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Olivia plagen seit ihrer Kindheit Träume und Visionen von schrecklichen Dingen, die in der Vergangenheit geschehen sind und die den Lauf der Welt für immer verändert haben. Sie weiß, dass sie Magie in sich trägt, dass magische Kräfte von Geburt an durch ihre Adern fließen, die sie zu etwas Außergewöhnlichen machen. Was sie jedoch nicht weiß, ist, dass sie dazu bestimmt wurde, zu einem Team von sechs Auserwählten zu gehören, die als einzige fähig wären, die sechs verschollenen Splitters des "Stein des Lebens" wiederzufinden, eines mächtigen und magischen Kristalls, der vor über hundert Jahren von einer anderen Hexe zerstört worden war. Als Adam Sinclair, ein attraktiver, selbstbewusster Dämonenjäger, eines Morgens vor Olivias Tür auftaucht, weiß sie, dass es mit der Ruhe ihres bisherigen Lebens vorbei wäre und es ihr nicht länger gelingen würde, sich aus allem rauszuhalten. Und sie erkennt, dass ihr dieser Mann, der ihr von der ersten Sekunde an ziemlich unter die Haut geht, noch gefährlicher werden könnte, als der tausend Jahre alte, grausame Vampir Marcus Black, der seit langem auf Rache sinnt. Trotz allem bricht Olivia mit Adam zu einer unmöglich scheinenden Mission auf, die ihnen nicht nur neue Gefährten und unglaubliche Geheimnisse enthüllt, sondern auch ihre Feinde auf den Plan ruft, die schon bald eine Gefahr für ihre Leben darstellen. Daher stellt sich beiden mit einem Mal die Frage, wie viel sie bereit sind, zu riskieren, wo sie am Ende doch mehr verlieren könnten als ihnen lieb ist...
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Seitenzahl: 1178
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für Nikki
Lieblingskollegin und „Parabatai“ forever
(Du weißt: Adam is yours)
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Epilog
Selene wusste, dass er kam. Sie wusste, dass er auf dem Weg war und dass es nun kein Zurück mehr geben würde.
Schon seit Wochen fürchtete sie sich vor diesem Tag. Schon seit Wochen, seit sie zum ersten Mal gesehen hatte, was kommen würde, lebte sie in Angst darum, was sie tun würde, wenn es so weit war.
Sie war vorbereitet, keine Frage. Sie hatte alle Vorkehrungen getroffen, die sie in der kurzen Zeit hatte treffen können und somit zumindest im Groben sichergestellt, dass Marcus niemals bekommen würde, was er haben wollte. Dennoch wusste sie, dass sie nicht in der Lage dazu war, es ganz zu verhindern. Dass sie nicht die Kraft dazu hatte, ihn auszuschalten und für alle Zeiten daran zu hindern, seinen dunklen Plan in die Tat umzusetzen. Aber sie hatte dafür gesorgt, dass es nicht heute dazu kommen würde. Sie hatte dafür gesorgt, dass es nicht in dieser Nacht geschehen würde. Und sie hatte dafür gesorgt, dass es eine Zukunft geben würde. Vielleicht nicht für sie, nein. Aber für die, die nach ihr kamen. Für die, die stärker wären. Für die, die der dunklen und grausamen Herrschaft von Marcus Black für immer ein Ende bereiten könnten.
Selene hörte den Donner draußen über die Klippen grollen, hörte, wie die Wellen gegen das Gestein schlugen, als wollten sie es ebenso zerstören wie Marcus vorhatte, die Welt zu zerstören. Ein Sturm blies um ihr kleines Haus und machte den Anschein, als wolle er es aus den Angeln reißen, doch Selene wusste, dass diese Naturgewalten nur Vorboten des wirklich Bösen waren. Vorboten der Grausamkeiten, die Marcus, der fast tausend Jahre alte Vampir, über sie bringen wollte.
Im Eiltempo packte sie alles, was sie für wichtig hielt und was für sie von großem Belang war, in eine Umhängetasche und rannte damit in das kleine Zimmer im hinteren Teil des Hauses, wo die zwei Personen völlig ahnungslos und friedlich schliefen, die ihr alles bedeuteten und die die Zukunft waren. Ihre Zukunft, die Zukunft der Menschheit, die Zukunft der Erde.
„Lucas, mein Liebling.“ Sie setzte sich auf das Bett ihres Sohnes und strich ihm über sein dichtes, blondes Haar, das dem seines Vaters, den sie bereits im Kampf gegen Marcus verloren hatte, so ähnlich war. „Lucas, du musst aufwachen.“
„Mama?“ Lucas bewegte sich ein wenig, hielt aber seine Augen noch geschlossen, als seine Mutter ihm abermals über den Kopf strich.
„Ja, mein Liebling. Tut mir leid, dass ich dich wecken muss, aber leider ist die Stunde gekommen, auf die ich dich vorbereitet habe.“ Es lag so viel Bedauern in ihrer Stimme, dass ihr Sohn nun automatisch die Augen aufschlug und sie verwirrt ansah.
„Ich verstehe nicht, Mama.“
„Doch, das tust du.“ Selene sah ihn voller Liebe an und warf auch einen Blick auf das kleine Mädchen, das im Bett nebenan schlief. „Du musst Katie nehmen und mit ihr weglaufen.“
„Mama!“ Nun war Lucas vollends wach und setzte sich mit entsetztem Blick in seinem Bett auf.
„Du weißt, wo ihr hingehen sollt und du weißt, was du sagen sollst.“ Ohne auf seinen flehenden Blick einzugehen, stellte sie die Tasche vor ihm aufs Bett. „Hier drinnen ist alles, was ihr brauchen werdet. Alles, was ihr braucht, um wohlbehalten bei Liam ankommen zu können.“
„Aber Mama….“
„Liam wird euch freundlich und ohne zu fragen aufnehmen. Er wird euch ein neues Zuhause geben und ich weiß, dass er gut für euch sorgen wird.“, überging Selene seinen Einwand komplett.
„Er könnte dir helfen!“, verschaffte sich ihr Sohn dennoch Gehör. „Wenn du ihm sagen würdest, was passiert, würde er kommen und mit dir kämpfen.“
„Das weiß ich.“ Liebevoll zerzauste sie das Haar ihres Sohnes. „Das war mir schon immer klar. Aber ich habe bereits zu viel verloren, um auch noch ihn in den Kampf hineinziehen zu wollen. Er soll nicht auch noch sterben müssen, nur weil er mir helfen will. Schließlich wird er bald Vater.“
„Dann lass mich mit dir kämpfen.“ Lucas war nicht bereit, so schnell aufzugeben.
„Oh, mein Liebling.“ Überwältig vor Liebe zog sie ihren Sohn an ihre Brust und drückte ihn fest an ihr Herz. „Glaubst du denn, ich würde wollen, dass du in den Tod gehst, um mir zu helfen? Glaubst du, ich würde dein Leben aufs Spiel setzen, nur um mich Marcus nicht alleine stellen zu müssen?“
„Es würde mir nichts ausmachen, für dich zu sterben.“, sagte er entschieden und befreite sich aus ihren Armen. „Papa hat es auch nichts ausgemacht und ich weiß das, weil er im Traum mit mir gesprochen hat.“
„Oh, mein Liebling.“ Selene konnte die Tränen nicht länger zurückhalten und sie sah gen Himmel, wo sie ihren geliebten Mann nicht nur vermutete, sondern mit Sicherheit wusste. So wie ihr Sohn es tat. „Das mag sein, mein tapferer, kleiner Kämpfer, und ich will nicht sagen, dass du nicht Recht hast. Aber auch, wenn es dir nichts ausmachen würde, mir würde es etwas ausmachen. Ich könnte niemals damit leben, dass du für mich gestorben bist. Noch bevor du ein richtiger Mann werden konntest. Noch bevor du eine eigene Familie gründen konntest. Noch bevor du erlebt hast, was es heißt, jemanden so sehr zu lieben, dass man alles tun würde, um denjenigen zu beschützen.“ Sie küsste ihn auf die Stirn. „Du musst leben, Lucas. Du musst leben, damit ich die Hoffnung auf eine Zukunft, auf ein besseres Jahrhundert nicht verliere. Du musst leben, um die Aufgabe fortzuführen, die ich nach heute Nacht nicht mehr länger werde ausführen können. Du musst leben, um deine Cousine zu beschützen, um ihr ein gutes Leben zu ermöglichen, um ihr alles zu lernen, was ich dir bereits beigebracht habe.“
Lucas´ Blick wanderte zu seiner Cousine hinüber, die immer noch vollkommen ungerührt schlief und sich nicht von ihren Stimmen stören ließ. „Sie ist erst fünf. Sie ist viel zu klein dafür.“
Jetzt musste Selene tatsächlich lachen. „Als du deine Kräfte das erste Mal erprobt hast, warst du viel jünger.“ Sie stand auf und holte seine Klamotten, damit er sich anziehen konnte. „Du bist ein Krieger wie dein Vater und zugleich hast du die Gabe, zu sehen und mit der Kraft der Natur zu handeln, wie ich es tue. Du bist dafür geboren worden, diesen Krieg zu überleben und eines Tages werden deine Zeit und dein Kampf kommen. Aber nicht heute. Nicht in dieser Nacht.“ Sie reichte ihm seine Sachen und forderte ihn mit einem stummen Blick dazu auf, ihrer Bitte Folge zu leisten. Obwohl er durchaus aufständisch veranlagt war und in seinen Augen sein Widerwillen aufblitzte, tat er schließlich, was seine Mutter von ihm verlangte und kleidete sich eilig an, während Selene sich an die Aufgabe machte, Katie zu wecken.
„Katie?“ Selene strich auch der Tochter ihrer Schwester sanft übers Haar und küsste sie auf die Wange.
„Was ist los?“ Trotz des tiefen und friedvollen Schlafes, den Katie gerade noch genossen hatte, erwachte sie schneller als ihr Cousin und sah mit interessierten Augen zu ihrer Tante auf.
„Du musst dich anziehen, mein Liebling. Lucas wird dich von hier fortbringen, wie wir es vor ein paar Tagen besprochen haben.“
„Ist Marcus hier?“ Auch Katie saß innerhalb einer Sekunde aufrecht in ihrem Bett, als sie kapierte, was los war.
„Noch nicht.“ Leises Bedauern glitt über Selenes Gesicht. „Aber er ist auf dem Weg und er wird bald hier sein. Spute dich also und zieh dich an.“
„Wo gehen wir hin?“ Katie brauchte keine weitere Aufforderung, sie war schon aus dem Bett und griff nach ihren Kleidern.
„Zu Onkel Liam.“ Lucas war bereits vollständig bekleidet und trat neben seine Mutter.
„Aber…“ Katie bekam große Augen.
„Wir haben alles, was wir brauchen.“ Ihr fünf Jahre älterer Cousin war nun voller Entschlossenheit und griff nach der Umhängetasche, die seine Mutter auf sein Bett gestellt hatte. „Wir werden ohne Schwierigkeiten dort ankommen.“
Selene nickte ihm dankbar und voller Liebe zu. „So ist es.“
„Gut.“ Ihr Sohn reckte sein Kinn in die Höhe, um ihr zu zeigen, dass sie sich auf ihn verlassen konnte und streckte dann seine Hand nach seiner Cousine aus, um sie zum Gehen aufzufordern.
Ein Blitz zuckte taghell über den nachschwarzen Himmel draußen und tauchte das kleine Zimmer für kurze Zeit in grelles Licht, bevor der Donner mit einem Krachen über das Land hallte.
„Werde ich dich wiedersehen?“ Lucas spürte die Dringlichkeit mittlerweile genauso wie seine Mutter, aber noch konnte er sich nicht ganz von ihr trennen.
„Du weißt, dass es immer einen Weg gibt.“ Mit einem leichten Zittern, weil ein weiterer Blitz über den Himmel zuckte, trat sie zu ihrem Sohn und nahm ihn ein letztes Mal in die Arme. „Du weißt, dass es für uns immer einen Weg geben wird. Auf die eine oder andere Weise.“
Er nickte abgehackt, wusste, was sie ihm sagen wollte und wusste, dass es daher wohl irgendwie ein Lebewohl für immer war. „Ich werde dich nicht enttäuschen, Mama.“
„Das weiß ich.“ Eine leise Träne lief über ihre Wange und tropfte auf das dichte Haar ihres Sohnes. „Ich liebe dich, Lucas. Mehr als mein Leben und Gott weiß, dass das die reine Wahrheit ist.“ Sie zog auch ihre Nichte in ihre Arme und küsste sie aufs Haar. „Ich liebe euch beide.“ Sie drückte die Kinder, die wirklich ihr ganzes Herz waren, für ein paar weitere Sekunden an sich, bevor sie einen Schritt zurück tat. „Und nun geht.“
„Mama….“
Im vorderen Teil des Hauses erklang ein Klopfen an der Tür und die dunkle, unheilverkündende Stimme von Marcus Black hallte zu ihnen. „Selene, meine Gute. Hier wartet Besuch auf dich. Öffne deine Tür.“
Selene riss die Augen auf und drehte sich in Richtung Zimmertüre um. „Geht!“, forderte sie von den Kindern mit Stahl in der Stimme.
„Aber…“, wollte Katie voller Angst einwenden.
„Geht jetzt endlich.“ Es war nicht nur ein Befehl, es war eine Bitte, die so tief aus ihrem Herzen kam, dass Lucas keinen weiteren Widerstand leisten wollte und seine Cousine an der Hand zu dem geheimen Ausgang führte, der sie in eine Höhle bei den Klippen bringen würde, während es ein weiteres Mal an der Haustüre klopfte.
„Leb wohl, Mama.“ Der Kloß, der ihm im Hals saß, schnürte ihm beinahe die Stimme ab, aber er kannte seine Aufgabe und er war tapfer genug, sie aufrecht zu erfüllen.
„Lebt wohl, ihr beiden.“ Selene erlaubte sich einen letzten kurzen Blick auf die beiden, dann wurde die Haustür mit einem Krachen und einem Beben, das den Boden unter ihr vibrieren ließ, aus den Angeln gerissen.
„SELENE!“ Marcus´ Stimme war nun nicht mehr lockend, sondern schneidend und voller Wut. „Ich weiß, dass du hier bist. Du brauchst dich also gar nicht zu verstecken.“
„Ich hatte nicht vor, mich zu verstecken.“ Mutig und ohne weiter zu zögern, verließ Selene das Zimmer der Kinder und ging Marcus Black mit aufrechter Haltung entgegen. „Allerdings habe ich auch selten Gäste gesehen, die gleich die Tür aus den Angeln reißen, wenn man ihnen nicht auf der Stelle öffnet.“
„Du weißt, dass ich nicht gerne warte.“, verkündete er ihr verärgert. „Und du weißt, dass ich mich niemals hinhalten lasse.“
„Nein.“, bestätigte sie. „Weil du bereit bist, über Leichen zu gehen, um zu bekommen, was du willst.“
„So muss es nicht sein.“ Marcus Black, ein großer, imposanter Mann, mit dunklen, schulterlangen Haaren und tiefliegenden, ebenso dunklen Augen, sah scheinbar wohlwollend auf sie herab.
„Gib mir einfach den Kristall und ich werde gehen, ohne dir oder den Kindern ein Haar zu krümmen.“
„Wenn du denkst, dass du dich den Kindern nur zwei Schritte mehr als jetzt nähern kannst, hast du dich gewaltig geschnitten.“, gab sie ihm zu verstehen.
„Selene.“ Der Ton des Vampirs klang nachsichtig. „Willst du wirklich weiterhin Blut vergießen, nur um mich daran zu hindern, den Kristall in die Finger zu bekommen?“
„Der Kristall wird niemals dir gehören.“, versprach sie. „Deine dreckigen Finger werden den Stein des Lebens nie auch nur ansatzweise berühren.“
„Du willst wirklich gegen mich kämpfen?“ Marcus verengte die Augen. „Ein weiteres Mal?“
„Du hast meinen Mann getötet und meine Schwester. Du wirst auch mich töten müssen, wenn du den Kristall haben willst.“
„Du solltest aufpassen, was du dir wünschst.“ Wie aufs Stichwort ertönte ein Knurren vor der Haustüre und im Dunkel der Nacht erkannte sie nicht nur die Armee aus Vampiren, die Marcus stets begleitete, sondern auch ein ganzes Rudel Werwölfe, das zähnefletschend auf den Kampf wartete.
„Du scheinst mächtig Angst vor mir zu haben, wenn du so viel Verstärkung mitgebracht hast.“
„Wo ist der Stein des Lebens, Selene?“ Die Stimme des Vampirs hallte durch das Zimmer wie der Donner um die Klippen.
„Zerstört.“ Ihre Stimme dagegen sprach von Triumph und Hochgefühl.
„Was?“ Marcus sah sie mit zusammengekniffenen Augen an.
„Ich habe ihn zerstört.“, wiederholte Selene daher und fühlte sich vielleicht zum ersten Mal mit dem Begriff verbunden, den man so gerne für sie benutzte. Hexe.
„Das hast du nicht gewagt.“, rief der Vampir. „Das kannst du nicht getan haben.“
„Du glaubst mir nicht?“ Mit blitzenden Augen griff Selene in die Tasche ihres langen Rockes und beförderte die Splitter von etwas hervor, was einmal ein in allen Regenbogenfarben schimmernder Kristall gewesen war. Ein Kristall mit dem klangvollen Namen Stein des Lebens, der dem Besitzer große Kraft verlieh, ihm jeden Wunsch erfüllte und ihm beinahe grenzenlose Macht schenkte. Über alles und jeden, sofern er wollte. Und dass Marcus das wollte, war von Anfang an klar gewesen.
„Das…“ Marcus starrte auf die sechs Splitter, von denen jeder eine andere Farbe angenommen hatte, und konnte nicht glauben, dass Selene es tatsächlich gewagt hatte, diesen mächtigen Stein in seine Einzelteile zu zerschlagen.
„Dachtest du, ich würde es wirklich einfach so hinnehmen, dass du den Kristall bekommst und die Welt sowie die Menschheit deiner grausamen Herrschaft unterwirfst?“ Man konnte sehen, wie stolz die Hexe auf sich war. „Dachtest du wirklich, ich würde zulassen, dass du mit Hilfe des Steines die Erde in Dunkelheit stürzt und die Menschen, die hier leben, verknechtest und als Nahrung missbrauchst?“ Sie trat näher zu ihm. „Oder dachtest du, ich würde meine eigenen Kräfte dermaßen überschätzen, dass ich denken würde, ich könnte den Kristall vor dir beschützen? Ihn auf ewig davor bewahren, in deine Finger zu gelangen?“
„Du hast ihn wirklich zerstört?“ Marcus konnte und wollte es immer noch nicht glauben, aber die Wut über die Wahrheit loderte bereits in ihm und ließ ihn gefährlicher werden als er ohnehin schon war.
„Ich wusste, dass ich es nie verhindern könnte, dass du den Kristall bekommst. Ich wusste, dass meine Macht, meine Kräfte niemals ausreichen würden, um dich zu besiegen, um den Stein vor dir in Sicherheit zu bringen.“ Sie schloss die Hand über den Splittern. „Ich habe bereits zu viel verloren in diesem Kampf, um weiterhin daran glauben zu können, dass das Gute am Ende siegen wird. Und ich habe gesehen, wozu du fähig bist in deinem Verlangen, diesen Stein in deinen Besitz zu bekommen und seine Macht für deine Machenschaften, für deine dunklen Pläne zu nutzen. Darum habe ich vorgesorgt und das einzige getan, was ich tun konnte, um deine Pläne zu vereiteln. Um dein Vorhaben vorerst zunichte zu machen. Ich habe den Kristall zerstört.“
„Du Miststück!“ Marcus sprang auf Selene zu und fuhr seine Krallen aus. „Du elende Hexe!“
Selene sprang zur Seite und wich Marcus´ Angriff blitzschnell aus, dennoch erwischte er sie mit seinen langen Nägeln am Arm und verpasste ihr drei tiefe, blutige Kratzer.
„Daneben.“ Obwohl Selene das Brennen der drei Kratzer bis in ihr Innerstes spürte, konnte sie sich diesen Seitenhieb nicht verkneifen und schleuderte ihre Macht gegen Marcus, sodass er zurück zur Haustüre geschleudert wurde.
„Dafür werde ich dich töten!“ Marcus startete einen weiteren Angriff auf die Hexe und dieses Mal konnte sie nicht ausweichen, sodass er seine Zähne in ihre Schulter graben konnte.
„Aaaah.“ Selene schrie vor Schmerzen auf, als sie die spitzen Zähne in ihr Fleisch dringen spürte, die ihr das Gefühl gaben, plötzlich in Feuer zu stehen.
„Ich werde dich zerfetzen und danach nehme ich mir deinen Sohn und die Tochter deiner elenden Schwester vor, um ihnen dasselbe anzutun.“ Marcus war rasend vor Wut und grub die Zähne immer weiter in Selenes Oberkörper, der bald übersät war von Bissspuren und blutenden Kratzern. „Na los, Hunter. Durchsuche das Haus mit deinem Rudel und bring mir die Kinder.“
Selene sah, wie die Wölfe ins Haus stürmten, schnüffelten und jedes Zimmer durchkämmten, um die Kinder zu suchen. „Sie….sie werden sie nicht finden.“ Sie atmete schwer und pfeifend, stand aber immer noch aufrecht, auch wenn kaum mehr Kraft in ihren Beinen war.
„Egal, wo du sie hingeschickt hast, egal, wohin sie sich auch immer geflüchtet haben, eines Tages werde ich sie finden. Und dann werden sie dasselbe Schicksal wie du erleiden.“ Marcus packte sie und schleuderte sie gegen die Wand, wo sie mit voller Wucht aufschlug und dann zu Boden ging.
„Du…du wirst….dennoch nicht…nicht siegen.“ Selene wusste, dass ihre Zeit gekommen war, dass Marcus sie niemals leben lassen würde, deshalb schloss sie ihre Augen, um ihre Macht, das letzte bisschen, das sie in ihrem Zustand noch erübrigen konnte, zu aktivieren.
„Was tust du da?“ Marcus´ Augen, die durch den Blutrausch rot gefärbt waren, weiteten sich, als er sah, wie Selene von einem schwachen Schein umgeben wurde, den er schon zu oft an Wesen wie ihr gesehen hatte. An Hexen, die ihre Macht auf einen bestimmten Wunsch konzentrierten.
„Steine der Macht, fliegt hinfort. Versteckt euch an einem sicheren Ort. Bleibt verborgen bis die Zeit für euch naht. Bleibt von den vier Elementen bewahrt.“
„Selene!“ Der Vampir wollte auf sie zuspringen, wollte erneut auf sie losgehen, um sie an dem zu hindern, was auch immer sie gerade tat, doch ihre Macht hatte bereits ein solch mächtiges Schutzschild um sie gewoben, dass er wie gegen eine unsichtbare Wand lief und zurückgeschleudert wurde.
„Erhebt euch erst wieder, wenn die Zeit dafür gekommen. Wenn die auserwählten Sechs ihr Schicksal angenommen. Zeigt euch ihren Augen, wenn die Rätsel gut gelöst. Wenn die Herzen von ihnen erkennen, was den Augen nicht entblößt.“
„Wovon zum Teufel sprichst du?“ Marcus hatte seine Fäuste fest geballt und starrte mit vernichtenden Blicken auf die Hexe, in der Hoffnung, so ihren Zauber durchbrechen zu können, was natürlich absoluter Quatsch war.
„Nur wer reinen Herzens, wird die Zeichen dann erkennen. Und das Böse auf dieser Welt wird im Feuer der Hölle verbrennen.“
„Du Hure!“ Als er sah, dass ihr Schutzschild langsam in sich zusammenfiel und ihre Macht sie nach und nach verließ, näherte er sich ihr wieder, doch er wagte es noch nicht, sie zu berühren. „Du wirst mich niemals aufhalten können. Ich werde die Splitter finden und wieder zusammensetzen. Und dann wird dein Tod umsonst gewesen sein.“
Ihre Augen, die bereits verschleiert waren und den Tod, der nahe war, ankündigten, richteten sich auf ihn und schienen ihn trotz ihrer Trübheit beinahe zu durchbohren. „In einmal hundert Jahren, wenn die Auserwählten da, wirst du den Tod bald finden und das Ende deiner Schreckensherrschaft ist nah.“
„Hör auf mit deinem Hexengerede.“ Weil ihre Macht sie nun komplett verlassen hatte und sie am Ende ihrer Kräfte angekommen war, legte er seine Hände um ihren Hals und drückte zu. „Es wird dir nichts mehr nützen. Ich werde kriegen, was ich haben will. Das weißt du so gut wie ich.“
Obwohl er immer fester zudrückte und sie kaum mehr Luft bekam, legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht und ihre Augen schlossen sich in scheinbarem Frieden. „Ich habe es gesehen.“ Ihre Stimme klang nicht durch ihren Mund zu ihm, sondern durch ihre Gedanken. „Du wirst brennen. Und sie werden siegen. Sie, die von uns allen abstammen.“
„Die…“ Er ließ von ihr ab, weil er nicht verstand, was sie ihm sagen wollte, weil er sich keinen Reim auf das machen konnte, was sie von sich gab. Doch er sah, dass das Leben sie bereits verließ, sodass ihm keine Möglichkeit mehr blieb, mehr zu erfahren.
„Nein!“ Er zog sie hoch und schüttelte sie, um sie dazu zu zwingen, noch nicht zu sterben. „Nein, nicht so, du verdammte Hexe!“ Er schlug ihr fest ins Gesicht und tatsächlich öffnete sie noch ein letztes Mal die Augen, doch sie waren nicht auf ihn, sondern in weite Ferne gerichtet.
„Er wird kommen.“, sprach sie mit schwacher, metallisch klingender Stimme, die ihm durch und durch ging. „Er wird kommen, Liv, und du musst ihn einlassen.“
„Was…“ Marcus schüttelte sie ein weiteres Mal, als ihre Augen wieder zufielen, doch er spürte, wie ihr Herz ein letztes Mal schlug und ihr Körper in seinen Händen bereits kalt wurde, während der Tod sie holte. „NEEIIINN!“ Vor Wut vibrierte nicht nur seine Stimme und sein Körper, sondern der gesamte Raum, der erschüttert wurde von dem Ausruf aus dem Mund des Vampirs. „Du verdammte Hexe! Das wirst du mir büßen. Das wirst du bereuen. Auf ewig.“
Er ließ sie auf den Boden fallen und griff nach ihrer Hand, in der sie die Splitter des Kristalls gehalten hatte, um nachzusehen, ob sie noch da waren. Doch wie er bereits befürchtet hatte, war ihre Hand leer und es gab keine Spur mehr von den sechs kleineren Kristallen, die vom Stein des Lebens übrig waren.
Sie waren weg. Einfach verschwunden. So als hätten sie nie zuvor existiert.
Schottland, Isle of Skye, gut hundert Jahre später…
Olivia lag in ihrem Bett und erzitterte, als eine Sturmbö um ihr Haus zog und durch ihren Kamin pfiff, in dem das Feuer längst ausgegangen war. Sie zog sich die Bettdecke enger um ihren Körper und vergrub die Nasenspitze tief in ihrem weichen Kissen, um die Wärme, die sich dort gehalten hatte, noch ein wenig auszukosten. Doch es war ihr keine weitere Ruhe vergönnt, weil es plötzlich laut an der Tür zu klopfen begann.
„Was zum…“ Noch vollkommen verschlafen und ohne richtigen Orientierungssinn, drehte sie sich in ihrem Bett herum und wäre beinahe gefallen, da sie scheinbar viel weiter am Rand lag, als sie vermutet hatte.
„Verflucht.“ Als ein weiteres lautes Klopfen an ihrer Haustür ertönte, schlug sie verärgert ihre Bettdecke zurück, wodurch sie der letzten wohltuenden Wärme beraubt war, und stieg fröstelnd aus dem Bett, um auf ihren dicken Socken die Treppen hinunter zu laufen.
Mittlerweile klopfte es das dritte Mal energisch an der Tür, wobei es dieses Mal schon fast in ein Hämmern ausgeartet war und Olivia kniff die Augen zusammen, um dem Besucher gehörig die Meinung zu sagen, der sie am ersten Tag im Jahr schon so früh und beinahe brutal aus dem Bett geholt hatte.
„Was soll der Scheiß?“ Sie riss die Türe auf und starrte auf den ihr unbekannten Mann, der davor stand. „Was zum Teufel wollen Sie?“
„Na, endlich.“ Der fremde Mann, der zugegebenermaßen eine ziemliche Erscheinung war, rollte genervt mit den Augen, als er sie erblickte. „Ich dachte schon, ich muss ewig in dieser höllischen Kälte stehen bleiben.“
„Wie bitte?“ Liv, die den Mann weder kannte, noch verstand, was er von ihr wollte, schlang die Arme um sich, als ein weiterer eiskalter Luftzug um das Haus pfiff.
„Du bist gar nicht so leicht zu finden, weißt du das?“ Ohne, dass sie ihn dazu aufgefordert hatte, trat er über die Schwelle in ihr Haus und schob sie zur Seite, sodass er in den Flur gelangen konnte. „Ganz schön einsam und abgeschieden lebst du hier.“
„Ich…was….das…“ Liv brauchte einen Moment, um ihre Stimme und die Fassung wieder zu finden. „Also, entschuldigen Sie mal. Ich kann mich nicht erinnern, Sie in mein Haus eingeladen zu haben und es steht Ihnen nicht zu, sich einfach hier Zugang zu verschaffen.“ Sie packte ihn am Arm, als er einfach weitergehen wollte. „Und warum auch immer Sie mich duzen, als würden wir uns schon ewig kennen, ich will nicht, dass Sie bleiben.“
Er drehte sich zu ihr um und sah sie mit seinen seltsam hellen Augen, die irgendwo zwischen Gelb, Gold und einem sehr hellen Braun schwankten, von oben bis unten an. „Du willst mir also sagen, du wusstest nicht, dass ich komme?“
„Ich…“ Olivia zuckte ein wenig zurück und fragte sich im selben Moment, ob sie letzte Nacht wohl so betrunken gewesen war, dass sie mit einem Mann geflirtet und ihn zu sich eingeladen hatte, ohne dass sie sich daran erinnern konnte. Andererseits konnte das gar nicht sein, weil sie sich sicher war, dass sie nicht aus dem Haus gegangen und die ganze Zeit alleine hier gewesen war. „Nein. Woher hätte ich das wissen sollen? Haben wir uns zuvor schon einmal getroffen?“ Sie betrachtete ihn ein wenig genauer. „Haben wir uns schon irgendwo gesehen?“
Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, das so markant war, dass sie sich plötzlich sicher war, dass sie es niemals vergessen hätte, wenn sie es zuvor schon einmal gesehen hätte. „Nicht, dass ich wüsste.“
„Ok, was zum Teufel wollen Sie dann von mir?“ Auch wenn der Kerl gut aussah und sein Lächeln verriet, dass er Humor und Charme besaß, reichte es Olivia jetzt langsam und sie wurde wütend. „Wenn Sie an einem Feiertag nichts Besseres zu tun haben, als fremde Frauen aus den Betten zu holen, um sich einen Spaß zu erlauben, sind Sie bei mir an der falschen Adresse.“
„Ich hatte nicht vor, mir irgendeinen Spaß zu erlauben.“ Er fuhr sich durch sein dichtes blondes Haar, das er an den Seiten etwas kürzer trug, während es ihm von seinem Seitenscheitel aus so lang gewachsen war, dass es ihm seidig und glatt über die Ohrenspitzen und in die Stirn fiel. „Und ich glaube auch nicht, dass ich an der falschen Adresse bin, obwohl ich zugebe, dass ich ziemlich lange gesucht habe. Wie gesagt, du bist nicht einfach zu finden.“
„Und warum wolltest du mich finden?“ Wenn er sie schon so vehement mit Du ansprach, würde sie es jetzt auch einfach tun.
„Weil mir gesagt wurde, ich sollte dich finden.“ Er ließ noch einmal einen Blick über sie gleiten und seufzte dann. „Willst du nicht endlich die Tür schließen? Es ist wirklich furchtbar kalt draußen und du hast nicht gerade viel an, wenn ich das sagen darf.“
„Ich…“ Liv sah an sich hinunter und obwohl sie unter ihren Schlafsachen eine gewaltige Gänsehaut hatte, fiel ihr erst jetzt wieder auf, dass sie tatsächlich nur eine Schlafhose und ein langärmeliges altes Shirt trug, dass seine besten Tage in jedem Fall hinter sich hatte. „Verdammter Kerl.“
Sie schlug die Haustüre hinter sich zu und warf ihm einen funkelnden Blick aus ihren tiefgrünen Katzenaugen zu, bevor sie wieder in Richtung Treppe ging. „Du wartest hier und rührst dich keinen Zentimeter von der Stelle, bis ich wiederkomme. Ich gehe nach oben, ziehe mir etwas anderes an und putze mir kurz die Zähne. Und danach reden wir Tacheles, klar?“
Er hob seine Hände, große, starke Hände mit schmalen, langen Fingern, wie um ihr zu signalisieren, dass er sich benehmen würde. „Sonnenklar.“
„Hmpf.“ Sie machte nur ein abfälliges Geräusch und stapfte dann auf ihren dicken Stricksocken nach oben, um in ihr Schlafzimmer zurückzukehren und sich umzuziehen.
Während sie sich Jeans und einen dicken Strickpulli aus ihrem Schrank suchte und ihre Schlafsachen fallen ließ, fragte sie sich, was sie dazu geritten hatte, den Kerl einfach so in ihrem Flur stehen zu lassen und ihm nach all seinen seltsamen Worten und seinem komischen Auftritt so sehr zu vertrauen, um ihn alleine zu lassen und nicht gleich hinauszukomplimentieren, während sie sich umzog. Schließlich könnte er ihr da unten die Wohnung ausräumen, ihr eine Falle stellen, mit einem Messer oder einer anderen Waffe auf sie warten, wenn sie wieder hinunterkäme. Andererseits hätte er sie auch gleich töten oder bewusstlos schlagen können, wenn er das hätte tun wollen, was sie ein wenig ruhiger werden ließ, sodass sie ihre Gedanken sortieren konnte. Denn seine Worte, wenn sie auch überhaupt keinen Sinn zu ergeben schienen, und die Tatsache, dass er gedacht hatte, sie hätte bereits gewusst, dass er kommen würde, hatten ein seltsames Gefühl in ihr ausgelöst. Sie an irgendetwas erinnert, was sie glaubte, schon einmal gehört zu haben. Etwas, auf das ihre Gabe reagiert hatte, eine Gabe, die sie eigentlich seit über einem Jahr nicht mehr eingesetzt hatte.
Liv ging zum Bett, um ihre Schlafsachen unter dem Kissen zu verstauen und erschauderte, als sie sich plötzlich erinnerte, was sie geträumt hatte. Als sie sich an die Gewalt und den Tod erinnerte, den sie gesehen hatte. Die Gewalt, den Tod und…
Liv riss die Augen auf, als ihr einfiel, was genau sie an den Worten des komischen Kerles so seltsam gefunden hatte und woran genau sie sie erinnert hatten. Denn die Frau in ihrem Traum, die Hexe, die in ihrem Traum einen gewaltsamen Tod erfahren hatte, hatte ihren Namen genannt. Sie hatte Livs Namen genannt und ihr gesagt, er würde kommen. Er würde kommen und sie müsse ihn einlassen. Was sie mit einem Mal wieder so deutlich vor sich sah und hörte, dass ein weiterer kalter Schauer ihren Rücken hinunterlief.
Liv drehte sich langsam um und starrte durch die Zimmertüre auf den Flur, durch den Geräusche von unten heraufdrangen.
War er dieser jemand, von dem die Hexe im Traum gesprochen hatte? War der mysteriöse, gutaussehende Kerl, der sie am ersten Tag des neuen Jahres so unsanft aus dem Bett geholt hatte, dieser Er, den sie einlassen müsste?
Olivia hatte keine Ahnung, ob es so war, auch wenn ihr Gefühl ihr sagte, dass es so sein musste. Schließlich hatte er ebenso behauptet, ihm sei gesagt worden, er solle sie finden. Was nicht nur ein sehr seltsamer Zufall wäre, sondern – wie sie aus Erfahrung wusste – einfach nicht gänzlich ohne Bedeutung sein konnte.
„Verdammt.“ Olivia schloss ihre Augen und ballte die Fäuste, weil sie sich doch eigentlich geschworen hatte, mit all diesen Dingen abzuschließen. Sie hatte sich geschworen, all das zu vergessen, was gewesen war und so zu leben, als sei sie eine ganz normale, fast dreißigjährige Frau, die mit ihrem Leben klarkam. Doch nun drohte sie scheinbar alles wieder einzuholen und zu ihr zurückzukommen und das nur, weil sie einen Abend lang unvorsichtig gewesen war, betrunken zu Bett gegangen war und einen Traum gehabt hatte, der ihr einen Mann ins Haus geschickt hatte, der mit jeder Faser seines gut trainierten Körpers Gefahr ausstrahlte.
„Verdammt, verdammt, verdammt.“ Sie hämmerte mit ihrer Faust gegen den Bettpfosten und versetzte auch dem Bettrahmen einen kräftigen Tritt mit dem Fuß, um etwas von ihrer Wut und ihrer Frustration loszuwerden, bevor sie sich dem Unausweichlichen wieder stellen müsste. Denn dass sie nun keine Wahl mehr hatte, war vollkommen klar. Sie konnte den Mann schließlich schlecht wieder wegschicken, um weiterhin alles zu verdrängen. Und abgesehen davon war sie sich auch beinahe sicher, dass der Kerl, dessen Name sie noch nicht einmal kannte, auch nicht einfach wieder gehen würde. Zumindest nicht, bevor er losgeworden war, was auch immer er loswerden wollte und musste. Deshalb schlug sie noch einmal mit der Stirn gegen den Bettpfosten, rieb sich hinterher die Stelle, die ein wenig pochte und drehte sich dann mutig um, um hinunterzugehen und endlich herauszufinden, warum auch immer und von wem auch immer dieser Mann zu ihr geschickt worden war.
Sie hatte schon fast erwartet, dass er nicht mehr im Flur stehen würde, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Dennoch ärgerte es sie irgendwie, ihn vor dem Kamin in ihrer Wohnküche hocken zu sehen, wo er ein Feuer entfacht hatte, dass bereits seine Wärme im Raum verbreitete.
„Entschuldige.“ Er warf ein weiteres Holzscheit in den Kamin, als er sie bemerkte. „Ich weiß, du hast gesagt, ich soll mich keinen Zentimeter von der Stelle bewegen, aber da es wirklich schrecklich kalt ist, dachte ich, ich mache uns einfach schon einmal ein kleines, feines Feuer, damit wir nicht erfrieren, während wir Tacheles reden.“
„Sehr witzig.“ Sie beobachtete seine geschmeidigen Bewegungen, als er sich erhob und die dicke schwarze Lederjacke auszog, die innen mit weichem Fell ausgestattet war. „Deine Schuhe hinterlassen nasse Spuren auf meinem Teppich.“
Der blonde Kerl blickte auf seine wadenhohen Schnürstiefel hinab, die ebenfalls gefüttert waren und dicke, robuste Sohlen aufwiesen. „Sorry. Soll ich sie ausziehen?“
Liv atmete tief durch, was beinahe wie ein Schnauben klang und ging dann hinüber in den Teil des Raumes, wo ihre kleine Einbauküche stand. „Ich brauche jetzt erst einmal einen starken Kaffee und etwas Zucker, um vollständig wach zu werden und dann möchte ich, dass du mir dein Eindringen hier bis ins kleinste Detail erklärst.“
Ein amüsiertes Lächeln glitt über seine markanten Gesichtszüge mit den scharfgeschnittenen Wangenknochen, den vollen Lippen und den auffälligen Augen, die beleuchtet vom Schein des Feuers wie flüssiges Gold glühten. „Dann hast du also beschlossen, mir vorerst zu vertrauen und dir meine Geschichte anzuhören, bevor du mich zum Teufel schickst?“
„Einen Scheißdreck habe ich.“, schleuderte sie ihm entgegen, weil es sie ärgerte, dass er sie scheinbar so leicht durchschaute.
Sein Lächeln wurde etwas milder und er setzte sich auf einen der Stühle, die an dem runden kleinen Tisch standen, der unweit der Einbauküche stand. „Du wusstest, dass ich komme. Aus denselben Gründen, aus denen ich wusste, dass ich mich auf die Suche nach dir machen müsste.“
Sie schaltete die Kaffeemaschine ein, nachdem sie bereits Kaffeepulver hineingegeben und das Wasser aufgefüllt hatte. „Ich weiß noch nicht einmal, wer du bist. Wie soll ich da gewusst haben, dass du kommen würdest?“
„Adam.“, sagte er schlicht und lehnte sich zurück. „Mein Name ist Adam.“
„Einfach nur Adam?“ Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn aus ruhigen Augen an, die nichts von ihrem inneren Aufruhr erahnen ließen.
„Adam Sinclair.“ Er zog seine Augenbrauen hoch, die genauso goldblond wie seine Haare waren. „Aber ich wüsste nicht, was mein Nachname zur Sache tut.“
„Sinclair?“ Sie sah dennoch etwas überrascht aus. „Das ist ein alter englischer Name. Ein Name, der mit blauem Blut in Zusammenhang steht.“
„Keine Sorge.“ Sein Grinsen war verschmitzt und süffisant. „Ich bin kein Prinz, kein Herzog oder Graf. Und ich trage auch keinen anderen Adelstitel.“ Er seufzte abermals. „Ich komme aus Irland.“ „Aus Irland?“ Nun hoben sich ihre Augenbrauen.
„Aus Dublin, um genau zu sein. Auch wenn ich auf dem Land geboren wurde.“, erklärte er daher weiter.
„Und wie kommst du dann hierher?“, wollte sie wissen.
„Mit dem Flugzeug.“
Sie verdrehte die Augen. „Du bist aber auch wirklich ein Witzbold.“
„Naja, natürlich bin ich nicht mit dem Flugzeug bis vor deine Haustür gelangt.“ Er zuckte die Schultern. „Ich bin von Dublin nach Edinburgh geflogen, dann mit dem Zug von Edinburgh nach Inverness und von dort bin ich mit dem Auto nach Portree gefahren. Dort habe ich mich dann durchgefragt, ob irgendjemand dich kennt und weiß, wo ich dich finden kann. Aber wie ich bereits zweimal gesagt habe, das war gar nicht so einfach. Als ich am Ende doch noch eine Frau fand, die dich kannte und mir beschreiben konnte, wie ich zu dir komme, war es schon zu spät, um noch loszufahren, also habe ich in Portree übernachtet und bin stattdessen gleich heute Morgen nach dem Frühstück aufgebrochen.“
„Nach dem Frühstück?“ Sie sah auf die Uhr, die ihr anzeigte, dass es erst kurz nach neun Uhr morgens war. „Du bist dir aber schon bewusst, dass gestern Silvester war, oder?“
„Ich hab mir das Feuerwerk in Portree angesehen.“, verkündete er daraufhin vollkommen ernst. „Und kurz danach habe ich die nette Dame getroffen, die mir sagen konnte, wo du dich derzeit aufhältst.“
„Und dann bist du bereits so früh am Morgen aufgestanden, nur um mich zu suchen?“
„Sieben Uhr ist nicht früh.“, meinte er.
„Sieben Uhr ist selbst dann früh, wenn ich nicht erst nach Mitternacht ins Bett bin.“ Sie wandte sich wieder zur Kaffeemaschine um, die bereits fertig war und eine Kanne voll des schwarzen Gebräus ausgespuckt hatte. „Ich vermute, du kannst also auch eine Tasse Kaffee vertragen?“
Er musste wieder grinsen. „Ich trinke gerne eine Tasse Kaffee mit, aber brauchen tue ich sie nicht unbedingt.“
„Pff.“ Kopfschüttelnd holte sie Tassen aus einem der ordentlich eingerichteten Regale, schenkte den Kaffee hinein und kam dann zu ihm an den Tisch. „Milch oder Zucker?“
„Nichts von beidem.“
„Das war ja klar.“ Sie holte Milch für sich selbst aus dem Kühlschrank und gab auch drei Stück Zucker in ihre Tasse, bevor sie sich auf den Stuhl setzte, der ihm gegenüber stand. „Also, warum hast du nach mir gesucht?“
„Weil mir eine Frau im Traum gesagt hat, ich soll Olivia McEwan finden.“
Liv, die gerade die Tasse an die Lippen gesetzt hatte, hätte sich beinahe an ihrem Kaffee verschluckt und hustete ein paar Mal, bevor sie ihn aus tränenden Augen ansah. „Wie bitte?“
Seine goldenen Augen verengten sich ein wenig. „Ist das wirklich so überraschend und seltsam für dich oder tust du bloß so?“
Sie wischte sich über den Mund und sah auf ihren Pulli, um sicherzustellen, dass er keine Kaffeeflecken abbekommen hatte. „Was soll die Frage?“
„Entschuldige, aber da das hier eine ernste Sache ist und ich entgegen deiner anfänglichen Meinung wirklich aus ernsten Gründen hier bin, will ich auch sichergehen, dass du die richtige Person bist und ich nicht einen Fehler begangen habe.“, gab er ihr zu verstehen.
„Ich bin Olivia McEwan.“, konterte sie ein wenig angefressen, weil er gleich so garstig wurde. „Und ich wüsste nicht, dass es noch irgendwo hier auf dieser Insel eine andere gäbe.“
„Auf der Isle of Skye oder auf der Insel Großbritannien?“, fragte er nach.
„Vielleicht sagst du mir ja einfach, was du von mir erwartet hast, wenn es dich schon so überrascht und misstrauisch macht, wie ich auf deine Enthüllungen reagiere.“ Sie stand auf und ging erneut zum Kühlschrank, aus dem sie sich Butter, Marmelade und Käse nahm.
„Es heißt, du seist eine Hexe.“, sagte er daher freiheraus.
„Ich….“ Sie wirbelte zu ihm herum, sodass ihr rotes Haar nur so flog.
„Eine Hexe und Seherin.“ Adam erhob sich und kam näher zu ihr. „Es heißt, du könntest sowohl die Zukunft als auch die Vergangenheit sehen, hättest Visionen, die dir erlauben würden, zu handeln, wenn eine Katastrophe bevorstünde, und du stündest im Einklang mit der Natur, die deine Befehle ebenso entgegennimmt, wie sie dir Kraft verleiht.“
„Das…ich…“ Olivia, die tatsächlich schon ein wenig aufgetaut war während ihres Gesprächs, zog sich daraufhin wieder merklich zurück und wich ihm aus, als er noch einen Schritt näher kam. „Von wem hast du das gehört?“
„Man kann viel über gewisse Personen herausfinden, wenn man nur weiß, wo man suchen muss.“ Seine Finger griffen nach ihrem Haar, das sich in unzähligen, aberwitzigen Korkenzieherlocken um ihr schmales, zartes Gesicht rankte. „Ich muss zugeben, du siehst gar nicht aus wie eine Hexe.“
„Ach ja?“ Warum fühlte sie plötzlich eine solche Bitterkeit, fragte sich Liv erschaudernd. „Wie sollte eine Hexe denn in deinen Augen aussehen?“
„Auf jeden Fall nicht so hübsch.“ Er betrachtete ihr zartes, schmales Gesicht, in dem ihre intensiv grünen Augen beinahe geheimnisvoll leuchteten, während ihre helle, glatte Haut wie reinster Alabaster glänzte. „Hexen haben normalerweise überall Warzen im Gesicht, eine Hakennase, tiefe Falten und einen Buckel. Aber niemals besitzen sie so reine, fast schon durchsichtig wirkende Haut und einen so sinnlichen Mund wie du.“
„Das bringt mich zu der Annahme, dass du größtenteils mit Märchen großgeworden bist und noch niemals einer Hexe in Echt begegnet bist.“ Sie wollte seine Hand wegstoßen, da seine Finger immer noch mit ihrem Haar spielten, aber er ließ sich nicht verscheuchen.
„Oh, ich bin Hexen begegnet und natürlich waren auch sie nicht alle so furchtbar hässlich wie in den Märchen. Aber du stichst wirklich aus der Menge heraus. Einzig dein feuerrotes, gelocktes Haar bringt mich zu der Einsicht, dass du wohl tatsächlich eine Hexe sein könntest.“ Er ließ ihre Locken langsam durch seine Finger gleiten.
„Weil Hexen immer rotes Haar haben?“ Sie trat entschieden einen Schritt zurück.
„Meistens zumindest.“ Ein kleines Lächeln glitt über sein Gesicht. „Bist du nun eine oder nicht?“
„Ich dachte, das hätte dir deine geheimnisvolle Quelle bereits verraten.“ Sie drehte sich um und wandte ihm absichtlich den Rücken zu.
„Olivia…“
„Wer bist du?“, fragte sie, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen.
„Wer ich bin, habe ich dir bereits gesagt.“ Er steckte seine Hände in die Taschen seiner schwarzen Jeans, um nicht ein weiteres Mal nach ihr zu greifen. „Was ich bin, werde ich dir enthüllen, sobald ich weiß, dass ich gefunden habe, was ich gesucht habe.“
Sie schüttelte den Kopf und trat noch weiter von ihm weg, sodass es ihm nun ohnehin nicht mehr möglich gewesen wäre, sie zu berühren. „Ich habe mit all dem abgeschlossen, Adam, und ich wollte nie mehr wieder etwas mit all den Dingen zu tun haben, die du vorhin angesprochen hast.“
Er nickte. „Wohnst du deshalb so einsam und allein hier draußen? Mitten auf den Klippen, mit nichts als einem kleinen Fluss als Nachbarn?“
Sie verschränkte die Arme, drehte sich aber wieder zu ihm um. „Ich wohne hier alleine, aber deshalb bin ich noch lange nicht einsam. Und ich habe Nachbarn, die keine zehn Minuten entfernt wohnen.“
„Zehn Minuten?“ Er zog eine Augenbraue hoch und warf ihr einen amüsierten Blick zu.
„Ja.“ Sie machte einen weiteren Schritt zurück, als er wieder auf sie zugehen wollte. „Das Dörfchen Toravaig liegt nur zehn Minuten von meinem Haus entfernt. Und wenn mir nach mehr Gesellschaft ist, kann ich in einer halben Stunde in Portree sein.“
„Das Dörfchen Toravaig.“ Adam runzelte die Stirn. „Du meinst, die kleine Häuseransammlung, an der ich vorbei gekommen bin, als ich auf der Suche nach dir war?“
„Ja.“ Sie klang beinahe trotzig.
„Das sind nicht mehr als zehn Häuser und die stehen noch so weit verstreut, dass man sie kaum als Dorf bezeichnen kann.“
„Mein Gott.“ Sie warf die Hände hoch und kehrte zum Tisch zurück. „Du tust ja gerade so, als wäre Dublin eine Millionenstadt.“
„Meine Nachbarn wohnen zumindest nur ein paar Schritte von mir entfernt.“, antwortete er vollkommen ernst.
„Jedem so, wie er es mag.“ Liv zuckte die Schultern und sah ihn so trotzig an, wie sie zuvor geklungen hatte.
„Olivia…“
„Liv, bitte.“, korrigierte sie ihn und hob ihre Hand, da er erneut einen Versuch startete, zu ihr zu kommen. „Ich hasse es, wenn man mich Olivia nennt.“
„In Ordnung, dann Liv.“ Er blieb an Ort und Stelle und hob seine Hände zum Zeichen, dass er ihr vorerst nicht näher kommen würde. „Willst du mir jetzt helfen, oder nicht?“
„Wobei?“
Er schien einen Moment zu überlegen, ob er ihr tatsächlich eröffnen sollte, was er wirklich wollte, doch am Ende entschied er sich wohl für die Wahrheit, da er ein tiefes Seufzen ausstieß. „Bei der Suche nach den verlorenen Splittern des mächtigsten Kristalls der Erde. Dem Stein des Lebens.“
Liv lief es eiskalt den Rücken hinunter und sie wurde so weiß wie der Schnee, der draußen auf den Klippen lag, als die Bilder ihres Traumes wieder vollkommen klar vor ihren Augen erschienen.
„Du weißt, wovon ich spreche, nicht wahr?“ Adams Augen wechselten bei ihrem Anblick zu einem warmen Bronzeton, der ihr das Gefühl gab, dass ihr der Boden unter den Füßen komplett entglitt.
Daher ließ sie sich mit wackeligen Knien auf den Stuhl sinken und fuhr durch ihr widerspenstiges rotes Haar, um etwas Zeit zu gewinnen. „Ja, ich denke schon.“
Sie richtete den Blick auf ihn und das Grün in ihren Augen schien beinahe zu pulsieren. „Wie hieß die Frau, die dir im Traum erschienen ist und dir gesagt hat, dass du mich finden sollst?“
„Sie hieß Selene.“ Adam hatte jetzt keine Scheu mehr, mit ihr über die Dinge zu reden, die in den letzten Tagen in seinem Leben passiert waren, da er in ihren Augen gesehen hatte, dass sie tatsächlich diejenige war, die er zu finden gehofft hatte. „Soweit ich weiß, war sie auch eine Hexe und Seherin und sie wurde getötet von dem grausamsten Vampir, den die Welt je gesehen hat.“
„Von Marcus Black.“ Liv schloss ihre Augen und legte ihre Hände fest um ihre Kaffeetasse, um wenigstens etwas Wärme zu erfahren.
„Ja.“ Er nahm ebenfalls wieder auf seinem Stuhl Platz. „Ich jage den Mistkerl schon seit Jahren und versuche, ihn in die Hände zu kriegen, um ihn töten zu können. Aber bisher ist es ihm jedes Mal gelungen, mir vor der Nase zu entwischen.“
„Du jagst Marcus Black?“ Liv war nicht nur überrascht und über die Maßen erschrocken, in ihren Augen standen auch Angst und tiefer Kummer geschrieben.
„Das ist mein Job und meine Aufgabe, seit ich auf die Welt gekommen bin.“, bestätigte er.
„Was bist du dann?“, stellte sie die Frage, die sie schon zuvor gestellt hatte. „Ein Vampirjäger?“
„Ein Dämonenjäger.“, gab er ihr endlich als Antwort. „Ich jage nicht nur Vampire, sondern jede Form des Bösen, die es hier auf dieser Erde gibt.“
„Also auch Leute wie mich?“, wollte sie instinktiv wissen.
Um seine Mundwinkel zuckte es ein wenig. „Ich denke nicht, dass du besonders böse bist, Liv.“
„Du weißt genau, was ich meine, also lass deine kleinen Witze.“ Sie war im Moment tatsächlich nicht zum Scherzen aufgelegt.
„Tut mir leid.“ Er langte über den Tisch und griff nach ihrer Hand, was sie wohl am wenigsten erwartet hatte. „Ja, ich habe auch schon Hexen gejagt und eine habe ich sogar schon getötet. Aber die stand in den Diensten von Marcus Black und war voller dunkler Magie, voller dunkler Gedanken und voller Hass auf alle Menschen, die hier auf der Erde leben.“
Sie nickte mit dem Kopf und obwohl es ihr ein wenig unangenehm war, dass er ihre Hand hielt, fühlte sie sich gleichzeitig seltsam getröstet von der Berührung. „Selene hat auch zu mir gesprochen.“ Sie hob ihren Blick zu ihm. „Ich war mir bis vorhin nicht einmal sicher, was mein Traum bedeuten sollte oder ob ich es mir nur eingebildet habe, dass Selene, bevor sie starb, direkt mich ansprach, aber als du meintest, ich hätte wissen müssen, dass du kommst, hat mir das irgendwie die Augen geöffnet.“
„Und dennoch wolltest du es nicht wahrhaben.“ Weil er wusste, dass das so war, brauchte er keine weitere Bestätigung von ihr und drückte stattdessen ihre Hand. „Du musst mir jetzt noch nichts erklären. Und du musst mir auch nicht sagen, was genau dich dazu bewogen hat, das zu verleugnen, was in dir steckt. Aber was ich gerne wissen würde, ist, ob du bereit bist, dich erneut damit auseinanderzusetzen, um mir dabei zu helfen, die Splitter des Kristalls zu finden?“
Er konnte sehen, wie es in ihrem schönen Köpfchen arbeitete. „Wieso willst du die Splitter finden?“
„Selene hat gesagt, finde sie. Finde Olivia McEwan und finde die Splitter des Kristalls. Denn es ist dir bestimmt, es zu Ende zu bringen.“
„Was zu Ende zu bringen?“ Liv war alles andere als naiv und in seinen Augen konnte sie bereits lesen, was er ihr nur Sekunden danach bestätigte.
„Marcus Black ein für alle Mal zu töten und die Welt von ihm und seinen grausamen Anhängern zu erlösen.“
Einen Moment lang war es vollkommen still im Zimmer und nur das Knistern des Feuers klang an ihre Ohren, bevor Olivia den Sinn seiner Worte wirklich verstand, nach Luft schnappte und ihm ihre Hand entzog.
„Du willst Marcus Black töten?“
„Marcus Black und auch alle seine Anhänger.“, bestätigte er ihr ohne falsche Scheu.
„Und das willst du mit Hilfe des Kristalls tun?“ Sie stand auf und starrte ihn beinahe erbost an. „Du willst die Splitter des Kristalls finden, sie wieder zum Stein des Lebens zusammensetzen und seine Kraft, seine Macht dafür benutzen, den Mann, den du schon seit Jahren vergeblich jagst, endlich in den Tod zu stürzen.“
„Ich denke, so könnte man es zusammenfassen.“ Er sah kein Stück reuevoll aus, als er sich zurücklehnte und seinen rechten Fuß auf den Oberschenkel des linken Beines legte, was furchtbar locker wirkte.
„Dann bist du kein Stück besser als Marcus Black selbst.“, schleuderte sie ihm entgegen und ging mit ihrer Tasse zur Spüle hinüber, wo sie ihren fast unberührten Kaffee wegschüttete.
„Wie bitte?“ Nun runzelte er die Stirn und sah beinahe ungläubig auf ihren steifen Rücken.
„Marcus sucht seit beinahe einem Jahrhundert nach den Splittern, wollte den Stein des Lebens schon vor hundert Jahren unbedingt an sich bringen, um seine Macht dafür zu benutzen, das zu kriegen, was er will.“, erklärte sie ihm aufgeregt. „Er wollte mit Hilfe der Kraft, die der Stein birgt, die Welt seiner Herrschaft unterwerfen. Er wollte die Menschen seiner Herrschaft unterwerfen und sie zu seinen Sklaven machen und er wusste, dass er das nur mit der Macht des Kristalls schaffen würde, der seinem Besitzer jeden Wunsch erfüllt, den dieser an ihn richtet. Und nun hast du dasselbe vor.“
„Moment mal.“ In seine Augen trat Ärger. „Ich habe sicherlich nicht vor, mir die Welt und die Menschheit zu unterwerfen, um über sie herrschen zu können. Ich will die Welt retten. Ich will die Menschheit beschützen. Eben vor den Dingen, die Marcus Black so unbedingt will.“
„Du denkst also, wenn du den Stein mit guten Absichten benutzt, seine Macht für Dinge missbrauchst, die in deinen Augen rechtschaffen sind, ist das so viel besser?“ In ihrem Gesicht war klar zu lesen, was sie davon hielt.
„Ja, das denke ich durchaus.“, sagte er dennoch. „Oder findest du nicht, dass es durchaus in Ordnung ist, den Stein dafür zu benutzen, die Welt ein für alle Mal von allem Bösen zu befreien und so endlich wieder Frieden zu bringen?“
Sie schüttelte den Kopf, sah dabei aber nicht mehr wütend, sondern vielmehr traurig aus. „Du hast keine Ahnung, Adam. Keine Ahnung, auf was du dich da scheinbar eingelassen hast.“
„Ach, und du schon?“ Er kniff seine Augen zusammen und auf seiner glatten Stirn erschien eine Falte, die ihn etwas grimmig aussehen ließ. „Wieso werde ich den Verdacht nicht los, dass du eigentlich viel mehr über die ganze Geschichte weißt, als ich bisher gedacht hatte und als du bisher zugeben wolltest?“
„Warum glaubst du wohl, hat Selene dich zu mir geschickt?“, stellte sie als Gegenfrage, um die Antwort noch ein wenig hinauszuzögern. „Weshalb hat sie dir ausgerechnet meinen Namen genannt, damit du mich um Hilfe bittest?“
„Weil du eine Hexe bist.“ Er zuckte ein wenig mit den Schultern. „Und ich brauche wohl eine Hexe für das Unterfangen.“
„Da du aber schon andere Hexen getroffen und sie sogar gejagt hast, wie du sagtest, weißt du, dass ich wohl kaum die Einzige auf dieser Welt bin.“
„Du bist zudem eine Seherin.“, beharrte er. „Und nenn mich naiv, aber ich glaube, dass es diese Kombi tatsächlich nicht so oft gibt.“ Sie atmete tief durch, musste eingestehen, dass diese Antwort durchaus Sinn ergab. Dass sie Sinn ergeben hätte, wenn es da nicht diese andere Sache gegeben hätte, die jede weitere Suche nach Antworten überflüssig machte. „Dennoch hättest du auch bei anderen Hexen oder Seherinnen Hilfe suchen können, was dein Vorhaben anbelangt. Aber Selene hat dich zu mir geschickt.“
„Weil sie dich kennt.“, ging ihm plötzlich ein Licht auf.
„Selene ist vor hundertdreißig Jahren gestorben. Wie soll sie mich kennen?“ Sie ging um den kleinen Tisch, der als Esstisch diente, herum und begab sich zum Feuer, das immer noch hell im Kamin loderte, auch wenn das letzte Holzscheit nahezu verbrannt war. „Was hast du genau in deinem Traum gesehen, Adam?“
Ein wenig skeptisch folgte er ihr in den Teil des Raumes, der als Wohnzimmer diente. „Ich habe gesehen, wie Selene den Kristall zerstört hat.“
Überrascht und eindeutig irritiert, drehte Liv sich zu ihm um. „Dein Traum handelte von der Zerstörung des Kristalls?“
„Ja.“ Er schob die Hände wieder in seine Hosentaschen und hakte die Daumen in die Gürtelschlaufen. „Selene war gerade wieder in ihr Haus zurückgekehrt. Sie wirkte mitgenommen und geschlaucht, als hätte sie einen langen, kräftezerrenden Kampf hinter sich und sie schien auch sehr traurig zu sein, weil ihre Augen voller Schmerz und Kummer standen, als sie auf ihr Bett sank.“ Beinahe so wie Livs Augen es getan hatten, als er ihr gesagt hatte, er würde Marcus Black schon seit Jahren jagen, erinnerte er sich. „Sie schien kürzlich jemanden verloren zu haben und mein Verdacht bestätigte sich, als sie sich erhob und in ein kleineres Zimmer ging, in dem zwei Kinder vollkommen beschützt und seelenruhig schliefen.“
„Lucas und Katie.“ Liv schloss ihre Augen und beinahe konnte sie die Szene vor sich sehen, die Adam ihr da beschrieb.
„Ja.“ Nun war es an ihm, überrascht zu sein und sie irritiert anzublicken.
„Lucas war ihr Sohn und Katie ihre Nichte. Die Tochter ihrer Schwester.“, klärte sie ihn auf. „Die beiden sind auch in meinem Traum vorgekommen.“
„Aber du hast nicht von der Zerstörung des Kristalls geträumt.“, stellte er mit Blick auf ihr Gesicht fest.
„Nein.“ Aber jetzt war nicht die Zeit, ihre Geschichte zu erzählen, sagten ihre Augen vollkommen lautlos zu ihm. „Erzähl weiter.“
„Sie strich zuerst dem Jungen, ihrem Sohn…“, holte er sich mit einem weiteren Blick auf sie Bestätigung. „…über den Kopf und küsste ihn auf sein blondes, dichtes Haar. Dann ging sie zum Bett des Mädchens, streichelte sie ebenfalls und fragte schluchzend, mit leiser Stimme: Wie soll ich dir morgen nur erklären, dass deine Mutter nicht mehr da ist? Wie soll ich dir nur sagen, dass sie starb, während sie an meiner Seite kämpfte und ich nichts tun konnte, obwohl ich kaum zwei Meter von ihr entfernt stand?“
Liv konzentrierte sich auf Adams Stimme, auf die Emotionen, die er in seiner Erzählung tatsächlich herüberbringen konnte, doch nur Sekunden später war das nicht mehr nötig, weil die Bilder von damals von ganz alleine um sie herum entstanden, sodass sie plötzlich mit Selene in diesem kleinen Zimmer war, in dem die Kinder schliefen.
„Sag es ihr so, wie du mir gesagt hast, dass Daddy nie mehr wieder kommen wird.“, klang die leise Stimme von der anderen Seite des Raumes zu Selene, die sich daraufhin etwas erschrocken zu ihrem Sohn umdrehte.
„Als du vor ein paar Wochen nach Hause gekommen bist und ich dich fragte, wo Daddy sei, hast du mich angesehen und gesagt, er sei dort, wo alle tapferen Männer seien, die sich einer höheren Sache verschrieben hätten und als Held gestorben seien. Du sagtest mir, er sei an einem guten Ort. An einem Ort voller Licht und Wärme, an einem Ort, wo er all das bekommen würde, was er verdient hätte. Und dass er uns von dort aus zusehen könnte. Dass er uns von dort aus weiterhin beschützen würde, auch wenn es ihm nun persönlich nicht mehr möglich wäre.“
„Oh, Lucas.“ Selene glitt vom Bett ihrer Nichte und ging zurück zu ihrem Sohn, den sie fest in die Arme nahm, um sich von ihm den Trost zu holen, den sie dringend brauchte und den sie nirgendwo anders mehr bekommen konnte.
Lucas warf einen Blick auf seine kleine, schlafende Cousine und schloss seine Augen. „Er hat also auch Tante Serena getötet?“
Selene nickte an der Schulter ihres kleinen, unschuldigen Sohnes und zwei Tränen tropften auf dessen Rücken.
„Er wird dafür bezahlen, Mama.“, versprach Lucas, der trotz seiner zehn Jahre schon beinahe ein Mann war und von seinem Vater so viel Tapferkeit vererbt bekommen hatte, dass es Selene weitere Tränen in die Augen trieb. „Eines Tages wird er dafür bezahlen.“
„Er wird kommen, Lucas.“ Sie drückte ihren Jungen leicht von sich und unterdrückte ein Schaudern, als Bilder vor ihrem inneren Auge entstanden. Bilder, die sie nicht sehen wollte. „Er wird kommen, um sich den Kristall zu holen, den deine Tante mit ihrem Leben beschützt hat.“
„Hast du ihn hier?“, wollte der blonde Junge wissen.
„Natürlich.“ Sie langte in den Rock ihres zerrissenen Kleides, das zudem unzählige Blutspuren aufwies und holte den funkelnden und glitzernden Kristall heraus, in dessen Mitte klar ersichtlich große Macht pulsierte. „Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste ihn mitnehmen, nachdem Serena gestorben war. Sonst hätte er ihn sich gleich geholt.“
„Und nun wird er hierherkommen, um ihn sich zu holen.“, stellte Lucas fest.
„Noch nicht.“, antwortete sie sofort, um ihn zu trösten. „Erst, wenn der Herbst gekommen ist, die Blätter fallen und ein Sturm um das Haus tobt, der die Wellen des Meeres hoch über die Klippen schleudern wird.“
„Es ist egal, ob er morgen oder erst in ein paar Wochen kommt.“ Egal, ob er aufgrund seines Alters noch als Kind angesehen wurde, er hatte bereits so viel gesehen und erlebt, um einige Dinge sicher zu wissen. „Er wird dich für deinen Verrat töten.“
„Mich vielleicht.“, gab sie zu. „Aber niemals euch.“ Sie setzte sich zu ihm aufs Bett und nahm seine Hand. „Lucas, hör mir zu. Wenn der Tag gekommen ist und Marcus sich auf den Weg hierher macht, wirst du mit Katie von hier flüchten.“
„Was?“ Lucas runzelte die Stirn und blickte seine Mutter verständnislos an.
„Du wirst Katie an der Hand nehmen, das Haus mit ihr verlassen und zu den geheimen Höhlen unter den Klippen gehen. Dort werdet ihr bis zum Morgengrauen warten, bis die Sonne euch den Schutz gibt, den ihr brauchen werdet und dann nehmt ihr das Boot, das dein Vater dort unten versteckt hat und das euch sicher über das Meer nach Irland bringen wird.“
„Nach Irland? Aber…“
„Ihr werdet zu Liam gehen.“, sagte sie eindringlich, um ihn zu bremsen. „Ihr werdet deinen Onkel suchen und dort Unterschlupf finden. Ihr werdet ihm erzählen, was passiert ist, was deiner Tante zugestoßen ist und was ich getan habe, um euch und die Welt vorerst zu beschützen.“
„Mama…“
„Du wirst ihm sagen, was ich dir auftrage und dann wirst du ihm einen Brief geben, den er bis zu seinem Tod sicher aufbewahren soll, um ihn dann an seine Nachfahren weiterzugeben. Einen Brief, der zu rechter Zeit geöffnet werden muss, um denen zu helfen, die sich Marcus in ferner Zukunft werden stellen müssen.“
„Mama, wovon sprichst du?“ Weil Lucas eben doch noch ein Kind war, stiegen ihm Tränen in die Augen und seine Finger um die Hand seiner Mutter verkrampften sich.
„Ich spreche davon, dass ich alles dafür tun werde, damit du und Katie in Sicherheit seid, ein gutes Leben führen könnt und eine Zukunft haben werdet. Eine Zukunft, die auch die restliche Welt verdient hat.“ Selene strich ihm liebevoll übers Haar und küsste ihn auf die Stirn. „Es wird alles gut werden, mein Liebling. Das verspreche ich dir.“
„Mama.“ Nun warf sich der Junge an die Brust seiner Mutter und vergoss ein paar Tränen der Trauer und auch der Angst, die er dennoch nie laut eingestanden hätte, weil sein Vater ihm immer gesagt hatte, dass ein Mann tapfer und mutig sein musste, um jene beschützen zu können, die er liebte. Und er wollte seine Mutter und seine Cousine mit jeder Faser seines Herzens beschützen.
„Schon gut.“ Tröstend fuhr ihm Selene durch sein dichtes, blondes Haar, zerwühlte es mit sanften Fingern und drückte ihn dann in die Kissen zurück, wobei sie ihn auf beide Augen küsste. „Schlaf jetzt noch ein wenig, mein Liebling. Der Tag, von dem ich gesprochen habe, ist noch lange nicht da und morgen werde ich dir alles Weitere erklären, was du noch wissen musst. Morgen, wenn ich auch Katie gesagt habe, dass ihre Mutter tapfer und heldenhaft im Kampf gegen Marcus gestorben ist.“ Selene warf wieder einen traurigen, kummervollen Blick auf ihre schlafende Nichte und erhob sich dann mit einem Seufzen.
„Mama?“ Lucas hielt seine Mutter zurück, als sie schon fast zur Tür hinausgehen wollte.
„Ja?“ Sie blieb stehen und sah auf ihn zurück.
„Was wirst du jetzt tun? Mit dem Kristall, meine ich.“
Sie schloss ihre Faust um den Kristall, den sie noch immer in ihrer Hand hielt und dessen Macht kraftvoll aus ihm herausstrahlte. „Ich werde ihn zerstören. Um die Welt und die Menschen, die auf ihr leben, vor den grausamen Plänen zu beschützen, die Marcus für sie hat.“
„Du wirst ihn zerstören?“ Lucas machte große Augen.