen? Das ist ja so aufregend! Ich bin sicher, wir finden was für dich“, strahlte sie Julia an.

Julia musste sich erst räuspern. „Das ist unglaublich freundlich. Mein Budget ist allerdings gerade etwas eingeschränkt ...“

„Papperlapapp, Mädchen! Du musst doch nichts zahlen! Ich hab so viel Zeug. Das ziehe ich immer nur einmal an, und dann hängt es hier rum. Kann leider nix wegschmeißen. Aber es macht mich glücklich, wenn ich weiß, ein Stück kommt in gute Hände.“

Und so verging der Nachmittag wie in einer Vorher-Nachher-Show. Carmen und Elena schwirrten um Julia herum und übertrumpften sich gegenseitig mit Vorschlägen, zu welchem Anlass sie welches Outfit tragen sollte. Erstaunlicherweise waren Carmens Vorschläge alle geschmack- und stilvoll. Ein Schielen auf die Labels ließ Julia mehrmals ehrfürchtig innehalten. Konnte sie diese Preziosen wirklich annehmen?

Carmen winkte nur laut lachend ab. Julia kam sich vor wie Cinderella und konnte ihr Glück kaum fassen, als sie auch noch passenden Modeschmuck und Täschchen verpasst bekam. Idealerweise passten sogar die Schuhe.

Manni schneite zwischendurch herein und öffnete zur Feier des Anlasses eine Flasche Schampus. Sie hatten sehr viel Spaß, und Julia bedankte sich immer wieder glückselig und überschwänglich bei Carmen und Elena.

Drei Stunden später stand Julia einen Augenblick ratlos vor dem Kleiderberg, den Carmen ihr geschenkt hatte. Sie wandte sich an die Frau. „Hast du vielleicht ein paar Tüten für mich?“

Carmen lachte schallend und betrachtete sie dann schmunzelnd. „Tüten, so, so. So jung und so bescheiden.“ Immer noch vor sich hin kichernd, verließ Carmen das Kleiderzimmer und kehrte wenig später mit einem großen Rollkoffer und dem dazu passenden Handköfferchen zurück.

War das etwa die Marke, von der Julia annahm, sie war es? Sie schluckte aufgeregt. Ging das nicht langsam zu weit? Immerhin war sie eine erwachsene Frau mit einer klassischen Ausbildung. Sie sollte wenigstens die Koffer selbst bezahlen. Dumm nur, dass sie gerade ihren Job geschmissen hatte und nach dem Sommerjob noch keinen Plan hatte, wie es weitergehen sollte. Sie sollte ihr Budget zusammenhalten.

Carmen sah wohl an Julias Mienenspiel, was gerade in ihr vorging. Beruhigend tätschelte sie Julias Arm. „Spätzelein, nun mal ganz ruhig. Weißt du, wie lange diese Koffer hier schon ungenutzt herumstehen? Fünfzehn Jahre! Ich bin früher viel gereist. Aber jetzt finde ich es zu Hause in Köln eben am schönsten. Außerdem reise ich nicht gerne mit großem Gepäck. Ich kann mir ja vor Ort alles kaufen. Da reicht auch ein kleiner Koffer.“

Carmen wartete nicht auf Julias Einverständnis und begann, die Klamotten in dem geräumigen Koffer zu verstauen. Als sie fertig waren, mussten sich die beiden Frauen auf den Koffer setzen, um den Reißverschluss festzuzurren. Carmen rieb sich eine Lachträne aus den Augen. „Ach, Kinderlein, ich hatte schon lange nicht mehr solchen Spaß. Danke euch für diesen schönen Nachmittag!“

Julia kreischte. „Bist du verrückt? Ich habe zu danken“, fiel sie Carmen zum Abschied in die Arme, und auch Elena bekam eine gehörige Portion Dankbarkeit ab.

Erschöpft, aber zufrieden klingelte Julia wenig später an Stellas Wohnungstür. Stella half ihr, den großen Louis-Vuitton-Koffer in den zweiten Stock zu schleppen. Julia mochte noch gar nicht darüber nachdenken, wie sie dieses schwere Ungetüm alleine nach Frankreich bekam.

Als sie später im Wohnzimmer vor Stella und Steven die schönsten Kleider vorführte, waren alle begeistert. Und Stella wirkte ganz aufgeregt, als sie erkannte, welche Werte Carmen Julia vermacht hatte. Selbst die erst anderthalbjährige Antonia schnappte sich eine türkis-schillernde Clutch und spielte eine Weile glucksend damit.

Langsam stieg in Julia die Vorfreude auf den Sommer am Meer. „Jetzt kann es ja losgehen!“, prustete sie und warf sich lachend neben ihre Freundin aufs Sofa.

JETSET FÜR ANFÄNGER

Der Taxifahrer setzte Julia weit entfernt vom Hauptterminal am Flughafen Zürich ab. Als sie nun die Privatjets erspähte, wurde sie aufgeregt. Jetzt war es also tatsächlich so weit! Ihre Hand zitterte unmerklich, als sie den Fahrer bezahlte.

„Muss du ausgerechnet jetzt klemmen?“, schimpfte Julia, denn der Griff ihres großen Rollkoffers bestreikte sie gerade. Und sie hatte nur eine Hand frei, da sie neben ihrer Handtasche auch noch den kleineren Koffer balancieren musste. Wenig elegant und erfolglos zerrte sie am verhakten Koffergriff. Bevor jedoch ein Schaden an ihren frisch manikürten Fingernägeln entstand, entschied sie, dass es auch so gehen musste. Schließlich konnte sie nicht riskieren, dass ihr für die Reise sorgfältig ausgewähltes Business-Outfit sabotiert wurde. Wie von Zauberhand löste sich auf einmal der Griff.

„Na also, in der Ruhe liegt die Kraft“, murmelte sie. Sie straffte ihre Schultern und begab sich in den eleganten Terminal für die Privatflieger. Kaum hatte sich die Glasschiebetür hinter ihr geschlossen, eilte Stéphane Parsdorf, ein hagerer, sommersprossiger Mittvierziger, freudestrahlend auf sie zu.

„Da sind Sie ja, meine Liebe. Haben Sie es gut gefunden?“

Julia schmunzelte, als sie Stéphane begrüßte, und vermeinte ein verschmitztes Zwinkern in seinen Augen zu erkennen. Sie kannte ihn von ihrem Bewerbungsgespräch, das etwa zwei Monate zurücklag.

Die Agentur, die die Stellenanzeige geschaltet hatte, hatte ihr die Adresse von Charles de Bertrand, dem Inhaber einer der führenden Privatbanken Zürichs, mit der Bitte um äußerste Diskretion übermittelt. Stéphane Parsdorf hatte ihr die eindrucksvolle, mit geschmiedeten Ranken verzierte Tür zu dem Haus geöffnet, in dem sie sich hatte einfinden sollen.

Da sie glaubte, Charles de Bertrand gegenüberzustehen, begrüßte sie ihn lächelnd und streckte ihm die Hand hin: „Guten Tag, Herr de Bertrand. Julia Sandhagen. Wir haben telefoniert. Es freut mich, Sie kennenzulernen.“

Ein Hauch von Irritation huschte über das Gesicht des Mannes, bevor er ihr mit einem undurchdringlichen Pokerface, das eine erfolgreiche Saison in Las Vegas versprach, entgegnete: „Herr de Bertrand erwartet Sie, Frau Sandhagen. Folgen Sie mir, bitte!“

Julia schalt sich stumm. Warum hatte sie nicht daran gedacht, dass „High Net Worth Individuals“ auf jeden Fall einen Butler hatten?

Sie folgte Stéphane durch eine imposante Eingangshalle. Der Boden war mit marmornen Intarsien ausgelegt, und die hohen, mit zarten Wandmalereien geschmückten und von Säulen getragenen Decken muteten eher wie der Petersdom in Rom an als ein Zürcher Haus. Dennoch wirkte nichts überladen, sondern geschmackvoll dezent.

Stepháne öffnete eine Flügeltür auf der anderen Seite der Halle und ließ Julia höflich den Vortritt. Sie betrat ein modernes, sehr maskulin eingerichtetes Arbeitszimmer. Linkerhand stand eine nüchtern wirkende Sitzgruppe aus Chromstahl und schwarzem Leder. Eine Längsseite des Raumes zierten Aktenschränke. Der einzige bunte Farbfleck des Zimmers war ein großes, gerahmtes Foto von einer mediterranen Villa auf der der Tür gegenüberliegenden Seite. War dies das Haus in Südfrankreich? Beim zweiten Hinsehen bemerkte sie, dass es sich nicht um ein Foto, sondern um ein sehr realistisches Gemälde handelte. Das Bild strahlte eine heitere, friedliche Stimmung aus.

Vor der Fensterfront, die den Blick auf den nahen See öffnete, stand ein Glasschreibtisch, der ebenfalls von Chromträgern unterbaut war. Auf mehreren Monitoren auf einem seitlichen Tisch erkannte Julia Diagramme von Börsenbewegungen.

Hinter dem Schreibtisch saß ein älterer Herr, den Julia auf etwa sechzig schätzte. Er trug einen dunklen, sicher maßgeschneiderten Anzug und wirkte äußerst gepflegt. Sein graues, noch volles Haar war akkurat geschnitten und von einem scharfen Seitenscheitel unterteilt. Sein Aussehen erinnerte Julia an Cary Grant. Charles de Bertrand hob bei ihrem Eintreten mit der Bitte um ein wenig Geduld die Hand. Er tippte rasch etwas in einen der Computer ein.

Dann schaute er sie an. Die jung gebliebenen Augen, die Julia freundlich ansahen, und die schlanke Figur ließen sie darauf schließen, dass Charles de Bertrand in seiner Jugend ein umwerfend attraktiver Mann gewesen war. Charmant war er immer noch.

„Frau Sandhagen. Wunderbar, dass Sie kommen konnten. Bitte, nehmen Sie doch Platz. Stéphane Parsdorf, meinen Assistenten, haben Sie ja bereits kennengelernt. Wie Sie sehen, bin ich etwas indisponiert, ansonsten hätte ich mich selbstverständlich erhoben.“ Charles de Bertrand deutete auf den Rollstuhl, in dem er saß. „Ein dummer Sportunfall. Nichts von Dauer, aber äußerst lästig im Alltag.“

Er legte seine Fingerspitzen aneinander und musterte Julia, die ihn ebenso höflich begrüßt hatte, interessiert. „Ich lese aus Ihrer Vita, dass Sie eine recht erfolgreiche Anwältin waren. Warum möchten gerade Sie diesen Job als meine Assistentin?“

Julia hatte sich im Vorfeld verschiedene Versionen als Antwort auf diese Frage, die unweigerlich kommen musste, zurechtgelegt. Sie war dennoch verblüfft, dass der Mann das Gespräch damit eröffnete. Letztlich entschied sich Julia für die Wahrheit. Gerade das stetige Taktieren, das von einer Juristin erwartet wurde, war sie leid. Mit einem kurzen Seitenblick auf Stéphane, der sich seitlich vom Schreibtisch auf einem freischwingenden Designerstuhl postiert hatte, beantwortete sie die Frage daher recht nüchtern.

„Es war einfach Zeit für einen Wechsel.“

Die knappe Aussage schien de Bertrand zu gefallen zu, denn er ließ das Thema ruhen. „Sprechen Sie Französisch?“, fragte er stattdessen auf Französisch.

Julia, die während ihrer Tätigkeit in der Schweiz hauptsächlich Großkunden aus dem französischsprachigen Raum betreut hatte und ihre Sprachkenntnisse deshalb hatte perfektionieren können, wechselte mühelos ebenfalls ins Französische.

Charles de Bertrand berichtete ihr, das Haus Mirabel an der Côte d’Azur befände sich schon lange im Besitz der Familie seiner Frau, und er würde seit seiner Verlobung dort die Sommer mit seiner Frau Inès verbringen. Er deutete mit der Hand auf das Bild der Villa und bestätigte Julias anfängliche Vermutung, dass dies ihr Wohnsitz für den Sommer sein könnte. Ihr Blick heftete sich auf die Blumen und die blauen Fensterläden, was eine unerklärliche Sehnsucht in ihr auslöste. Als würde das Haus sie rufen. Als sie sich Charles wieder zuwandte, sah dieser ihrem Gesicht wohl an, dass sie diesen Job wirklich wollte. Er lächelte nur und fuhr fort.

„Dieses Jahr will ich meinen fünfundsechzigsten Geburtstag dort groß feiern.“

Julias Bemerkung, sie hätte ihn jünger geschätzt, nahm er erfreut hin.

„Stéphane hat in der Regel den Sommer über frei und ist auch dieses Jahr familiär verplant. Ich habe mich erst kürzlich entschieden, meinen Geburtstag so groß zu begehen. Ohne Assistenz geht es daher nicht.“

Stéphane schüttelte bei diesen Worten betrübt den Kopf.

„Ausgerechnet jetzt bin ich durch den Sportunfall zusätzlich eingeschränkt. Aber keine Sorge, ich brauche keine Pflege. Ich kann sogar laufen, soll mein Bein aber schonen. Der Job beinhaltet nur leichte organisatorische Aufgaben einer Assistentin. Eventuell Unterstützung bei der Planung der Feier. Obwohl sich selbstverständlich eine renommierte Eventagentur aus Paris um die komplette Organisation kümmern wird.“

Julia hörte interessiert zu und konnte bislang keinen Grund erkennen, weshalb sie den Job ablehnen sollte. Insbesondere die auf das Wesentliche reduzierte Art Charles de Bertrands beeindruckte sie.

„Und ich spiele mit dem Gedanken“, fuhr de Bertrand leise fort, „einige Ereignisse aus meinem Leben aufzuschreiben. Und ich gehe davon aus, dass Sie sicher im Umgang mit der deutschen Sprache sind und meine Erzählungen in eine gute Form bringen können.“

Das wurde ja immer besser! Sie liebte es, Texte zu verfassen, die aber nach ihrem Geschmack immer etwas zu sachlich bleiben mussten – berufsbedingt. Hier bekäme sie die Chance, ihre Leidenschaft auf einer ganz anderen sprachlichen Ebene auszuleben.

Freudig nickte sie. „Ja, das wäre kein Problem.“

„Das Gehalt ist recht bescheiden. Sie bekommen dafür aber freie Kost und Logis. Und für die Reise werden Ihnen keine Kosten entstehen.“ Charles de Bertrand kritzelte eine Zahl auf einen Zettel, faltete diesen und reichte ihn Julia.

Als sie den Betrag las, den er als monatliche Vergütung ihrer Tätigkeit vorgesehen hatte, stockte ihr kurz der Atem. Die Zahl reichte an ihr Einkommen als Anwältin für eine Sechzigstundenwoche heran. Sie runzelte die Stirn. Vielleicht hatte sie etwas falsch verstanden und ihre Assistenz sollte auch die Erfüllung von erotischen „Sonderwünschen“ umfassen?

Als sie Charles de Bertrand anblickte, schien dieser ihren Gedankengang erraten zu haben. Amüsiert lächelnd lehnte er sich zurück und ließ sie augenscheinlich schmoren, um zu beobachten, wie sie eine entsprechende Frage formulierte.

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Charles de Bertrand blickte Richtung Eingang.

„Ah, das wird mein Sohn Philippe sein. Das ist hervorragend, so können Sie ihn gleich kennenlernen, Frau Sandhagen. Er wird den Sommer über ebenfalls oft auf Mirabel sein.“

Julia drehte sich leicht in ihrem Stuhl und erblickte im Türrahmen einen hochgewachsenen blonden Mann, der Charles de Bertrand wie aus dem Gesicht geschnitten war. Hätte er nicht ebenfalls einen eleganten, aber konservativen Anzug getragen, hätte Julia ihn für ein Model gehalten. Er kam auf sie zu, und Julia erhob sich. Seine blauen Augen richteten sich fragend auf sie, und als er ihr die Hand gab, bemerkte sie ein kleines Grübchen auf seinem Kinn.

Charles de Bertrand begrüßte seinen Sohn: „Philippe, schön, dass du kommen konntest. Darf ich dir Julia Sandhagen vorstellen? Sie ist eine der Bewerberinnen für diese Stelle, die ich über die Agentur ausgeschrieben habe. Von Haus aus ist sie Juristin, und ich frage mich, ob sie für diese Tätigkeit nicht überqualifiziert ist.“

Philippe de Bertrand, dessen warme, kräftige Hand Julias anscheinend nicht loslassen wollte, grinste. „Und da komme ich gerade recht, um dir diese zauberhafte Person einzureden? Das glaube ich nicht, Vater. Gib es zu, du hast dich längst für sie entschieden.“

Julia stieg vor Verlegenheit eine leichte Röte in die Wangen. Gleichzeitig hatte sie keine Lust, sich wie ein kleines Mädchen behandeln zu lassen, und entzog Philippe de Bertrand energisch ihre Hand.

„Es gibt noch eine klitzekleine Ungereimtheit wegen der Höhe der Vergütung“, fügte Charles de Bertrand hinzu.

Ungereimtheit?, dachte Julia empört. Ein Blick in Charles de Bertrands schmunzelndes Gesicht zeigte ihr, dass er ihre Zweifel durchschaut hatte und immer noch eine Antwort von ihr erwartete. Na warte, dachte Julia, dieses Spiel kann ich auch.

„Im Gegenteil, Monsieur de Bertrand, die Vergütung erscheint mir angemessen, und ich werde selbstverständlich sämtliche Ihrer Wünsche zu Ihrer vollsten Zufriedenheit erfüllen.“ Sie konnte sich einen koketten Augenaufschlag nicht verkneifen.

Charles de Bertrands jetzt doch irritierter Gesichtsausdruck, während es in ihm ratterte, ob er sie völlig falsch eingeschätzt hatte, sprach Bände. Julia biss sich auf die Unterlippe. Gleichzeitig bangte sie, ob sie zu weit gegangen war. Philippe de Bertrand und Stéphane Parsdorf beobachteten sie verwirrt. Während sie Charles de Bertrand vermeintlich cool ansah, bemerkte Julia aus dem Augenwinkel eine einsame Segelyacht auf dem See. Fuhr diese gerade mit ihren Träumen davon? Bitte, bitte nicht!!

Unvermittelt brach Charles de Bertrand in schallendes Gelächter aus. Julia entspannte sich und stieß unbemerkt die Luft aus, die sie angehalten hatte. Charles de Bertrand strahlte über das ganze Gesicht. Er wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel.

„Na, Sie sind mir aber auf die Schliche gekommen. Sämtliche meiner Wünsche. Köstlich! Ich habe mich schon lange nicht mehr so gut amüsiert. Ich sehe schon, Sie sind perfekt!“ Er fasste sich. „Nein, im Ernst. Wir erwarten aufgrund unserer Stellung äußerste Diskretion. Das können wir erfahrungsgemäß nur erreichen, wenn das Gehalt stimmt. Haben Sie mich verstanden, Frau Sandhagen?“

Julia hatte mehr als verstanden. Der Sommer lag wie ein goldener Teppich vor ihr. „Sie können mich gerne Julia nennen“, antwortete sie.

Anstelle seines Vaters ergriff Philippe de Bertrand abermals ihre Hand. „Abgemacht, Julia. Willkommen im Team. Ich freue mich.“

Sein dezentes Rasierwasser sprach ihre Sinne an. Und er sah wirklich verdammt gut aus. Sie ertappte sich dabei, wie sie seine gepflegten Hände nach einem Ehering absuchte. Als sie bemerkte, wie Charles de Bertrand seinen Sohn und sie neugierig musterte, räusperte sich Julia und nahm sofort wieder eine professionelle Haltung ein.

Die eine Hand bereits über einem blinkenden Lämpchen auf seinem Schreibtisch schwebend, hatte sich Charles de Bertrand dann rasch verabschiedet. „Wir fliegen am 16. Juni. Stéphane wird Sie mit den nötigen Informationen versorgen, Julia.“

Und sie hatte nur noch freudig erregt denken können: Das war es dann wohl. Ich habe tatsächlich meinen Traumjob für den Sommer.

Und heute war es endlich so weit. Julia, die durch ihr Leben in der Schweiz den Umgang mit gut betuchten Personen gewöhnt war und schon einigen Luxus erlebt hatte, staunte beim Betreten des Privatjets. Hatte sie vorher noch gedacht, Charles de Bertrand würde wohl nicht sonderlich aus der Menge der ihr bekannten Schweizer Millionäre herausstechen, war ihr schlagartig bewusst, welches Vermögen hinter ihm stehen musste.

Im Innenraum befand sich ein komplettes kleines Wohnzimmer. Sogar ein Ölbild schmückte die Kabine. Von mehreren geschmackvollen Blumenarrangements ganz zu schweigen.

„Julia, schön, dass Sie da sind.“ Die Begrüßung durch Charles de Bertrand, der bereits in einem der bequemen Sessel saß, war sehr zuvorkommend. „Dort drüben geht es zu einem Arbeitszimmer, und hinter dieser Tür ist sogar ein Schlafzimmer “, erklärte er ihr die weiteren Räumlichkeiten seines Privatflugzeuges.

Als sich Julia kurz vor dem Start frisch machte, stand sie sprachlos vor Staunen in einem geräumigen Badezimmer mit modernster Ausstattung. Ein freundlicher Stewart wies ihr dann einen Platz auf dem beigefarbenen Sessel neben Charles de Bertrand zu. Er reichte ihr lächelnd einen Kelch mit Champagner, und Julia kam zu der Erkenntnis, dass sie sich an diesen Luxus gewöhnen könnte.

Stepháne Parsdorf verabschiedete sich. „Einen guten Sommer, Julia, ich beneide Sie.“

Mit einem freundlichen Zwinkern, das Julia wohl andeuten sollte, dass er wegen ihr erst recht zu beneiden war, prostete ihr Charles de Bertrand zu. Während der kalte Champagner auf ihrer Zunge kribbelte, setzte sich das Flugzeug in Bewegung.

Das Abenteuer konnte beginnen.

WIE IM FILM

Als der Privatjet auf dem Flughafen in Nizza aufsetzte, überkam Julia leichte Panik. War es wirklich richtig gewesen, ihrem Leben der letzten Jahre so radikal den Rücken zu kehren? Sie schloss die Augen und wäre am liebsten noch eine Weile in dem weichen Sessel sitzen geblieben, um den ersten Schritt in den neuen Lebensabschnitt ein wenig hinauszuzögern.

Vor ihr räusperte sich jemand. Als sie die Augen öffnete, blickte sie in Charles de Bertrands Augen, die sie nachdenklich musterten. Er schien auf sie zu warten. Die Maschine stand still. Julia besann sich schlagartig auf ihre Aufgabe und gab dem Stewart ein Zeichen. Gemeinsam halfen sie Charles de Bertrand aus dem Sessel.

Die Tür des Fliegers glitt nach unten und wandelte sich so in eine Treppe. Julia schlug die unvergleichliche Mittelmeerluft, leicht verfälscht durch einen Hauch von Kerosin, entgegen. Ein Range Rover mit dunkel getönten Scheiben erwartete sie.

Der Fahrer, der am Fahrzeug gelehnt hatte, straffte die Schultern, hob zwei Finger zum Gruß an seine Mütze und übernahm Charles de Bertrand am Fuße der Treppe mit einer fröhlichen Begrüßung. Dann wandte er sich Julia zu. „Bonjour, Madame, ich bin Gerard. Ich fahre Sie.“

Julia schmunzelte, weil Gerards Chauffeurs-Outfit, insbesondere die Mütze, so stilecht war, dass sie sich wie in einem Disneyfilm vorkam.

Bereits nach nur gefühlt einer Minute stoppte das Fahrzeug wieder. Julia schaute verwirrt nach draußen. Gerard hielt ihr die Tür auf. Vor ihnen stand ein kleiner Helikopter. Sie konnte nicht vermeiden, dass ihr Mund offen stand. Das wurde ja immer besser! Sie war noch nie in einem Heli geflogen, und ihr Herz schlug in Vorfreude wie bei einem kleinen Mädchen.

Nachdem das leichtere Gepäck im Helikopter verstaut war, hoben sie mit viel Getöse ab. Gerard würde den Rest des Gepäcks mit dem Auto zum Haus bringen. Julia war zuerst ein wenig mulmig, als ihr Magen Richtung Boden sackte. Dann hatte sie allerdings keine Zeit mehr, sich darüber Gedanken zu machen. Sie blickte auf das blinkende Mittelmeer, dessen spiegelglatte Fläche sich unter ihnen im Dunst verlor. Nach einem kleinen Schwenker über das Wasser flogen sie die eindrucksvolle Küstenlinie entlang. Julia konnte sich kaum sattsehen an den imposanten Villen und hellen Sandstrandabschnitten, der üppigen Vegetation und den schroffen Felsen des Hinterlandes.

Charles de Bertrand neben ihr schnalzte anfangs ein paar Mal missbilligend die Zunge und regte sich anscheinend darüber auf, welche neu errichteten Industriegebiete und Baukräne seit seinem letzten Besuch zur Verschandelung der Küste geführt hatten. „Kein Vergleich zum Flair der Sechziger- und Siebzigerjahre, junge Dame.“

Je mehr sie sich jedoch von Nizza entfernten und die sattgrünen Hügel der Côte d’Azur sichtbar wurden, hob sich seine Stimmung unvermittelt. Begierig wie ein Kind deutete er aus dem Fenster und erzählte Julia mit verträumtem Gesichtsausdruck Anekdoten zu einzelnen Hügelsilhouetten und einsamen Prachtvillen auf der Strecke.

Seine Laune steckte an, und als er plötzlich aufgeregt nach unten deutete, breitete sich unbändige Vorfreude in Julia aus. An der Küste sammelten sich recht hässliche Hochhäuser, die vereint jedoch unerklärlicherweise Eleganz ausstrahlten, um einen Yachthafen.

„Das ist Monaco, meine Liebe. Jetzt ist es nicht mehr weit. Da vorne liegt bereits Roquebrune“, erklärte ihr Arbeitgeber.

Julia blickte staunend auf die dicht gedrängten sandfarbenen Gebäude und die palmengesäumten Boulevards, die eindrucksvollen Yachten, die im Hafen lagen, und die imposante Palastanlage der Grimaldis. Das war es also: der Inbegriff von Dekadenz und Reichtum. Julia lächelte und entspannte sich. Sie hatte allmählich richtig Lust auf den Neuanfang bekommen.

Der Helikopter näherte sich dem dicht besiedelten Hügel Roquebrunes. Julia erspähte unzählige Prachtvillen, deren Swimmingpools türkis glitzernd in der Sonne lagen. Während der Pilot den Helikopter langsam über einer runden Plattform absenkte, löste sich ein junger Mann, der kaum älter als achtzehn sein konnte, von einem wartenden Golfcart und lief in leicht gebückter Haltung gegen den Wind der auslaufenden Rotorblätter auf sie zu.

„Bienvenu, Madame. Bienvenu, Monsieur de Bertrand“, begrüßte er sie und half zuerst Julia aus dem Hubschrauber.

„Ah, Pierre! Sie sind aber groß geworden.“ Erfreut ergriff Charles de Bertrand Pierres Hand und ließ sich, von ihm gestützt, zu dem Golfcart führen. Zu Julia gewandt, erklärte er: „Pierre ist der Enkel unserer Haushälterin Estelle, und ich kenne ihn schon sein ganzes Leben. Pierre, das ist Julia Sandhagen, meine Assistentin.“

Pierre nickte Julia freundlich interessiert zu. Nachdem alles verstaut war, setzte Pierre das Cart in Bewegung und sie erklommen rappelnd einen bekiesten Weg, der in sanften Serpentinen den Hügel hinaufführte.

Nach der letzten Kehre, die sich um eine eindrucksvolle Pinie wand, blieb Julia abermals vor Staunen der Mund offen stehen. Vor ihr lag ein verwinkeltes, großes Haus, das mit seinen unzähligen Balkonen, pflanzenbeschatteten Treppchen, kleinen Terrassen und Türmen wie ein kleines Schloss anmutete. Blaue Fensterläden umrahmten die unzähligen Fenster und Balkontüren. Sie erkannte das Haus vom Bild in de Bertrands Büro wieder, doch in natura wirkte alles noch viel imposanter. Julia assoziierte sofort eine Villa aus dem alten Rom. Ehrwürdig gewachsene Bäume, vornehmlich gigantische Schirmpinien, Zypressen und Palmen, warfen ihre Schatten auf einen Vorplatz. Auf der Eingangstreppe hatte sich das Personal für den Empfang des Hausherrn versammelt. Wie bei Downton Abbey, ihrer Lieblingsserie um einen englischen Landsitz, dachte Julia entzückt.

Als die Reifen des Carts im Kies knirschend zum Stehen kamen, holte Charles de Bertrand tief Luft. „Ah, tut das gut, wieder hier zu sein.“

Schon stürmte eine etwa sechzigjährige Frau auf den Wagen zu. „Oh, Monsieur Charles, wie schön, Sie zu sehen. Eine solche Freude!“, rief sie. Ihr Gesicht zeigte mütterliche Freude.

Charles de Bertrands Gesicht leuchtete ebenfalls freudig auf, und Julia vermutete, er musste sich zurückhalten, die rundliche Frau nicht zur Begrüßung in seine Arme zu schließen. Er wandte sich zu Julia. „Darf ich vorstellen, das ist Estelle. Seit ich denken kann, die gute Seele dieses Hauses. Estelle, das ist meine Assistentin für diesen Sommer – Julia. Sie spricht übrigens fließend Französisch, Sie müssen sich also nicht auf Deutsch abmühen“, zwinkerte Charles ihr vertraulich zu.

Als hätte Charles seine lange verlorene Tochter vorgestellt, umfasste Estelle Julias Hand mit beiden Händen und drückte diese herzlich. „Oui, wir haben Sie bereits erwartet und das Dahlienzimmer für Sie hergerichtet. Sie wollen sicherlich erst einmal ankommen und sich nach der Reise ausruhen.“ Freundlich zwinkerte sie Julia zu und zog sie leicht Richtung Eingang.

Julia folgte ihr verblüfft. „Ja … aber … ich muss mich um Monsieur de Bertrand kümmern.“

„Ach was, das können Sie auch später noch. Hier sind genug eifrige Helfer. Sie sollen doch ein wenig Freizeit haben.“

Julia stellte nach einem Blick über ihre Schulter beruhigt fest, wie Charles de Bertrand ihr entspannt nachwinkte. Am Eingang knickste eine junge Frau vor ihr und stellte sich als Virginie vor. Julia schätzte sie auf Anfang zwanzig.

„Ich bringe Sie zu Ihrem Zimmer, Madame.“ Sie winkte Pierre. „Pierre, du holst bitte das Gepäck von Madame und trägst es ins Dahlienzimmer hoch, und sobald Gerard da ist, bringst du den Rest.“

Der Junge machte sich eifrig an seine Aufgabe. Julia fühlte sich wie in einem Traum: das Personal, der Knicks, die Kiesauffahrt. Das durfte doch alles nicht wahr sein, schmunzelte sie innerlich über diese Klischee-Wunderwelt, die ihr Zuhause für die nächsten Wochen sein sollte.

Virginie führte Julia über mehrere Treppchen und Wandelgänge zu einem Wohntrakt, der in einem ruhigen Teil des Hauses lag. Das Innere des Hauses schien vollständig modernisiert und war geschmackvoll im mediterranen Stil eingerichtet. Die Ausstattung war zu schlicht, um billig zu sein. Julia war erleichtert, dass sie weder die kühle Atmosphäre der Sechzigerjahre noch die Seidentapeten-Opulenz, die sie von einer französischen Villa an der Côte d’Azur erwartet hatte, umgab.

Julia folgte Virginie, die eine große Flügeltür geöffnet hatte und sie hineinbat. Als sie den Raum betrat, musste sich Julia schon wieder ermahnen, rasch den Mund zu schließen, der sich beim Anblick des Dahlienzimmers staunend geöffnet hatte. Das war wohl eher eine Dahlien-Suite: ein hoher Raum, der auf der gesamten südlichen Wandfläche von Terrassentüren gesäumt war, vor denen lichte Vorhänge im Wind flatterten. Vor einem der Fenster entdeckte sie einen großen Schreibtisch aus hellem Holz, auf dem ein MacBook mit Drucker stand. In der gegenüberliegenden Ecke neben der Tür lud eine Sitzkombination zum Ausruhen ein. Hinter dem Sofa hing ein großformatiges modernes Ölgemälde, das einen Dahlienstrauß andeutete.

Das Hausmädchen hatte einen großen Schrank zu ihrer Rechten geöffnet, in den eine komplette kleine Küchenzeile integriert war. „Falls Sie sich mal einen Tee machen möchten, Madame. Selbstverständlich bringen wir Ihnen alles, was Sie wünschen, auch aufs Zimmer. Was es auch sein mag. Wählen Sie die Siebzehn.“ Virginie deutete auf ein Telefon beim Schreibtisch. Schnell durchquerte sie den Wohnraum und öffnete eine weitere Flügeltür zum angrenzenden Schlafzimmer.

Julia holte tief Luft, so beeindruckt war sie. Ein Himmelbett in zarten mediterranen Blautönen nahm den halben Raum ein, und Julia hatte nicht übel Lust, wie ein junges Mädchen vor Freude darauf herumzuspringen. Vom Bett aus blickte man über die bodentiefen Fenster auf das blinkende Mittelmeer. Angrenzend erspähte Julia ein schickes Badezimmer in weiß-grauem Marmor und Glas mit einer riesigen Badewanne. Sowohl vom Bad als auch vom Schlafzimmer aus gelangte man in einen weiteren Raum, einen begehbaren Kleiderschrank. Ihr eigenes Kleiderzimmer!

Virginie hatte Julias Staunen registriert und grinste. „Wunderschön, nicht? Ich finde, Sie haben das schönste Gästezimmer im Haus“, strahlte sie Julia nicht ohne Besitzerstolz an. In diesem Moment hörten sie ein leises Klopfen. „Das wird Pierre mit dem Handgepäck sein. Soll ich Ihnen später beim Auspacken helfen, wenn Gerard mit dem großen Gepäck angekommen ist, Madame?“

Julia wurde bewusst, dass ihr Kofferinhalt den Kleiderraum gerade mal zu einem Zehntel füllen würde. Sie sandte einen stillen Dank an ihre Kölner Freundinnen Carmen, Stella und Elena, die sie immerhin mit der passenden Kleidung versorgt hatten. Da sie es nicht erwarten konnte, endlich die auf sie einstürmenden Eindrücke zu verarbeiten und allein zu sein, schüttelte sie den Kopf. „Das ist nicht nötig. Danke, Virginie.“

„Wenn Sie eine Hausführung möchten, wählen Sie bitte ebenfalls die Siebzehn, und ich komme und zeige Ihnen alles. Ansonsten gibt es um acht Uhr ein leichtes Dîner im großen Speisezimmer. Die Terrasse ist die nächsten paar Tage noch im Umbau, deswegen wird im Moment noch drinnen serviert. Soll ich Sie um kurz vor acht hier abholen und Ihnen zeigen, wo es ist?“

Julia schaute rasch auf ihre Armbanduhr. Sie hatte also noch drei Stunden Zeit für sich. Sie nickte dankbar und schloss die Tür hinter Virginie und Pierre. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und starrte fassungslos auf ihr neues Reich. Vielleicht sollte sie sich kneifen, um aus diesem Prinzessinnentraum zu erwachen. Das war allerdings das Letzte, wonach ihr der Sinn stand.

Beschwingt machte sie sich erst einmal daran, ihren kleinen Koffer zu öffnen. Wie vermutet: Ihre wenigen Kleider würden sich in dem riesigen Raum verlieren, auch wenn sie später noch den Inhalt des großen Koffers einräumte. Als Julia ihre Zahnbürste aus ihrem Kulturbeutel kramte, bemerkte sie, dass bereits ein elektrisches Dentalcenter für ihre Mundhygiene bereitstand. Schmunzelnd ließ sie dennoch ihre Zahnbürste in das Glas auf der Marmorkonsole plumpsen, um so ihr Territorium zu markieren. Ihr Blick streifte das in die Wand eingelassene Soundsystem, das – wie Virginie ihr erklärt hatte – via Bluetooth von allen Räumen aus bedient werden konnte.

Kurzerhand streifte sie sich das Business-Outfit ab, das sie während der Reise getragen hatte, und öffnete die Glastür, die in das „Duschareal“ führte. Schmunzelnd erkundete sie die Funktionen der unzähligen Knöpfe in ihrer Dusche und gab einen spitzen Schrei von sich, als sich ein eiskalter Schwall blau illuminierten Wassers begleitet von Bossanova-Musik über ihr ergoss.

Nach der Dusche wickelte sie sich zufrieden in ein flauschiges Badetuch und wischte ausgelassen mit einem Handtuch Teile des beschlagenen Spiegels frei. Zu ihrem verschwommenen Konterfei mit Handtuchturban hauchte sie auf Französisch: „Allo, Madame! Comment allez-vous?“

„Mir geht es sehr gut!“, antwortete sich Julia, tanzte Richtung Himmelbett und gab endlich dem Drang nach, sich darauf zu werfen. Sie war allerdings zu aufgeputscht, um dort liegen zu bleiben, und sprang nach wenigen Minuten wieder auf.

Inzwischen stand ihr anderer Koffer auch im Kleiderzimmer. Gut gelaunt verstaute sie jedes einzelne Teil auf Bügeln und Regalen. Wie erwartet, blieb noch viel Platz für ausgiebige Shoppingtouren in Monaco. Sie konnte ja schließlich nicht ihr ganzes Gehalt für Notzeiten zurücklegen. Überwältigt von Carmens Kleidervielfalt verweilte sie einen Moment ratlos vor dem Regal. Dann entschied sie sich für ein zart geblümtes Sommerkleid und eine leichte Strickjacke. Prada las sie auf dem Etikett. Wie weich sich der Stoff anfühlte. Kein Vergleich mit ihren üblichen Sachen.

Sie drehte sich um und staunte über ihr Abbild im Spiegel. Das Kleid endete knapp über ihren Knien. Der geblümte leichte Stoff war fast transparent und ließ ihre durch das eng anliegende Unterkleid geformte Figur im Gegenlicht erahnen. Die geflochtenen Spaghettiträger brachten ihr schönes Dekolleté zur Geltung. Wer hätte gedacht, dass sie so sexy aussehen könnte? Na, ja, ein wenig Sonnenbräune könnte nicht schaden. Julia konnte dem Drang nicht widerstehen, sich einmal um ihre eigene Achse zu drehen, um das Schwingen des Kleides auszulösen.

Vergnügt trat sie mit nackten Füßen auf ihre Terrasse an das von der Juni-Sonne erwärmte Steingeländer. Während sie ihr feuchtes Haar kämmte, bewunderte sie die grandiose Aussicht auf das Mittelmeer. Eine stattliche Anzahl von großen Yachten dümpelte vor der Küste. Einzelne Wellenkämme blinkten in der Sonne. Ein hellblaues Glitzern durch die Pflanzen zu ihrer Linken ließ Julia vermuten, dass sich dort der Swimmingpool befand.

Julia sog tief die nach Rosmarin und Pinien duftende Luft ein und genoss die friedliche Spätnachmittagsstimmung. Sie schloss lächelnd über ihr Glück die Augen und konnte es gar nicht erwarten, ihrer Freundin Stella von allem zu berichten.

DER GÄRTNER IST IMMER...

„Mathieu? Mathieu?!“

Julia beugte sich leicht vor und sah Pierre unter sich. Die Hände zu einem Trichter geformt, wiederholte er sein Rufen. „Mathieu, wo bist du denn?“

„Hier unten!“, antwortete eine tiefe Stimme aus dem dichten Buschwerk unterhalb Julias Terrasse.

Pierre hastete auf einem Pfad aus Steinplatten, der von hohem Gras fast überwuchert war, in Richtung der Stimme. Ob dieser Mathieu der Gärtner war? Er musste ein rechter Faulpelz sein.

Julia starrte stirnrunzelnd auf die struppigen Oleanderbüsche, zwischen denen Pierre verschwunden war. Der Garten machte, im Gegensatz zum Haus, einen eher ungepflegten, fast verwilderten Eindruck. Aber gerade diese Wildheit des Gartens erweckte in ihr den Entschluss, das Areal zu erkunden.

Sie zog rasch weiße Stoffschuhe an und verließ ihr Zimmer. Vor der Tür musste sie sich erst einmal orientieren, aus welcher Richtung sie zuvor mit Virginie gekommen war. Leichtfüßig sprang sie eine Wendeltreppe aus Stein hinab, die auch tatsächlich in den Garten mündete. Sie befand sich unterhalb ihrer Terrasse an der Stelle, an der sie Pierre hatte rufen hören. Zufrieden folgte sie dem Pfad der Steinplatten und fühlte sich ein wenig wie Alice im Wunderland.

Als sie den Weg ein paar Meter gegangen war, kam ihr Pierre entgegen. Er hatte den Gärtner Mathieu anscheinend gefunden, befand sich auf dem Rückweg und nickte ihr kurz zu.

An der nächsten Weggabelung stand Julia tatsächlich vor einem Swimmingpool. Wie alles im Garten wirkte auch dieser leicht vernachlässigt. Das Becken war sicher zwanzig Meter lang, und einige der hellblauen Fliesen am Boden waren gesprungen. Das Wasser erschien allerdings klar und wurde offensichtlich gereinigt. Auf einer verwitterten Holzterrasse stand etwa ein halbes Dutzend verblichener Holzliegen. An der gegenüberliegenden Seite des Pools sah Julia ein einstöckiges Gebäude mit Flachdach, das sich als Poolhaus entpuppte, das Waschräume und Umkleidekabinen beherbergte. Flauschige Badetücher und -mäntel warteten auf Schwimmer. Aber auch hier herrschte ein eher gestriger Charme vor, wie Julia bei ihrer Inspektion feststellte.

„Merkwürdig“, murmelte sie.

Sie drehte sich um. Das Haupthaus war von hier aus betrachtet fast vollständig von Bäumen verdeckt. Wenn sie wie jetzt rechts vom Poolhaus stand, konnte sie gerade noch eine kleine Ecke des Geländers einer Terrasse ausmachen, und Julia nahm an, dass es sich um ihre vor dem Dahlienzimmer handelte. Rechts vom Poolhaus führte ein weiterer Pfad mit Steinplatten in die Büsche.

Neugierig setzte Julia ihre Erkundungstour fort und passierte einen kleinen Gartenschuppen. Die in den Weg ragenden Zweige eines Feigenbaumes drückte sie zur Seite, dann bog sie in einen von einer Hecke umgebenen, leicht verrotteten Tennisplatz ohne Netz ein. Büschel von Unkraut hatten sich ihren Weg durch die vormals rote Asche zurückerobert. Tennis spielte hier wohl auch seit langer Zeit niemand mehr.

„Das ist mir gleich, Antoine. Ich brauche die Lieferung spätestens morgen Vormittag.“

Julia fuhr herum: Sie war nicht allein. Mit dem Rücken zu ihr nahe bei der Hecke stand ein schlanker Mann, der mit der einen Hand ein Handy ans Ohr hielt und sich mit der anderen Hand heftig durch braune halblange Locken fuhr. Er trug eine mit Erde verschmutzte Jeans und ein verblichenes olivfarbenes T-Shirt, das im Rücken eine Schweißspur aufwies. Seine Füße steckten in einer Art Bergsteigerstiefel. Neben dem Mann lagen eine Spitzhacke und ein Eimer.

Julia wusste nicht, weshalb, aber sie konnte den Blick kaum von seinen breiten Schultern und der feuchten Spur, die sich vom Nacken bis zum Hosenbund zog, abwenden. Obwohl sie sein Gesicht noch nicht gesehen hatte, strahlte er eine enorme männliche Präsenz aus: Typ kerniger Naturbursche. Fasziniert starrte sie auf die definierten, braun gebrannten Unterarme und registrierte, wie perfekt die Jeans um seine Hüften saß.

Ihr Herz klopfte aus unerfindlichen Gründen heftiger, als es in einer solchen Situation notwendig war. Der Mann – er mochte ungefähr vierzig Jahre alt sein – wandte ihr nun sein Profil zu, während er mit unzufrieden gekräuselter Stirn in sein Telefon lauschte. Er schien sie immer noch nicht bemerkt zu haben.

Die Nachmittagssonne tauchte die ganze Szenerie in ein fast kitschiges orangenes Licht.

„Ich meine es ernst, Antoine. Das ist ein wichtiger Auftrag. Vermassel es mir nicht.“

Der unfreundliche Gesichtsausdruck, den er dabei aufsetzte, tat seinem guten Aussehen keinen Abbruch. Seine Stimme war trotz seines offensichtlichen Ärgers angenehm und tief und brachte Julias Sinne zur höchsten Anspannung.

Julia folgte mit den Augen der markanten Linie seiner Wange und registrierte seinen leichten Bartschatten. Der Mann hatte etwas Herbes, Ungebändigtes an sich. Die Nase war ein wenig zu groß, das Kinn schroff, die Lippen ausdrucksstark und jetzt, wo er offensichtlich schlechter Stimmung war, an der ihr zugewandten Seite fast abweisend hochgezogen. Aus demselben Grund war seine Stirn gefurcht.

Sein ganzes Äußeres strahlte Ablehnung aus.

Sein ganzes Äußeres zog Julia magnetisch an.

Irgendwie kam ihr seine Kinnpartie vage bekannt vor. Bevor sie noch weiter darüber nachdenken konnte, beendete der Mann sein Telefonat und bemerkte, wie Julia ihn anstarrte. Julia zuckte ertappt zusammen und spürte zu ihrem Ärger, wie Hitze in ihre Wangen stieg. Zugleich schossen ihr tausend Gedanken durch den Kopf.

Wie lange sie ihn wohl so angegafft hatte? Was musste er von ihr denken? Ob das der Gärtner war? Wie hieß er noch mal? Ah, Mathieu. Was für eine Lieferung? Handelte der mit Drogen? Dürfen Gärtner so gut aussehen? Kernig. Männlich. Oh Gott, Julia, sag doch was! Plötzlich schienen ihre Französischkenntnisse zu versagen.

Als hätte der Gärtner ihre Gedankensprünge an ihrem Gesicht ablesen können, begann er, zu grinsen. Er nahm seine Spitzhacke auf und stützte sich auf deren Stiel, während er unverhohlen zurückgaffte. Er musterte sie von oben bis unten und zog sie mit seinem Blick förmlich aus. Ihr wurde heiß.

Oh weh, dachte Julia. Wie megapeinlich! Gleichzeitig fiel ihr auf, wie schön sein Mund wurde, wenn er lächelte. Das Lächeln glättete auch die Zornesfurche zwischen seinen Brauen, und Julia war von dieser Wandlung seiner Gesichtszüge hingerissen. Sie spürte einen impulsiven Drang, mit den Fingern seine Lachfältchen links und rechts des Mundes zu erkunden. Als seine eindringliche Inspektion endlich ihre Augen erreicht hatte, wurde es einen Moment ganz still in ihr. Sie versank in seinen schönen Augen und war gefangen von dem Gefühl der Nähe, das dieser Blick auslöste. Dann mahnte sie eine innere Stimme, sich nicht völlig lächerlich zu machen.

Julia räusperte sich. „Bonsoir, Monsieur“, fiel ihr als einzig sinnvoller Satz ein.

An seinem amüsierten Schnauben bemerkte sie, wie läppisch der Satz in dieser seltsamen Situation klang. Dann verflog sein Lächeln.

„Bonsoir, Madame“, entgegnete er, nahm den Eimer auf und wandte sich schon halb ab, um den Tennisplatz zu verlassen.

Leichtes Bedauern stieg in Julia auf. Sie wollte nicht, dass er ging.

„Ich bin Julia. Ich wohne im Haus“, brach es atemlos aus ihr heraus, während sie mit einer vagen Geste Richtung Villa fächelte. Spontan zückte sie ihre Hand zur Begrüßung.

Der Mann hielt inne und drehte sich ihr zu. Zögerlich stellte er seinen Eimer wieder hin und wischte seine rechte Hand an seiner Jeans ab, ohne den Blick von ihren Augen zu lassen.

Seine Augen waren braungrün und von dichten dunklen Wimpern umrahmt. Sein Blick sog Julia in unergründliche Tiefen, und ihr Herz begann, aufgeregt zu flattern. Als seine Hand ihre umfasste, blinzelte Julia, so sehr genoss sie seine körperliche Wärme. Dabei war es ein lauer Spätnachmittag. Von Nahem machte sie einzelne silbrige Fäden, die sein Haar durchzogen, aus. Der Druck seiner Hand war kräftig, doch ließ er sie abrupt los, so, als hätte er sich verbrannt.

„Mathieu. Ich mache den Garten“, erwiderte er kurz angebunden und betrachtete nachdenklich seine Hand.

„Ich weiß“, konnte Julia nur sagen.

Mathieus Augen verengten sich kurz, dann tippte er noch einmal grüßend an die Stirn und verließ den Tennisplatz.

Als seine Schritte verklungen waren, löste sich Julia aus ihrer Starre. Sie vergrub stöhnend ihr Gesicht in den Händen.

„Oh, Julia. Bist du vierzehn oder was?“, schalt sie sich halblaut. Ärgerlich kickte sie einen Kieselstein über den Tennisplatz. Dann wurde ihr bewusst, was gerade mit ihr geschehen war. Oh Mann! Gab’s so etwas wirklich? Sie starrte auf einige Erdkrümel, die seine Berührung auf ihrer Hand zurückgelassen hatte. Sie schienen kostbarer als Gold.

Ein jubelndes Gefühl wärmte unvermittelt ihre Brust, und sie lief den Plattenweg zurück. Sie musste Stella unbedingt sofort alles erzählen. Alles. Auch, dass sie sich gerade in den gut aussehenden Gärtner verknallt hatte.

Als Mathieu seine Arbeitsutensilien auf der Ladefläche seines Lieferwagens verstaute, dachte er immer noch über die merkwürdige Begegnung mit dieser Frau nach.

Gerade hatte er sich noch über Antoines Schusseligkeit geärgert. Er hatte seinem Gehilfen ausdrücklich die Anweisung gegeben, für heute Nachmittag Natursteinblöcke für den Bau neuer Mauereinfassungen zu bestellen. Dieser Träumer hatte sich jedoch in den Daten um eine Woche vertan. So lohnte sich der Beginn der weiteren Arbeiten jedoch nicht, sodass Mathieus Zeitplan gefährdet war. Und die Hauptterrasse musste auch so schnell wie möglich fertig werden, denn die Hausgäste waren heute angereist.

Dies war der erste richtig große Auftrag in dieser Reichengegend, der hoffentlich viele andere nach sich ziehen würde, wenn er ihn zufriedenstellend abschloss. Er durfte sich keinen Fehler erlauben, hatte er gedacht.

Im nächsten Moment hatte er sich von dieser schönen Frau angestarrt gefühlt. Ihre Verlegenheit, als er sie dabei ertappte, war so entzückend. Die hektische Röte, die in ihre Wangen gestiegen war, und das Zittern ihrer Stimme ließen sie wie ein Backfisch wirken. Zugleich strahlte sie die erotische Souveränität einer erwachsenen Frau aus, die in Mathieu lang verschüttetes Begehren weckte.

Er betrachtete ihre schmalen Fesseln in den flachen Turnschuhen, in deren Verschnürung sich ein Oleanderblatt verfangen hatte. Er registrierte, wie sich die Rundung ihrer Hüfte unter dem durchsichtigen geblümten Kleid andeutete. Ihre feuchten Haarspitzen, anscheinend frisch gewaschen, hinterließen einen schimmernden Film an ihren nackten Schultern. Er konnte unwirklich deutlich kleine Härchen im Gegenlicht ausmachen, die auf den Spitzen einer leichten Gänsehaut an dieser Stelle saßen. Dann heftete er seinen Blick endlich auf ihre grauen Augen, die seinen eindringlichen Blick ruhig erwiderten. Sofort machte sich ein merkwürdiges Ziehen in seiner Brust breit und fand seinen Weg in seine Lendengegend. Unmerklich wechselte er seine Haltung, um die peinliche Erregung, die ihn erfasst hatte, zu verbergen.

Er war so fasziniert gewesen von ihrem Anblick – und dann brachte ihn ihr förmlicher Gruß auf den Boden der Tatsachen zurück. Er hatte seinen Job zu erledigen und sonst nichts. Warum nur hatte sie ihn daraufhin nicht einfach gehen lassen können? Allein schon ihre Betonung, sie sei ein Hausgast, ließ ihn sich besinnen, dass ihre Welten meilenweit auseinanderlagen. Sie war augenscheinlich eine dieser reichen Tussis, die den Sommer über das wilde Leben an der Küste verbrachten. Ohne Gedanken an ihr Auskommen oder an Konsequenzen. Von solchen Frauen hatte er definitiv die Nase voll. Aber ihr Duft fand seinen Weg aus ihrem feuchten Haar in seine Nase.

Plötzlich war er zutiefst beunruhigt. Was wollte sie nur von ihm? Suchte sie einen kernigen, hart arbeitenden Typen, der sich von den verweichlichten Superreichen unterschied, als Bettgenossen für die Saison? Nein, danke. Nicht mit ihm. Nicht noch einmal.

Trotz seiner Abscheu bei diesem Gedanken regte sich unwillkürlich Verlangen in ihm. Nur widerwillig ergriff er ihre Hand, war er sich doch seiner erdigen Hände bewusst. Sie hatte ungewöhnliche graue Augen, die ihn magisch anzogen. Von ihrer Berührung stieg ein starkes Kribbeln in seine Hand, das unerträglich war. Er konnte sich einen Augenblick lang nicht entscheiden, ob er dem übermächtigen Drang, sie ganz nah zu sich zu ziehen, nachgeben sollte. Vor Schreck über diesen Impuls ließ er ihre weiche Hand abrupt los. So nah bei ihr hatte er den erregten Pulsschlag an ihrem Hals wahrnehmen können.

Das muss enden. Sofort!, war ihm der Gedanke durch den Kopf geschossen.

Also war er gegangen.

Während er sich anschnallte und losfuhr, überdachte er stirnrunzelnd ihren letzten Satz.

„Ich weiß“, hatte sie gesagt.

Was sollte das bedeuten? Was wusste sie denn über ihn?

„Gar nichts!“, schnaubte er seinem Augenausschnitt im Rückspiegel zu. Am besten, er vergaß diese Begegnung, entschied er, als er sich mit seinem Wagen langsam die Serpentinen gen Meer hinunterschlängelte.

DAS SCHWEIGEN

Am nächsten Morgen erwachte Julia früh. Obwohl sie sonst keine Frühaufsteherin war und es liebte, vor sich hinzudösen, war sie heute schlagartig hellwach. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr: Es war erst sechs Uhr. Ob das an den Austern liegt?, grübelte sie vor sich hin.

Am Abend hatte sie mit Charles de Bertrand in einem der Speisezimmer ein leichtes mediterranes Dîner eingenommen. Zur Einstimmung – wie hätte es auch anders sein sollen – reichte die Küche eisgekühlte Austern. Dazu gab es einen exzellenten Perrier Jouët, mit dem Julia den Geschmack nach Meer herunterspülen konnte.

Julia betrachtete bewundernd die im Jugendstil verzierte Champagnerflasche, als Virginie ihr nachschenkte. Die Austern waren hervorragend, und Julia hatte einige davon geschlürft.

„Julia, erzählen Sie mir doch bitte von sich.“

Julia wand sich innerlich. Sie mochte ihren Arbeitgeber, fand es aber nicht angebracht, ihm ihr Privatleben zu offenbaren. Insbesondere, dass es so glorreich in Scherben hinter ihr lag. Leider fiel ihr auf die Schnelle kein interessantes, aber unverfängliches Thema ein.

„Nun, Monsieur de Bertrand, ich bin in Köln aufgewachsen ...“

Er lachte laut auf. „Charles“, sagte er. „Nein, ich meine etwas, was ich nicht Ihrem Lebenslauf entnehmen kann.“

Julia strich nachdenklich über den Stiel ihres Champagnerkelches.

„Gibt es denn keinen Mann, der sich nach Ihnen sehnt, wenn Sie den Sommer über mit einem alten Mann in Frankreich verbringen?“

„Also, ich ... da gab es bis vor Kurzem jemanden. Er war auch der Grund, weshalb ich in Zürich gewohnt habe. Aber das ist vorbei, und ich lebe derzeit bei meiner Freundin Stella und ihrer Familie in Köln. Und ich wäre Ihnen mehr als dankbar, nicht über diesen Mann sprechen zu müssen.“

Charles zog fragend seine Brauen hoch.

„Der Kerl hat Sie doch nicht etwa schlecht behandelt? Dann müssen Sie mir sagen, wer es ist, und ich schwöre, er wird die längste Zeit in Zürich glücklich gewesen sein.“

Er blickte so ernsthaft, dass Julia darüber nachsann, ob er tatsächlich so mächtig war, Marcus’ Zukunft zu beeinflussen. Kurz war sie versucht, Charles’ Angebot zu überdenken. Aber, wie sie bereits Stella versucht hatte zu erklären, traf Marcus nicht alleine die Schuld daran, dass Julia sich am Ende klein gefühlt hatte. Außerdem war sie nicht auf Rache aus. Sie wollte diesen Sommer nutzen, so rasch wie möglich zu vergessen. Und wenn alle Tage so würden wie der erste, würde ihr das auch ohne Zweifel gelingen.

„Danke für Ihr Angebot, Charles, aber das wird nicht nötig sein. Was sind das eigentlich für wunderbare Blumen?“ Julia deutete auf eine hohe Vase mit auffallend exotischen Blumen, deren Blüten orange und blau auffächerten und die fast wie ein Vogelkopf anmuteten.

Charles ging grinsend auf ihre eindeutigen Hinweis, das Thema zu beenden, ein. „Das sind Strelitzien. Sie wuchsen auch mal hier im Garten beim Pool. Aber das ist lange her.“

Einen Moment verlor sich Charles in Gedanken. Keine angenehmen, wie Julia aus seiner gerunzelten Stirn schloss. Dann besann er sich wieder auf seinen Gast und hob ein weiteres Mal sein Glas.

„Sie werden sehen, Julia, auf Mirabel heilen alle Wunden schneller als anderswo.“

Lächelnd stießen sie ihre Gläser aneinander.