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Locker leben, nicht zu viele Verpflichtungen eingehen und sich von niemandem sagen lassen, was man zu tun hat - das war lange Zeit Montanas persönliches Mantra. Doch da sie die Letzte von drei Auserwählten ist, die als einzige einen jahrhundertealten Fluch brechen können, macht es ihr in letzter Zeit immer schwerer, daran festzuhalten. Als dann auch noch Caleb in der Stadt auftaucht, der die Geschichte der Geisterschwestern, mit denen sie eine enge Verbindung hat, verfilmen will, ist es ganz dahin mit ihrer inneren Ruhe und den Vorsätzen, die sie sich schon vor Jahren genommen hat. Denn Caleb wirbelt nicht nur ihr Leben gehörig durcheinander und bringt sie dazu, alles in Frage zu stellen, was sie bisher für gegeben ansah, nein, er kommt zudem ihrem Herz gefährlich nahe, das sie seit vielen Jahren unter strengem Verschluss hält. Während die Ereignisse sich deshalb überschlagen und die beiden Dinge erfahren und erleben, die sie nie für möglich gehalten hätten, kommen sie der Erkenntnis immer näher, dass schon längst ein Weg für sie vorgegeben sein könnte, der sie entweder zum Sieg oder zur Niederlage führen wird. Und die einzige und wichtigste Frage, die sie sich am Ende stellen müssen, ist: Sind sie bereit diesen Weg gemeinsam bis zum Schluss zu gehen oder sollten sie sich lieber voneinander abwenden und umkehren, solange es noch möglich ist?
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Seitenzahl: 1712
Veröffentlichungsjahr: 2020
Für alle, die noch an Bestimmung glauben und trotzdem ihren eigenen Weg gehen
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Epilog
Mystic, Connecticut, 1. Februar 1777…
Miranda schrie vor Schmerzen, doch sie wusste nicht, welche Schmerzen im Moment schlimmer waren. Die, die sie in ihrem Herzen empfand, wenn sie an den Verrat dachte, den der Mann, den sie geliebt hatte und der nun tot neben ihr lag, an ihr begangen hatte. Oder die, die ihren Leib umklammert hielten, die Geburtsschmerzen, die nun so stark waren, dass sie wusste, dass das Kind jeden Moment ihren Körper verlassen würde.
Es hätte alles so schön sein können. Sie hatte sich ihr Leben bereits in den buntesten Farben ausgemalt und die Grauschattierungen, die ihren Weg gekreuzt hatten, ohne jeden Zweifel ausradiert, weil sie sich sicher gewesen war, dass sie ihr wahres Glück gefunden hatte. Trotz allem, was in ihrem Leben schon passiert war, trotz all der Verluste, die sie hatte hinnehmen müssen, hatte sie ihren Glauben in die wahre Liebe, ihren Glauben an das Leben, ihren Glauben an allumfassendes Glück nie verloren. Sie hatte ihre Zuversicht und ihre Hoffnung nie verloren, und obwohl sie um ihre Mutter, die ihr bereits im Kleinkindalter entrissen worden war und um ihre Schwestern, die sich beide aus Liebeskummer das Leben genommen hatten, getrauert hatte, hatte sie nie einen Gedanken daran verschwendet, ihnen schon bald zu folgen. Sie war erschüttert gewesen, als Lucille, ihre zwei Jahre ältere Schwester, sich vor knapp zwei Jahren einen Dolch ins Herz gejagt hatte, weil ihr Geliebter, der Soldat, dem sie ihr Herz geschenkt hatte, im Krieg gefallen und nicht mehr zu ihr zurückgekehrt war. Und sie war schockiert gewesen, als ihre älteste Schwester Clara letztes Jahr im Mai ihrem Leben ebenfalls ein Ende gesetzt hatte, weil ihr kleiner Sohn drei Monate zuvor plötzlich gestorben und ihr Mann sie ein paar Wochen später verlassen hatte, weil er mit ihrer Trauer nicht klargekommen war. Sie hatte die Entscheidung der beiden nie nachvollziehen können, hatte nie verstanden, warum die beiden den Tod als einzigen Ausweg gesehen hatten und warum sie am Ende mit einer solchen Verbitterung, einer solchen Wut im Bauch gegangen waren, dass sie Flüche ausgestoßen hatten, die wahrscheinlich noch Jahrhunderte nachwirken und den folgenden Generationen große Probleme machen würden. Sie waren ihr als Geister erschienen, sie hatte durch das Feuer, ihr liebstes Element, Kontakt mit ihnen aufgenommen, doch trotz allem, was sie ihr erzählt hatten, hatte sie nie das Gefühl gehabt, dass ihre Schicksale ihre Taten rechtfertigen würden. Und trotz aller Warnungen, die sie ausgesprochen, die sie ihr eingetrichtert hatten, hatte sie nicht geglaubt, dass ihr dasselbe geschehen könnte. Trotz aller Ratschläge, die sie ihr gegeben hatten, trotz ihrer Bitte, diesem Mann, dem Schauspieler, an den sie ihr Herz verloren hatte, nicht zu vertrauen, ihm ihr Leben und das ihres Kindes, das sie bereits unter dem Herzen trug, nicht anzuvertrauen, hatte sie nicht auf die beiden gehört und war weiterhin wie blind in ihr Unglück gerannt.
Ja, sie hatte Colin wirklich geliebt. Und sie hatte ihm vertraut. Aus ganzem Herzen. Einem Herzen, das sich nun als schwach, naiv und blind herausstellte.
Als Colin vor über einem Jahr mit seiner Schauspieltruppe in der Stadt angekommen war, war sie sofort Feuer und Flamme gewesen. Sie hatte ihren Vater regelrecht auf Knien angebettelt, ihm zu erlauben, mit seiner Truppe hier Halt zu machen, sich in der Stadt einzuquartieren und in den nächsten Wochen seine Stücke zu präsentieren, so sehr hatte sie sich gewünscht, Teil davon sein zu dürfen. Sie hatte es furchtbar aufregend gefunden, den Schauspielern in den folgenden Wochen zuzusehen, wie sie für ihre Stücke probten, hatte es geliebt, abends mit ihnen zusammen zu sitzen und um das Feuer zu tanzen, während sie spannende Geschichten von ihren Reisen erzählten. Sie hatte mit glänzenden Augen zugehört und sich vorgestellt, wie es wäre, mit ihnen unterwegs zu sein, alle paar Monate eine neue Stadt, einen neuen Bundesstaat zu erkunden und kennenzulernen. Und sie hatte sich vor allem immer mehr zu Colin hingezogen gefühlt, einem Mann, der mit seinem honigblonden Haar und den grauen Augen genauso gut einer der Götter hätte sein können, die er auf der Bühne gerne darstellte. Sie hatte von wilden Abenteuern mit ihm geträumt und an dem Tag, an dem er mit seiner Truppe das erste Mal in der Stadt aufgetreten war, an dem Tag, an dem sie das erste Stück von ihm gesehen hatte, hatte sie beschlossen, ihn nicht abzuweisen, sollte er sie wollen und sie fragen, ob sie ihm folgen wolle. In seine Arme, in sein Bett, möglicherweise sogar in die nächste Stadt. Sie wäre überallhin mit ihm gegangen. Doch nun musste sie erkennen, dass er es wohl nie ernst mit ihr gemeint hatte. Nicht an dem warmen Frühlingsabend vor neun Monaten, an dem er sie endlich an der Hand genommen und in seinen Wagen geführt hatte, um ihr die Unschuld zu rauben. Nicht an dem Tag, an dem er mit seiner Schauspieltruppe die Stadt verlassen und ihr versprochen hatte, zurückzukehren, sie nicht im Stich zu lassen. Und auch nicht an dem grauen Herbsttag vor fünf Monaten, als er tatsächlich zurückgekommen war und ihr gesagt hatte, er wolle bei ihr bleiben, sie heiraten und das Kind, das sie von ihm erwarten würde, mit ihr gemeinsam aufziehen. Er hatte keines seiner Worte, keines seiner Versprechen ernst gemeint, als er nur drei Tage vor Weihnachten mit ihr vor den Altar getreten war und ihr geschworen hatte, sie zu lieben, sie zu ehren, sie zu achten und zu beschützen in guten wie in schlechten Zeiten. In Wahrheit hatte er das alles nie gewollt. Er hatte sie nie gewollt, hatte das Kind nie gewollt und hatte das Leben, das er mit ihr hätte führen können, nie gewollt, weshalb er wohl im Stillen darauf gehofft hatte, dass der Tod sie so schnell wie möglich scheiden würde. Und genau das war schließlich auch passiert. Der Tod hatte ihn erlöst. Hatte ihn von seinem Schwur freigesprochen und es ihm ermöglicht zu flüchten. Auch, wenn er unerwartet und in Gestalt ihres Vaters über ihn gekommen war. Denn ihr Vater war es gewesen, der Colin vor ein paar Minuten eine Kugel ins Herz gejagt hatte. Ihr Vater hatte ihren Mann erschossen, um ihn dafür zu bestrafen, was er ihr angetan hatte. Um ihn dafür zu strafen, dass er sie verletzt und beschämt hatte. Um sein eigenes Versprechen umzusetzen, seine Drohung wahrzumachen, mit der er Colin dazu gebracht hatte, überhaupt erst zu ihr zurückzukehren und sein schauspielerisches Talent dafür einzusetzen, ihr glaubhaft zu machen, dass es sein eigener Wille gewesen wäre. Insoweit hatte ihr Vater sie genauso verraten wie ihr Ehemann. Weil ihr Vater eigentlich hätte ehrlich sein müssen. Weil ihr Vater ihr hätte sagen müssen, dass ihr Ehemann sie gar nicht liebte und dieses Leben mit ihr und dem Kind nicht wollte. Er hätte sie vor der Erniedrigung und der Verletzung, die sie gerade erfahren hatte, beschützen können, wenn er den Mistkerl erst gar nicht zurückgeholt hätte, damit sie nie erfahren hätte, wie es wirklich in ihm aussah. Aber natürlich war es ihm um die Ehre seiner jüngsten Tochter gegangen. Um die Ehre der einzigen Tochter, die ihm nach dem Ableben seiner beiden anderen Töchter noch geblieben war.
Als die nächste Wehe kam und der Schmerz ihren Körper mit einer solchen Wucht traf, dass sie einen weiteren Schrei ausstieß, griff sie wie automatisch nach der Hand ihres toten Mannes, der immer noch neben ihr auf den Boden lag und sie aus starren Augen anblickte, bevor sie ihre Kräfte sammelte und dem Drang zu pressen endlich nachgab. Es war anstrengend und qualvoll und am liebsten wäre sie Colin sofort in den Tod gefolgt, aber sie wusste, dass ihr Kind das nicht verdient hatte. Dass ihr Kind keine Schuld am Betrug seines Vaters trug, dass ihr Kind nichts damit zu tun hatte, dass ihr Mann sie einfach nicht geliebt hatte. Das Kind konnte nichts dafür, dass ihr Vater sie lieber mit einem Mann, der sie nicht wollte, zusammenleben ließ, als die Gefahr einzugehen, dass seine Tochter von der Gesellschaft ausgestoßen und sein Enkelkind als Bastard angesehen wurde. Und darum würde sie ihrem Kind auch das Leben schenken. Sie würde ihm ein Leben ermöglichen und sie würde dafür sorgen, dass dieses Leben gut werden würde. Dass es besser werden würde als ihr eigenes.
Miranda fühlte das Köpfchen des Babys nun ganz deutlich, weshalb sie sich noch einmal anstrengte, noch einmal kräftig presste und für einen kurzen Moment wurde der Schmerz sogar von leiser Freude überdeckt, als das Köpfchen durchbrach und der erste Schrei ihres Kindes erklang. Zwei einzelne Tränen lösten sich aus ihren Augen und liefen über ihr schweißbedecktes und gerötetes Gesicht, linderten ihre Qual, dennoch wusste sie, dass es noch nicht ganz vorbei war. Die nächste Kontraktion kündigte sich bereits an, der Schmerz kam in gewaltigem Ausmaß zurück und ein letztes Mal musste sie ihre gesamte Kraft darauf verwenden, das Kind aus ihrem Körper zu drücken. Ihre Magie stärkte sie, floss durch sie hindurch wie ein stetiger Strom an Energie und ermöglichte es ihr, die Geburt einigermaßen unversehrt zu überstehen und ihre Aufgabe erfolgreich zu erfüllen. Die Aufgabe, ihr Kind gesund zur Welt zu bringen.
Langsam und etwas mühsam setzte Miranda sich auf, als sie spürte, dass es vollbracht war und blickte auf das kleine zappelnde Wesen, das nun am Boden lag und sich die Seele aus dem Leib schrie. Mit zitternden Fingern griff sie danach, nahm es in die Arme und drückte es an ihr Herz, wo es sich tatsächlich schon Sekunden später beruhigte und nur noch leise vor sich hinhickste. Sie wiegte das kleine Mädchen, denn dass es ein Mädchen war, hatte sie sofort gesehen, in ihren Armen und rutschte auf Knien zum Bett, wo sie die Kleine schließlich ablegte, bevor sie auch die Nachgeburt gebar. Dass sie blutete, weiterhin Blut verlor, als sie ihrem Kind noch einmal über das kleine Köpfchen mit dem weichen dunklen Haar strich, war ihr vollkommen egal. Es kümmerte sie nicht, wenn sie verbluten, wenn sie sterben würde, weil sie ohnehin nicht mehr viel Willen verspürte, weiter zu leben. Obwohl sie nun eine Tochter hatte, obwohl dieses Kind, das so zart und hilfsbedürftig auf dem Bett lag, ihr ganzes Herz war, konnte sie dem Ruf des Todes nicht widerstehen, der ihr versprach, endlich vom Schmerz erlöst zu werden. Von einem Schmerz, der immer noch so übermächtig in ihr wütete, dass sie kaum mehr klar denken konnte. Deshalb küsste sie das Mädchen, ihre kleine Tochter, ihr Vermächtnis und ihr Erbe auf die Stirn und flüsterte ihr ins Ohr, dass es ihr gut gehen würde. Dass sie dafür sorgen würde, dass es ein gutes Leben haben würde. Dass sie dafür sorgen würde, dass niemand sie jemals so verletzen, sie so verraten, sie so beschämen und erniedrigen würde, wie es ihr nun passiert war.
Miranda schloss ihre Augen und mobilisierte ihre Magie, mobilisierte die Kraft, die in ihr war und ihre letzten Energiereserven, um ihr Versprechen wahr zu machen und einen Zauber um ihr Mädchen zu weben, der sie ein Leben lang beschützen würde. Vor unaufrichtigen Männern, vor falscher Liebe, vor unehrenhaften Gefühlen und Absichten. Kein Mann, der es nicht ernst meinte, sollte ihrer Tochter und deren Töchtern jemals zu nahe kommen. Kein Mann, der sie nicht wirklich liebte und deshalb auch bereit war, für sie große Opfer zu bringen, sollte ihr Herz gewinnen können. Kein Mann, der nicht mutig und stark genug wäre, ein Leben lang für sie da zu sein und sie zu beschützen, sollte in den Genuss kommen können, an ihrer Seite sein zu dürfen. Nur jemand, der all diese Eigenschaften mitbringen, der all diese Bestimmungen erfüllen und die harten Prüfungen, deren sie und ihre Schwestern ihn aussetzen würden, überstehen würde, wäre der Liebe ihrer Tochter und deren Töchter würdig. So sollte es sein, jetzt und in alle Ewigkeit.
Miranda spürte, wie ihre Kräfte sie immer mehr verließen, wie ihr Körper, von der Geburt und dem Herzschmerz geschwächt, erzitterte und zusammenbrechen wollte. Doch noch war sie nicht bereit, aufzugeben. Weil sie wusste, dass ihr Vater jeden Moment mit der Hebamme, die er um Hilfe bitten wollte, zurückkehren würde. Und wenn die beiden sie so geschwächt finden würden, würden sie sofort alles tun, um sie zu retten. Sie würden alles tun, damit Miranda überleben könnte und das wollte sie auf keinen Fall riskieren. Deshalb kroch sie auf allen vieren zurück zu ihrem toten Mann, über dessen Kopf noch immer das Gewehr lag, mit dem ihr Vater geschossen und das er hatte fallen lassen, nachdem sie vor Schmerzen neben Colin zusammengebrochen war. Ihr Vater hatte es einfach liegen lassen, um Hilfe zu holen, um die Hebamme zu suchen, die seiner Tochter bei der Geburt beistehen sollte. Sie hätte ihm sagen können, dass es zu spät dafür sei, aber sie hatte schon zu dem Zeitpunkt gewusst, dass es besser wäre, wenn sie alleine wäre. Dass sie ihre Absichten am besten umsetzen könnte, wenn ihr Vater nicht bei ihr wäre. Sein Gewehr genügte vollkommen.
Ein letztes Mal sah sie auf Colin, in dessen Brust ein Loch klaffte und aus dessen Herzen alles Blut geflossen war, das sich nun wie ein kleiner See um ihn ausgebreitet hatte.
„Ich habe dich geliebt, du Mistkerl.“, flüsterte sie unter Tränen. „Und auch, wenn ich mir nun selbst eine Kugel ins Herz jage, sollst du wissen, dass eigentlich du es warst, der mein Herz zerstört hat. Du hast mich auf dem Gewissen. Und ich hoffe, diese Tatsache, dieses Wissen, wird dir deinen eigenen erlösenden Tod verderben und dich in die Hölle schicken.“
Ohne weiter zu zögern, ohne auch nur eine Sekunde inne zu halten, nahm sie das Gewehr, legte es an ihre Brust und drückte den Abzug. Der Schuss hallte unheilversprechend durch die Stille des Hauses, durch die Stille der Nacht und schreckte auch das kleine Baby auf, das auf dem Bett eingeschlafen war.
Doch während das Mädchen wieder wie wild zu schreien und zappeln anfing, sank seine Mutter neben ihrem toten Ehemann zu Boden, wo sie einen letzten Atemzug tat und dann reglos liegen blieb. Das Feuer in ihren Augen, das Feuer in ihrem Blut, das Feuer, das von Geburt an durch ihre Adern geflossen war, war für immer erloschen.
Mystic, Connecticut, 4. Juli 2016…
Montana wanderte leicht benommen durch die Menschenmenge, die sich heute, am Unabhängigkeitstag, zahlreich am Hafen von Mystic eingefunden hatte, um wie jedes Jahr die Geschichte ihres Landes an einem passend geschichtsträchtigen Ort zu feiern.
Der Old Mystic Seaport, wie das Hafengebiet eigentlich hieß, war ein geschichtenumwobener Platz, ein Ort, wo man die Vergangenheit noch immer fühlen konnte, wo die vergangenen Jahrhunderte noch immer lebendig waren und wo jedes Jahr aufs Neue abertausende Touristen hinströmten, um das teilweise erhaltene, teilweise nachgebaute oder häufig renovierte alte Viertel zu bestaunen, wo man noch sehen und erfahren konnte, wie das Leben vor zwei Jahrhunderten hier ausgesehen hatte. Zu der Zeit, wo das Land und die Menschen um ihre Unabhängigkeit und für die Freiheit gekämpft hatten. Zu der Zeit, in der Kriege an der Tagesordnung und der Frieden nur ein Traum vieler gewesen war. Zu der Zeit, zu der hier drei Schwestern gelebt hatten, die ebenfalls in die Geschichte der Stadt eingegangen waren. Zu der Zeit von Clara, Lucille und Miranda Thacker, die sich alle drei aus Liebeskummer umgebracht und einen Fluch über die Frauen ihrer Familie gebracht hatten, der sich bis in die heutige Zeit gehalten hatte und die Geister der drei Schwestern immer noch hier festhielt.
Montana schüttelte den Kopf und blieb kurz stehen, um sich ein wenig umzusehen.
Sie schlief schon seit mehreren Nächten nicht wirklich gut, hatte in den letzten Tagen wieder häufig Alpträume gehabt, hatte von vergangenen Ereignissen geträumt, von Dingen, die vor langer Zeit einer Frau passiert waren, die ihr nicht nur vom Aussehen her so ähnlich gewesen war, dass sie ihre Zwillingsschwester hätte sein können. Nein, die Frau war ihr auch vom Charakter und den Fähigkeiten her so ähnlich gewesen, dass es ihr mitunter immer noch eine Gänsehaut bescherte, wenn sie daran dachte, wie die Geschichte dieser talentierten, begnadeten Frau zu Ende gegangen war. Wenn sie daran dachte, was sie erst letzte Nacht wiederholt in ihren Träumen gesehen hatte. Und wenn sie daran dachte, dass auch ihre Geschichte so enden könnte, dass auch ihr Schicksal so aussehen könnte und dass sie schon in mehreren Tagen oder Wochen genauso in den Tod gehen könnte wie Miranda Thacker einst in den Tod gegangen war.
Als sie ihre Schwestern entdeckte, die unweit des Flusses an einem grasbewachsenen Uferabschnitt ihre Decken ausgebreitet hatten, wo sie mit ihren Ehemännern saßen und sich fröhlich unterhielten, schüttelte Montana ihre finsteren Gedanken und die unguten Gefühle ab und setzte sich mit einem Lächeln erneut in Bewegung, um zu ihrer Familie zu gehen.
„M, da bist du ja endlich.“ Louisiana, ihre zwei Jahre ältere Schwester, die mittlerweile in der dreißigsten Woche schwanger war, was nicht mehr zu übersehen war, erhob sich von der Decke und nahm Montana fest in die Arme. „Wir dachten schon, du kommst nicht mehr.“
„Wieso? Sie ist doch immer zu spät. Das sind wir doch mittlerweile gewohnt, oder nicht?“ Carolina, ihre älteste Schwester, ebenfalls schwanger, wenn auch erst in der zwanzigsten Woche, machte sich nicht die Mühe, sich zu erheben und sah sie stattdessen herausfordernd an.
„Hallo, Lieblingsschwester.“ Montana beugte sich zu Care hinab und küsste sie auf die Wange, da sie im Moment nicht bereit war, sich ärgern zu lassen. „Hallo, Lieblingsschwager.“ Sie küsste auch Finn, Cares Ehemann, auf die Wange und ließ sich hinterher von Jordan, Louisianas Ehemann, auf die Decke ziehen.
„Hey, und was ist mit mir?“
„Du bist natürlich mein allerliebster Schwager.“ Sie kicherte, als Jordan sie scherzhaft in einen Klammergriff nahm und ihr die Haare, die sie mittlerweile zu einem fast schulterlangen Bob hatte schneiden lassen, zerzauste. „Wo sind Mum und Tante Pen?“
„Irgendwo da drüben sind ein paar Gäste aus dem Inn, die Mum und Tante Pen gesehen und die ihnen gewunken haben, weshalb sie nicht unhöflich sein wollten und kurz hinüber gegangen sind, um sich ein wenig zu unterhalten.“, erklärte Lou und setzte sich wieder auf die Decke. „Hm.“ M strich ihre Haare wieder glatt und nahm sich eines der belegten Brötchen, die ihre Schwestern oder auch ihre Mutter und ihre Tante mitgebracht hatten, und die verführerisch angerichtet auf einem Teller lagen, das zwischen ihnen auf der Decke stand. „Ist ganz schön viel los hier heute.“
„Es ist doch jedes Jahr am Unabhängigkeitstag viel los am Hafen.“, meinte Finn, der sich, obwohl er erst seit knapp zehn Monaten wieder in der Stadt lebte, noch genau erinnern konnte, wie es früher gewesen war.
„Stimmt.“ Jordan griff ebenfalls nach einem Brötchen. „Letztes Jahr war es hier genauso voll, wenn ich mich richtig erinnere.“
„Letztes Jahr hast du an diesem Tag doch gar nicht richtig wahrgenommen, was hier los war, weil du nur Augen für Lou hattest.“, meinte Montana schmunzelnd.
„Entschuldige, dass mir zu diesem Zeitpunkt noch der Schreck in den Knochen saß, weil ich Lou schließlich nur Stunden zuvor hier am Ufer mit einem Dolch in der Hand gefunden hatte, den sie dabei war, sich ins Herz zu rammen, während der zweihundert Jahre alte Geist einer toten Frau vor ihr schwebte und sie dazu anfeuerte.“ Jordan schüttelte den Kopf. „Ich dachte, ich würde sie verlieren, darum war ich hinterher natürlich umso mehr darauf bedacht, es nicht noch einmal so weit kommen zu lassen. Am liebsten hätte ich sie gar nicht mehr aus den Augen gelassen.“
„Aber ich hatte Lucille doch erlöst.“ Lou griff nach seiner Hand. „Mit deiner Hilfe ist es mir vor einem Jahr gelungen, den ersten Teil des Fluches zu brechen und Lucilles Seele endlich Frieden zu schenken. Wir haben beide gesehen, wie ihre Gestalt in Richtung des Lichtes davon geschwebt ist. Wir haben beide gefühlt, dass die Erlösung endlich eingetreten war. Dass das Gute gewonnen hatte und sich Frieden über den Ort senkte.“
„Trotzdem konnte ich die schrecklichen Bilder nicht so einfach im Handumdrehen verscheuchen.“ Er hob ihre Hand an seine Lippen und hauchte einen Kuss darauf.
„Ich weiß genau, was du meinst.“ Care seufzte und warf Finn einen Blick zu. „Ich werde das Bild, wie Finn vor fünf Monaten mit dem Seil um den Hals aus dem Fenster sprang, auch niemals wieder vergessen. Ebenso wie das Bild seines leblosen Körpers, den ich danach für endlos erscheinende Minuten in den Armen hielt, während ich dachte, ich hätte ihn für immer verloren.“
„Du weißt doch, dass ich niemals vorhatte, dich zu verlassen. Dieses Mal wollte ich bleiben und dich heiraten. Und nicht einmal der Tod konnte mich davon abhalten.“ Finn lächelte Care zärtlich an.
„Ich habe dir schon damals gesagt, dass das nicht witzig ist.“ Care wollte ihm eigentlich böse sein für diese Antwort, brachte es aber nicht über sich, als er sie näher zog und auf die Schläfe küsste.
„Ich erinnere mich. Aber geheiratet hast du mich Gott sei Dank trotzdem.“ Finn legte seine Arme fest um sie.
„Ja, habe ich.“
Montana konnte in den Augen ihrer rothaarigen Schwester sehen, dass die Erinnerung an ihre Hochzeit in ihr lebendig wurde und auch Montana selbst dachte gerne an diesen Tag, der nicht einmal zwei Wochen zurücklag.
Ja, es war erst vor dreizehn Tagen gewesen, dass Carolina und Finn sich das Ja-Wort gegeben und Hochzeit gefeiert hatten und es war ein ganz besonderes Ereignis gewesen. Nicht nur deshalb, weil Care und Finn sich schon seit ihrer Geburt kannten, zusammen aufgewachsen waren und ein Paar geworden waren, als sie kaum fünfzehn Jahre alt gewesen waren. Sondern vor allem deshalb, weil die beiden vor sieben Jahren schon einmal hatten heiraten wollen, ihnen das Schicksal dann aber übel in die Karten gespielt und sie getrennt hatte. Ganze sechs Jahre hatten sie ohneeinander gelebt, in verschiedenen Städten, nachdem Finns Vater bei einem tragischen Unfall gestorben war, der auch Cares und Finns ungeborenem Sohn das Leben gekostet hatte, der nur Stunden danach tot zur Welt gekommen war. Care hatte lange Zeit sich selbst die Schuld an diesem Unfall und dem Tod dieser beiden Menschen gegeben, was vor allem daran lag, dass der Geist ihrer verstorbenen Vorfahrin Clara nicht unbeteiligt gewesen war und sie es selbst mit ihrer Magie, mit ihrer Kraft, die seit ihrer Geburt in ihr war, nicht geschafft hatte, es zu verhindern oder Finns Vater sowie ihren Sohn zu retten. Und Finn, der kaum ertragen hatte, wie sehr Care sich danach eingeigelt, wie sehr sie sich selbst gegeißelt und von ihm zurückgezogen hatte, hatte am Ende die Reißleine gezogen und war gegangen, nachdem ihm klargeworden war, dass sie sich gegenseitig nur noch verletzen würden, wenn er bliebe. Er war nach New York gegangen, hatte dort groß Karriere als Musiker gemacht und Jordan, einen bekannten und erfolgreichen Schriftsteller getroffen, dem er die Geschichte der Geisterschwestern erzählt hatte, woraufhin sich dieser auf den Weg hierher gemacht hatte. Jordan hatte Lou kennengelernt, hatte ihr geholfen, den ersten Teil des Fluches zu brechen und Lucille zu erlösen und sie hatte ihm dafür dabei geholfen, sein Buch über die Geschichte der Geisterschwestern zu schreiben und einen weiteren Bestseller zu kreieren. Darüber hinaus hatten sich die beiden verliebt und als sie im Oktober geheiratet hatten, war Finn gekommen, um für Jordan als Trauzeuge zu fungieren. Etwas, was sich dieser unbedingt gewünscht hatte, auch, weil er mittlerweile von der Geschichte von Finn und Care erfahren hatte und es für richtig befand, dass die beiden sich endlich aussöhnten. Und obwohl die Versöhnung anfangs etwas stockend und nicht problemlos verlaufen war, war Cares und Finns Liebe nach einiger Zeit wieder aufgeblüht und gemeinsam hatten sie es geschafft, alle Gefahren zu überwinden, den zweiten Teil des Fluches zu brechen und auch die zweite Geisterschwester, Clara, zu erlösen. Und damit war es nun an ihr, den dritten und wichtigsten Teil des Fluches zu brechen und Miranda den Kampf anzusagen, der letzten Geisterschwester, die nun noch übrig war und die ebenfalls erlöst werden sollte.
„Hey, M, hörst du zu?“ Jordan schnippte mit den Fingern vor Ms Gesicht, um sie aus ihren Gedanken zu reißen.
„Was?“ Sie setzte sich auf und blickte die anderen an. „Was ist los?“
„Was ist mit dir los?“, fragte Lou stattdessen. „Du warst mit deinen Gedanken scheinbar ganz woanders.“
„Entschuldigt.“ Die Jüngste fuhr sich durch ihr rabenschwarzes Haar. „Ich habe nur über etwas nachgedacht.“
„Worüber denn?“, wollte Finn wissen. „Sah nämlich ziemlich ernst aus, wenn ich deinen Gesichtsausdruck deuten müsste.“
„Ich…“ Sie überlegte kurz, ob sie ihren Schwestern und deren Männern von ihren Träumen und den Vorahnungen erzählen sollte, die sie in den letzten Tagen seit der Hochzeit von Care und Finn gehabt hatte, verwarf den Gedanken aber, als sie ihre Mutter und ihre Tante auf sie zukommen sah. „Ich erzähle es euch ein andermal.“
„Sieh an, wer hier zu uns gestoßen ist.“ Pamela Phillips, ihre Mutter, die mit ihren blonden Haaren und der gut erhaltenen Figur leicht jünger wirken konnte als sie war, setzte eines ihrer seltenen Lächeln auf und strich ihrer jüngsten Tochter im Vorbeigehen über den Arm. „Ich habe dich die letzten Tage kaum zu Gesicht bekommen.“
„Wenn ich dich erinnern darf, hast du mich vor einer Woche aus dem Gästehaus geschmissen, weil du es an Touristen vermietet hast.“ Montana ließ sich von ihrer Tante auf die Stirn küssen, bevor diese sich zwischen sie und Finn, ihren Ziehsohn, setzte.
„Entschuldige, dass ich immer wieder so grausam bin, meine Fremdenzimmer und mein Gästehaus in der Saison an Touristen zu vermieten, weil sie genau dafür da sind.“ Pam schüttelte den Kopf. „Ich bin eine absolut herzlose Mutter, weil mir Geld wichtiger ist als meine Tochter.“
Montana verdrehte die Augen. „Übertreib doch nicht gleich wieder. Ich habe schließlich nicht gesagt, dass ich dir böse bin. Ich habe lediglich ehrlich auf deinen Vorwurf reagiert.“
„Ich habe dir nichts vorgeworfen, ich habe nur festgestellt, dass ich dich in den letzten Tagen nicht zu Gesicht bekommen habe.“, erwiderte Pam. „Dafür haben wir sie umso mehr gesehen.“, sagte Care dazwischen.
M wandte sich ihr zu. „Ihr seid erst vor zwei Tagen aus den Flitterwochen zurückgekommen. Du kannst dich also kaum beschweren.“
Care zuckte die Schultern. „Ich hatte mit ein wenig mehr Ruhe gerechnet, als Finn und ich aus New York kamen.“
„Und ich habe euch nicht in Ruhe gelassen, oder wie?“ Die Schwarzhaarige war kurz davor, in die Luft zu gehen. „Ich war doch die meiste Zeit in meinem Zimmer.“
„Hey.“ Finn berührte sie besänftigend am Arm. „Care wollte doch nur einen kleinen Scherz machen. Das war nicht ernst gemeint. Du hast uns nicht gestört.“
„Das konnte ich letzte Nacht deutlich hören, dass ihr euch nicht von mir stören lasst.“, stichelte M.
„Soll ich mir jetzt etwa von dir verbieten lassen, in meinem Haus mit meinem Mann Sex zu haben?“ Nun ging auch Care in die Luft.
„Nein.“ Die Jüngste war jetzt voll in ihrem Element. „Ich sage nur, dass eher ich mich von euch hätte gestört fühlen können. Ich war nämlich nicht so laut.“
„Das ist doch wohl die Höhe.“, rief die Rothaarige.
„Okay, okay.“ Jordan fühlte sich verpflichtet, zwischen die beiden Streithähne zu gehen und sein Talent dazu zu nutzen, die Wogen zu glätten. „Wir wollen uns jetzt alle wieder beruhigen, ja?“ Er legte jeder der beiden eine Hand auf den Arm und ließ seine Magie so unbemerkt wie möglich fließen, damit sie ihm nicht auch noch an den Hals gehen würden. „Heute ist ein Feiertag. Wir feiern das Ende des Krieges und nicht den Anfang, klar?“
„Klar.“, sagte Care, entzog ihm aber ihren Arm, weil sie genau wusste, was er da tat.
„M?“ Jordan ließ zu, dass Care den Kontakt brach, während er die Jüngere noch weiter festhielt.
„Alles klar. Du kannst deine Finger von mir nehmen. Ich bin vollkommen ruhig.“, versicherte sie, obwohl in ihren Augen noch ein Rest Ärger zu sehen war.
„In Ordnung.“ Jordan löste seine Hand langsam von ihr und seufzte. „Dass ihr beiden aber auch immer streiten müsst.“
„Das war schon so, als sie noch klein waren.“ Pam machte eine wegwerfende Handbewegung, während ihr Blick skeptisch auf Jordan gerichtet war. „Und meistens ließen sie sich dann auch nicht so schnell beruhigen.“
„Tja, mein Mann hat eben ein Talent dafür, die Wogen zu glätten.“ Lou griff nach Jordans Hand und lächelte ihn an. „Danke.“
Er schüttelte nur den Kopf und ließ sich wieder neben ihr nieder. „Wozu wäre ich sonst da?“
„Oh, Lou fielen da bestimmt noch ein paar mehr Sachen ein.“ Penny zwinkerte den beiden zu.
„Ja, ziemlich sicher sogar.“ Lou musste lachen, woraufhin Jordan sie an seine Schulter zog und küsste.
„Okay, dann erzählt doch mal, was es Neues bei euch gibt.“ Penny sah ihre Nichten interessiert an. „Soweit ich mich erinnere, habe ich noch nichts von Cares und Finns Flitterwochen gehört und Lou hat auch noch nicht erzählt, was bei ihrer letzten Ultraschalluntersuchung herausgekommen ist.“
Montana erhob sich. „Wärt ihr mir sehr böse, wenn ich mir die Beine ein wenig vertrete und nachsehen gehe, wer sich noch so hier tummelt?“
„Nein.“ Lou runzelte die Stirn. „Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Alles bestens.“, versicherte die Jüngste. „Aber ich kenne eure Geschichten schließlich schon.“
„Ok.“ Lou nickte und Montana setzte sich in Bewegung, obwohl sie sich durchaus bewusst war, dass sechs Augenpaare ihr folgten und sich wahrscheinlich fragten, was mit ihr los war.
Aber im Moment war sie wirklich nicht in der Verfassung dazu, sich zum wiederholten Male anzuhören, wie schön es in Cares und Finns Flitterwochen gewesen war, die sie in Spanien verbracht hatten und sie wollte auch nicht hören, wie Lou und Jordan davon berichteten, wie faszinierend es war, ihr Baby auf dem Ultraschall zu sehen, seinen Herzschlag zu hören und zu erkennen, welches Wunder sie zusammen erschaffen hatten. Im Moment wollte sie einfach nur ein wenig Ruhe und Zeit für sich. Zeit, darüber nachzudenken, was sie tun und wie sie in den nächsten Wochen verfahren sollte.
Sie wusste seit fünf Monaten, dass es nun an ihr war, ihre Aufgabe zu erfüllen, dass vor ihr die schwierige Aufgabe lag, eine Lösung für das Problem mit dem Fluch und den Geisterschwestern zu finden und sie wusste, dass deshalb einiges auf sie zukommen würde und dass sie wahrscheinlich Hilfe bräuchte. Hilfe von ihren Schwestern, sicherlich, und auch Hilfe von deren Männern, die ebenfalls Magie in sich trugen und nicht zuletzt von Magiern abstammten. Vor allem aber würde sie die Hilfe eines ganz bestimmten Mannes brauchen, wenn es stimmte, was sie bisher herausgefunden hatten, und dass sie bis jetzt nicht einmal wusste, wer dieser Mann war, machte ihr schon ein wenig Kopfzerbrechen. Vor allem, da die Träume eben wieder angefangen hatten und die Vorahnungen mit jedem Tag stärker zu werden schienen, was ihr deutlich sagte, dass ihre Zeit gekommen war und unerbittlich gegen sie arbeitete. Je länger sie brauchen würde, eine Lösung zu finden und den Fluch zu brechen, umso länger würde sie von Mirandas Geist und den Träumen, die sie ihr schickte, gequält werden. Und je länger sie brauchen würde, um sie zu erlösen, desto stärker würde ihre Nachfahrin werden, was ebenfalls ein Problem darstellen könnte. Irgendetwas musste sie also tun und dass ihre Schwestern im Moment so glücklich und vor allen Dingen beide schwanger und daher angreifbarer und verletzlicher waren, machte die Sache nicht gerade leichter. Weil sie Lou und Care in nichts mithineinziehen wollte, was sie mehr kosten könnte als ihnen allen lieb war. Sie könnte sich nie wieder im Spiegel ansehen, wenn einer der beiden etwas passieren würde und Jordan und Finn würden es ihr wahrscheinlich auch niemals verzeihen, wenn sie zulassen würde, dass ihre Schwestern verletzt oder gar getötet würden. Irgendwie müsste sie also den Spagat schaffen, ihre Familie so gut wie möglich zu beschützen und sich trotzdem so intensiv wie möglich auf ihre Aufgabe und deren Erfüllung zu konzentrieren.
Als sie ein leichtes Kribbeln in ihrem Nacken fühlte, so als würde irgendjemand sie beobachten, als wäre irgendjemand in der Nähe, der seinen Blick auf sie gerichtet hatte, drehte sie sich um und blickte zur Hauptstraße hoch, wo tatsächlich ein Mann stand, den sie noch nie in der Stadt gesehen hatte. Er lehnte lässig mit der Hüfte an seinem Auto, einem flotten, schwarzen Cabrio, das nicht nur schnittig aussah, sondern auch ein gewisses maskulines Flair ausstrahlte, das den Mann gleich noch interessanter wirken ließ. Über die Entfernung hinweg konnte sie erkennen, dass sein Haar blond war, ein verführerisches Honigblond mit ein paar helleren Strähnen, die ihm eindeutig vom Fahrtwind zerzaust in die Stirn hingen. Seine Augen konnte sie nicht erkennen, aber sie war sich dennoch sicher, dass es helle Augen waren und dass sie auf sie gerichtet waren. Trotz der Menschenmenge, in der sie sich befand, schien sein Blick gezielt auf sie gefallen zu sein, was sie auch dazu veranlasste, sich langsam durch die Menge in Richtung Straße zu kämpfen, um ihre Vermutung zu überprüfen. Je näher sie der Straße kam und je weiter sie sich von den vielen Leuten am Hafen entfernte, desto stärker wurde das Gefühl, dass dieser Mann sie ganz genau beobachtete und jede ihrer Bewegungen verfolgte. Je öfter sie zu ihm aufsah und je deutlicher wurde, dass er sie tatsächlich mit seinen Augen fixierte, desto mehr war sie sich sicher, dass sie zwar keine Ahnung hatte, wer dieser Kerl war, dass seine Gestalt ihr aber dennoch vertraut war. Und als sie schließlich nur noch ein paar Meter von ihm entfernt war, als sie stehen blieb, um ihn genauer anzusehen, um herauszufinden, wer er war und was er wollte, wusste sie plötzlich, dass diese Begegnung hier kein reiner Zufall war.
„Kann ich Ihnen helfen?“ Seine Augen waren grau, stellte sie fest, als sie ihn genauer betrachtete. Sturmgrau wie die Wolken eines Sommergewitters.
„Ganz schön was los hier.“, sagte er, ohne direkt auf ihre Frage einzugehen oder sich vorzustellen.
„Wir feiern den Unabhängigkeitstag.“, meinte sie schulterzuckend. „Da kommt meist die ganze Stadt am Hafen zusammen.“
Er nickte. „Der Unabhängigkeitstag jährt sich heute zum zweihundertvierzigsten Mal.“
„Richtig.“ Sie verengte ihre Augen ein wenig. „Siebzehnhundertsechsundsiebzig wurde die Unabhängigkeit erklärt. Aber ich denke nicht, dass sie deshalb heute hier sind.“
„Nein.“ Er lächelte ein wenig, was leichte Lachfältchen um seine Augen entstehen ließ. „Ich hätte den Unabhängigkeitstag auch in Los Angeles begehen können. Oder in jeder anderen Stadt.“
„Sie kommen also aus Los Angeles?“, wollte sie wissen.
„Mhm.“, machte er nur.
„Und jetzt sind Sie hier.“ M verschränkte die Arme. „Ich frage mich, warum.“
„Ich habe Sie dort unten gesehen.“ Er zeigte auf die Menschenmenge. „Ich stehe schon seit einer Weile hier und beobachte das Treiben, aber dann sind Sie mir ins Auge gestochen.“
„Fein. Und deshalb sollte ich mich jetzt geschmeichelt fühlen?“ M wurde dieser Kerl wirklich ein wenig unheimlich, auch wenn sie immer noch dachte, ihn irgendwoher zu kennen.
„Möglich.“ Er ließ einen Blick über sie gleiten. „Wenn Sie ein wenig größer wären, könnten Sie gut als Model arbeiten.“
„Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe und mache.“, gab sie ihm zu verstehen.
„Das glaube ich Ihnen.“ Endlich streckte er ihr die Hand entgegen. „Ich bin Caleb Benjamin Thomson. Und ich bin hier, um mir meinen Drehort ein wenig genauer anzusehen.“
„Sie….“ Nun machte Montana große Augen und sah ihn noch einmal genauer an. „Ich wusste, dass Sie mir bekannt vorkommen. Aber ich konnte Sie dennoch nicht gleich zuordnen.“
„Im Fernsehen und auf der Leinwand sieht man meist anders aus, weil man professionell geschminkt und eingekleidet ist.“ Er zuckte die Schultern und ließ seine Hand sinken, die sie nicht ergriffen hatte.
„Sie tragen die Haare anders als zuletzt.“, stellte sie fest.
„Vorbereitung auf meine Rolle. Schließlich möchte ich ja auch die Hauptrolle in dem Film übernehmen und soweit ich weiß, trägt Ihr Schwager seine Haare in etwa so.“
Sie hätte überrascht sein können, dass er sie sofort mit Jordan in Verbindung brachte, war es aber nicht, da ihr schon länger klar war, dass er wusste, wer sie war. „Jordans Haare sind schwarz.“
„Richtig.“ Er schmunzelte. „Sobald der Dreh beginnt, werde ich mir die Haare färben. Aber bis dahin habe ich noch etwas Zeit.“
Sie nickte. „Wir hatten Sie nicht so früh erwartet.“
„Ich bekomme gerne ein Gefühl für meine Drehorte und die Personen, die daran beteiligt sind und das kann ich nur, wenn ich mich etwas länger am Ort des Geschehens aufhalte.“, erklärte er. „Ich bin immer ein paar Wochen früher vor Ort als alle anderen der Filmcrew, um mich mit den Gegebenheiten vertraut zu machen.“
„Lobenswert und sehr engagiert. Dafür werden Sie bestimmt bewundert in Hollywood.“
Ein Grinsen glitt über sein Gesicht. „Ich habe im Februar den Oscar für meine Bemühungen bekommen. Als Hauptdarsteller und als Produzent.“
„Und der Film wurde zudem als bester Film des Jahres ausgezeichnet. Ich weiß.“ Sie schüttelte den Kopf. „Sie wissen schon, dass wir uns seit geraumer Zeit fragen, warum gerade dieses Projekt Sie so sehr gereizt hat.“
„Das ist mir tatsächlich klar.“ Sein Grinsen wurde noch breiter. „Ich werde Ihnen meine Gründe beizeiten erläutern. Aber fürs Erste würde ich mich freuen, wenn Sie mich Ihrer Familie vorstellen.“
„Sie verlieren wirklich keine Zeit, was?“ Ein wenig beeindruckte sie seine Art schon, musste Montana zugeben.
„Zeit ist Geld, Montana.“ Es war das erste Mal, dass er sie mit ihrem Namen ansprach, dass er tatsächlich preisgab, dass er ganz genau wusste, wer sie war und Montana spürte, wie eine leichte Gänsehaut über ihren Rücken lief.
„Für Sie immer noch Miss Phillips.“ Sie konnte nicht widerstehen, musste ihn einfach in seine Schranken weisen.
„Oh, Entschuldigung.“ Er hob die Hände. „Ich dachte, da wir in nächster Zeit eng zusammenarbeiten werden, könnten wir uns mit Vornamen ansprechen.“
„Ich wüsste nicht, warum wir eng zusammenarbeiten sollten.“ Wieso ärgerte es sie so sehr, wie er mit ihr sprach und wie er ihr begegnete? Sie war doch sonst im Umgang mit Männern vollkommen locker und geübt.
Sie war doch sonst nicht auf den Mund gefallen und konnte es mit jedem männlichen Wesen aufnehmen. Ob nun Macho, Langweiler oder Softie. Aber Caleb Benjamin Thomson war von einem Kaliber, das ihr bisher selten begegnet war, das musste sie einfach eingestehen.
„Mir wurde gesagt, dass Sie die Geschichte am besten kennen. Sie seien die Expertin, was die Geschichte der Geisterschwestern angeht.“, erklärte er.
„Das mag sein. Aber Sie verfilmen ein Buch, das aus der Feder meines Schwagers stammt. In dem Fall sollten Sie sich also an Jordans Geschichte und nicht an meine Erfahrungen halten. Noch dazu, da Jordans Geschichte sehr authentisch und den Fakten entsprechend ist.“, gab sie ihm zu verstehen.
„Ich würde mich dennoch freuen, wenn Sie mich unterstützen würden. Sie könnten mir sicher in manchen Angelegenheiten helfen.“ Sein Lächeln war gezielt dazu eingesetzt, sie zu knacken, aber so leicht ließ sich Montana nun einmal nicht knacken.
„Wir werden sehen.“ Sie drehte sich um und ging wieder Richtung Hafen. „Wenn Sie meine Familie kennenlernen wollen, können Sie gerne mitkommen. Aber ich warne Sie….wenn Sie sich nicht benehmen, befördere ich Sie in den Fluss.“
Ein weiteres Grinsen glitt über sein Gesicht, bevor er sich aufmachte, ihr zu folgen. „Ich werde der Charme in Person sein. Versprochen.“
Caleb Benjamin Thomson war sich bewusst, dass er von den meisten Leuten, die sich am Old Mystic Seaport aufhielten, skeptisch betrachtet und fragend angesehen wurde, als er mit Montana Phillips in die Menge eintauchte, um mit ihr zu deren Familie zu gelangen. Da es aber alles in allem nichts Neues für ihn war, beobachtet und angestarrt zu werden, machte er sich nicht besonders viel daraus und hüllte sich in den dicken Schutzpanzer, den er sich in den letzten dreißig Jahren, die er nun schon in der Traumfabrik Hollywood verbracht hatte, aufgebaut hatte.
Ja, Caleb war ein richtiges Kind Hollywoods. Sein Vater stammte aus der Ehe eines bekannten Filmproduzenten und eines erfolgreichen Models und seine Mutter war die Tochter eines berühmten Hollywoodstars, der mit seiner Visagistin eine Affäre eingegangen war, die Früchte getragen hatte. Caleb selbst hatte mit vier Jahren erste Werbespots gedreht, war schon mit zehn Jahren über die Laufstege der Welt gelaufen, um Kindermode zu präsentieren und war mit knapp zwanzig Jahren ins Filmgeschäft eingestiegen, wo gleich sein erster Film, in dem er eigentlich nur eine Nebenrolle gespielt hatte, zum Kassenschlager geworden war. Vor fünf Jahren hatte er zum ersten Mal als Produzent an einem Film mitgearbeitet und vor drei Jahren hatte er seine eigene Produktionsfirma gegründet, etwas, das seinem Vater, der selbst Filmproduzent war und einst die Firma seines Vaters übernommen hatte, immer noch sauer aufstieß. Weil er sich erhofft hatte, dass Caleb eines Tages in seine Firma miteinsteigen und sie übernehmen würde. Doch Caleb hatte immer schon unabhängig sein wollen. Er hatte es immer schon gehasst, nur als Sohn von angesehen zu werden und hatte daher auch seit seiner frühesten Jugend dagegen aufbegehrt und rebelliert. Ein paar Jahre lang hatte es sogar so ausgesehen, als würde er auf die schiefe Bahn geraten und die Kurve nicht mehr kriegen, die ihn zurück auf den rechten Weg führen würde, woran die Scheidung seiner Eltern, als er kaum vierzehn Jahre alt gewesen war, nicht ganz unschuldig gewesen war. Aber auch aus diesem Sumpf, der aus Alkohol und Drogen, aus Partys und durchfeierten Nächten, aus Sex und unorthodoxen Experimenten bestanden hatte, hatte er sich am Ende aus eigenen Kräften wieder herausgekämpft und emporgezogen. Und seither lebte er ein Leben, mit dem er zwar ebenfalls einige Leute vor den Kopf stieß, aber er selbst war zufrieden und das war für ihn das Wichtigste. Mochte sein Ruf auch immer noch berüchtigt sein und es Gerüchte über ihn geben, die von einem schlechten Charakter sprachen, er war im Großen und Ganzen im Reinen mit sich selbst, was für ihn über allem anderen stand.
In Ordnung, wenn er ehrlich war, gab es eine Sache, die ihn seit Jahren beschäftigte, eine Sache, die ihn immer unzufrieden zurückließ, eine Sache, die seinen Seelenfrieden nachhaltig beeinträchtigte, doch um diese Sache auch endlich aus der Welt zu schaffen, war er schließlich jetzt hier. In diesem Städtchen, das einst ein kleines Fischerdorf gewesen war und dessen Geschichte dennoch beinahe legendär genannt werden könnte.
Als er vor neun Monaten von dem neuen Bestseller von J.J. Wright gehört hatte, der innerhalb weniger Wochen sämtliche Rekorde gebrochen und nur zwei Wochen nach Erscheinungsdatum auf allen Verkaufslisten auf Platz eins gestanden hatte, war ihm sofort klar gewesen, dass diese Geschichte etwas ganz Großes sein musste. Doch als er sich genauer darüber informiert hatte, sich das Buch sogar gekauft und gelesen hatte, hatte er gewusst, dass es genau das war, worauf er all die Jahre gewartet hatte. Er hatte sofort gewusst, dass diese Geschichte das Bedeutungsvollste war, was er jemals gelesen und in Händen gehalten hatte. Er hatte sofort gewusst, dass diese Geschichte sein Leben verändern würde und könnte, wenn er die richtigen Schritte unternehmen würde. Und darum hatte er sofort alles getan, um sich die Rechte zu sichern, dieses Buch, diese Geschichte verfilmen zu dürfen. Er war bereit gewesen, jede Summe zu zahlen, um die Erlaubnis zu bekommen, den Bestseller als Vorlage für ein Drehbuch benutzen zu dürfen. Und wenn nötig, hätte er J.J. Wright sogar persönlich aufgesucht und ihm sein Angebot, sein Anliegen dargelegt, hätte dieser nicht vor vier Monaten nach einigen Verhandlungen und ein paar Wochen Bedenkzeit, die Caleb beinahe den letzten Funken Geduld gekostet hatten, eingewilligt und ihm die Rechte verkauft. Zwar mit ein paar Bedingungen, aber mit denen konnte Cal mehr als gut leben, weil es ihn zudem davon überzeugte, dass Jordan Wright durchaus wusste, womit er es zu tun hatte und wie bedeutungsvoll die Geschichte tatsächlich war. Und deshalb war er jetzt auch umso gespannter, diesen Mann endlich persönlich kennenzulernen und ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen.
Caleb wusste, dass es auch ein Fehler sein konnte, dass er ausgerechnet heute hierhergekommen war und sich diesen bedeutungsschwangeren Feiertag ausgesucht hatte, der als der höchste Nationalfeiertag der gesamten USA galt, um den Schriftsteller kennenzulernen. Schon als er sich heute Morgen auf den Weg in diese Stadt gemacht hatte, nachdem er gestern Abend noch von Los Angeles nach New York geflogen war, war ihm klar gewesen, dass seine Ankunft hier nicht problemlos verlaufen würde und er sich wahrscheinlich auf Schwierigkeiten gefasst machen müsste. Aber zu Hause in L.A. hatten ihn keine zehn Pferde mehr gehalten. Zu Hause in L.A. war er nur von Tag zu Tag nervöser geworden. Und zu Hause in L.A. hatte er keine Ruhe mehr gefunden, etwas, das für ihn eigentlich so wichtig wie die Luft zum Atmen war.
Er brauchte seine Rückzugsorte, er brauchte seine Ruhe, er brauchte seinen Frieden, um mit dem Wahnsinn, dem er in seinem Job tagtäglich gegenüber stand, klarkommen zu können. Und gerade heute, an einem solch hohen Feiertag, an dem der Teufel in L.A. los sein würde, an dem an jeder Ecke Partys stattfinden und Feten gefeiert werden würden, an dem unzählige Leute auf und in den Straßen unterwegs sein würden, wusste er, dass es keine Ruhe und keinen Frieden für ihn geben würde. Er hatte keine Lust gehabt, eine der unzähligen Einladungen anzunehmen, die in seinen Briefkasten geflattert waren in den letzten Tagen. Er hatte keine Lust gehabt, sich mit Heuchlern und Schleimern zu umgeben, die nur ein Stück von seinem Erfolg abhaben wollten. Er hatte nicht das Bedürfnis verspürt, sich mit falschen Freunden zu umgeben, die nur an sein Geld wollten. Und er verspürte bestimmt nicht den Drang, den Fans und Followern zu begegnen, die mit glänzenden Augen und sehnsuchtsvollen Blicken zu ihm aufsahen, als sei er alles, was sie sich jemals gewünscht und erhofft hätten. Nein, das alles wollte und brauchte er wirklich nicht. Hatte er im Endeffekt nie gewollt und gebraucht. Und was seine Familie anbelangte, den einzigen anderen Rückzugsort, wo er sich noch einigermaßen wohlfühlte, mit ihr hatte er heute ebenfalls nichts zu tun haben wollen. Weil er auf die Vorwürfe und die Missbilligung seines Vaters verzichten konnte, der über sein neuestes Projekt noch ungehaltener wäre als über alles andere, was er bisher gegen seinen Willen gemacht hatte. Weil er den besorgten und auch ein wenig skeptischen Blick seiner Mutter nicht sehen wollte, wenn sie erfahren würde, was er im Begriff war zu tun und was er sich davon versprach. Und weil er seinem Bruder nicht zum hundertsten Mal erklären wollte, warum ihm das hier so wichtig war und warum er die Sache nach all den Jahren noch immer nicht einfach auf sich beruhen lassen konnte. Ja, genau deshalb war er hier. An einem ihm unbekannten, nicht vertrauten Ort, der ihm dennoch endlich die Möglichkeit bieten würde, sich selbst besser verstehen und seine Fähigkeiten besser einschätzen zu können.
„Nein, das stimmt ganz und gar nicht.“, hörte er plötzlich die melodische Stimme einer Frau, die nicht weit entfernt von ihm sein konnte, aus allen anderen Stimmen, die hier durcheinander sprachen, heraus.
„Natürlich stimmt es.“ Das war die Stimme eines Mannes, weich und einfühlsam, mit einem amüsierten Unterton.
„Finn, das ist Unsinn.“ Wieder die Frauenstimme, dieses Mal gefolgt von einem glockenhellen Lachen, das ebenfalls von einer Frau stammen musste.
„Ich würde sagen, was dieses Thema anbelangt, seid ihr euch einig uneinig.“
„Was bei euch ja wahrscheinlich niemals vorkommt.“ Die Frau, die als erste gesprochen hatte, drehte sich um, als Caleb kurz nach Montana zu der Gruppe trat, die versammelt auf zwei Decken im Gras saß. „M, gut, dass du da bist. Sag Finn und Lou, dass ich noch nie im Schlaf gesprochen habe.“
„Bitte?“ M zog ihre rabenschwarzen Augenbrauen hoch und betrachtete ihre ältere Schwester. „Du redest doch andauernd im Schlaf.“
„Das mache ich nicht.“, protestierte die rothaarige Schönheit, die Caleb sofort an eine Elfe erinnerte.
„Das hast du schon als Kind gemacht.“, gab die andere Frau, eine Erscheinung mit langem, silberblonden Haar und beinahe goldbraunen Augen, der Rothaarigen zu verstehen.
„Ja, vielleicht, wenn ich mit Clara gesprochen habe. Wenn ich mit ihr zu tun hatte, von ihr geträumt habe. Aber doch nicht so.“ Ms älteste Schwester schüttelte den Kopf.
„Lass es doch einfach auf sich beruhen, mein Schatz.“ Der Mann, der neben ihr saß und den er sofort als Finnigan McQueen, den berühmten Popsänger, identifizierte, beugte sich zu ihr und gab ihr einen besänftigen Kuss auf die Wange, bevor er seinen Blick auf Caleb richtete. „Scheint, als hätte uns Montana jemanden mitgebracht.“
Jetzt wandte sich auch die Rothaarige wieder um und fixierte Caleb mit ihren funkelnd grünen Augen.
M jedoch zuckte nur die Schultern. „Ich bin auf ihn gestoßen, als ich mich ein wenig in der Menge umsehen wollte. Er ist hier, um euch kennenzulernen.“
„Um uns kennenzulernen?“, fragte Care, die nicht wusste, wer Caleb war. Der Schwarzhaarige jedoch, der neben der blonden Erscheinung gesessen hatte und den Caleb als J.J. Wright erkannte, erhob sich und schenkte ihm ein Lächeln, das jedoch ein wenig grimmig wirkte. „Sie sind früh dran. Ich hatte frühestens nächste Woche mit Ihnen gerechnet.“
Caleb setzte ebenfalls ein etwas zynisches Lächeln auf, da ihm nicht nur klar war, dass J.J. Wright genauso wusste, wen er vor sich hatte wie er selbst, sondern auch, dass dieser sicherlich weitere Nachforschungen über ihn angestellt hatte. „Wie ich Ihrer Schwägerin bereits erklärt habe, komme ich gerne noch vor allen anderen zu den ausgesuchten Drehorten, um mir ein Bild von der Umgebung und den beteiligten Personen zu machen.“
„Und wer genau sind Sie?“, wollte die Frau mit den roten Haaren wissen, die ihren Blick noch immer nicht von ihm gelöst hatte.
„Caleb Benjamin Thomson.“ Es war ihre Schwester, J.J. Wrights Frau, die sich jetzt erhob und ihm ein echtes, aufrichtiges Lächeln schenkte. „Er ist der Mann, der Jordans Buch verfilmen wird.“
Caleb streckte ihr die Hand hin. „Und Sie sind die Mondgöttin höchstpersönlich. Es freut mich über die Maßen, endlich Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen.“
„Nur keine übertriebenen Schmeicheleien.“ Lou reichte ihm die Hand und wäre beinahe zusammengezuckt, als sie spürte, wie die Berührung sie augenblicklich elektrisierte. „Sie dürfen mich Louisiana oder ganz einfach Lou nennen.“
„Sehr gerne.“ Caleb sah zu Jordan, dem die Reaktion seiner Frau nicht entgangen war und der den Blick nun von ihr zu ihm gleiten ließ. „Jordan - ich hoffe, ich darf Sie Jordan nennen - Sie wissen gar nicht, wie sehr mir Ihr Buch gefallen hat.“
„Nun, scheinbar sehr gut, sonst hätten Sie mir wohl kaum dieses großzügige Angebot unterbreitet und damit klargemacht, dass Sie es unbedingt und unter allen Umständen verfilmen wollen.“ Der Schriftsteller griff nach der Hand seiner Frau, während sein Blick ein wenig skeptisch auf Caleb geheftet blieb. „Werden Sie uns sagen, warum es gerade dieses Buch und diese Geschichte sein musste?“
„Beizeiten.“ Der Schauspieler nickte. „Aber heute bin ich wirklich einfach nur hier, um mir einen ersten Eindruck zu machen.“
„Verstehe.“ Jordan blickte zu Finn, der neben Caleb trat und ihm seine Hand reichte.
„Mr. Thompson, wir sind uns letztes Jahr auf einer Wohltätigkeitsgala begegnet, aber ich weiß nicht, ob Sie sich noch daran erinnern.“
„Ich erinnere mich durchaus.“ Caleb nahm zufrieden, wenn auch ein wenig überrascht wahr, dass auch die Berührung der Hand von Finn einen kleinen Energiestoß durch ihn hindurchfahren ließ. „Sie haben Millionen zu Tränen gerührt, als sie an diesem Abend aufgetreten sind und dieses Lied vorgestellt haben, das sie eigens für die Wohltätigkeitsorganisation geschrieben haben. Und ich erinnere mich auch, dass Sie nach Ihrem Auftritt verkündet haben, dass die gesamten Einnahmen, die Sie mit dem Lied machen würden, dem Wohltätigkeitsverein, der Familien totkranker Kinder unterstützte, zukommen lassen würden.“
„Es hat mich keine große Überwindung gekostet, das zu tun. Vor allem, da ich selbst weiß, wie es ist, ein Kind zu verlieren.“, sagte Finn.
„Richtig.“ Caleb verbarg nicht, dass er davon wusste. „Soweit ich weiß, haben Sie Ihr Kind aber nicht an eine Krankheit verloren. Es war ein Unfall, nicht wahr?“
„Ja, es war ein Unfall und unser Kind wurde danach tot geboren. Aber das macht es weder besser noch weniger schlimm.“ Der Musiker gab sich unbeeindruckt von dem Wissen des Schauspielers.
„Natürlich.“ Calebs Blick wanderte zu Carolina. „Trotzdem freut es mich, zu sehen, dass sie beide scheinbar erneut ein Kind erwarten und ich wünsche ihnen beiden alles erdenklich Gute und dass ihr Kind dieses Mal gesund zur Welt kommen wird.“
„Dafür werden wir zu sorgen wissen.“ Carolina erhob sich endlich und sah ihm kampfeslustig in die Augen. „Ich hoffe, Sie haben bei Ihren Recherchen über uns genügend herausgefunden, um zu wissen, dass es nicht klug wäre, irgendwelche Spielchen zu spielen.“
„Ich habe nicht vor, Spielchen zu spielen.“ Caleb warf einen Blick auf die drei so unterschiedlichen Schwestern, die er gerade kennengelernt hatte. „Dieses Projekt liegt mir sehr am Herzen und es gibt Gründe dafür, die ich ihnen zu diesem Zeitpunkt noch nicht offenbaren kann. Aber ich kann ihnen versprechen, dass sie vor mir nichts zu befürchten haben, dass ich ihnen keinen Schaden zufügen möchte und dass ich wirklich nur mit den besten Absichten hergekommen bin.“
„Ich denke, dass Sie die Wahrheit sagen.“ Es war Louisiana, die nach ein paar Sekunden Stille sprach. „Dennoch sollten Sie wissen, dass zu viele Geheimnisse einfach Misstrauen sähen. Und Sie sollten wissen, dass wir ebenfalls nicht vorhaben, irgendwelche Spielchen zu spielen oder Ihnen Schaden zuzufügen. Sie können uns also vertrauen und sollten das auch, wenn Sie wollen, dass unsere Zusammenarbeit fruchtbar ist.“
„Ich hoffe sogar sehr, dass unsere Zusammenarbeit fruchtbar sein wird.“ Cal ließ seinen Blick zu ihrem gerundeten Leib gleiten und lächelte. „In diesem Zusammenhang möchte ich auch Ihnen die besten Wünsche für Ihre Schwangerschaft und die bevorstehende Geburt überbringen.“
„Danke.“ Sie schmiegte sich an ihren Mann und legte ihm die Hand auf die Brust. „Mein Mann und ich freuen uns sehr über Ihre Glückwünsche und auch über das Interesse, das sie an dem Buch bekundet haben, dessen Geschichte uns beiden sehr viel bedeutet.“
„Himmel.“ Montana fand, dass sie nun lange genug zugehört hatte, weshalb sie die Augen verdrehte und zu den anderen trat. „Wollt ihr jetzt weiterhin so geschwollen miteinander reden oder wollen wir einfach klarstellen, dass wir uns zu diesem Zeitpunkt einfach noch nicht genügend gegenseitig vertrauen und skeptisch sind, was das kommende Projekt anbelangt, das uns aus unterschiedlichen Gründen allen viel bedeutet?“
„Das haben Sie gut auf den Punkt gebracht, Ms. Phillips.“ Caleb grinste sie an.
„Lassen Sie das und sagen Sie mir stattdessen, ob Sie schon eine Unterkunft haben.“, verlangte M.
„Wieso? Wollen Sie mich aufnehmen?“, fragte er provokant.
„Sehr witzig.“ Ein weiteres Mal verdrehte sie die Augen. „Ich will Sie loswerden, damit ich mit meiner Familie weiterfeiern und ein wenig über Sie lästern kann.“
Caleb musste lachen. „Das kann ich sehr gut verstehen.“
„Fein.“ M musste ebenfalls ein wenig grinsen. „Also? Haben Sie eine Unterkunft?“
„Ja.“, antwortete er. „Ich habe mich bereits vor Wochen nach einer passenden Bleibe umgesehen für die Zeit, die ich hier während der Dreharbeiten verbringen werde.“
„Soll ich Ihnen vielleicht den Weg dorthin beschreiben? Wenn Sie mir die Adresse geben, könnte ich Ihnen helfen.“
„Nein, danke.“, wies er M ab, auch, weil er wusste, dass die Frage nicht aus reiner Höflichkeit gestellt war, sondern, weil sie wissen wollte, wo genau er abstieg. Um ihn unter Beobachtung haben zu können. „Ich kenne den Weg dorthin und weiß, wie die Unterkunft am besten zu erreichen ist.“
„Ok, dann…“ Sie schmollte ein wenig, dass er ihre Absicht tatsächlich so leicht durchschaut hatte, wollte ihn aber auch wirklich loswerden, weshalb sie eine wegwerfende Handbewegung machte. „Wir werden uns sicher in den nächsten Tagen sehen.“
„Ich befürchte, das wird sich nicht verhindern lassen.“ Er nickte in die Runde, ließ es sich aber am Ende nicht nehmen, noch einmal jedem die Hand zu geben. „Auf Wiedersehen.“ Bei Montana hielt er inne, nicht sicher, ob sie ihm die Hand schütteln würde, nachdem sie es zuvor schon nicht getan hatte, doch als sie es tat, war seine Überraschung größer als bei allen anderen, deren Händedruck er gespürt hatte. Weil es nicht nur ein Energiestoß war, der durch ihn hindurchging, sondern ein wahrer Stromstoß, der seine sämtlichen Nervenenden vibrieren ließ und das Blut in seinen Venen für einen Moment zum Stocken brachte.
„Bis die Tage.“ Montana entzog ihm ihre Hand mit neuer Skepsis im Blick, ihr Lächeln aber wirkte vollkommen unbefangen, als sie einen Schritt zurücktrat. „Sie wissen wahrscheinlich, wo Sie uns alle erreichen können.“
„Ich denke, ja.“ Er atmete tief durch und schenkte den Anwesenden danach ein strahlendes Lächeln. „Es hat mich sehr gefreut und entschuldigen sie noch einmal, dass ich die Dreistigkeit besessen habe, sie alle an einem Feiertag zu belästigen. Genießen sie den restlichen Tag zusammen.“
Jordan nickte ihm noch zu und sah ihm schließlich nach, wie er in der Menge verschwand. „Ich glaube, wir haben alle gerade dasselbe gefühlt, als er uns die Hand geschüttelt hat, oder?“
„Es war wie ein Energiestoß, der meinen gesamten Körper zum Kribbeln brachte.“ Lou rieb sich die Arme, als sie sich das Gefühl in Erinnerung rief.
„Unsere Magie hat auf ihn reagiert.“ Carolina nickte.
„Das, was in unseren Adern fließt, hat auf ihn reagiert. Und irgendwie bin ich mir sicher, dass er dasselbe gefühlt hat.“ Finn folgte dem Schauspieler ebenfalls noch immer mit den Augen, obwohl er sich längst weit weg von ihnen durch die Leute in Richtung Straße kämpfte.
M sah auf ihre Hand, in der sie immer noch das Prickeln fühlte, das seine Berührung ausgelöst hatte. „Er hat es nicht nur gefühlt, er hat es gezielt herausgefordert. Er wollte überprüfen, was passiert, wenn er uns die Hand schüttelt.“ Sie sah hoch und in die Gesichter ihrer Familie. „Es war Berechnung, dass er uns am Ende allen die Hand gereicht hat, da bin ich mir sicher.“
„Wer zum Teufel ist er also?“ Finn blickte zu Jordan, in dessen Augen er eben jenes Misstrauen entdeckte, dass er selbst verspürte und das sie schon seit dem Tag teilten, an dem Jordan von Caleb Benjamin Thomson das Angebot zur Verfilmung seines Buches bekommen hatte.
„Er wird es uns sagen.“ Jordan zog seine Frau in seine Arme, weil er plötzlich das dringende Bedürfnis verspürte, sie zu beschützen, sie in Sicherheit zu wissen. „Früher oder später wird er es uns sagen müssen, weil wir ihm keine Wahl lassen werden.“
„Dahinten kommen Mum und Tante Penny zurück.“, sagte Care, die die beiden, die sich kurz vor Calebs Auftauchen zu den Toiletten aufgemacht hatten, in der Menge entdeckte. „Wir sollten uns also zusammenreißen, um nicht auch noch ihr Misstrauen hervorzurufen.“
„Ja.“ Lou ließ sich von Jordan auf die Schläfe küssen, was eine solch beruhigende Wirkung auf sie hatte, dass sie sich sicher war, dass er zusätzlich zu dem Kuss seine Magie eingesetzt hatte. Aber sie war ihm nicht böse deswegen, im Gegenteil, irgendwie war sie sogar dankbar dafür, weil sie in ihrem aufgewühlten Zustand niemals eine unbeteiligte Miene für ihre Mutter hätte aufsetzen können.
„M?“ Sie sah zu ihrer jüngeren Schwester, die wieder auf ihre Hand starrte und ihre Finger bewegte, als könne sie noch immer nicht glauben, was sie gefühlt hatte.
„Was?“ M blickte zu Lou. „Ja, ich bin ok. Ich werde Mum nichts merken lassen.“
Dennoch drehte sie sich noch einmal um und suchte nach Calebs Gestalt, der gerade bei seinem Auto angekommen war, dort neben der Tür stehen blieb und sie über die Entfernung hinweg noch einmal dermaßen mit seinem Blick fixierte, dass ihr Körper sofort wieder reagierte.