Mainhattan Hearts - Andreas Schäfer - E-Book

Mainhattan Hearts E-Book

Andreas Schäfer

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Beschreibung

Ein neuer Fall für Kriminalhauptkommissar Thomas Bach: Eine junge sportliche Joggerin wird tot im Frankfurter Grünburgpark aufgefunden. Doch für den erfahrenen Polizisten ist dies kein normaler Todesfall: Die Tote im Park kennt er seit sie ein Kind ist. Für Betroffenheit bleibt kaum Zeit, denn Bach muss den Mord an einer bekannten Frankfurter Enthüllungs-Journalistin aufklären. Bei seinen Ermittlungen stößt er immer wieder auf ein Phantom: "Marlowe". Der mysteriöse Chatter, der gleich mehrere Eisen im Feuer hat, scheint bei erfolgreichen Single-Frauen gut anzukommen – doch bevor Bach mehr über ihn erfahren kann, gerät er in einen Sumpf aus Spendenskandalen, Scheinorganisationen und Versicherungsbetrug und muss vom Schlimmsten ausgehen: Einsame Frauenherzen haben die längste Zeit sicher in Frankfurt gelebt! Andreas Schäfer weiß, worüber er schreibt: Als Hauptkommissar kennt er die Stadt Frankfurt und ihre Verbrecher wie kaum ein anderer. "Mainhattan Hearts" ist sein dritter Frankfurt-Roman im Societäts-Verlag – ein Stadt-Krimi, der durch Mark und Bein geht.

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Seitenzahl: 291

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Andreas Schäfer
Mainhattan Hearts
Ein Frankfurt-Krimi
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2009 Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH
Schutzumschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt
Satz: Nicole Proba, Societäts-Verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-133-5
Für meine drei Herzchen

Prolog

Es war einer jener strahlenden Morgen, die einen wunderschönen Tag versprechen, ohne etwas halten zu wollen. Einer jener warmen Sommertage, die jeden beim Erwachen so sympathisch anstrahlen, wie die umwerfenden, durchgestylten Models auf der Titelseite eines superedlen, aber auf den Innenseiten doch schon leicht vergilbten Modemagazins. Ich versuchte das penetrante Klingeln meines Telefons zu ignorieren, blinzelte in die aufgehende Sommersonne, die prismenartig durch die ungeputzten Scheiben in mein Schlafzimmerfenster schien, drehte mich widerwillig um und fischte dann doch verschlafen mit einer Hand nach dem Hörer. Nach endlosem Tasten fand ich es, drückte die magische Taste und meldet mich: „Bach.“
„Moin Thommy. Hier ist Björn vom KDD“, kam es mit leicht friesischem Akzent aus dem Hörer. Ich sah ihn im Geis­te vor mir, den baumlangen, rothaarigen Riesen vom Kriminaldauerdienst.
„Hallo Björn, moin moin“, grüßte ich ihn in seinem Dialekt zurück, wohlwissend, dass er seine friesische Heimat in unserem futuristischen „Mainhattan“ sehr vermisste.
„Du, es gibt da eine Tote im Grüneburgpark. Joggerin, die zusammengebrochen ist. Leichensache in der Öffentlichkeit. Nix Spektakuläres, aber ihr seid jetzt schon dran…“
Ich sah auf meinen Radiowecker, dachte an die unendlichen Diskussionen über Zuständigkeiten, verwarf den Gedanken und brummte dann: „Okay Friese, dann gib mal durch.“
Die Sonne brach sich tausendfach in den Laubkronen der ausladenden Bäume des Grüneburgparks, als wir die Autotüren zuschlugen. Ich blickte über die Straße auf eine Kindergartengruppe, die in Zweierreihen Richtung Palmengarten gingen. Die großgewachsene Erzieherin lief vorneweg und gestikulierte mit den Händen, während ihre kleinwüchsige Kollegin als Letzte der Gruppe hinterherlief. Mir fiel ein einziger blonder Wuschelkopf in der lachenden Menge der Kinder auf und ich verscheuchte meine aufkommenden Gedanken über die demografische Entwicklung in meiner Heimatstadt. Ich sah hinüber zu Rainer, der mir zugrinste, als könne er Gedanken lesen, dann aber Richtung des Parkeingangs nickte: „Dann lass uns mal loslegen.“
„Okay Partner…“, brummte ich, blinzelte in die Sonne und dann gingen wir in Richtung der großen Wiese des Grüneburgparks, auf der sich schon zu so früher Morgenzeit einige Studentinnen sonnten und in ihre Bücher vertieft waren. Wir liefen zunächst an einem Spielplatz vorbei. Die jungen Mütter mit den spielenden Kindern und die sonnenhungrigen Studenten ließen von dem Todesfall nichts ahnen und eigentlich hätte ich mich über diesen Sommertag richtig freuen können, riss mich dann aber zusammen. Wir gingen weiter, während neben uns einige Jogger ihre morgendlichen Runden durch den Park drehten. Rainer und ich hatten in der letzten halben Stunde seit unserem Treffen im Präsidium nur die nötigsten Worte gewechselt. Dann sahen wir den Funkstreifenwagen und die Kollegen auf dem Weg, der im weiteren Verlauf zu einem kleinen Pavillon in diesem schönen Park führte. Bevor wir die Stelle erreichten, raunte mein Partner: „Dann wollen wir mal.“
Ich nickte wortlos, ohne zu ihm hinüberzusehen und versuchte mich an diesem Morgen endlich zusammenzureißen.
Sie lag auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet, die blonden Haare fächerartig um ihr Gesicht verteilt, das mich sofort an einen unschuldigen Engel erinnerte. Ihr friedlicher Ausdruck ließ annehmen, dass sie eingeschlafen war, doch plötzlich fror es mich ganz eisig ums Herz. Erinnerungen kamen über mich, die Puzzleteilchen fielen zusammen, doch der schlagartig einsetzende Druck in meinem Magen schien die ekelhafte Wahrheit nicht zulassen zu wollen. Der Druck kroch meine Speiseröhre hoch und dann erkannte ich sie, auf den zweiten Blick, aber ich wollte es zunächst nicht wahrhaben. Ich sah auf alles andere, auf ihre rosa Jogginghose, die pinkfarbenen Turnschuhe, ihr weißes T-Shirt. Der MP3 Player hing an einem beigen Band um den Hals, die Kopfhörer lagen neben ihr. Ich musste wieder eine kurzen Blick auf ihr Gesicht werfen, kein Zweifel, sie war es. Um Gottes willen, und wie sollte ich es ihm nur beibringen. Ihr friedlicher Gesichtssausdruck, fast wie das Antlitz eines gütigen Engels, der einem in schwierigen Momenten zur Seite eilte und über einem wachte, das alles ließ den schweren, heißen Knoten in meinem Magen wachsen und ich ging in die Knie, während ich ein Paar Plastikhandschuhe aus meiner Blousontasche fischte.
„Sieht aus wie Herzinfarkt“, meinte einer der umstehenden Kollegen. Ich hörte es wie durch einen Nebel und konnte mich nicht von ihrem Anblick lösen. Ich nahm den Knopf des Kopfhörers hoch, der durch ein Kabel mit dem Player verbunden war. Er lief noch. Ich wollte etwas tun, um in Bewegung zu bleiben, nur irgendetwas tun, um nicht in trauriger Ehrfurcht zu erstarren. Dann lauschte ich der Musik. Dabei fiel mein Blick auf ihr weißes T-Shirt mit dem Bild einer Maus, die hinter einem roten Herz hervorlugte. Als ich dann die Klänge aus dem Player hörte, wuchs der Knoten in meinem Magen zu einem brodelnden Vulkan. Phil Collins schönste Liebeserklärung drang in meine Ohren, damals sang er noch mit Genesis „Hold on my Heart“. Ich dachte zurück an Angie, meine Ex-Frau, an unsere letzten schönen Monate, bei Kerzenlicht und Phil Collins, der im Hintergrund damals nur für uns seine schönsten Balladen sang. Ja, das war einmal unser Lied. Und jetzt lag die Tochter eines meiner besten Freunde vor mir. Die alten Schuldgefühle kamen wieder hoch, ich fühlte mich Werner immer noch verpflichtet, schließlich lag es damals nur an mir. Wie sollte ich ihm das nur erklären? Die lange verdrängten Erinnerungen an die Sommernacht vor über zwanzig Jahren kehrten zurück, ich versuchte zu vermeiden, sie anzusehen und ich hatte doch immer ihr unschuldiges Gesicht vor meinem inneren Auge. Damals war sie gerade drei Jahre alt und fing bitterlich an zu weinen, als Werner ihr vom Tod ihrer Mama erzählte.
Ich stand auf, Rainer sah mich fragend an und ich raunte ihm zu:
„Lass uns mal ein paar Meter gehen.“
Die anderen Kollegen vom dritten Revier und vom Kriminaldauerdienst hatten sich mittlerweile etwas abseits gestellt und rauchten um die Wette. Ich ging einige Schritte in Richtung des Pavillons, ohne mich umzudrehen, und versuchte, die Schuldgefühle und die Trauer zu unterdrücken. Der blaue Sommerhimmel über der Mainmetropole wurde durch kleine, weiße Wölkchen unterbrochen und ich fragte mich immer wieder, wie ich es ihm beibringen sollte.
„Okay Partner, was ist los?“, riss mich Rainer aus meinen Gedanken. Wie so oft lag ich wie ein offenes Buch vor ihm. Ich drehte mich um. Er sah mich verständnisvoll an, so als wenn er wüsste, was jetzt kam und ich war froh, dass ich mit meinem langjährigen Partner hier war und nicht mit irgendjemand anderem.
„Das ist Doreen Hartmann, Werners Tochter“, meinte ich mit leicht brüchiger Stimme. Er legte den Kopf leicht zur Seite und sah mich immer noch fragend an.
„Die Tochter von Werner Hartmann, der pensionierte Kollege, der das Hotel am Westendplatz hat“, ergänzte ich und presste meine Lippen zusammen, obwohl er wusste, wer Werner war.
Jetzt nahmen seine Augen auch einen verklärten Anblick an, er kannte schließlich auch die tragische Familiengeschichte und ich fuhr fort, einfach um den Moment zu überbrücken: „Werner war vor über zwanzig Jahren mein Bärenführer, mein erster Partner beim vierten Revier. Er hat mich zum Schutzmann ausgebildet“, ich warf einen Blick zu der Toten und nickte in ihre Richtung, „seine Tochter Doreen habe ich schon als kleines Mädchen gekannt.“
„Die Mutter ist damals früh gestorben, nicht war?“
„Ja, Tina… ich…“ Der Vulkan in meinem Magen spie Feuer. Ich schluckte es runter, sah zu dem Pavillon hinüber, räusperte mich und flüsterte dann: „Ich habe sie noch gekannt.“
„Hey Partner, tut mir leid, ich… wir kriegen das schon hin, okay“, meinte er aufmunternd zu mir, weil er auch schon an einen der undankbarsten Jobs von Polizeibeamten dachte. Das Überbringen einer Todesnachricht. Wir mussten es Werner sagen. Das war ich meinem Bärenführer schuldig, der mir als jungem Schutzmann das Laufen beigebracht hatte, in einem der heißesten Reviere der Republik, ja, mein ehemaliger Partner, der mich damals auch im Wald rausgehauen hatte.
„Du Thommy, lass uns an die Arbeit gehen, komm wir…“
„Eigentlich bin ich befangen…“, meinte ich, nicht um mich vor irgendetwas zu drücken, sondern weil ich schließlich auch eine persönliche Beziehung zu dem Opfer gehabt hatte.
„Mensch, es sieht aus wie ein plötzlicher Herztod oder Kreislaufversagen, mach es nicht so kompliziert. Wir fahren natürlich zusammen zu Werner und bringen es ihm dann bei“, meinte Rainer und lächelte freundlich. Ich ließ seine Worte im Raum stehen und versuchte dann zurückzulächeln, was aber wahrscheinlich ziemlich gequält aussah: „Okay Partner, vielleicht hast du ja recht. Lass uns unseren Job machen.“
„Und du setzt dich mal da vorne auf die Bank und lässt mich jetzt in erster Linie ran, du weißt schon, warum“, meinte Rainer und ich nickte ihm dankbar zu.
Die weißen Wolken hatten sich verzogen, der Himmel über Frankfurt war immer noch strahlend blau. Rainer lenkte unseren BMW auf einen Parkstreifen neben einen der vielen prächtigen Altbauten im Westend. Die erste Leichenschau im Grüneburgpark hatte er übernommen, tatsächlich deuteten die Umstände auf einen plötzlichen Herztod von Doreen Hartmann hin. Ich hatte nach dem Abtransport des Leichnams vorgeschlagen, vor dem Besuch bei Werner noch in ihrer Wohnung vorbeizufahren. Vielleicht suchte ich nur irgendeinen Grund, das Überbringen der Todesnachricht noch etwas hi­nauszuzögern. Aber eine Computerabfrage ergab, dass sie unweit des Grüneburgparks wohnte. Ich wollte zunächst zu ihrer Wohnung fahren, weil sie keinen Hausschlüssel dabei hatte und ich ahnte, dass dort jemand auf sie wartete. Vielleicht hoffte ich auch, dass dort jemand wartete und ich das Gespräch mit Werner noch weiter herauszögern konnte. Der Motor erstarb und Rainer zog den Zündschlüssel ab.
„Komm, lass uns mal klingeln, vielleicht wartet jemand auf sie.“
Wir stiegen aus, Rainer ließ die Zentralverriegelung klicken und wir liefen die paar Meter zu dem prächtigen Altbau mit der hellen Fassade und den verschnörkelten Balkonen. Wir passierten ein offenstehendes, schmiedeeisernes Tor und liefen an der Stirnseite des Gebäudes bis zu der prächtigen Hauseingangstür. Diese war ebenfalls angelehnt und ich fragte mich, ob sich die präventiven Beratungsprogramme zur Verhinderung von Wohnungseinbrüchen auch schon bis ins edle Westend herumgesprochen hatten. Das Treppenhaus war in weißem Carraramarmor angelegt und die Wohnungstür im Erdgeschoss zu Doreens Appartement zierten kleine, bunte Glasscheiben, eingefasst in schwerer dunkler Eiche. Mein Blick fiel auf das vergoldete Klingelschild mit ihrem Familiennamen. Als ich den Finger auf die Klingel legen wollte, sah ich den Spalt. Die Wohnungstür war nur angelehnt. Und in diesem Moment drang ein Geräusch aus der Wohnung, als wenn eine Tür zugeschlagen worden wäre. Ich drehte mich zu Rainer um und er nickte nur. Ich ahnte, dass wir uns geirrt hatten. Der fehlende Schlüssel. Wenn jetzt jemand den Schlüssel bei ihr gefunden hatte. Ein Klirren hinter der Wohnungstür gab den letzten Ausschlag. Wir zogen unsere Dienstwaffen und ich stieß mit einem Fuß die Wohnungstür auf. Dahinter lag der Flur. Der helle Parkettboden und die beige angelegten Wände zeugten von exquisitem Geschmack, der ausladende Spiegel an der linken Wand des Flures war an jeder Seite von pastellfarbenen Ölgemälden eingefasst. Wir schoben uns langsam Schulter an Schulter in den Flur, die Waffen schussbereit in Grundhaltung. Ich mit Blick auf die linke Seite des Flures, Rainer auf die rechte. Hinter der Wohnungstür stand links eine Kommode, dahinter hingen die Gemälde, dazwischen der Spiegel. Rechts war eine Tür und ich konzentrierte mich zunächst auf den Spiegel, der diese halbangelehnte Tür abbildete. Dahinter kam man vermutlich ins Wohnzimmer, denn mit dem nächsten Schritt rückte ein schwerer Wohnzimmerschrank ins Spiegelbild. Und dann sah ich ihn, als er ins Spiegelbild trat. Nur für einen Augenblick, aber dann war alles klar. Es war ein Junkie. Seine dunkle, zottelige Mähne hing auf den Schultern eines grünen Armyparkas, die flackernden Augen schweiften unstet im Raum umher und dann traf sich unser Blick, alles in einer Sekunde. Seine Augen wurden weit, die Zeit stand für einen Sekundenbruchteil still und dann ging alles rasend schnell. Er drehte sich sofort um und verschwand aus dem Spiegelbild. Mein Adrenalinspiegel machte einen Sprung und ich vergaß auf einmal alles aus dem Lehrbuch. Ich sah nur Doreen, wie sie als Engel auf dem Weg im Park lag, die Erinnerungen kamen hoch, die Gewissheit, dass ich mich damals schuldig gemacht hatte und dann war jede rationale Erwägung ausgeschaltet.
„Geh du vorne rum“, zischte ich Rainer zu und preschte durch die Wohnzimmertür, ohne mich um ihn zu kümmern. Im Wohnzimmer nahm ich als erstes den Luftzug war, die wehende Gardine am Balkon und dann war ich mit wenigen Schritten dort. Ich riss die weiße Gardine zur Seite, stürmte durch die offene Balkontür und sah gerade noch, wie er über den schmiedeeisernen Zaun hinter dem Vorgarten flankte. Seine rechte Hand zuckte einen kurzen Augenblick hoch, ich visierte ihn an, doch dann sprang er schon auf den Gehweg. Seine rechte Hand war leer, aber doch seltsam verrenkt. Unsere Blicke trafen sich noch einmal, wieder nur für einen Sekundenbruchteil und der flackernde Blick war einem fanatischen gewichen. Ich sprang über das Balkongeländer in den Vorgarten, sah aus dem Augenwinkel Rainer, der durch das Tor zum Bürgersteig stürmte.
„Rechts Richtung Park!“, brüllte ich, steckte die Waffe ins Holster, stürzte los und pflügte das Rosenbeet auf dem Weg zum Zaun um. Rainer wetzte sofort in die Fluchtrichtung. Ich sah noch, wie der Junkie über die Straße rannte, bis mir plötzlich ein türkisfarbener Linienbus die Sicht nahm. Eine laute Hupe ertönte, der Fahrer machte eine Vollbremsung und erwischte beinahe Rainer, der noch vor dem Bus die Straße überqueren wollte. Der Fahrer konnte den Linienbus noch im letzten Moment zum Stehen bringen und Rainer stand mit erhobenen Händen direkt vor der Windschutzscheibe des Busses. Ich stieg über den Zaun, sprang auf den Gehweg und rannte zum Heck des Linienbusses, dort wo ich den Junkie zum letzten Mal gesehen hatte. Das ohrenbetäubende Dröhnen von hupenden Autofahrern hinter dem Linienbus schlug mir entgegen und als ich das Heck erreichte, war nichts mehr von ihm zu sehen. Ich pumpte nach Luft, nestelte mein Handy aus der Tasche, um die Fahndung einzuleiten und dachte an Doreen. Ich sah sie in Gedanken vor mir liegen, wie ein ruhender Engel auf diesem Weg im Grüneburgpark, „Hold on my heart“ von Genesis als Hintergrundmusik. Mein Magen drehte sich immer schneller. Wie sollte ich es Werner nur beibringen?

Kapitel 1

Die Hitze stand im Oval der Commerzbankarena, ich rückte meine Sonnenbrille zurecht und blinzelte zu dem hoch über der Spielfläche gespannten Videowürfel. Neben mir dröhnte ein Presslufthorn und die Schlachtgesänge der Eintrachtfans umrahmten die Vorstellung unserer Mannschaft, deren Spieler nacheinander mit Porträtfoto auf der Leinwand des Videowürfels eingeblendet wurden. Sandra lehnte sich an mich, ich sah zu ihr und nahm dann meine Sonnenbrille ab. Sie drehte sich zu mir um, mit einem schelmischen Blick und grinste frech: „Schön, dass es endlich mal wieder geklappt hat!“
Ich nickte nur und verspürte einen kurzen Anflug schlechten Gewissens, weil ich ihr nichts von meinem Bereitschaftsdienst gesagt hatte. Die grünen Augen erinnerten mich sofort wieder an Angie, ihre Mutter, und ich fragte mich, warum sie damals nicht so fußballbegeistert gewesen war. Das nächste Spielerfoto wurde eingeblendet und der Stadionsprecher verlas den Vornamen unseres Dribbelkünstlers. Hinter mir dröhnte ein anderes Presslufthorn, ich lehnte mich zurück und genoss die Athmosphäre in unserem modernen Stadion. Die Schlachtgesänge der Fans schienen nicht zu enden und ich war froh, nach langen Versprechungen mal wieder die Zeit für den Besuch eines Eintrachtspiels mit Sandra gefunden zu haben. Sie stand auf, streckte sich in ihrem Eintrachttrikot, jubelte mit der Menge und ich bemerkte wieder einmal mit leicht väterlichem Unwohlsein, wie sie sich vom Mädchen zum attraktiven Teenager entwickelt hatte. Ihre langen rotbraunen Haare fielen in Wellen auf ihre Schultern und jetzt drehte sie sich zu mir um und riss mich aus meinen Tagträumen: „Mensch Paps, komm lass dich nicht so hängen!“
Sie beugte sich zu mir herunter, sah mir direkt in die Augen, umarmte mich und zog mich dann mit hoch. Ich stand schwerfällig auf, legte den Arm um ihre Schulter und wir stimmten dann im Rhythmus schwankend gemeinsam in die Schlachtgesänge ein, als ich ein Vibrieren in der Tasche meines Hemdes spürte. Nein, nicht heute, bitte nicht heute. Doch mein Handy summte weiter in meiner Brusttasche und mein schlechtes Gewissen über den verschwiegenen Bereitschaftsdienst nahm die Form von schweren dunklen Wolken an, als ich den Arm von Sandra löste und in meine Hemdtasche griff. Ich nahm mein Handy heraus, sah auf das Display und erntete prompt einen enttäuschten Seitenblick. Ihr Blick und die plötzlich gestrafften Schultern sagten mehr als tausend Worte. Meine geistigen dunklen Regenwolken entluden sich in einem schweren Gewitter, als ich mich räusperte und die Schultern zuckte. Ich beugte mich vor, um ihr in dem lautstarken Getöse etwas ins Ohr zu sagen. Sie regte sich keinen Millimeter, ich fühlte mich jetzt richtig mies, beugte mich weiter vor und krächzte ihr dann ins Ohr, dass ich mal telefonieren müsse. Sie sah mich zuerst nicht an, ihr Blick war für eine Sekunde dieser Welt entrückt, doch dann blickte sie mich mit traurigen Augen an und nickte: „Ist schon okay Paps, ich weiß, du hast einen Scheißjob, aber irgendwer muss ihn ja machen.“
Sie versuchte ein Lächeln, das missglückte, und ich wusste sofort, dass sie ihre Enttäuschung nur zu überspielen versuchte. Ich strich ihr zärtlich über die langen Haare, küsste sie auf die Wange und verließ meinen Platz mit der Gewissheit, dass ich nach diesem Anruf noch nicht einmal mehr den Anstoß sehen würde.
Die Wohnung lag in einem Mehrfamilienhaus im Westend, unweit vom Grüneburgpark. Rainer fuhr noch einmal an dem Anwesen vorbei und kreiste zum zweiten Mal um den Straßenzug. Die Parksituation war hier katastrophal, wie immer und fast überall in Frankfurt.
„Guck mal, da vorne wird gerade was frei“, meinte ich, ohne ihn anzusehen.
„Schon gesehen“, brummte Rainer zurück, bremste und ließ einen VW Bus aus einer Parklücke heraus. Ich dachte an das edle, aber doch alternative Restaurant um die Ecke, in das mich Ute schon so oft mitnehmen wollte. Wir hatten immer wieder unendliche Diskussionen, weil ich keine Lust hatte, mir den Tratsch ihrer studierten Freunde anzuhören, die nun edle Rotweingläser statt Protestfahnen schwenkten. Rainer hatte mittlerweile unseren BMW eingeparkt. Wir stiegen aus, er nahm unseren Koffer von der Rückbank und dann gingen wir zu dem Anwesen zurück. Kurz darauf betraten wir den angenehm kühlen Hausflur. Die Wohnung lag im Hochparterre, an der Tür standen zwei Kollegen vom dritten Revier. Wir zeigten ihnen unsere Dienstausweise und stellten uns vor. Ich warf einen Blick auf das einfache Schild mit dem Namen „Hartenfels“ neben der Klingel. Irgendwie hatte ich den Namen schon einmal gehört, konnte ihn aber nicht zuordnen. Rainer klappte unseren Tatortkoffer auf. Wir zogen uns erst die weißen Papieroveralls über, dann die Füßlinge über die Schuhe und schließlich die Einweghandschuhe über die Hände. Eddi Steinmann vom Erkennungsdienst kam aus der Wohnung und begrüßte uns mit einem Nicken. Er trug ebenso den weißen Papieroverall wie alle, die den Tatort betraten, bevor dieser durch Eddi als Leiter der Tatortgruppe nach Abschluss der Spurensicherung wieder freigegeben wurde. Und das konnte manchmal Tage dauern.
„Hallo Jungs, alles klar?“
„Sicher Eddi, außer dass ich vorhin noch mit meiner Tochter im Stadion saß.“
„Oh, hast du keinen gefunden, der deine Bereitschaft übernommen hätte?“
„Nein“, seufzte ich, „an so einem Wochenende will natürlich jeder einmal abschalten.“
Er zuckte die Schultern, musterte unsere Schutzkleidung prüfend und seufzte ebenso: „Na ja, dann wollen wir mal, Jungs. Im Wohnzimmer sind wir übrigens fast durch, fangen wir dort an. Ach ja, Frau Fischer ist hierher unterwegs, Dr. Sarah Born ist auch schon da.“ Ich nickte nur. Frau Fischer, die Bereitschaftsstaatsanwältin, kannte ich von anderen Ermittlungen und Sarah, die hochengagierte Gerichtsmedizinerin, war nicht das erste Mal vor uns am Tatort. Dann betraten wir den Flur der Wohnung und gingen langsam weiter, stets bedacht, nirgendwo anzustoßen oder etwas zu berühren.
Sie lag im Wohnzimmer auf dem Rücken, neben einem Glastisch, auf dem eine Zeitung aufgeschlagen lag. Ihr grünes Stretchkleid war blutgetränkt. Die Blutlache um ihren Kopf zog sich bis unter den Glastisch auf der rechten Seite und bis unter das beige Ledersofa auf der linken Seite. Auf dem Parkett standen mehrere Nummerntäfelchen, an denen wir uns vorbeidrückten und sorgsam darauf achteten, keine Spuren zu zerstören. Ich begrüßte die Gerichtsmedizinerin, und sah zur offen stehenden Balkontür hinüber, die zum Hinterhof führte. Wenige Meter hinter der Balkonbrüstung war eine efeubewachsene Mauer zu sehen. „Hallo Jungs!“, grüßte Sarah auf ihre unkomplizierte Art zurück. Sie kam gleich zur Sache: „Nun“, meinte sie, „vorbehaltlich einer verifizierten Rekonstruktion meine erste Einschätzung. Es sieht so aus, als ob sie hier“, und wies auf das Täfelchen mit der Nummer eins, „den ersten Schlag mit einem stumpfen Gegenstand abbekommen hat. Zumindest lässt das Spurenbild der Blutspritzer diesen Schluss zu.“ Sie hob den Arm und deutete dann in Richtung des Glastisches. „Sie ist dann offenbar zurückgewichen und hat die Arme hochgenommen, die Abwehrverletzungen an den Unterarmen deuten daraufhin. Dann ist sie zu Boden gegangen und von weiteren Schlägen im Kopfbereich getroffen worden.“ Sie sah mich nachdenklich an und fuhr dann fort: „Die Schläge waren so zahlreich und massiv, dass sie nach unserer ersten Einschätzung kurz darauf an den Folgen verstorben sein muss. Nach der ersten Messung der Leichentemperatur war der Todeszeitpunkt heute Morgen zwischen neun und zwölf Uhr. Ich lege mich hier noch nicht eindeutig fest, das ist erstmal eine Hausnummer.“ Dann nickte sie zu der aufgeschlagenen Zeitung auf dem Glastisch. Ich sah keine Blutspritzer auf der Zeitung und trat vorsichtig näher. Es war die heutige Ausgabe des Frankfurter Express, die Seitenzahlen auf der Kopfleiste passten nicht zusammen. Ich visualisierte die Situation noch einmal, sah die Blutspritzer neben der Zeitung auf dem Glastisch und Eddi führte meine Gedanken aus: „Auf der Zeitung müssten mit hoher Wahrscheinlichkeit Blutspritzer zu finden sei, es sind aber keine zu sehen.“
Rainer meldete sich zu Wort: „Und wo sind die fehlenden Seiten?“
Ich sah mich um, konnte aber nichts entdecken.
„Hmmh“, brummte Eddi, als wenn er uns einen Hinweis geben wollte, „die Tatwaffe fehlt auch.“
„Tja“, meinte Rainer, „vielleicht hat er die Tatwaffe damit eingewickelt.“
Eddi lächelte wissend: „Na dann lasst uns mal suchen.“
Rainer sah mich an: „Ich nehme das in die Hand. Wir bestellen uns Truppen, die sollen hier im Umkreis jeden Stein umdrehen. Der wird ja nicht so weit damit herumgelaufen sein.“
„Du meinst, es war ein Typ?“, entgegnete ich.
Er sah mich entgeistert an: „So, wie da draufgehauen wurde? Eine Frau? Das ist doch nicht dein Ernst!“
„Du weißt doch, wozu auch Frauen im Stande sein können. Es sieht nach einer Affekttat aus, oder?“, spekulierte ich und blickte zur Gerichtsmedizinerin hinüber, einfach nur um die ersten Eindrücke abzurufen. Sarah grinste nur und ließ sich nicht aus der Reserve locken, wie immer. Eddi zog die Stirn kraus: „Ist jetzt noch zu früh, um nur in einer Richtung zu spekulieren, aber ich denke“, er wies zur Balkontür, „dass sie vielleicht jemand überrascht hat, der über den Balkon reingeklettert ist. Bei dem heißen Wetter stand die Tür vielleicht schon auf.“
Ich sah rüber zum Balkon, als sich die Gardine in einem Luftzug bewegte.
„Ja, das könnte auch sein“, raunte ich, sah sie reglos in der Blutlache liegen und erinnerte mich plötzlich wieder an Doreen, wie sie auf dem Weg im Park lag. Die Assoziationen kamen über mich und ich sah den Einbrecher vor mir, den wir vor wenigen Wochen, nur ein paar hundert Meter von hier entfernt, überraschten, aber bisher noch nicht festnehmen konnten. Rainer drehte sich um und ging raus, offenbar um die Suche nach der Tatwaffe zu koordinieren. Ich verscheuchte die Gedanken und fragte dann Eddi: „Was wissen wir über sie?“
Er räusperte sich und nickte dann in Richtung Flur. „Frag Matze, der hat sich darum gekümmert.“
„Okay“, nickte ich, warf noch einen Blick auf den blutüberströmten, zerschmetterten Schädel und ging dann in den Flur zurück. Matze stand vor einer Kommode neben dem Eingang zur Küche. Auch er war ein alter Hase beim Erkennungsdienst, wie die Dienststelle der Jungs von der Spurensicherung offiziell heißt.
„Hallo Thommy“, meinte er und legte gleich ohne größere Floskeln los: „Ihre Putzfrau hat sie gefunden, als sie mit ihrem Schlüssel reinkam. Jetzt sitzt sie im Präsidium. Die Kollegen vom Kriminaldauerdienst vernehmen sie gerade und haben mich schon einmal vorab informiert“, fasste Matze die wesentlichen Punkte des Auffindens zusammen. „Die Putzfrau konnte sie nur an dem grünen Stretchkleid erkennen, was bei den massiven Verletzungen ja auch kein Wunder ist.“
„Die Wohnungstür war also zu“, warf ich ein. Er nickte: „Ja, geschlossen, aber nicht verschlossen.“ Was aber nichts bedeuten musste, der Täter hätte sie ja auch zuziehen können, als er den Tatort verlassen hatte.
„Das Opfer hieß Corinne Hartenfels“, fuhr er fort, „und wohnte alleine hier. Journalistin beim Frankfurter Express.“
Jetzt fiel mir ein, wo ich den Namen schon einmal gehört hatte. Ich kannte sie zwar nicht persönlich, aber ich hatte schon einige Artikel und auch ein Sachbuch von ihr gelesen. Ute hatte mir auch schon von ihrer Kollegin beim Frankfurter Express erzählt, auch wenn die beiden sich nicht näher kannten.
„43 Jahre, unverheiratet, keine Kinder, offenbar keinen Lebenspartner“, fügte er hinzu.
„Hmmh“, brummte ich. „Irgendwelche Angehörigen, was ist mit den Eltern?“, fragte ich wegen der Verständigungen. Er holte tief Luft: „Das haben die Kollegen die Putzfrau schon gefragt. Keine Angehörigen bekannt, keine Geschwister, die Eltern sind schon vor ein paar Jahren gestorben.“
„Okay“, meinte ich und versuchte, mir die Gespräche mit Ute in Erinnerung zu rufen. Conny, so war ihr Spitzname in der Redaktion. Die Conny und ihre heißen Eisen, sie war des öfteren Tagesgespräch. Neben ihrer Tätigkeit beim Frankfurter Express hatte sie schon mehrere Sachbücher veröffentlicht. Eine Vollblutjournalistin, spezialisiert auf Enthüllungsthemen. Sie war jemand, der den Finger in die offenen Wunden der Gesellschaft legte und die Fahne der Pressefreiheit vorantrug. Sie hatte sich mit ihren akribischen Recherchen in den letzten Jahren einige einflussreiche Feinde gemacht. Und jetzt überfielen mich die ersten Zweifel, ob es wirklich eine Affekttat war oder ob es jemand vielleicht nur so aussehen lassen wollte. Die Schlagzeilen und Themen ihrer Sachbücher wirbelten vor meinem geistigen Auge. Immobilienskandale, Wirtschaftskriminalität, Korruption, das waren die Themen, mit denen sie der Pressefreiheit immer wieder Leben eingehaucht hatte.
„Matze?“
„Thommy?“ Er hörte auf, in den Papieren aus der Kommode zu blättern und sah mich an.
„Bist du im Büro auch schon durch?“
„Da musst du Christiane fragen, da hinten.“ Er nickte zum Flurende hin.
„Okay, ich seh’ mal nach“, meinte ich und ging dann zur letzten Tür des Flures. Die Tür führte zu dem großzügigen Büro mit riesigem Schreibtisch und ausladenden Bücherregalen. Christiane stand in dem Büro an einem riesigen Schreibtisch vor einem Computer und telefonierte mit einem Handy. Sie war relativ neu beim Erkennungsdienst, eine junge, sympathische Kollegin mit wacher Auffassungsgabe und einer für ihr Alter ungewöhnlichen Ruhe und Liebe zum Detail. Deshalb war sie beim Erkennungsdienst genau richtig. Sie nickte mir zu und sprach weiter ins Handy: „Ja ist klar, bis dann.“
Dann klappte sie das Mobiltelefon zu, lächelte mich an und ich dachte kurz an Sandra.
„Hallo Thommy, hat’s dich mal wieder erwischt?“, grinste sie jetzt und ich konnte die aufkommenden Gedanken an Sandra nicht verdrängen, auch wenn Christiane mit ihren pechschwarzen Haaren, dem kurzen Pagenschnitt, ihrem dunklen Teint und ihrer Seelenruhe ein ganz anderer Typ als Sandra war. Aber vom Alter her könnte sie auch meine Tochter sein, dachte ich noch, bevor ich die Gedanken dann endgültig verwarf.
„Ich habe die Führungsgruppe verständigt, sie kommen wegen dem Computer.“ Unsere EDV-Fachleute von der „digitalen Forensik“ kamen auf Anforderung an Tatorte, um Computer fachgerecht sicherzustellen.
„Prima. Schon irgendetwas Interessantes gefunden?“
„Auf dem Computer habe ich natürlich noch nicht nachgesehen“, meinte sie mit leicht tadelndem Unterton.
„Schon klar“, entgegnete ich, „ich meine, ob du sonst“, ich drehte mich um, „hier etwas Interessantes gesichtet hast.“ Sie schüttelte den Kopf: „Spuren bisher nicht. Mit dem Schreibtisch bin ich soweit fertig.“ Ich trat näher und sah auf die Internetausdrucke auf der Schreibunterlage. Die Schlagzeilen befassten sich mit dem jüngsten Finanzskandal in unserer Mainmetropole. Ein Kartell von Bankern und Rechtsanwälten hatte Investoren tüchtig über den Tisch gezogen, Politiker geschmiert und die Erlöse in Immobilien investiert. Ob Conny Hartenfels an dieser Story dran war? Ich drehte mich um und sah zu den ausladenden Bücherregalen. Mein Instinkt, das sich langsam, aber stetig einstellende Ziehen in meinem Bauch sagte mir, dass eine Lawine auf uns zurollte, die wir nicht kontrollieren konnten. Dann sah ich die Schlagzeilen ihrer Kollegen vor mir: „Enthüllungsjournalistin im Auftrag ermordet? Frankfurter Polizei tappt im Dunkeln!“ Es war klar, wenn wir diesen Fall nicht in kürzester Zeit lösen würden, dann hatten wir Motivbündel mit Dutzenden von Tatverdächtigen abzuklären. Und dazu mussten wir dann in die Abgründe eines nebligen, korrupten Sumpfes hinabsteigen, in dem uns die Klärung der Tat mit jedem Tag wie schmutziges Brackwasser in den Händen verrinnen würde.
Er sah in den Spiegel. Seine grünen Augen stierten ihn wütend an. Diese Schlampe. Dann fuhr er sich mit dem Handtuch durch die nassen Haare und zog es dann über seinen nackten Rücken. Wie kam sie nur darauf? Er hätte es schon viel früher wissen müssen. Sie war einfach zu gut, obwohl er doch alles unter Kontrolle hatte. Dann ließ er das feuchte Handtuch auf seinen Schultern liegen und fuhr sich wieder mit beiden Händen durch die nassen Haare. Er betrachtete sich noch einmal wohlwollend im Spiegel, drehte sich, wobei sein Blick auf das Spiegelbild des blauen Müllsacks hinter ihm fiel, in den er die blutigen Klamotten gesteckt hatte. Dass ihm das passieren würde. Verdammt, er hätte nie gedacht, dass ihn so eine Schlampe mal aus der Reserve locken würde. Nicht ihn. Aber als sie ihm dann feixend seine angebliche Blödheit erklärte, sich in ihrem grünen Kleid streckte und dann die Hände in die Hüften stemmte, das war dann eindeutig zu viel. Mann verdammt, er hatte bisher nie Spuren hinterlassen, aber er musste ja schließlich weg, nachdem er es ihr besorgt hatte und sie noch so laut zum Keifen kam. Scheiße, dachte er, sie werden jetzt vielleicht das erste Mal Spuren von mir finden. Aber er hatte keine Zeit mehr, er konnte gerade noch dieses blöde Ding einwickeln und in einer Mülltonne entsorgen. Schließlich konnte er nicht mit einer blutbesudelten Statue rumlaufen. Er hatte sie unterschätzt. Zum Glück hatte ihn niemand gesehen. Hoffentlich. Er band sich ein weißes, flauschiges Frotteehandtuch um die Hüften, drehte sich um und ging aus dem Bad ins Wohnzimmer. Die rötliche Abenddämmerung schien gedämpft durch die getönten Scheiben, die im gesamten Wohnzimmer vom Fußboden bis zur Decke reichten. Am Horizont ging die blutrote Abendsonne unter. Ihr warmes Licht tauchte die zum Greifen nahen Bankentürme in das gleißende Rot, das er an diesen Abenden so besonders genoss. Sein Blick fiel auf die Pyramidenspitze des Messeturmes, die DZ Bank und das Trianonhochhaus, auf die gläsernen Zwillingstürme der Deutschen Bank, alles scheinbar zum Greifen nahe. Schade, dass er diesen fantastischen Blick nicht mit den vielen einsamen Herzen teilen konnte. Aber das war zu gefährlich. Sie sollten im Unklaren über ihn bleiben, schließlich wollte er diesen Ausblick nicht mit schwedischen Gardinen tauschen. Er ging an der Theke der Wohnküche vorbei zu der überdimensionalen Musikanlage, nahm die Fernbedienung und drückte eine Taste. Eine Sekunde später dröhnten die Glocken seines Lieblingsrocks aus den mannshohen Lautsprechern. Er genoss die ersten Gitarrenakkorde von AC/DC, bevor der stampfende Rhythmus von „Hells Bells“ einsetzte. Nicht einen Tag hatte er den Bezug seines edlen Appartements bereut. Er hatte schon viele Jobs angetreten, in vielen Metropolen, rund um die Welt. Aber diese Aussicht durch die gläsernen Wände seines Wohnzimmers war atemberaubend. Hier mitten in der City, zwischen Maintower und der Alten Oper, schlug das Herz der Mainmetropole. Hier liefen die wirtschaftlichen Fäden der Republik zusammen. Hier fanden sich die schönsten Geschöpfe unter den einsamen Herzen, ergänzte er sich selbst sarkastisch. Dann ging er ins Schlafzimmer, nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher auf dem Tisch gegenüber ein. Er warf das Handtuch ab und wartete auf die Nachrichten, während er sich anzog. Verdammt, verdammt, verdammt. Als nächstes musste er die versauten Klamotten entsorgen, am besten irgendwo verbrennen. Er grübelte weiter, als der Trailer zur Hessenschau im Fernsehen lief. Es war natürlich die Story des Abends. Die Bilder zeigten die Fassade ihres Hauses, Bullen in weißen Papieranzügen, die im Hausflur am Eingang standen oder in olivgrünen Einsatzanzügen die Vorgärten in der Nachbarschaft durchstöberten. Plötzlich überfiel es ihn siedendheiss. Wenn sie das Scheißding fanden. Nein, unmöglich, es war eingewickelt und lag in einem Mülleimer. Und doch beschlich ihn eine lähmende Unsicherheit. Dann zeigten sie zwei Typen in grauen Anzügen, die einen dunklen Sarg schleppten und dann in einen silbernen Van luden. Dass ausgerechnet ihm so was passierte, wo er doch immer alles unter Kontrolle hatte. Er sah sie noch einmal vor sich, in Zeitlupe, als er auf ihr kniete und ihr den Rest gab. Den letzten panischen Blick der nackten Augen in der blutigen Masse würde er nie mehr vergessen, obwohl er doch schon so vielen einsamen Herzen eine Fahrkarte ins Jenseits verpasst hatte.
Ich stand am Fenster eines Besprechungsraumes im Polizeipräsidium und sah auf die Kreuzung Miquelallee und Eschersheimer Landstraße hinunter. Das Abendlicht tauchte Commerzbank und Maintower in einen unwirklich erscheinenden, dunkelroten Glanz. Stefan und Sabine kamen mit jeweils einem Tablett herein und stellten Kaffeekannen und Geschirr auf die zusammengestellten Tische des Raumes, in dem sonst die Kollegen des Raubkommissariates ihre Einsatzbesprechungen durchführten. Ich klappte eine Mappe mit den ersten Ausdrucken der Digitalbilder vom Tatort auf und blätterte sie durch, während die anderen Kollegen Platz nahmen und sich am Kaffee bedienten. Die Feuerzeuge klickten und ich war froh, dass die wenigen Nichtraucher auch mal während unserer Einsatzbesprechungen Rücksicht auf die Raucher nahmen, auch wenn ich selbst gerade wieder einmal „clean“ war. Aber ich wusste aus eigener Erfahrung, wie wichtig eine entspannte Stimmung für ein ordentliches „Brainstorming“ war. Staatsanwältin Fischer kam gerade herein und begrüßte die Kollegen, die sie noch nicht gesehen hatte. Wir hatten uns schon am Tatort ausgetauscht und den Besprechungstermin hier im Präsidium abgestimmt. Ich schätzte sie sehr, seitdem wir einige Male sehr gut zusammengearbeitet hatten. Die Chemie „stimmte“ zwischen uns und das war, bei aller professionellen Einstellung, oft mehr als die „halbe Miete“. Nachdem sie mir zugenickt und Stefan ihr eine dampfende Tasse Kaffee gereicht hatte, zählte ich kurz durch und schlug dann meinen Löffel leicht gegen meinen halbvollen Becher. Die Sonne hatte sich mittlerweile hinter dem Wohnblock gegenüber verzogen, nur die Lichtbahn des Beamers zog sich fächerartig zur Leinwand.
„Okay Leute, dann lasst uns mal loslegen“, meinte ich halblaut und tippte auf die Maus. Das letzte Murmeln erstarb und ich hatte die volle Aufmerksamkeit für eine Zusammenfassung, die Stefan, unser Powerpointfreak, eilig zusammengestellt hatte.
Das erste Bild zeigte das Anwesen in Frontalaufnahme.
„Rainer“, rief ich meinem langjährigen Teampartner zu, der die ersten persönlichen Details des Opfers zusammenfasste: „Corinne Hartenfels, genannt Conny, Alter 43 Jahre, Journalis­tin beim Frankfurter Express, seit vier Jahren wohnhaft im Westend. Ihre Putzfrau fand sie heute Mittag gegen 15.00 Uhr in ihrem Wohnzimmer auf. Ledig, keine näheren Verwandten. Beruflich eher als Workaholic einzustufen, veröffentlichte bereits mehrere Sachbücher über Verflechtungen zwischen Wirtschaft, Politik und Organisierter Kriminalität. Nach den Unterlagen in ihrem Büro zu urteilen, recherchierte sie gerade wieder über Korruption und einen Immobilienskandal.“