Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Als Nathan eines Abends seine Freundin ermordet in der gemeinsamen Wohnung auffindet, bricht für ihn eine Welt zusammen. Der Verdacht fällt sofort auf ihn und da er nur aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden kann, kehrt er seiner Heimatstadt vorerst den Rücken, um woanders neu zu beginnen. Nach sieben langen Jahren kehrt er schließlich als erfolgreicher Anwalt zurück und, da der Mord weiterhin als ungeklärt gilt, beschließt er kurzerhand, selbst nach dem Täter zu suchen. Mithilfe seiner Brüder und seiner neuen Sekretärin Cassie, die ihm ziemlich unter die Haut geht, versucht er herauszufinden, was damals wirklich geschehen ist. Doch als erneut ein Mord in seiner unmittelbaren Nähe begangen wird, erkennt er mit Schrecken, dass die Gefahr noch lange nicht gebannt ist. Denn der Mörder scheint immer noch zu lauern und nur darauf zu warten, sein Leben endgültig zu zerstören....
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 1193
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Epilog
Er hatte bestanden. Diese drei Worte waren alles, was er in seinem Kopf hörte, seit sein Professor ihm diese vor etwas mehr als zwei Stunden gesagt hatte. Nathan hatte bestanden. Er hatte die Prüfungen mit Bravour hinter sich gebracht und durfte sich daher jetzt Master of Laws nennen. Meister der Gesetze sozusagen, dachte er schmunzelnd. Tatsächlich war er seit zwei Stunden ein waschechter Anwalt, ein Jurist mit erfolgreichem Abschluss, und all seine Pläne, die er bereits für seine Zukunft geschmiedet hatte, konnten nun umgesetzt werden. Alles, was er sich erträumt, was er sich vorgenommen hatte, sollte er das Jura-Studium tatsächlich erfolgreich hinter sich bringen, konnte ab heute wahr werden, konnte er jetzt in Angriff nehmen, da er das Diplom in seiner Tasche hatte und die Welt ihm offenstand.
Nathan fuhr in die Stadt, die sein Zuhause war, passierte das Schild von Solvang, das allen sagte, dass sie kalifornisch-dänisches Hoheitsgebiet betraten und ging vom Gas, obwohl es ihn mehr als alles andere danach verlangte, weiterhin sein Tempo beizubehalten, um so schnell wie möglich der Person von seinem Erfolg zu erzählen, die ihm neben seiner Familie das Wichtigste war.
Sharon, seine Freundin, die er seit seiner Kindheit kannte und seit ihrem Abschlussjahr auf der Highschool liebte, wartete sicher schon zu Hause auf ihn, um zu erfahren, wie er abgeschnitten hatte. Obwohl Sharon ohnehin die ganze Zeit über an ihn geglaubt hatte und noch heute Morgen mehr als sicher gewesen war, dass er als frischgebackener Anwalt nach Hause kommen würde. Trotzdem wollte er ihr ins Gesicht sehen, wenn er es ihr sagte, wenn er ihr sein Diplom zeigte und ihr eröffnete, dass die Zukunft, von der sie geträumt hatten, in greifbarer Nähe war. Eine Zukunft, von der sie zwar noch überzeugt werden musste, da sie im Moment noch lieber hier in der Nähe bleiben wollte, doch er zweifelte keine Sekunde daran, dass Sharon ihm am Ende an die Ostküste folgen würde, wo er sich eine große Karriere erhoffte.
Nate parkte vor dem kleinen Haus in der 3rd Street, wo sie gemeinsam die Wohnung im Erdgeschoss bewohnten, stellte den Motor ab, nahm seine Tasche vom Beifahrersitz und stieg aus, ohne weiter zu zögern. In großen Schritten nahm er den gepflasterten Weg vor dem Haus, der zur Haustür führte und sperrte diese mit einem breiten Lächeln auf, während er bereits ihren Namen rief.
„Sharon!“ Nate hielt sich nicht damit auf, seine Schuhe auszuziehen, sondern warf lediglich den Schlüssel auf das Regal im Flur, bevor er weiterging. „Sharon, bist du da?“
„Natürlich bin ich da.“ Sharon kam aus der kleinen Küche, die rechts vom Flur lag und blieb im Türrahmen stehen. „Wo denkst du denn, sollte ich sein?“
„Keine Ahnung.“ Er grinste übers ganze Gesicht, während er sie in die Arme zog und küsste. „Vielleicht bist du davongerannt, bevor ich mein Vorhaben umsetzen und dich aus dieser Stadt verschleppen kann.“
„Ja, vielleicht hätte ich das tun sollen.“ Ihre blauen Augen glänzten, als sie ihm durch die dichten, blonden Haare strich, die ein wenig durcheinander wirkten. „Aber ich wollte lieber warten, bis ich mir sicher sein kann, dass du nicht durchgefallen bist, sodass wir ohnehin hierbleiben müssen.“
„Ach, tatsächlich?“ Er schnappte mit den Zähnen scherzhaft nach ihrer Nase und sah sie gespielt empört an.
„Naja, meine Chancen standen fünfzig zu fünfzig.“ Sie lächelte ein wenig. „Da du allerdings so aufgekratzt bist, brauche ich dich wohl nicht fragen, wie das Ergebnis ausgefallen ist.“
„Ich habe bestanden.“ Er ließ sie los, griff in seine Tasche, die er neben sich auf den Boden hatte fallen lassen und zog sein Diplom heraus, wo neben seinem Namen in fetten Druckbuchstaben stand, dass er Master of Laws war.
„Herzlichen Glückwunsch!“ Sharon stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen weiteren Kuss, bevor sie das Diplom nahm und es sich genauestens durchlas. „Das freut mich unglaublich für dich. Ich bin wirklich stolz auf dich.“
„Danke.“ Nate nahm ihre Hand und zog sie an seine Seite. „Aber es sollte dich für uns freuen. Für uns beide.“
„Nate…“ Sie ließ seine Hand los und trat ein wenig von ihm weg. „Ich habe nichts mit deinem Erfolg zu tun.“
„Sag das nicht.“ Bevor sie ganz von ihm weggehen konnte, legte er seine Hände an ihre Wangen und drehte ihren Kopf zu ihm, sodass sie ihn ansehen musste. „Du warst all die Zeit über für mich da. Warst mir während des Studiums eine Stütze, hast mich beim Lernen unterstützt und meine Launen ausgehalten, wenn ich wieder einmal stundenlang über irgendwelchen Arbeiten saß, nichts klappen wollte und ich deshalb ziemlich gereizt war. Du hast mich bestärkt, mir Mut gemacht, wenn mir alles zu schwierig vorkam und dich nie beschwert, wenn ich kaum mehr richtig Zeit für dich hatte, weil wieder eine Prüfung anstand. Ohne dich hätte ich das alles nicht geschafft.“
„Ja, wie praktisch, dass deine Freundin keine so großen Ambitionen hatte und sich, anstatt ein anstrengendes, zeitaufwendiges Studium zu beginnen, mit einem einfachen Job im Tourismusbüro zufriedengab.“ Sie sagte es halb im Scherz, doch er erahnte hinter ihren Worten dennoch mehr Ernst als sie zu erkennen geben wollte.
„Sharon, ich habe es nie als minderwertiger als mein Studium betrachtet, wofür du dich entschieden hast.“ Er strich ihr eine Locke ihres dunkelbraunen Haares zurück und fuhr mit den Daumen über ihre Wangen. „Ich habe das, was du tust, nie als minderwertig betrachtet und dich schon gleich zweimal nicht. Also, hör auf, dich selbst herunterzusetzen und zu verletzen.“
„Ich weiß.“ Sharon seufzte und fuhr sich selbst durch ihre schulterlangen Haare, die in großen Locken um ihr herzförmiges Gesicht fielen. „Entschuldige, ich wollte auch nicht andeuten, dass du mir je das Gefühl gegeben hättest, minderwertiger zu sein. Aber ich selbst habe mich dennoch des Öfteren so gefühlt.“ Sie trat ans Fenster der Küche und sah auf das Nachbarhaus, dessen Garten mit großen Palmen bewachsen war, die sich leicht in der sommerlichen Brise bewegten. „Ich gehöre eigentlich nicht hierher. Fühle mich hier schon, als hätte ich mich verbotenerweise in diese schöne Wohngegend eingeschlichen.“ Sie wandte sich zu ihm um. „Wenn ich mit dir nach New York gehe, werde ich mich noch mehr so fühlen, als hätte ich mir dieses Leben erschwindelt.“ „Sharon, du kannst doch überhaupt nichts dafür, dass dein Vater deine Mutter verlassen hat, dass er abgehauen ist und euch einfach im Stich gelassen hat, weshalb ihr plötzlich völlig mittellos dastandet.“ Er ging langsam auf sie zu. „Es ist nicht deine Schuld, dass er euch ohne eine Penny zurückgelassen hat, sodass deine Mutter sich einen zweiten Job suchen musste, um wenigstens die Miete und die monatlichen Lebenskosten zahlen zu können. Und darum kann dir auch wirklich keiner vorhalten, dass du selbst direkt nach der Schule angefangen hast, dir einen Job zu suchen, bei dem du Geld verdienst, der ohne große oder lange Ausbildung zu machen ist, sodass du deiner Mutter unter die Arme greifen konntest.“
„Nein, es ist nicht meine Schuld.“, gab sie zu. „Jedoch war es auch nie mein Wunsch. Denn bevor mein Vater abgehauen ist, hatte ich definitiv ebenfalls große Pläne, falls du dich erinnerst.“
„Natürlich erinnere ich mich.“ Ein Lächeln glitt über sein Gesicht und er griff wieder nach ihrer Hand. „In diesem ersten Jahr, in dem wir zusammengekommen sind, redeten wir oft stundenlang über unsere Zukunftspläne. Wir lagen auf deinem oder meinem Bett und malten uns aus, was wir nach der Schule machen würden, was aus uns werden würde, wie wir leben würden. Und ich weiß, dass du ebenfalls studieren wolltest, dass du davon geträumt hast, die Finanzwelt aufzumischen, dass du ebenfalls eine große Karriere wolltest. Wir wollten zusammen nach New York gehen, ich als Anwalt, du würdest einen Job an der Börse kriegen, was dein größter Traum überhaupt war und wir würden glücklich sein. Aber das können wir immer noch. Noch ist es nicht zu spät.“
„Nate, mach doch bitte deine Augen auf.“, bat sie ihn und verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Du bist vierundzwanzig, hast dein Diplom als Jurist in der Tasche und die Welt steht dir offen. Dein Leben kann jetzt so richtig beginnen. Doch mein Leben ist hier zu Ende. Oder zumindest in einer Sackgasse. Ich bin ebenfalls vierundzwanzig, habe jedoch nicht einmal eine richtige Ausbildung und verdiene gerade so viel, dass ich monatlich über die Runden komme.“
„Du kannst doch immer noch eine Ausbildung machen.“, meinte er. „Wenn wir erst einmal in New York sind, kannst du dir aussuchen, welche Ausbildung du anfangen willst. Und mit ein wenig Glück, wenn ich einen guten Job kriege und gut bezahlt werde, kannst du sogar noch studieren.“ Er hob ihr Kinn an. „Sharon, wir werden das schaffen. Ich werde für dich da sein, wie du die letzten Jahre für mich da warst. Nun ist es an mir, dich zu unterstützen und glaub mir, ich werde dich auf keinen Fall im Stich lassen. Ich bin nicht wie dein Vater.“
„Nein, das bist du nicht.“ Sie hob ihre Hand und legte sie an seine Wange. „Im Gegenteil, manchmal denke ich, du bist viel zu gut für mich.“
„Sharon…“
„Ich kann das nicht annehmen, Nate.“ Ihre blauen Augen sahen ihn bedauernd an, als sie ihre Hand wieder sinken ließ. „Ich will nicht, dass du mein Studium finanzierst mit dem ersten Geld, das du verdienst. Und ich will auch nicht, dass du deine großen Pläne, die du hast, zurückstellst, damit ich mich verwirklichen kann, wenn wir nach New York gehen.“
„Ich stelle sie doch nicht zurück, ich schiebe sie einfach ein, zwei Jahre nach hinten, bis du ebenfalls gefunden hast, was dich erfüllt.“, gab er ihr zu verstehen.
„Und was, wenn ich das nie finde?“, fragte sie mit Trauer in der Stimme. „Was, wenn ich nie erreiche, was ich einst erreichen wollte?“ Sie schüttelte ihren Kopf. „Nein, ich kann das nicht zulassen. Ich kann und will nicht zulassen, dass deine Träume wegen mir scheitern.“
„Und…“ Er blickte ihr stirnrunzelnd nach, als sie an ihm vorbeiging. „..was soll das jetzt heißen?“
„Dass ich hierbleiben werde, wenn du nach New York gehst.“ Sie warf lediglich einen kurzen Blick über ihre Schulter, bevor sie die Küche verließ.
„Du…“ Nathan dachte einen Moment, sich verhört zu haben. „Willst du damit sagen, du trennst dich von mir?“ Er stürmte ihr nach ins Wohnzimmer, das sie gerade durchquerte, um ins Schlafzimmer zu gelangen.
„Ich liebe dich, Nathan.“ Sie blieb stehen, als sie den Unglauben und den Ärger in seiner Stimme hörte, drehte sich jedoch nicht zu ihm um. „Ich liebe dich wirklich. Aber ich würde mich immer nur wie ein Klotz an deinem Bein fühlen, wenn ich mit dir komme. Und wenn ich hierbleibe, während du gehst, wird unsere Beziehung ohnehin über kurz oder lang scheitern, weil wir uns kaum noch sehen werden und zwei verschiedene Leben führen werden. Darum denke ich, dass es besser ist, wenn wir einen Schlussstrich ziehen, solange wir uns noch in die Augen sehen können.“
„Solange wir uns noch in die Augen sehen können?“ Er riss seine grünen Augen auf. „Was willst du damit andeuten? Dass du glaubst, mir nicht mehr in die Augen sehen zu können, wenn wir gemeinsam nach New York gehen, weil ich dann ein anderer Mann werden könnte? Ein anderer Mann werden würde?“
„Nathan, versteh mich doch nicht absichtlich falsch.“, verlangte sie von ihm. „Du weißt genau, was ich meine.“
„Ja, du denkst, wenn ich ein erfolgreicher Anwalt werde, während du weiterhin möglicherweise keine große Karriere machst, werde ich irgendwann anfangen, dich als minderwertig zu betrachten. Ich werde anfangen, mich zu fragen, was du in meinem Leben suchst, was für ein Bild du an meiner Seite machst und dich brutal abservieren, um mir irgendein erfolgreiches Model oder eine Karrierefrau zu suchen, die besser zu mir passt. Nicht wahr? Das denkst du.“ Der Ärger in ihm wurde immer größer.
„Kannst du mir denn versprechen, dass es nicht so sein wird?“, wollte sie wissen. „Kannst du mir schwören, dass wir dort glücklich werden und du nie anfangen wirst, auch privat mehr zu wollen?“
„Sharon, das ist Bullshit. Großer Bullshit.“, machte er ihr klar. „Was da wirklich aus dir spricht, ist nicht die Angst, dass ich mehr wollen könnte, dass ich mich verändern und dich verlassen könnte. Was aus dir spricht, ist die Angst, dass du selbst nie das erreichen wirst, was du erreichen willst. Dass du selbst es sein wirst, die unzufrieden ist, die sich mehr wünschen wird und die sich deshalb unglücklich von dem Leben mit mir abwenden wird.“
„Natürlich!“, rief sie. „Wirf mir doch gleich vor, dass ich eine habgierige, raffsüchtige Nutte bin, die nur des Geldes wegen mit dir zusammen ist und dich verlassen wird, sobald du ihr nicht mehr genügend finanzielle Zuwendung zeigst.“
„Das habe ich nie gesagt und das würde ich nie von dir behaupten.“ Nathan ballte seine Fäuste. „Aber wenn du das selbst von dir behauptest, wenn du das selbst in dir siehst, sollte ich mir vielleicht wirklich überlegen, mit wem ich hier eigentlich zusammen bin.“
„Nur zu, tu das.“ Tränen der Wut standen in ihren Augen und sie griff nach der Schale, die auf dem Wohnzimmertisch stand und holte damit aus. „Aber während du das tust, scher dich zum Teufel, Nathan Lawford!“
Nathan duckte sich, als die Schale auf ihn zuflog und hörte, wie sie hinter ihm an die Wand prallte und in tausend Scherben zersprang. „Du hast sie doch nicht mehr alle!“ Er blickte sich um und sah den Scherbenhaufen zu seinen Füßen.
„Ich werde mich nicht länger von dir beleidigen lassen.“ Die Vase, die auf dem Beistelltisch neben der Couch stand, flog der Schale gleich noch hinterher.
„Sharon, das…“ Nathan wich erneut aus und spürte, wie der Zorn ihn packte. „Du hast doch mit all dem hier angefangen und jetzt bin ich derjenige, der dich beleidigt? Wer hat gerade versucht, mich mit einer Porzellanschale und einer Vase umzubringen?“
„Dann zeig mich doch an.“ Sie griff nach den Zeitschriften und Büchern, die allesamt von Recht und Rechtsfällen handelten und schleuderte sie in seine Richtung. „Du bist doch jetzt der Mega-Anwalt. Da müsste es ein Leichtes für dich sein, mich mit den richtigen Argumenten hinter Gittern zu bringen.“
„Sharon, es reicht.“ Er wich den Zeitschriften und Büchern ebenso geschickt aus wie der Schale und der Vase zuvor und machte einen Satz auf Sharon zu, die er an den Handgelenken packte. „Es ist genug jetzt.“
„Lass mich los!“ Sie kreischte und schrie, um von ihm freizukommen und setzte schließlich dazu an, ihn ins Handgelenk zu beißen, was ihn zurückweichen ließ.
„Sharon, was ist los mit dir?“ Er besah sich sein Handgelenk, das sie dank seiner schnellen Reaktion nur mit den Zähnen gestreift hatte. „Bist du völlig von Sinnen?“
„Geh einfach.“ Sharon verschränkte wieder die Arme vor ihrem Körper und drehte sich um. „Bitte, geh einfach.“
„Du bist völlig durchgedreht, das ist dir klar, oder?“ Voller Wut und mit schmerzendem Herzen rieb er sich sein Handgelenk und griff hinterher nach seiner Umhängetasche, die noch immer im Eingang zur Küche lag. „Aber fein, ich gehe.“
Sharon sagte kein Wort, blieb mit dem Rücken zu ihm stehen und schniefte lediglich leise.
„Ich fahre zu meiner Mutter, um ihr die guten Neuigkeiten zu berichten. Wenn du dich wieder beruhigt hast, kannst du mich ja anrufen. Ansonsten bin ich in ein paar Stunden wieder da. Und dann reden wir noch einmal.“
Er warf einen weiteren Blick auf sie, doch da sie weiterhin stumm und still stehen blieb, beschloss er, einfach zu gehen und sie vorerst in Ruhe zu lassen. Später, wenn sie sich beide beruhigt hätten, könnten sie sicherlich noch einmal vernünftig über alles reden. Und klären, was geklärt werden müsste, ohne dass ihre Beziehung in einem ähnlichen Scherbenhaufen endete wie die Schale und die Vase gerade.
Nathan kehrte drei Stunden später zurück, als es bereits dunkel wurde und in der Straße schon fast unheimlich still war, obwohl die Nacht lau war und der Sommer lediglich eine warme Brise durch die Bäume streichen ließ, wie es im Juni in dieser Gegend oft der Fall war. Auch im Haus schien alles vollkommen ruhig zu sein und er sah nirgendwo ein Licht brennen, was ihn ein wenig stutzig machte.
War Sharon am Ende gegangen? War sie geflüchtet, bevor er erneut mit ihr reden und sich entschuldigen konnte? Hatte sie ihre Sachen gepackt und ihn verlassen, bevor er die Chance dazu bekam, ihr noch einmal zu sagen, wie er sich ihre gemeinsame Zukunft vorstellte und dass er sie genug liebte, um sich sicher zu sein, dass sie es zusammen hinkriegen würden. Egal, was auf sie zukam.
Seine Mutter, die ihn nicht nur in- und auswendig kannte, sondern der er mit all seinem Sein vertraute, die er im Endeffekt vergötterte, weil er sie für eine der stärksten Frauen hielt, die er kannte, hatte ihm ebenfalls Mut gemacht. Sie hatte nur einen Blick auf ihn werfen müssen, um zu sehen, dass neben der Freude und dem Glück über die bestandenen Prüfungen, das bestandene Studium, ihn irgendetwas beschäftigte und ihn traurig und nachdenklich stimmte. Er hatte ihr alles erzählt und sie hatte ihn aufgemuntert und ihm gesagt, dass es ganz natürlich und alltäglich wäre, dass es in einer Beziehung auch einmal Streit gäbe. Mitunter sogar Streit, der derart ausarten würde, dass man mit Sachen nacheinander schmiss und sich härter anfasste, als man wollte. Und sie versicherte ihm, dass dies meist ganz besonders dann eintreten könnte, wenn Veränderungen anstünden. Wenn die Beziehung neue Wege beschreiten würde, unsichere Wege, Wege, deren Ziel noch nicht mit absoluter Sicherheit vorauszusehen seien. Es sei menschlich, Ängste zu haben und leider sei es auch menschlich, diese Ängste aneinander auszulassen, in harschen Worten und Aussagen, die gar nicht so gemeint wären. Darum schickte seine Mum ihn am Ende dieser drei Stunden nach Hause mit dem Rat, noch einmal in Ruhe mit Sharon zu reden, da sie sicher sei, dass sich alles klären würde, wenn sie nur einander zuhören würden.
Aber was, wenn sie ihm gar nicht mehr zuhören wollte? Ihm nicht mehr zuhören konnte, weil sie weg war?
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch schloss Nate die Haustüre auf, warf den Schlüssel auf das Regal im Flur und knipste das Licht an, während er sich die Schuhe auszog und seine Tasche an einen der Haken hängte, die in die Wand eingelassen waren.
„Sharon, bist du da?“ Auf Socken ging er über den Flur in die Küche, die dunkel und verlassen war, weshalb er es im Schlafzimmer versuchte. Schließlich könnte es auch sein, dass sie einfach schon ins Bett gegangen war, weil der Streit sie unglaublich erschöpft hatte.
„Sharon?“ Er blickte ins Schlafzimmer, das ebenfalls dunkel war, konnte aber bei dem wenigen Licht, das noch durch die offenen Fenster fiel, sehen, dass sie nicht im Bett lag und es auch nicht so wirkte, als wäre sie vor kurzem noch im Raum gewesen.
„Sharon, ich bin zurück und ich würde gerne noch einmal in Ruhe mit dir reden.“ Da er hoffte, dass sie im Wohnzimmer sein würde, dem letzten Raum, der neben dem Bad, aus dem überhaupt kein Geräusch kam, noch übrig war, redete er einfach weiter und brach erleichtert ab, als er im Zwielicht, das im Zimmer herrschte, ihre Umrisse auf dem Boden neben der Couch ausmachen konnte. „Sharon, Gott sei Dank, ich dachte schon…“
Nate kniete neben ihr nieder und erschrak, als er in eine kalte Flüssigkeit griff, die sich neben ihr ausgebreitet zu haben schien. „Was…?“
Er hob seine Hand vor sein Gesicht und versuchte, auszumachen, was sie verschüttet haben könnte, doch irgendetwas an der Substanz der Flüssigkeit, an dem Gefühl auf seiner Haut und seinen Fingern ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren und brachte ihn dazu, nach dem Schalter der Stehlampe zu greifen, die neben der Couch stand.
„Sharon, was…“ Er schaltete das Licht an und erblickte, was er schon fast befürchtet hatte, was ihm auch sein Geruchsinn langsam vermittelte, der die metallische Note wahrgenommen hatte. „Nein!“
Er drehte Sharon, die ihm abgewandt auf der Seite inmitten einer Blutlache lag, auf den Rücken und sah in ihr bleiches, lebloses Gesicht, das in einem Ausdruck des Erschreckens erstarrt zu sein schien.
„Nein, nein, nein. Sharon, bitte.“ Nate ließ seine Hände über ihren Körper gleiten, ertastete mit Schrecken all die Einstiche auf ihrem Oberkörper und erblickte kurz darauf das Messer, das diesen Schaden angerichtet haben musste und neben ihren Beinen lag.
„Nein, das….“ Er griff nach dem Messer, das von der Klinge bis zum Heft voll von klebrigem Blut war und ließ es schockiert wieder fallen. „Nein, bitte.“
Einen schrecklichen Moment lang wurde ihm schwarz vor Augen und er dachte, er müsste sich übergeben, doch dann riss er sich zusammen, sprang auf seine Füße und rannte zum Telefon, das im Flur an der Wand hing. Trotz des ganzen Blutes an seinen Fingern wählte er die Nummer des Notrufs und gab aufgeregt seinen Namen und seine Adresse durch, als eine Frau sich am anderen Ende meldete.
„Was ist passiert? Was für einen Notfall melden Sie?“
„Meine Freundin, sie….“ Er ließ seinen Blick in Richtung Wohnzimmer gleiten. „Ich glaube, sie ist tot. Sie wurde erstochen.“ Einen Augenblick war es am anderen Ende der Leitung still. „Entschuldigung, sagten Sie, erstochen? Ihre Freundin wurde erstochen?“
„Ja.“ Nate schloss seine Augen. „Bitte. Bitte, schicken Sie so schnell wie möglich Polizei und Krankenwagen zu mir. Ich….“ Er wusste nicht, was er sagen sollte und weil seine Hände wie verrückt zitterten und er den Hörer kaum mehr halten konnte, legte er einfach auf. „Kommen Sie einfach.“
Auf wackeligen Beinen ging er zurück ins Wohnzimmer, sah den großen, roten Fleck, der sich rund um die Frau, die er geliebt hatte, ausgebreitet hatte, sah ihren zerschundenen, zerstochenen Oberkörper und diese großen, erschrockenen, blauen Augen, die voller Schmerz, Trauer und Tränen gewesen waren, als er vor drei Stunden gegangen war. Und während er neben ihr zu Boden sank, während ein Schluchzen sich aus seiner Kehle löste und die ersten Tränen nach dem Schock zu fließen begannen, fragte er sich, was zum Teufel noch einmal geschehen war. Wer Sharon das angetan hatte und wie das hatte passieren können. Wie es soweit hatte kommen können, dass ihre Beziehung ein so unschönes Ende hatte nehmen müssen.
Eine Stunde später stellte man genau diese Fragen alle ihm. Das Haus war voller Leute, Polizisten wanderten in den Räumen, in denen er die letzten drei Jahre mit Sharon gelebt hatte, herum, sicherten Spuren, nahmen Proben von Blut, suchten nach Fingerabdrücken und unterhielten sich leise miteinander. Sanitäter und Notarzt hatten den Tod von Sharon festgestellt, nur fünf Minuten nachdem sie eingetroffen waren und er wusste, dass die ganze Straße auf den Beinen war, geweckt von dem Lärm, den Sirenen und den Blaulichtern, die in großem Aufgebot gekommen waren und vor seiner Tür geparkt hatten.
„Mr. Lawford? Nathan?“ Der Polizist, irgendein Detective, der ihn in die Küche geleitet hatte, um in Ruhe mit ihm zu sprechen und ihn von der Leiche wegzuschaffen, beugte sich vor, um Nathans Aufmerksamkeit zu bekommen. „Haben Sie mich verstanden?“
„Ich…“ Nate überlegte, was der Mann zu ihm gesagt haben könnte, konnte sich jedoch keiner Frage entsinnen. „Entschuldigung.“ Er fuhr sich durch sein blondes Haar, bevor ihm einfiel, dass seine Hände ja voller Blut waren und er sie wieder sinken ließ.
Der Polizist folgte seinem Blick zu seinen Händen und seine Lippen wurden schmal. „Können Sie mir erzählen, was passiert ist?“
„Ich…ich weiß nicht, was passiert ist.“ Reiß dich zusammen, sagte Nate sich innerlich und straffte seinen Körper ein wenig. „Ich habe Sharon in diesem Zustand gefunden, als ich vor etwas mehr als einer Stunde nach Hause kam. Ich kann Ihnen also keine Informationen liefern, die irgendwie mit ihrem Tod in Zusammenhang stehen.“
Detective Fuller, Nate war sich jetzt sicher, dass er sich so vorgestellt hatte, nickte langsam. „Die Nachbarn sagen, sie hätten mitbekommen, dass es heute Abend einen lautstarken Streit zwischen ihnen beiden gab.“
„Ja.“ Nate starrte auf seine blutverschmierten Hände und kratzte etwas von dem getrockneten Blut von seinen Fingernägeln. „Ja, wir hatten Streit, bevor ich gegangen bin, aber ich schwöre, dass ich sie nicht getötet habe. Das ist doch Ihre eigentliche Frage, oder?“ Er hob seinen Blick zu dem Polizisten. „Sie wollen mich fragen, ob ich meine Freundin getötet habe.“
„Haben Sie?“, fragte Detective Fuller völlig ungerührt.
„Nein.“, antwortete Nathan ebenso knapp.
„Wo waren Sie, nachdem Sie das Haus verlassen haben?“ Der Polizist lehnte sich wieder zurück. „Wo sind Sie nach ihrem Streit hingefahren?“
„Zu meiner Mutter. Alba Lawford.“, informierte Nate ihn.
„Und dort waren Sie bis zu Ihrer Rückkehr?“
„Ja, und meine Mutter wird Ihnen das bezeugen können.“
„Hm.“ Der Detective machte ein unbestimmtes Geräusch. „Wann haben Sie das Haus verlassen, wissen Sie das noch?“
„Das dürfte gegen halb sechs gewesen sein.“, meinte Nate. „Es war zehn Minuten vor sechs, als ich bei meiner Mutter ankam, weil ich im Auto noch auf die Uhr gesehen habe, bevor ich ausgestiegen bin.“
„Demnach brauchten Sie zwanzig Minuten zum Haus Ihrer Mutter.“, stellte der Polizist fest.
„Ja. Ich war ziemlich aufgewühlt und außer mir und ließ mir deshalb auch etwas mehr Zeit und fuhr einen Umweg, da ich nicht wollte, dass meine Mutter meinen Zustand sofort bemerkt, wenn ich bei ihr ankomme.“, gab ihm Nathan bereitwillig Auskunft.
„Wie lange brauchen Sie normalerweise zum Haus Ihrer Mutter, wenn Sie nicht aufgewühlt und außer sich sind?“
Jetzt bekam Nathan schmale Lippen. „Je nach Verkehr zwischen zehn und fünfzehn Minuten. Aber innerhalb dieser fünf Minuten mehr, die ich heute gebraucht habe, werde ich wohl kaum meine Freundin umgebracht haben.“
„Nun, sehen Sie, ich sehe das etwas anders.“ Der ermittelnde Beamte legte seine Ellbogen auf die Tischplatte. „Der Leichenbeschauer meint, dass der Tod ihrer Freundin zwischen halb sechs und sechs eingetreten wäre.“
„Das….“ Nathan verlor alle Farbe, als er das hörte.
„Sie könnten Ihre Freundin also getötet haben, danach aus dem Haus geflüchtet sein und zu Ihrer Mutter gefahren sein, um sich bei ihr ein Alibi zu besorgen. Nach drei Stunden kommen Sie zurück, geben den erschrockenen, schockierten und trauernden Freund, rufen die Polizei und den Notarzt und stellen sich als der unwissende Partner hin, der zutiefst erschüttert ist über den Tod seiner Freundin.“, unterstellte ihm der Polizist.
„Ich…das….“ Nathan wusste gar nicht, was er darauf sagen sollte. „Die Frau, die Ihren Notruf angenommen hat, meinte, Sie hätten angedeutet, dass Sie es gewesen sein könnten.“, setzte der Ermittler noch eins drauf.
„Wie bitte?“ Nate fiel aus allen Wolken.
„Sie meinte, sie hätte noch einmal nachgefragt, nachdem Sie gesagt hätten, Ihre Freundin sei erstochen worden und Sie hätten daraufhin nur gesagt, sie solle die Polizei und den Krankenwagen schicken, weil Sie…und dann hätten Sie abgebrochen und aufgelegt.“ Der Polizist sah kurz in seine Notizen. „Ja, hier steht es. Sie begannen den Satz mit Ich…dann brachen Sie ab und legten auf.“ Er sah Nathan durchdringend an. „Was wollten Sie sagen, bevor sie abgebrochen haben? Wollten Sie ein Geständnis machen?“
„Nein, ich…“ Nathan erhob sich aufgeregt und ging zum Spülbecken hinüber, um sich endlich die Hände zu waschen. „Ich weiß nicht mehr, was ich sagen wollte, ok? Ich war vollkommen durch den Wind. Ich stand unter Schock und wusste nicht mehr, was ich denken oder fühlen sollte. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich zu dem Zeitpunkt schon verstand, was geschehen war. Was ich gerade gesehen hatte.“
„Natürlich.“ Der Detective stand ebenfalls auf und trat zu ihm. „Und Sie denken, wenn Sie sich nun das Blut von den Händen waschen, sind Sie automatisch reingewaschen von allem, was Sie getan haben?“
„Ich…ich habe nichts getan, klar!?“ Nate griff wütend nach dem Geschirrtuch, um sich seine einigermaßen sauberen Hände abzutrocknen.
„Sharon Nixon hat unschöne Abdrücke von Fingern an ihren Handgelenken. Als hätte sie jemand fest gepackt und festgehalten. Ich denke, wir werden ziemlich schnell herausfinden, ob diese Abdrücke von Ihnen stammen.“ Der Detective wollte noch nicht aufgeben.
„Verflucht, wir haben gestritten, das habe ich Ihnen doch ehrlich gesagt.“ Nate ballte seine Fäuste um das Geschirrtuch. „Die Abdrücke stammen von mir, weil Sharon mit einer Schale und einer Vase nach mir geschmissen hat und ich sie gepackt habe, um sie davon abzuhalten, noch mehr nach mir zu schmeißen.“
„Hat sie diese Dinge nach Ihnen geschmissen, um Sie davon abzuhalten, mit dem Messer auf sie loszugehen?“ Die Stimme des Polizisten klang, als würde er von seinem Wocheneinkauf erzählen.
„Nein, verdammt.“ Nate biss die Zähne zusammen. „Ich bin gegangen, wie ich Ihnen bereits gesagt habe. Bevor der Streit noch mehr eskalieren konnte, habe ich mich in mein Auto gesetzt und bin zu meiner Mutter gefahren. Das ist die Wahrheit.“
„Wie Sie meinen. Wir werden sehen.“ Der Beamte wollte sich gerade abwenden, als Nathans Mutter und seine Brüder hereingeschneit kamen.
„Nathan!“ Seine Mutter, eine kleine Naturgewalt, stürmte auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. „Oh Gott, Ryder hat uns vor einer Viertelstunde angerufen und uns gesagt, was passiert ist. Ich habe sofort Deacon angerufen und mich mit Liam auf den Weg gemacht.“ Sie küsste ihn auf die Stirn und strich ihm das Haar aus dem Gesicht, ohne sich darum zu scheren, das es von Blut durchzogen war. „Warum hast du uns nicht verständigt?“
„Entschuldige.“ Beinahe wären ihm die Tränen in die Augen gestiegen, als sein älterer Bruder Deacon an seine Seite trat und ihm die Hand auf die Schulter legte. „Aber nachdem ich Sharon gefunden hatte, konnte ich keinen klaren Gedanken fassen und als die Beamten kamen…“
„Schon gut, mein Liebling.“ Seine Mutter zog ihn wieder in die Arme. „Jetzt sind wir ja da.“
„Ich befürchte nur, dass ich Sie wieder wegschicken werde müssen, Madame.“, meinte Detective Fuller aus dem Hintergrund.
„Ach ja?“ Seine Mutter drehte sich mit hochgezogenen Augenbrauen um und alleine bei dem Ton, den sie anschlug, hätten viele schon das Weite gesucht. „Aus welchem Grund?“
„Ich leite hier eine polizeiliche Untersuchung.“, machte ihr der Polizist klar. „Ich untersuche einen Mordfall - zumindest sieht alles danach aus, als wäre Sharon Nixon ermordet worden - und ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Sohn im Moment als Hauptverdächtiger gilt.“
„Ist das so, ja?“ Alba ließ ihren Sohn los und drehte sich ganz um, um sich vor dem Detective aufzubauen. „Wissen Sie eigentlich, von wem Sie hier sprechen? Wem Sie hier gerade unterstellen, einen Mord begangen zu haben?“ Sie machte eine dramatische Pause, in der der Ermittler schlauerweise stumm blieb. „Nathan ist der Enkelsohn von Richter Richard Lawford, der aus einer einflussreichen Familie aus Santa Barbara stammt und jahrelang am Gerichtshof von Los Angeles tätig war. Er war bekannt für seine strengen, harten Urteile und seinen unglaublichen Sinn für Gerechtigkeit. Und was meinen Mann, den Sohn von Richter Lawford und Nathans Vater angeht, dieser war fast zwanzig Jahre lang Sheriff hier in dieser Stadt, hat stets für Recht und Ordnung gesorgt und starb während der Ausübung seines Jobs, seiner Berufung, weil er anderen helfen wollte.“
„Madam…“
„Ich bin noch nicht fertig.“, schnitt sie Detective Fuller das Wort ab. „Denn mein Sohn selbst, Nathan Lawford, den sie beschuldigen, seine Freundin kaltblütig umgebracht zu haben, ist Anwalt. Er hat seit heute sein Diplom als Master of Laws in der Tasche, hat jahrelang studiert und sich ins Zeug gelegt, um ein guter Jurist zu werden, damit er – genau wie sein Vater und sein Großvater vor ihm – anderen Leuten helfen kann, Ungerechtigkeit strafen kann und dafür sorgen kann, dass Personen hinter Gitter wandern, die genau zu solchen Taten fähig sind, wie sie hier heute passiert sind. Und Sie wollen wirklich sagen, er hätte diese Schandtat begangen? Wollen ihm unterstellen, die Frau kaltblütig ermordet zu haben, die er geliebt hat? Mit der er seit der Highschool zusammen war und mit der er sich eine Zukunft in New York aufbauen wollte?“
„Mrs. Lawford…“
„Sie können mich gerne Frau Bürgermeister nennen, weil ich denke, dass Sie dadurch vielleicht noch ein wenig klarer sehen und wissen, mit wem Sie es zu tun haben.“, unterbrach Alba ihn.
„Natürlich, Frau Bürgermeister.“ Der Ermittler bekam wieder schmale Lippen.
„Wollen Sie das Wort der Bürgermeisterin dieser Stadt anzweifeln, wenn Sie Ihnen sagt, dass Ihr Sohn nicht als Mörder in Frage kommt, weil er zur fraglichen Zeit des Mordes in ihrem Haus war und ihr berichtet hat, was zwischen Sharon und ihm vorgefallen ist? Wollen Sie einer Mutter absprechen, dass sie ihren Sohn gut genug kennt, um zu wissen, wozu er fähig ist und wozu nicht?“ Alba kam immer mehr in Fahrt. „Wollen Sie sagen, ich hätte einen Mörder großgezogen und würde ihn nun auch noch decken, weil er schließlich mein Sohn ist?“
„Nein, Madame, aber….“
„Kein Aber.“, schnitt sie ihm abermals das Wort ab. „Ich werde meinen Sohn jetzt mit zu mir nach Hause nehmen, wo er sich waschen, umziehen und von dem Schock über den grausamen Tod seiner Freundin erholen kann. Und wenn Sie mir das verbieten, wenn Sie sich mir in diesem Fall in den Weg stellen, werden wohl meine anderen beiden Söhne für ihren Bruder eintreten müssen. Auf eine Art und Weise, die nichts mehr mit vernünftigen Argumenten und ruhigen Gesprächen zu tun hat.“
Detective Fuller kniff die Augen zusammen. „Drohen Sie mir gerade, Mrs. Lawford?“
„Oh, meine Mutter hat Sie lediglich gewarnt, was passieren könnte, wenn Sie meinen Bruder weiter hier festhalten.“ Es war Deacon, sein älterer Bruder, der nun auf den Polizisten zutrat.
„Das Drohen übernehme ich für sie.“
„Und ich.“ Liam, Nates jüngerer Bruder stellte sich an Deacons Seite.
Der Detective schien einen Moment zu überlegen, trat dann aber einen Schritt zurück. „Also schön, wie Sie wollen.“
„Schön.“ Alba wirkte zufrieden und nahm Nate am Arm. „Komm, Liebling, lass uns gehen.“
„Aber irren Sie sich nicht.“, sagte der Detective, als Alba mit Nate im Arm und ihren beiden anderen Söhnen als Nachhut an ihm vorbeiging. „Dass ich Sie jetzt gehen lasse, bedeutet noch lange nicht, dass ich mit Ihrem Sohn schon fertig bin. Denn ich werde diesen Fall klären. Koste es, was es wolle.“
„Dann lösen Sie ihn.“, erwiderte Alba noch. „Klären Sie den Fall und finden Sie den wahren Mörder, damit wir danach alle in Frieden weiterleben können. Nichts anderes will ich.“
Solvang, Kalifornien, sieben Jahre später…
Nathan fuhr in Richtung des Ortes, wo er so viele Jahre seines Lebens gelebt hatte, wo er geboren und aufgewachsen war und spürte, wie sein Herz schneller schlug, je näher er diesem Ort kam, den er einst sein Zuhause genannt hatte.
Es war ein Tag im Juni, ein Tag wie so viele Jahre zuvor und die Sonne schien strahlend vom Himmel, während eine warme Brise durch die geöffneten Fenster seines Autos kam, sodass er es fast bereute, dass er das Verdeck nicht geöffnet hatte, als er vom Flughafen in Los Angeles losgefahren war. Das Meer zu seiner Rechten glitzerte im Sonnenschein und warf leichte Wellen, die an die Küste schwappten und der Himmel über ihm war strahlend blau, verziert mit nur einzelnen Schäfchenwolken, was seine Stimmung steigen ließ und seine Aufregung, endlich nach Hause zu kommen, noch vergrößerte.
Er war sieben Jahre lang nicht mehr hier gewesen. Hatte sieben Jahre lang in Boston gelebt, dort Karriere gemacht und sich von allem erholt, was einst an einem schönen Sommerabend im Juni hier geschehen war. Er war höchstens einmal für ein paar Tage zu Besuch gekommen, um seine Mutter und seine Brüder wieder zu sehen, doch geblieben war er nie.
Das sollte sich heute ändern. Er hatte vor zu bleiben. Er hatte vor, wieder nach Hause zu kommen und wieder hier zu leben, wo sein Leben so viele Jahre lang stattgefunden und eine schreckliche Wendung genommen hatte. Damals hatte er fort gewollt, hatte seine Heimat verlassen wollen, um etwas von der Welt zu sehen, um sich irgendwo an der Ostküste niederzulassen und in New York, der Stadt, die niemals schlief, eine große Karriere als Anwalt zu starten. Dann hatte er fort gemusst. Nach allem, was passiert war, nach Sharons Tod und den darauffolgenden Ermittlungen, dem nervenaufreibenden Prozess, hatte er einfach wegziehen müssen, weil alles hier ihn an das erinnert hatte, was gewesen war und nie wieder sein würde. Er hatte weggehen müssen, weil er das Mitleid und die misstrauischen Blicke nicht mehr ausgehalten hatte, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgt hatten und er hatte weggehen müssen, weil…weil er gewusst hatte, dass es hier erst einmal nichts mehr für ihn geben würde. Weder privat noch beruflich, so ungerne er seine Mutter und seine Brüder auch zurückgelassen hatte. Doch er hoffte, dass jetzt alles anders sein würde.
In den letzten zwei Jahren hatte er mehr und mehr angefangen, über eine Rückkehr an die Westküste, eine Rückkehr in die Nähe seiner Heimat, in die Nähe des Ortes, wo er zu Hause gewesen war, nachzudenken. Er hatte mehr und mehr gemerkt, dass er einfach nicht an die Ostküste gehörte, so sehr es ihm anfangs auch dort gefallen hatte und so gut ihm der Tapetenwechsel getan hatte. Er hatte gespürt, dass dort nichts mehr auf ihn wartete, was er noch erreichen könnte, nachdem er das geschafft hatte, was er sich immer gewünscht hatte. Er war ein großer, bekannter Anwalt geworden. Hatte Karriere gemacht, sich von einem kleinen Juristen, der in einer riesigen Anwaltskanzlei angestellt war, zuerst zum Partner und dann zum Staatsanwalt hochgearbeitet. Mit viel Fleiß und Engagement, mit viel harter Arbeit und vielen Nächten, die er durchgemacht hatte, sobald er einen Fall übertragen bekommen hatte. Er hatte sich voll in die Arbeit geschmissen, hatte sich in seinem Beruf, seiner Berufung verloren und alles andere außen vor gelassen. Alles andere vernachlässigt, wobei es ihm lange Jahre nicht als Vernachlässigung vorgekommen war. Lange Zeit galt es ihm als Erleichterung, als willkommene Ablenkung und als Ausrede für alles, was er von sich schieben wollte, was er nicht mehr an sich heranlassen wollte. Doch nach und nach war auch der Wunsch wieder zurückgekommen, ein richtiges Privatleben zu haben, sich neben seiner Karriere auch privat ein neues und glückliches Leben aufzubauen und obwohl er anfangs dachte, dass er das in Boston genauso gut könnte wie überall anders, wurde ihm mit jedem gescheiterten Versuch mehr klar, dass es wahrscheinlich nur einen Ort gab, wo er all das wiedergutmachen und zurückbekommen könnte, was ihm viele Jahre zuvor verloren gegangen war. Er konnte kein neues Leben beginnen, ohne mit dem alten, mit der Vergangenheit endgültig abzuschließen. Und er konnte nur mit allem Vergangenen abschließen, wenn er wieder nach Hause kommen würde, wenn er wieder an den Ort zurückkehren würde, wo seine Vergangenheit auf ihn wartete. Wo das Leben auf ihn wartete, das er zurückgelassen und geopfert hatte, nachdem die Frau, die er geliebt hatte, zu einem Opfer geworden war und ihr eigenes Leben gelassen hatte. Er musste zurück nach Solvang.
Und als hätte das Schicksal seine Entscheidung willkommen geheißen, als hätte irgendeine glückliche Fügung ihre Schwingen ausgebreitet, um ihm in Form eines unglaublichen Angebotes zuzufliegen, hatte er nur wenige Tage nach seinem Entschluss von seiner Mutter erfahren, dass Anwalt Ferguson, der lange Jahre in Solvang gelebt und praktiziert hatte, kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag einen Herzinfarkt erlitten hatte und gestorben war, sodass seine Kanzlei nun leer stand und Solvang nach einem Nachfolger suchte, der die Lücke ausfüllen könnte, die Mr. Ferguson hinterlassen hatte.
Nate war sich zuerst nicht sicher gewesen, wie er auf diese Information reagieren sollte oder was seine Mutter mit dieser Nachricht bezweckte, was sie ihm sagen wollte, doch eigentlich hatte er in seinem Herzen trotzdem schon gespürt und gewusst, dass das die Möglichkeit war, auf die er unbewusst wohl all die Jahre gewartet hatte. Dass das der Wink mit dem Zaunpfahl war, dass es Zeit war, wieder nach Hause zu kommen und sich seinen Dämonen zu stellen. Und darum hatte er seine Mutter drei Tage später wieder angerufen und ihr gesagt, dass er die Kanzlei gerne übernehmen würde und dass er vorhätte, wieder nach Hause zu kommen, wenn sie damit einverstanden wäre und die Kanzlei noch zu haben wäre.
Und jetzt war er hier. Passierte das Schild von Solvang, das immer noch genauso aussah wie vor sieben Jahren und alle darauf hinwies, dass sie gerade in einen dänischen Ort fuhren, was ein Blinder sehen konnte, da all die kleinen Fachwerkhäuschen relativ untypisch für Kalifornien, den Sonnenstaat, waren, den viele mit großen, zweistöckigen Villen verbanden, die irgendwo am Meer standen und traumhafte Aussichten boten. Was zwar ebenso nicht unbedingt die Realität war, aber zumindest gab es in dieser Gegend sehr viel spanischen Einfluss, was die Städte, Dörfer und Ortschaften anbelangte, sodass man Solvang durchaus als eine große Ausnahme betrachten konnte, was natürlich jährlich hunderte von Touristen und Schaulustige anlockte. Touristen und Schaulustige, die sogar jetzt, Anfang Juni, schon hier unterwegs waren, wenn auch noch nicht so viel, wie es im Juli und vor allem im August sein würden. Doch die Straßen seiner Heimatstadt waren voll, auf den Bürgersteigen wimmelte es vor Menschen und in der Ferne konnte er mit einiger Anstrengung über all die Häuser hinweg die Windmühle ausmachen, deren Flügel sich sanft im Wind drehten und die als Hauptattraktion von Solvang galt.
Nate fuhr den Mission Drive hinunter, die Hauptstraße, die durch Solvang führte, vorbei an den Wohnsiedlungen, die am Ortsrand lagen, vorbei am Wildling Museum, vor dem ein paar Besucher auf den Einlass warteten und vorbei an den ersten Hotels und Inns, wie das Solvang Inn & Cottages, die ebenfalls schon gut gebucht zu sein schienen. Er passierte Paula´s Pancake House, wo er früher oft mit seiner Mutter und seinen Brüdern gefrühstückt hatte und sah an der nächsten Kreuzung Mortensen´s dänische Bäckerei, die sich wie immer vor Kunden kaum retten konnte. Er kam gerade am Solvang Park vorbei, dem gegenüber das Spirituosengeschäft lag, wo er sich mit seinem besten Freund verbotenerweise seine erste Flasche Wodka gekauft hatte, die sie des Nachts in eben jenem Park wagemutig gemeinsam geleert hatten, um dann sturzbetrunken nach Hause zurückzukehren und den Anschiss ihres Lebens von ihren Eltern zu bekommen, als hinter ihm eine Polizeisirene erklang und er im Rückspiegel die blinkenden Lichter eines Polizeiwagens erkennen konnte, der ihn zum Anhalten aufforderte.
„Na super.“ Nate sah auf das Tachometer, um festzustellen, ob er vielleicht zu schnell dran gewesen war, doch da er die erlaubten Meilen nur minimal überschritten hatte, konnte er sich nicht vorstellen, warum er angehalten wurde.
Dennoch wollte er nicht gleich am ersten Tag seiner Heimkehr Ärger mit der Polizei riskieren, weshalb er bei der nächsten Kreuzung abbog und auf den großen Parkplatz fuhr, der eigentlich für Touristen gedacht war. In einer Parklücke hielt er den Wagen an, schaltete den Motor aus und wartete, bis der Polizeiwagen neben ihm parkte und der Polizist darin ausstieg.
„Gibt es irgendein Problem, Officer?“ Nate suchte bereits nach seinem Führerschein und den Fahrzeugpapieren, da er diese bestimmt brauchen würde, als der Officer an sein geöffnetes Fenster trat.
„Eindeutig.“, antwortete der Polizist. „Sie sind ohne Anmeldung in diese Stadt zurückgekehrt und wollten sich unbemerkt an Ihrem ehemals besten Freund vorbeischleichen.“
„Ich…“ Nate riss den Kopf herum und starrte den Officer an, der sich gebückt hatte, um durch das Fenster zu sehen. „Ryder?“
„Ach, sieh an, der Herr kennt mich also noch.“ Ryder Petersen grinste ihn an.
„Ryder, ich…ich kann es nicht glauben.“ Nate ließ die Suche nach Führerschein und Papieren sein und stieg stattdessen aus, nachdem Ryder zwei Schritte zurückgetreten war. „Himmel, sieh dich an. Du bist Polizist! Du bist ein echter Polizist.“
„Nein, ich habe mir diese Uniform nur ausgeliehen und mache einen auf Fasching im Juni.“, antwortete sein Freund scherzhaft.
„Idiot!“ Nate boxte ihn auf die Brust und zog ihn danach ihn seine Arme. „Mann, es ist schön, dich wiederzusehen.“
„Das kann ich nur zurückgeben.“ Ryder löste sich von seinem Freund und klopfte ihm auf die Schulter. „Dennoch bin ich ein wenig böse, dass ich als Letzter davon erfahren habe, dass du in unser kleines, feines Städtchen zurückkehrst und die Kanzlei von Ferguson übernimmst.“
„Entschuldige, aber ich hatte nicht vor, es gleich an die große Glocke zu hängen, vor allem, weil ich nicht beabsichtige, die Kanzlei vor September neu zu eröffnen.“, informierte ihn Nate.
„Du willst bis September warten, um die Kanzlei wiederzueröffnen?“, wunderte sich Ryder. „Weshalb?“
„Naja, ich muss mich erst einmal wieder hier einleben und dann wäre es sicher nicht verkehrt, zuerst ein paar Kontakte zu knüpfen, mich in der Stadt zu zeigen, das Vertrauen der Leute zu gewinnen, sie an mich zu gewöhnen.“, erklärte Nate. „Schließlich geht keiner zu einem Anwalt, über den er rein gar nichts weiß und dem er misstraut.“
„Du willst dich also Liebkind machen, bevor du richtig durchstartest.“ Ryder schmunzelte. „Dir ist aber schon bewusst, dass deine Mutter hier die Bürgermeisterin ist und wie verrückt die Werbetrommel für dich rührt, seit sie weiß, dass du zurückkehrst.“
Nate seufzte und verdrehte die Augen. „Dann muss ich wohl nicht mehr fragen, woher du weißt, dass ich zurückkomme.“
Sein Freund lachte. „Deine Mutter erzählt es allen, die es hören wollen, aber auch allen, die es nicht hören wollen.“
„War ja klar.“ Der Anwalt lehnte sich gegen sein Auto und verschränkte die Arme. „Wie sind die Reaktionen in der Stadt, Officer? Will man mich eher zum Teufel jagen oder hat man beschlossen, mich unter Vorbehalt wieder willkommen zu heißen?“ Ryder lehnte sich neben ihn und zuckte leicht die Schultern. „Was ich so mitbekommen habe, ist es den meisten ziemlich egal. Sie sind bereit, dir eine Chance zu geben und seien wir einmal ehrlich…es ist sieben Jahre her.“
„Das stimmt.“ Nate senkte den Kopf. „Aber Menschen vergessen nicht so einfach. Vor allem nicht in so einer kleinen Ortschaft wie Solvang.“
„Himmel, Nate, Solvang hat über fünftausend Einwohner.“ Der Officer schüttelte den Kopf. „Hier von klein zu reden, ist etwas übertrieben, meinst du nicht.“
„Fünftausend Einwohner, die monatelang erschüttert wurden von dem Umstand, dass es einen Mord in ihrer Mitte gegeben hatte. Einen grausamen Mord, der bis heute nicht geklärt ist.“, setzte Nate hinzu.
„Detective Fuller schnüffelt von Zeit zu Zeit immer noch hier herum.“ Ryder verfolgte mit den Augen ein Auto, das auf den Parkplatz einbog und einige Parklücken weiter entfernt stehen blieb. „Er sagt, er hätte versprochen, den Mord zu klären und er würde nicht eher ruhen, bis das der Fall wäre.“
„Wenn er hört, dass ich wieder da bin, wird es sicher nicht lange dauern, bis er wieder hier auftaucht.“, vermutete der Anwalt.
„Nate.“ Ryder wandte sich ihm zu. „Er konnte dir nichts nachweisen. Keiner konnte dir etwas nachweisen, darum wurdest du freigesprochen.“
„Aus Mangel an Beweisen.“, meinte Nate. „Ich bin Anwalt. Ich weiß, was das heißt.“
„Niemand hier gibt dir die Schuld.“, versicherte sein Freund. „Zumindest niemand, der dich kennt. Und die anderen können sich zum Teufel scheren.“
Nate lächelte leicht. „Wenn sich alle, die mich nicht kennen, zum Teufel scheren, kann ich meine Kanzlei wohl vergessen. Dann werde ich nicht lange hier sein.“
Ryder rollte die Augen. „Du weißt genau, wie ich das meinte.“
„Ja, klar.“ Nathan stieß sich vom Auto ab und stieß die Luft aus. „Ich muss jetzt weiter. Also, wenn der Officer nichts dagegen hat und ich gegen keine Verkehrsregel verstoßen habe, würde ich gerne zu meiner Mutter gehen.“
„Ja, ich denke, das solltest du ganz dringend.“ Ryder stellte sich neben ihn. „Sie ist schon ganz aus dem Häuschen, weil du heute kommst.“
Nate zog eine Augenbraue hoch. „Dann weißt du, wo ich sie finde?“ „Sie ist im Rathaus, in ihrem Büro.“, erwiderte sein Freund und machte eine Kopfbewegung in Richtung des Gebäudes gegenüber. „Ich war gerade bei ihr, wegen eines kleinen Vorfalls von Vandalismus letzte Nacht, daher wusste ich auch, dass du bereits auf dem Weg sein musstest und hielt ein wenig Ausschau.“
„Verstehe.“ Nate lächelte. „Dann sollte ich Frau Bürgermeister wohl lieber nicht länger warten lassen.“
„Definitiv.“ Ryder umarmte seinen Freund erneut und klopfte ihm auf den Rücken. „Was hältst du von einem Bierchen heute Abend? In der Brauerei?“
„Die Solvang Brewing Company.“ Nate schloss kurz seine Augen.
„Wenn ich eines in Boston vermisst habe, dann unser gutes Bier.“ Ryder musste lachen. „Was, gibt es in Boston kein Bier?“
„Doch, aber glaub mir, es schmeckt nur halb so gut.“ Nate grinste. „Um neun?“
„Klingt perfekt.“ Ryder ging bereits zurück zu seinem Polizeiwagen. „Viel Glück bei deiner Mom.“
„Vielen Dank.“ Nate winkte ihm nach und sah zu, wie sein Freund ins Auto stieg und wenig später vom Parkplatz fuhr, bevor er seinen Blick auf das Gebäude gegenüber des Parkplatzes richtete, dem Rathaus von Solvang, in dem das Büro seiner Mutter lag. „Ok, dann wollen wir mal.“
Nathan sperrte das Auto ab, setzte sich hinterher in Bewegung und überquerte die Straße, wobei er das Gebäude betrachtete, dass sich genau wie die Stadt kein bisschen verändert zu haben schien. Es war gelb gestrichen, bestach mit seinen drei kleinen Türmchen, die in den Himmel empor ragten, und den grünen Spitzdächern, die dem Rathaus etwas Besonderes verliehen. Durch einen Bogengang kam man in einen kleinen Innenhof, in dem ein paar Bäume angepflanzt waren und ein paar Bänke zum Rasten einluden, doch dafür hatte er heute keine Zeit, da er den Wagen seiner Mutter erblickte, der ebenfalls im Innenhof parkte, genau zwei Stockwerke unter dem Fenster, hinter dem ihr Büro lag. Durch die Tür im Innenhof, die in das Gebäude führte, trat er ins Rathaus, grüßte die Dame am Empfang, die er von früher kannte, mit einem Winken und stieg direkt die Treppen in den zweiten Stock hoch, wo er mit etwas Herzklopfen das Vorzimmer des Büros der Bürgermeisterin betrat.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“ Die Sekretärin, eine junge, hübsche Blondine, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte, sah auf, als er eintrat und schenkte ihm ein Lächeln.
„Äh, ich…“ Verunsichert, dass nicht mehr die alte Mrs. Larson am Schreibtisch vor dem Büro seiner Mutter saß, brauchte er ein paar Sekunden, bis er sich wieder gefangen hatte. „Ich würde gerne ein paar Minuten mit der Bürgermeisterin sprechen.“
„Haben Sie einen Termin?“, wollte das Mädchen - denn älter als Anfang zwanzig konnte sie nicht sein - wissen.
„Sie weiß, dass ich komme, ja.“, antwortete er.
„Verstehe.“ Das Mädchen erhob sich. „Wen darf ich Mrs. Lawford melden?“
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Sagen Sie ihr, ihr Sohn ist hier. Nathan Lawford.“
„Oh ich…“ Die Blondine wurde rot. „Entschuldigen Sie, ich wusste nicht…“
„Schon ok.“ Nate winkte ab. „Melden Sie mich einfach an.“
„Ich…ich denke nicht, dass ich Sie anmelden muss.“, meinte die Sekretärin immer noch beschämt. „Gehen Sie einfach rein. Ihre Mutter wird sich freuen. Sie erwartet Sie schon.“
„Ja, das habe ich schon von anderer Seite gehört.“ Nathan schmunzelte, während er zur Tür des Büros seiner Mutter ging und dort inne hielt. „Verraten Sie mir noch Ihren Namen?“
„Oh, ich…“ Das Mädchen senkte kurz den Blick. „Ich bin Sheila. Nennen Sie mich Sheila.“
„Sheila.“ Nate nickte. „Freut mich.“
Um die Mundwinkel des Mädchens zuckte es. „Mich auch. Aber nun gehen Sie schon rein.“
Nate musste wieder grinsen, klopfte dann aber kurz an die Tür seiner Mutter und trat nach einem leisen „Herein“ von ihr, einfach in ihr Büro, wo sie am Schreibtisch vor dem Fenster saß und angestrengt auf den Bildschirm ihres Computers guckte.
„Hi, Mom.“ Sein Herz flog ihr zu, als er sie mit ihrer Lesebrille auf der Nase und ihrem schicken pflaumenfarbenen Hosenanzug dort sitzen sah, während die Sonne hinter ihr durchs Fenster leuchtete und ihre flachsblonden Haare, die er eindeutig von ihr geerbt hatte, glänzen ließ.
„Nathan!“ Seine Mutter riss ihren Blick vom Computer los, als sie seine Stimme hörte und war im nächsten Moment schon auf den Beinen. „Nate, mein Junge, da bist du ja endlich.“
„Ich habe schon gehört, dass du auf mich wartest.“ Lächelnd ging er auf sie zu, doch trotz des Umstandes, dass sie fünfundzwanzig Jahre älter als er war, war sie wesentlich schneller, umrundete den Schreibtisch in Sekundenschnelle und riss ihn in seine Arme, bevor er überhaupt drei Schritte getan hatte.
„Oh Gott, es ist so schön, dass du wieder da bist, Liebling.“
„Ich weiß.“ Er legte seine Arme um sie, drückte sie fest an sich und küsste sie auf ihr lockiges Haar, das nichts von seiner Seidigkeit eingebüßt hatte, seit er sie zuletzt gesehen hatte. „Es tut auch gut, dich wieder zu sehen, Mom.“
„Ach, was redest du für einen Unsinn.“ Sie löste sich von ihm und wischte sich ruppig die Tränen aus den Augenwinkeln. „Du bist erwachsen und ein durch und durch erfolgreicher Anwalt. Du brauchst deine alte Mutter nicht mehr, die viel zu sentimental geworden ist, seit sie in den Wechseljahren ist.“
„Mom.“ Er nahm sie am Arm und strich ihr über die Wange, über die eine Träne lief, die sie nicht hatte aufhalten können. „Ich habe dich schrecklich vermisst. Und ich bin Anwalt, darum sage ich immer die Wahrheit.“
„Genauso ein Charmeur wie dein Vater. Das bist du.“, gab sie ihm zu verstehen, legte ihre Hand aber trotzdem an seine Wange und sah ihn voller Liebe an. „Ich habe dich auch vermisst. Und ich bin überglücklich, dass du beschlossen hast, wieder nach Hause zurückzukommen.“
„Es war Zeit dafür.“, sagte er schlicht.
„Ja, das war es.“, wiederholte sie genauso schlicht und zog ihn wieder in ihre Arme. „Hattest du eine gute Reise? Verlief alles wie geplant?“
„Ja.“ Als sie ihn losließ, folgte er ihr zum Schreibtisch und setzte sich in einen der zwei bequemen Stühle dort, während seine Mutter den anderen nahm. „Der Flieger startete nur mit zehn Minuten Verspätung, was für New York eine Seltenheit ist, und holte diese während des Fluges wieder herein, sodass wir pünktlich in L.A. landeten.“
„Du hast das Auto gut gefunden?“ Seine Mutter griff nach dem Glas mit Wasser, das neben ihrem Computer stand und bot es ihm an.
„Ja, danke, dass ihr es hingefahren habt.“ Nate nahm das Glas dankbar entgegen und trank einen Schluck.
„Du weißt, dass wir dich auch abgeholt hätten, anstatt nur dein Auto dort abzustellen, damit du allein vom Flughafen hierher fahren kannst.“ Alba lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
„Klar weiß ich das, aber ich wollte einfach noch ein wenig Zeit für mich, bevor ich hier ankomme und alles wieder über mich herfällt.“ „Nate…“ Als Alba den Ton seiner Stimme hörte, beugte sie sich vor und legte ihre Hand auf seine.
„Nicht, Mom.“, bat er, bevor sie weitersprechen konnte. „Noch nicht, bitte.“
Seine Mutter zögerte einen Moment, drückte dann aber seine Hand und nickte. „In Ordnung. Wir haben schließlich Zeit, um irgendwann über alles zu reden.“
„Ja.“ Nate senkte kurz den Kopf, nahm danach noch einen Schluck Wasser und stellte das Glas hinterher zurück auf den Schreibtisch. „Hast du den Schlüssel für die Kanzlei hier? Ich würde sie mir gerne gleich heute ansehen.“
„Natürlich.“ Alba stand auf und umrundete ihren Schreibtisch, wo sie eine Schublade aufzog und einen Schlüsselbund herausnahm.
„Hauptschlüssel, Ersatzschlüssel und der Schlüssel für den riesigen Schreibtisch, der dort steht.“ Sie warf ihm die Schlüssel über den Schreibtisch zu. „Es gibt auch noch einen Aktenschrank, der normalerweise abgeschlossen ist, da die meisten Akten nach Anwalt Fergusons Tod jedoch weggeschafft wurden, sollte der Schlüssel dort stecken und du müsstest ihn in der Kanzlei finden.“ „Alles klar.“ Nate hatte die Schlüssel geschickt aufgefangen und besah sich diese. „Ich werde wohl noch einen oder zwei Schlüssel nachmachen lassen müssen, da ich nicht vorhabe, die gesamte Kanzlei alleine zu führen.“
Seine Mutter zog die Augenbrauen hoch. „Hast du vor, dir einen Partner zu suchen? Oder hast du gar jemanden aus Boston mitgebracht, von dem du uns noch nicht erzählt hast?“
„Nein.“ Er schmunzelte, als er ihren Unterton hörte. „Es gibt niemanden, von dem du wissen solltest, Mom.“ Er atmete tief durch. „Aber ich werde wohl zumindest eine Sekretärin brauchen, vielleicht sogar eine richtige Anwaltsgehilfin, die mich bei den Fällen unterstützen kann, meine Termine überwachen kann, sich ums Anlegen einer neuen Kartei meiner Mandanten kümmern kann und all das. Sollte meine Kanzlei nämlich gut laufen, werde ich selbst für all diese Dinge keine Zeit haben.“
„Hm.“ Seine Mutter schien zu überlegen. „Hattest du da schon an jemand Bestimmten gedacht?“
„Nein.“, gab Nate zu. „Aber gerade darum will ich mir auch Zeit nehmen, bevor ich die Kanzlei wiedereröffne, um all diese Dinge klären zu können.“
„Verstehe.“ Alba glitt in ihren Bürostuhl.
„Apropos Sekretärin.“ Nate blickte sie an. „Wer ist die hübsche Blondine draußen im Vorzimmer und was ist aus Mrs. Larson geworden?“
„Mrs. Larson ist letztes Jahr in ihren wohlverdienten Ruhestand gegangen und Sheila ist ihre Enkelin, die bereits in den letzten Monaten von Mrs. Larson angelernt und auf ihren Job vorbereitet wurde.“, erklärte Alba ihm. „Sie ist eine gute Nachfolgerin und erledigt ihren Job super, also bring sie bitte nicht in Verlegenheit.“ „Das habe ich wohl schon getan.“, meinte er locker. „Aber unabsichtlich, da sie nicht wusste, wer ich bin und sich furchtbar geschämt hat, als ich ihr sagte, ich sei dein Sohn und bräuchte daher keinen Termin.“
„Himmel.“ Alba verdrehte die Augen. „Ich hätte ihr wohl auch noch ein Foto von dir geben müssen, damit sie weiß, wie du aussiehst, weil du dich nie vernünftig vorstellen kannst.“
„Ich kann mich durchaus vernünftig vorstellen, allerdings hatte ich nicht erwartet, dass das heute notwendig werden würde.“, machte er ihr klar.
„Nun, die Dinge ändern sich eben.“ Die Bürgermeisterin seufzte. „Weißt du schon, wo du wohnen willst? Du weißt, dass zu Hause immer ein Zimmer für dich frei ist.“
„Du meinst, in diesem unglaublich großen Haus, mit dem riesigen Garten, dem Swimmingpool und dem Gästehaus, in dem sich mein kleiner Bruder einquartiert hat?“, fragte er scherzhaft nach.
„Dein Bruder lebt immer noch dort – oder sollte ich eher sagen, er haust im Gästehaus – wenn er nicht gerade im Krankenhaus ist, was nicht besonders oft vorkommt, wenn ich ehrlich sein darf. Und es ist ok, weil du weißt, dass ich mich von dem Haus einfach nicht trennen kann, egal wie groß es für eine alleinstehende Frau ist.“, erwiderte sie.
„Weil Dad es für euch bauen ließ, nachdem ihr geheiratet hattet und beschlossen habt, eine große Familie zu gründen.“, wusste Nate durchaus.
„Er ließ es für uns alle bauen.“, verbesserte sie. „Bereits damals beabsichtigte er, dass seine Kinder einmal die Möglichkeit und den Platz haben sollten, solange sie wollen, zu Hause bleiben und jederzeit nach Hause zurückkehren zu können, sollte es nötig werden.“
„Ich weiß und es rührt mich zutiefst, freut mich unglaublich, dass du mich wieder zu Hause haben willst.“ Er blickte sie voller Liebe an. „Aber ich bin einunddreißig und möchte auf eigenen Beinen stehen. Ein Anwalt, der zu Hause bei seiner Mutter und seinem kleinen Bruder lebt, ist nicht sehr glaubwürdig, findest du nicht?“
„Ich würde ihn als familienorientiert und fürsorglich bezeichnen.“, konterte sie. „Aber ich werde dich zu nichts überreden, wozu du nicht gewillt bist, wovon du nicht überzeugt bist, darum lassen wir das Thema.“
„Ich werde dich ganz oft besuchen, Mom, das verspreche ich.“ Besänftigend langte er über den Tisch und griff nach ihrer Hand. „Ich meine, ich arbeite und lebe jetzt wieder in der Stadt. Aber wohnen werde ich vorerst über der Kanzlei, wo es zwei kleine Wohnräume und ein Badezimmer gibt, soweit ich weiß.“
Seine Mutter runzelte die Stirn. „Du willst über der Kanzlei wohnen? In den zwei Räumen, die Anwalt Ferguson in seiner gesamten Zeit hier als Rumpelkammer benutzt hat?“
„Es sind zwei große helle Räume mit allen nötigen Anschlüssen, soweit ich mich an die Bilder erinnere, die du mir geschickt hast. Ich kann mir in dem einen Raum also ein Schlafzimmer und im anderen eine Wohnküche einrichten. Zusammen mit dem Bad brauche ich vorerst nicht mehr, bis ich etwas Größeres und Passenderes gefunden habe.“, argumentierte er.
„Nate…“