Mainhattan Star - Andreas Schäfer - E-Book

Mainhattan Star E-Book

Andreas Schäfer

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Beschreibung

Thomas Bachs neuer Fall: Stalking! Schlagersternchen Nadine Goldberg wird von einem Stalker verfolgt. Nachdem ihr Fitnesstrainer erstochen aufgefunden wird, taucht Kriminalhauptkommissar Thomas Bach bei seinen Ermittlungen in den Glamour der Mainmetropole ein. Die Spuren führen den Frankfurter Ermittler in ein skandalträchtiges Beziehungsgeflecht, das manche falsche Fährte bereithält. Bis sich die Ereignisse zu überschlagen beginnen und Kommissar Bach dem Phantom auf die Spur kommt. Nach den Erfolgen von Mainhattan Blues, Mainhattan Ice und Mainhattan Hearts von seinen Fans lange erwartet, legt Andreas Schäfer endlich einen weiteren Mainhattan-Krimi vor. Lassen Sie sich vom intimen Kenner der Frankfurter Szene auf die Schattenseiten der Stadt entführen.

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Seitenzahl: 281

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Andreas Schäfer
Mainhatten Star
Ein Frankfurt-Krimi
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2015 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Julia Desch, Societäts-Verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-210-3
Für meine dreipersönlichen Superstars
„When you have money to live on,and a nice house,and good weather most of the time,and still your life goes wrong– well, who can you blame?”Ross Macdonald, „Black Money“Copyright 1965, 1993by The Margaret Millar Charitable Remainder

Prolog

Das Appartementhaus lag in der Allerheiligenstraße, an der Kreuzung zur Breiten Gasse. Die triste Fassade und die blinden Fensterscheiben der oberen Etagen reihten sich nahtlos in die trostlose Umgebung eines längst verblassten Rotlichtviertels ein. Hier hatte sich in den letzten Jahrzehnten ein Latinomilieu etabliert, in das wir, wie auch am Hauptbahnhof, immer mal wieder eintauchen mussten, um einen Fall zu klären. So wie heute, an diesem schwülen Nachmittag. Die dunklen, schweren Regenwolken hingen über den Bankentürmen der Mainmetropole, die feucht-heiße, tropenartige Luft sprang uns förmlich an, als wir aus unserem klimatisierten BMW stiegen. Rainer hatte unseren zivilen Dienstwagen auf dem Seitenstreifen geparkt, direkt vor einer kleinen, unscheinbaren Kneipe dem trostlosen Appartementhaus gegenüber. Auf der anderen Seite blinkten die blassen, roten Leuchtreklamen eines Sexshops und der Bordelle in der Breiten Gasse, dieser letzten sündigen kleinen Meile der Frankfurter Altstadt.
„Dann wollen wir mal“, meinte mein Teampartner, und ich nickte, während mir der Schweiß aus den Poren schoss. Wir überquerten die Straße und gingen an dem ehemaligen Bistro im Erdgeschoß des Hauses vorbei, das ich noch als Verkehrslokal für kolumbianische Drogenkuriere und Wohnungseinbrecher in Erinnerung hatte. Direkt daneben führte eine Eingangstür in das Anwesen, in dem die Kolumbianer auch schon damals oft Unterschlupf fanden. Der Hausmeister hielt uns die Tür auf: „Guten Abend, die Herrn, die Kollegen von der Streife warten oben, zweiter Stock, gleich das erste Appartement …“ Ich nickte knapp und ging grußlos an dem schmierigen Typen vorbei, den ich noch als Hehler kannte, der den Einbrechern Goldschmuck anstatt barer Miete abgenommen hatte. Rainer folgte mir und wir nahmen die verschmutzten Treppenstufen in den zweiten Stock. Auf dem Flur stand Manni, ein Kollege vom ersten Revier, vor der Tür eines der vielen kleinen Appartements. Er war einer der langgedienten Veteranen auf dem Altstadtrevier, ein Schutzmann mit Leib und Seele, mir noch aus gemeinsamen Zeiten bekannt. Damals, als ich in den 80ern noch Funkstreife beim benachbarten vierten Revier fuhr. Er zog die Lederhandschuhe aus. Sein breites Grinsen und der kräftige Händedruck waren das erste Erfreuliche an diesem Einsatz. „Guude Thommy, hallo Rainer“, begrüßte er uns. „Servus Manni“, erwiderte ich und erinnerte mich an unsere gemeinsamen Schlägereien mit den Altluden des Rotlichtmilieus. Damals, als die Zuhälter noch lange, blonde Haare hatten und Porsche fuhren. Früher konnten die meisten Probleme noch ohne viel Schreiberei mit gesundem Menschenverstand und klaren Ansprachen geregelt werden.
„Heute wieder ein Wetterchen, fast wie in Spanien, oder?“, meinte Manni.
„Ja, nur ist das kalte Bier hier besser“, gab ich zurück, „Also, die Meldung hieß Suizid, ein Latino?“
„So wie’s auf den ersten Blick aussieht. Er liegt mit geöffneten Pulsadern in der Badewanne. Neben dran das blutige Küchenmesser. Das Wasser ist übergelaufen und ein Stockwerk weiter unten rot verfärbt aus der Decke gekommen. Die Nachbarin drunter hat dann angerufen. Da drin …“, er deutete mit dem Daumen über seine Schulter in den Flur der Wohnung, „… auf dem Wohnzimmertisch ist ein leeres Glas, eine leere Bierflasche, ein geleertes Blister starker Schlaftabletten. Kein Abschiedsbrief. Die Wohnungstür war geschlossen, aber nicht verschlossen. Der Schlüssel steckte von innen, wir haben sie eingetreten, falls noch was zu retten gewesen wäre“, fasste Manni kurz und knapp zusammen.
„Ein Latino, ist das bestätigt?“, hakte ich nach, auch um seine ersten Eindrücke abzurufen.
„Ein richtiger Spanier“, klärte er uns auf, „keine der üblichen Gestalten, die hier sonst gehaust haben.“
Ich nickte, während er fortfuhr: „Er war wohl mal ein richtig guter Tennisspieler, an den Wänden findet ihr Fotos und so. Dann ist er hier irgendwie hängen geblieben. Wahrscheinlich wegen einer Chica, wie die unter ihm, bei der sein Badewasser durch die Decke gekommen ist. Die Details hat Carlos notiert, er schreibt den Bericht an euch.“ Wieder zeigte er mit seinem Daumen in Richtung Flur, in dem wahrscheinlich sein Teampartner wartete.
„Okay, danke Manni“, raunte ich und wir betraten die Wohnung. Links hing ein Baumarktspiegel neben einer leeren Garderobe, gegenüber ging eine helle Tür ab, auf der ein Aufkleber „Baño“ prangte. Zwischen der Unterkante der Tür und den Teppichfliesen des Flurs war hellrot gefärbtes Wasser auf hellem Linoleum erkennbar. Auf dem Flur stand das Wasser lediglich an einigen Stellen, da es durch die dunklen quadratischen Teppichfliesen offenbar teilweise aufgesaugt worden war. In der Wohnzimmertür stand Mannis Partner.
Er war etwa Mitte zwanzig und Polizeikommissar, wie der einzelne silberne Stern auf der dunkelblauen Schulterklappe über seinem hellblauen Diensthemd verriet. Er zog ebenfalls den Handschuh aus, wir gaben uns die Hände und ich stellte uns vor.
„Carlos Hernandez“, gab er zurück, sah mich aufmerksam an, nahm dann seine Kladde hoch, sah aber nur ab und zu während seines Vortrages darauf: „Laut Unterlagen heißt er Jaime Cortez, Alter achtundzwanzig, wohnt offenbar seit zwei Jahren alleine hier. Die Nachbarin direkt unter ihm hat angerufen, das Wasser ist bei ihr im Bad durch die Decke gekommen.“
„Danke. Die Personalien der Nachbarin habt ihr?“
„Ja klar“, nickte er, „ich habe alles notiert, der Bericht zum ersten Angriff kommt heute noch als Sofortsache. Übrigens …“
„Ja?“
„… Wir haben nur den Wasserhahn der Badewanne spurenschonend angefasst, um das Wasser abzudrehen.“
Ich nickte, drehte mich um und sah Rainer, der mittlerweile Latexhandschuhe trug und das Schloss der Wohnungstür inspizierte.
„Und, wie sieht’s so aus?“, fragte ich den jungen Polizeikommissar, um auch seinen Eindruck mitzunehmen, während ich meine Handschuhe aus der Tasche kramte.
Er sah mich ernst an, verzog für einen Sekundenbruchteil spöttisch die Lippen, während er die Kladde herunternahm und strich sich dann über seinen Dreitagebart. „Nach den Fotos im Wohnzimmer zu urteilen, hat er mal richtig gut Tennis gespielt. Dann ist er offenbar an die Falschen geraten und hier gestrandet.“
„Welche Falschen?“, hakte ich nach.
Sein Blick fiel kurz zurück ins Wohnzimmer. „Die Partybilder hier, da sind eine Latinohure und offenbar ihre Zuhälter mit drauf, sehen Sie sich die mal an“, meinte er vorsichtig.
„Jemand Bekanntes dabei?“
Jetzt sah er mir in die Augen, leicht misstrauisch, als wollte ich ihm etwas unterstellen.
„Ich bin erst seit einem Jahr hier, aber ich steige auch mal mit Manni aus dem Auto aus, um welche zu kontrollieren, und zwar die richtigen, wie diese Typen. Ich schreibe Ihnen die Personalien der Latinos von den Fotos in meinen Bericht auf. Schon mal vorab: kleine Zuhälter, Koksdealer und Angeber. Im Wohnzimmer liegen die üblichen Kokser-Utensilien. Im Badezimmer befinden sich Tranquilizer, um wieder herunterzukommen“, er zeigte auf die Badezimmertür: „Und im Bad liegt neben der Wanne das Küchenmesser, das aus dem Messerblock in der Wohnküche fehlt.“
Er sah mich nun offen und wieder erheblich freundlicher an. „So wie es aussieht, hat er einen Absturz nicht verkraftet, sich im Koks verloren und dann den Rest gegeben.“
Ich nickte und kramte meine Visitenkarte aus meiner Brusttasche: „Danke für die Einschätzung. Wenn dir später noch etwas einfällt, dann ruf mich an. Für uns ist es immer wichtig zu wissen, was hier in der Altstadt los ist.“
Er nahm die Karte, studierte sie aufmerksam und steckte sie dann in seine Brusttasche. Dann gab er mir noch einmal die Hand. Der Händedruck war nun etwas fester: „Gerne, ich melde mich, wenn mir noch etwas einfällt.“ Dann ging er an Rainer vorbei, der ihm die Tür aufhielt. Ich drehte mich zur Badezimmertür, mein Blick fiel auf den Aufkleber „Baño“ und erst dann sah ich daneben den winzigen Aufkleber, direkt neben dem Badezimmertürschild. Er zeigte einen Mexikaner, der sitzend die Beine von sich streckte, einen Sombrero trug und einen Revolver hielt. Ich zog mir meine Latexhandschuhe an und drückte die Badezimmertür auf.
Er lag in der Wanne und trug ein ehemals graues T-Shirt und schwarze Bermuda-Shorts. Sein Kopf war auf die rechte Schulter gefallen, die Augen blickten leblos, die kurz geschnittenen, schwarzen Haare klebten nass an seinem Kopf, als ob er sich noch einmal geduscht hätte. Das Küchenmesser lag auf der Matte direkt neben der Wanne. Ich trat einen Schritt vor, ging in die Knie und sah in das blutgetränkte Wasser. Dann griff ich seinen linken Arm und zog ihn raus. Das durchtränkte T-Shirt rutschte ein wenig zurück und offenbarte ein kleines Tattoo auf dem Oberarm. Das Motiv zeigte den gleichen Mexikaner wie auf dem Aufkleber der Badezimmertür. Ich hob den leblosen Arm noch ein Stück hoch und sah mir die glatte Schnittwunde an den Pulsadern des Handgelenkes an. Ich visualisierte im Geiste, wie er sich mit der rechten Hand die Pulsadern am linken Handgelenk aufschnitt, das Messer aus der Wanne fallen ließ und dann endgültig das Bewusstsein verlor. Augenscheinlich lagegerechtes Spurenbild, dachte ich. Dann erhob ich mich und ging zunächst in den Flur und dann in das Wohnzimmer hinüber. An der linken Wand stand ein Wohnzimmerschrank, Ikea-Klasse, rechts in der Ecke ein Flachbildfernseher, rechts daneben eine Schlafcouch, darüber die Fotos, die der Kollege angesprochen hatte.
Davor stand der flache Wohnzimmertisch mit einer geöffneten Flasche Bier, einem Bierglas mit Schaumresten am inneren Rand, mehreren Tablettenblistern und einer dazugehörigen Schachtel eines starken Schlafmittels darauf. Daneben ein Schminkspiegel und kristalline Reste weißen Pulvers auf der Oberfläche. Auf dem Spiegel lag ein mit Aztekenmotiven verziertes Metallröhrchen. Weiterhin ein geöffnetes Papierbriefchen, ohne Aufschrift. Die übliche Verpackung für die Dosis Koks im Straßenverkauf. Ich ging hinüber zur eingeklappten Couch und sah mir die in einer Bildercollage gerahmten Fotos an der Wand an. Jaime Cortez im Tennisdress an einem Netz, im Hintergrund ein größeres Gebäude, eventuell der Nike Shop am Tennisplatz neben der Commerzbank-Arena. Daneben er auf dem gleichen Tennisplatz, mit einem Pokal in den Händen. Vor einem roten Porsche am Mainufer, im Hintergrund die Skyline. In einer Kneipe mit zwei breitschultrigen Latinos an seiner Seite, die jeweils einen Arm um ihn gelegt haben, auf seinem Schoß eine bildhübsche, rassige Südamerikanerin. Die Kneipe kam mir irgendwie bekannt vor. An der Wand hinter der Gruppe hing ein Flachbildschirm, daneben zahlreiche blau-rote Fußballwimpel. Dann wieder zusammen mit einer anderen Latina und den beiden Typen aus der Kneipe vor dem Porsche, im Hintergrund die Alte Oper. Ich drehte mich um und ging zum Wohnzimmerschrank hinüber, machte die Türen auf und sah mir die Klamotten an. Neben sauber gebügelten T-Shirts lagen modische Boxer-Shorts, an der Stange hingen ein Boss-Anzug und mehrere Jeanshosen sowie ein weißes T-Shirt auf einem Plastikbügel. Ich schob die Hosen beiseite und mein Blick fiel auf das weiße T-Shirt. Ich wurde neugierig, nahm es mit dem Bügel aus dem Schrank und betrachtete es genauer. Es roch nicht frisch, sondern getragen, in Höhe der Achsel war ein roter Abdruck zu erkennen. Ich sah ihn mir näher an und konnte die Form erahnen. Lippenstift. Roter Lippenstift. Wahrscheinlich eine romantische Erinnerung an einen schönen Abend.
„Thommy!“, riss mich mein Teampartner aus den Gedanken.
„Ja?“ Ich hängte das T-Shirt zurück. Dann drehte ich mich um und sah ihn hinter mir in der Wohnzimmertür stehen.
„Was meinst du?“
Ich zuckte die Schultern: „Kein Hinweis auf Fremdverschulden. Ich schlage vor, wir lassen die Feuerwehr das Wasser absaugen, den Doc mal ran und versiegeln die Wohnung …“
Mein Teampartner nickte mir zu: „Sehe ich genauso.“
Das war wieder einmal einer dieser Fälle, eines der vielen Schicksale, die man schnell verdrängen wollte.

1

Der Park lag im Stadtteil Heddernheim an der Nidda, nur durch einen Weg und von einer Böschung vom Flussufer getrennt. Wir stellten unseren BMW auf dem unbefestigten Parkplatz einer Gaststätte neben dem Minigolfplatz ab. Dann gingen wir die wenigen Meter zu Fuß bis zur ersten Absperrung, die sich von einem Kinderspielplatz zur linken bis zu einem Zaunpfosten des Minigolfplatzes auf der rechten Seite am Ende des Parkplatzes erstreckte. Ein paar Schaulustige drängten sich an der Absperrung. Der Kollege vom 14. Revier grüßte kurz und hob das weiß-rote Flatterband mit der Aufschrift „Polizeiabsperrung“ an. Wir bückten uns, tauchten unter dem Plastikband hindurch und trugen uns dann mit Namen und Uhrzeit auf der Kladde ein, die er uns mit der anderen Hand hinhielt. Das Tatortprotokoll war ein wesentlicher Bestandteil, um nachzuvollziehen, wer wann den Tatort betreten hatte. Nachdem wir uns wortlos eingetragen hatten, gingen wir weiter Richtung Uferweg. Es war ein wolkenloser, sonniger Spätsommertag und ich rief mir kurz in Erinnerung, was uns an diesen Tatort geführt hatte. Ein Spaziergänger hatte eine leblose, stark blutende Person auf dem Uferweg gefunden und die Rettungswache alarmiert, doch die konnte dem Mann auch nicht mehr helfen. Der Rettungswagen stand noch auf dem Uferweg, direkt neben dem Toten. Hinter dem Rettungswagen stand außerdem ein Notarztfahrzeug, der Arzt stellte auch in solchen Fällen formell den Tod einer Person fest. Der Dienstgruppenleiter des 14. Reviers begrüßte uns mit Handschlag. „Der Doc hat den Tod festgestellt, die Personalien stehen noch nicht fest. Aber er hatte ein Handy mit. Damit hat er über Kopfhörer Musik gehört. Wir haben alles so liegen lassen, wie es war. Die Sanis haben auch kaum etwas verändert. War eigentlich klar, dass da nix mehr zu machen ist.“
„Okay, danke“, brummte ich, nahm ein Paar Latexhandschuhe aus meinem leichten Blouson und zog sie über.
„Personalien der Sanis haben wir aufgenommen, der Zeuge, der ihn gefunden hat, wartet da bei meinem Kollegen.“
Ich nickte und wir gingen weiter, um uns einen ersten Eindruck vom Tatort zu verschaffen.
Der Tote lag auf der linken Körperseite auf dem Fahrradweg in einer Blutlache von mindestens drei Quadratmetern Ausdehnung, wenige Meter oberhalb des Nidda-Ufers. Sein schwarzes T-Shirt und die Shorts waren voll Blut. Seine zusammengekrümmte, fötale Position und die vor der Brust gekreuzten Arme ließen darauf schließen, dass er noch versucht hatte, das aus seinem Leib entweichende Leben zurückzuhalten. Er hatte schulterlange, schwarze Haare, die durch ein Haargummi im Pferdeschwanz sowie an der Stirn durch ein ebenso schwarzes Frottee-Stirnband im Zaum gehalten wurden. Seine Augen blickten trübe und leer ins Nichts, als ob er friedlich eingeschlafen wäre. Über der schwarzen Boxer-Shorts trug er eine dunkelblaue Bauchtasche, aus der zwei Kabel und daran hängende Ohrstöpsel hingen. An den braungebrannten Armen und den muskulösen Beinen waren auf den ersten Blick keine Wunden oder Verletzungen zu erkennen. Ich sah zu Rainer, der hinter mir stand und sich in Richtung Parkplatz umgedreht hatte.
„Eddi rollt mit seinem Team an. Sarah ist auch unterwegs. Lass uns den Fototermin abwarten, dann geht’s weiter.“
„Ja, klar“, meinte ich nachdenklich. In erster Linie war wichtig, die Ursprungssituation festzuhalten, die Sanis und den Zeugen zu befragen, was sie bei Auffinden der Leiche verändert hatten, um dann die ursprüngliche Situation zu rekonstruieren. Nur dann konnten wir in Verbindung mit dem Obduktionsergebnis belastbare Hypothesen zu einem Tatablauf aufstellen. Einen Unfall schloss ich schon in diesem Stadium aus. Solch ein Blutverlust entstand nicht durch einen Sturz. Hier hatte jemand nachgeholfen, das war sonnenklar.
Eddi Steinmann und sein Team hatten die ersten Übersichtsaufnahmen gemacht. Sarah Born, die Gerichtsmedizinerin, trat jetzt an den Toten heran und ging in die Hocke, ohne den Leichnam zu berühren. Matze, einer von Eddis Jungs, hielt die Digitalkamera bereit. Sie zog die Latexhandschuhe enger über ihre Handgelenke, schaltete ein kleines digitales Aufnahmegerät an, das sie an einem Schlüsselband um den Hals hängen hatte, und beugte sich über den Toten. Dann zog sie den Reißverschluss der Bauchtasche auf und nahm das Handy mit daran hängenden Kabeln und Ohrstöpseln heraus. Es war ein einfaches Smartphone älteren Typs.
„Hat noch Saft“, raunte sie unkompliziert und reichte es mir. Das liebte ich an ihr. Als Medizinerin und Pathologin war sie hochqualifiziert und dennoch pragmatisch.
Kein Code, um das Display zu entsperren. Ich tippte mit meinen Latexfingern eine Tastenkombination ein, um zuerst die Rufnummer des Gerätes und dann die zuletzt gewählte Nummer vorzulesen. Rainer notierte beide Ziffernfolgen. Die zuletzt gewählte Nummer war ein Frankfurter Festanschluss, Anrufzeit war am Vorabend, 19:56 Uhr.
„Lass doch mal feststellen, wer das war“, brummte ich.
Rainer zog sein Handy aus der Tasche und rief beim Hessischen Landeskriminalamt an, um Anschlussinhaber des Handys und letzten Kontakt festzustellen.
Ich drehte mich zu einem weiteren Kollegen aus Eddis Team um, der mir einen Klarsichtbeutel hinhielt, um das Handy spurenschonend sicherzustellen. Währenddessen untersuchte Sarah die Bauchtasche, ob sich eventuell weitere Hinweise zur Identität des Toten finden ließen. Sie fand noch einen Schlüsselbund mit zwei Zylinderschlüsseln und einem kleinen, roten Plastikturnschuh als Anhänger, sowie ein halbvolles Päckchen Zigaretten, ansonsten war die Bauchtasche leer. Keine Geldbörse, kein Ausweis, nichts, was uns sonst noch weiterhelfen konnte. Sie reichte mir den Schlüsselanhänger, der ebenfalls in einen Plastikbeutel der Spurensicherung wanderte. Das Handy war die beste Spur, um festzustellen, wen wir hier vor uns hatten. Der äußeren Erscheinung nach handelte es sich um einen Südländer. Ich dachte kurz an eine Affekttat zwischen Bandenmitgliedern aus den migrationsgeprägten Siedlungsstrukturen Mainhattans, aber diese Jungs gingen nicht morgens zum Joggen an die Nidda. Ich verwarf den Gedanken und konzentrierte mich auf die ersten Anhaltspunkte für eine mögliche Todesursache, ohne ein Obduktionsergebnis vorwegzunehmen.
Sarah zog das blutgetränkte T-Shirt hoch, ohne die Position der Leiche zu verändern. Ich bemerkte aus dem Augenwinkel, wie der Kollege von der Spurensicherung mehrere Fotos machte. Sie beugte sich vor, weiterhin hockend und zog das T-Shirt des Toten weiter hoch.
„Scharfkantige Wunde im Bereich des linken Brustmuskels, in Höhe der Brustwarze“, sagte sie nüchtern und sah sich die beiden Arme des Toten an.
„Keine Abwehrverletzungen erkennbar. Vorbehaltlich der weiteren ersten Leichenschau könnt ihr schon mal nach einem spitzen oder scharfen Gegenstand suchen, wahrscheinlich letale Stichverletzung in der Herzgegend“, formulierte sie glasklar und ich war mir sicher, dass sie, wie so oft, richtig lag, obwohl sie ihn noch nicht auf dem Tisch hatte. Die lagegerechten Verletzungen, die Auffinde-Situation, die Blutlache – das alles passte zusammen. Vorbehaltlich einer Obduktion natürlich. Aber irgendwo mussten wir ja mal anfangen. Und ich war erleichtert, dass wir endlich loslegen konnten. Ich versuchte, einen möglichen Tathergang zu visualisieren. Das Opfer joggte auf dem Weg an der Nidda entlang, traf auf den Täter und wurde durch einen Stich in die Herzgegend getötet. Mein Blick schweifte über die Blutlache am Rand des Fahrradweges zur grasbewachsenen, flach abfallenden Böschung hinüber. Sie endete nur wenige Meter unterhalb des Fahrradweges am Ufer der erdfarbenen Nidda, die gemächlich in Richtung Höchst floss, um dort in den Main zu münden.
„Rainer?“, brummte ich.
„Thommy?“, brummte er zurück.
„Wir müssen das Messer finden, oder was das auch immer war. Das volle Programm. Luftbilder vom Hubschrauber. Einen Zug Einsatzkräfte und Diensthunde zur Absuche hier im Umfeld, die Taucher der Technischen Einsatzeinheit aus Mühlheim und weitere Kräfte zur Befragung der Nachbarschaft, Presse- und Internetaufruf zur Mitteilung verdächtiger Wahrnehmungen und so weiter.“
„Geht klar“, meinte mein Teampartner und nahm sein Handy hoch, um die Truppen anzufordern und alles Weitere zu veranlassen. Mein Blick fiel auf das friedliche Gesicht des jungen Mannes und ich fragte mich, warum er sich nicht gewehrt hatte.
Der neue Stadtteil Riedberg lag an der nördlichen Peripherie der Mainmetropole. Noch vor zehn Jahren fuhren Landwirte aus den anliegenden dörflichen Ortsteilen mit ihren Traktoren über die Äcker des Riedberges. Dann erkannten einige Stadtplaner, dass das Konzept der sozialen Durchmischung gescheitert war und sich die Stadt in ihren Grenzen auch noch attraktiver weiterentwickeln konnte. In wenigen Jahren entstand hier in der Nähe einer Außenstelle der Universität ein neuer Stadtteil, der gutsituierten Neubürgern eine neue Heimat bescherte und Frankfurt damit Millionen an Einkommenssteuer in die Kassen spülte. Rainer lenkte unseren Wagen über einen Bahnübergang und wir folgten den Gleisen der neu gebauten U-Bahn-Linie, die den Riedberg nun mit der Innenstadt verband. Ich kannte diesen neuen Stadtteil von einem Sommerfest, bei dem sich das Viertel, seine neuen Vereine und auch die Geschäfte präsentierten. Damals bummelte ich von der Plaza im Zentrum über die am Berg abfallenden Straßen und schaute mir die Appartementhäuser, Reihenhaussiedlungen und Einfamilienhäuser an.
„Warst du schon mal hier?“, fragte Rainer und ich dachte wieder an unseren Fall zurück.
Die Suche nach der Tatwaffe am Nidda-Ufer war noch in vollem Gange, als Rainer die Ergebnisse der Anschlussinhaberfeststellungen vom LKA mitgeteilt bekam. Die SIM-Karte im Handy des jungen Südländers war eine mexikanische Prepaid-Karte, der zuletzt angewählte Festanschluss eine Festnetzrufnummer, die zu einer Medienagentur am Riedberg gehörte.
„Ja, vorletztes Jahr war ich hier auf dem Riedbergfest und habe mich mal nach einer Wohnung umgesehen.“
„Willst du dich verändern?“
Ich hatte seit vielen Jahren eine Wohnung auf dem Sachsenhäuser Berg und fühlte mich dort wohl, auch wegen des fantastischen Ausblicks auf die Skyline.
„Nicht direkt, eventuell wollte ich in eine Eigentumswohnung investieren“, meinte ich und lenkte dann das Gespräch wieder auf unseren Fall.
„Also wir sind uns einig, dass wir eine authentische Reaktion bei den Anschlussinhabern, die er gestern angerufen hat, wollen. Deshalb haben wir uns vorher nicht angemeldet.“
„Genau“, raunte mein Partner. „Der Festanschluss lautet auf eine Agentur, laut Google werden dort VIPs aus dem Showgeschäft vermittelt, hauptsächlich deutsche Schlagersänger.“
„Wie aufregend“, brummte ich und war gespannt, was uns erwarten würde.
Rainer parkte unseren BMW in einer Parkbucht am Zentrum des Riedbergs und wir liefen die wenigen Meter über die Plaza neben der U-Bahn-Haltestelle. Im Sommer vor zwei Jahren hatte ich mich in das Eiscafé an der Plaza gesetzt und einen Cappuccino getrunken. Hier lagen noch eine Bar, eine Sparkasse sowie eine Passage, in der es neben einem Supermarkt die üblichen, überall auffindbaren Geschäfte gab. Über der Passage befanden sich auf drei bis vier Etagen Wohnungen, die privat oder, wie wohl in unserem Fall, geschäftlich genutzt wurden. Wir erreichten den Hauseingang, ich klingelte an dem Schild mit dem schwarz-weißen Logo Frankfurt Entertainment, dass die dunkle Silhouette der Frankfurter Skyline unter einem Dutzend kreisförmig angeordneter Sterne zeigte. Nach wenigen Sekunden meldete sich eine weibliche Stimme und wiederholte die Aufschrift auf dem Klingelschild.
„Bach, Kriminalpolizei Frankfurt, wir müssen Sie dringend sprechen.“
„Eeeemh, um was geht es denn?“, kam es zögerlich zurück.
„Das möchten wir Ihnen gerne direkt und nicht an der Haustür sagen“, entgegnete ich sachlich, klappte mein Ledermäppchen mit dem Dienstausweis auf und hielt es vor ein hinter Plexiglas eingelassenes Kameraobjektiv, das sich direkt neben der Klingel befand.
„Kommen Sie bitte herauf, oberste Etage!“
Als es summte, drückten wir die Tür auf und gelangten über ein helles, nüchternes Treppenhaus zur Stahltür eines Aufzuges, der sich wie von Geisterhand öffnete.
In der obersten Etage verließen wir den Aufzug und standen nach wenigen Schritten vor einer makellos weißen Tür mit demselben Logo wie auf dem Klingelschild am Hauseingang. Neben der Klingel befand sich wieder ein hinter Plexiglas eingelassenes Kameraobjektiv. Ich klappte mein Ledermäppchen mit Dienstausweis erneut auf und hielt es davor, während Rainer klingelte.
„Kommen Sie bitte herein, durch den Flur und dann geradeaus!“, ertönte die Stimme nun hell und glasklar.
Eine Sekunde später sprang die Tür automatisch mit einem leisen Summen nach innen auf. Über den hell angelegten Flur gelangten wir in ein durch hohe Panoramascheiben begrenztes Wohnzimmer. Eine junge Frau stand seitlich an einem der Fenster und sah auf die am Horizont im Sonnenlicht glitzernden Bankentürme. Hinter der Fensterfront erstreckte sich eine Dachterrasse, auf der eine Sitzgruppe und ein Kugelgrill standen. Sie drehte sich zu uns um und sah uns freundlich lächelnd an. Ich kannte sie nicht und doch kam sie mir bekannt vor. Mein Unterbewusstsein spielte mir plötzlich einen Streich und ich dachte für wenige Sekunden, ich hätte diese Situation schon einmal erlebt. Sie kam langsam auf uns zu, wie ein Star, der den Auftritt auf der Bühne genießt. Ihr kastanienbraunes Haar trug sie schulterlang, ihre dezente Sonnenbräune und ihr kurzes, rotes Kleid harmonierten perfekt. Ja, nun ahnte ich, wo ich sie schon einmal gesehen hatte: Irgendwo auf Fotos der Boulevardpresse oder im Regionalfernsehen. Und dann fiel es mir ein. Sie war die Gewinnerin einer dieser Casting-Shows, der neue Star am deutschen Schlagerhimmel. Sie kam weiter auf uns zu, während ihre schwarzen Pumps auf dem hellen Parket in perfektem Takt klickten.
„Nadine Goldberg, wie kann ich Ihnen helfen?“, sagte sie freundlich, lächelte und gab uns beiden die Hand. Mein Blick fing sich für Sekunden in ihren dunkelbraunen Augen, die mich aus unerklärlichen Gründen sofort faszinierten. Dann riss ich mich zusammen:
„Thomas Bach, das ist mein Kollege Rainer Arndt, wir sind vom K 11, Mordkommission“, stellte ich uns vor und hielt ihr nochmals meinen Dienstausweis hin. Sie warf nur einen kurzen Blick darauf und nickte:
„Warum sind Sie hier?“
„Wir ermitteln in einem Todesfall“, formulierte ich vorsichtig und fuhr fort: „Gestern Abend wurde Ihr hiesiger Telefonanschluss gegen 20:00 Uhr von einem Mobiltelefon angerufen. Uns interessiert, wer der Anrufer war.“
Sie zog für einen Augenblick ihre Stirn kraus und ich bemerkte nun ihr dezentes Make-up.
„Möchten Sie vielleicht etwas trinken?“, fragte sie ablenkend und wandte sich zu einem Barwagen ab, der an einer der Glaswände neben einer ausladenden, L-förmigen Designer-Couch mit passendem Glastisch stand.
„Nein, danke. Frau Goldberg, das ist für uns wirklich sehr wichtig, waren Sie gestern Abend hier, haben Sie den Anruf entgegengenommen?“
Nadine Goldberg nahm ein Flasche amerikanischen Bourbon aus dem Sortiment des Barwagens und goss sich ein bereitstehendes Whiskey-Glas halbvoll.
„Ich war gestern Abend hier und habe auf dem Balkon gelesen“, sagte sie nun mit leicht brüchiger Stimme, stellte die Flasche zurück und nahm einen hastigen Schluck. Ein elektronisches Zwitschern unterbrach die kurzfristige Stille. Sie warf den Kopf herum und sah zum Couchtisch, auf dem ein Smartphone neben einer Schachtel Zigaretten und einem Feuerzeug lag.
„Frau Goldberg, wer hat gestern angerufen?“, hakte ich nach. Sie zog die Schultern hoch und hielt sich mit beiden Händen an ihrem Glas fest. Der Star drehte den Kopf zur Fensterfront und sah wie gebannt auf die Skyline am Horizont.
„Was ist mit ihm, hat er etwas angestellt?“, seufzte sie und sah uns wieder an.
„Wer hat gestern angerufen?“, wiederholte ich nochmals.
Sie holte tief Luft: „Juan, mein Fitnesstrainer. Er hat mich gestern Abend gegen acht angerufen. Was ist mit ihm?“
„Warum kommen Sie auf die Idee, dass er etwas angestellt haben könnte?“, fragte ich zurück.
„Nun ja, er …“, zögerte sie. „Was ist mit ihm?“, fragte sie nach, ohne auf meine Frage zu antworten. So kamen wir nicht weiter und ich entschloss mich, die Sache zu beschleunigen. Ich nahm mein Smartphone zur Hand und zeigte ihr ein Foto vom Gesicht des Toten: „Ist das Juan, Ihr Fitnesstrainer?“, fragte ich leise.
Das Whiskey-Glas zerschellte auf dem Parkett, noch bevor Nadine Goldberg beide Hände vor ihr Gesicht schlug. Die Tränen schossen ihr in die Augen, sie wandte sich ab und für einen Augenblick schlich sich bei mir ein Anflug schlechten Gewissens ein. Sie ging ein paar Schritte zur Couch und nahm leise weinend Platz.
„Frau Goldberg, sollen wir jemanden Ihres Vertrauens verständigen?“, kam ich ihr entgegen. Sie zog die Nase hoch, nahm ein Papiertaschentuch aus einer bereitstehenden Box und schüttelte den Kopf: „Das mache ich schon.“ Dann putzte sie sich die Nase und nahm ein neues Tuch, mit dem sie sich die Tränen trocknete.
„Was wollen Sie wissen? Setzen Sie sich doch bitte.“
Ich registrierte, dass sie sich erstaunlich schnell gefangen hatte, machte mir eine mentale Notiz und wir setzten uns auf die andere Seite der Couch. Aus der Innentasche meines Sommerblousons nahm ich mein altes Notizbuch und einen Kuli. Der Geruch des Whiskeys drang in meine Nase. Sie schüttelte eine Zigarette aus dem Päckchen, nahm das Feuerzeug und zündete sie mit leicht zitternden Fingern an.
„Das mache ich nachher weg“, meinte sie, als ob sie meine Gedanken lesen könnte.
„Wie heißt er mit vollem Namen und wo wohnt er?“
Sie nahm sich noch ein Papiertaschentuch, putzte sich die Nase und begann zu erzählen, während sie das Tuch in den Händen zerknüllte:
„Juan Gonzales, er kommt aus Spanien. Ich kenne ihn jetzt ein halbes Jahr“, sagte sie mit bebender Stimme und fuhr fort: „Ich habe ihn über Facebook kennengelernt, er ist selbstständiger Fitnesstrainer und hat mich gecoacht. Er wohnt zurzeit in Heddernheim. Was ist ihm passiert?“
Ich sah von meinen Notizen auf und unsere Blicke trafen sich. Jetzt übernahm Rainer, so dass sie ihn ansah und ich mich auf ihre Reaktionen konzentrieren konnte.
„Er ist beim Joggen an der Nidda zu Tode gekommen. Die Untersuchungen dauern derzeit noch an“, formulierte mein Teampartner vorsichtig, um mögliches Täterwissen nicht vorzeitig preiszugeben. Sie schüttelte den Kopf: „Er war doch toppfit, das verstehe ich nicht, wie konnte das passieren?“ Wahrscheinlich tippte sie auf Herzinfarkt.
„Ich brauche noch etwas zu trinken. Sie auch?“ Sie stand auf, umrundete die Scherben und die Whiskey-Pfütze, nahm die Zigarette in den Mund und goss sich diesmal mit bebenden Händen einen Doppelten ein.
„Wir können derzeit ein Fremdverschulden nicht ausschließen, die Obduktion steht aber noch aus“, sagte Rainer.
„Frau Goldberg, wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?“, fragte ich weiter.
Sie nahm zuerst einen großen Schluck, dann einen tiefen Zug und sah mich an: „Gestern Mittag zum Training, hier bei mir. Dann hat er gestern Abend wieder wegen eines neuen Termins angerufen, wir wollten uns morgen … “, sie sah wieder zur Fensterfront.
„Sie wohnen hier?“, bohrte ich weiter.
„Ja, seit ein paar Wochen, seitdem …, ja seitdem ich nach dem Casting mal wieder alleine sein wollte …“
„Frau Goldberg, wir müssen wissen, wo Juan genau wohnte, das ist wichtig für uns“, hakte ich nach. Sie nahm wieder einen kräftigen Schluck, und kam auf gleichem Weg zur Couch zurück. Dann setzte sie sich, schlug die Beine elegant übereinander und sah uns traurig an.
„Er hatte vorübergehend ein Zimmer in einer Pension an der Nidda, da haben wir mal Minigolf gespielt und dann im Biergarten gesessen.“
Mir fiel sofort der Tatort ein. Ein Minigolfplatz neben der Gaststätte. Wir mussten wieder zurück zum Tatort und seine Wohnung lokalisieren.
„Nochmals, Frau Goldberg, warum ziehen Sie in Erwägung, dass er etwas angestellt haben könnte?“
Ihr Smartphone zwitscherte wieder und sie sah kurz in die Richtung, doch dann traten wieder Tränen in ihre Augen. Sie stellte das Glas auf den Tisch, legte die Zigarette in den Ascher, nahm ein neues Taschentuch aus der Box, trocknete die Tränen und sah mich an, während Rainer sie beobachtete. Ihre Erschütterung und die Fragen zur Todesursache wirkten echt.
Sie straffte die Schultern, nahm die Zigarette, inhalierte tief und sah mich dann traurig an: „Mir wurden immer wieder Gerüchte zugetragen, er hätte etwas mit Drogen zu tun, und das hätte mir schaden können. Aber ich habe das nicht geglaubt.“
„Wie wurde Ihnen das zugetragen?“, fragte ich nach.
„Es gibt da einen Typen, der mich immer wieder belästigt, er schickt mir anonyme E-Mails. Der nervt echt, er hat schon heimlich Fotos von mir gemacht und mir geschickt. Wenn der …“, sie stockte, drückte die Kippe im Ascher aus und begann erneut zu weinen. Ein Stalker, schoss es mir durch den Kopf, sie hatte wahrscheinlich einen Stalker. Und einen Lover, der jetzt erstochen am Ufer der Nidda lag. Mir fiel ein Artikel ein, den ich über die Anti-Stalking-Unit des Los Angeles Police Department gelesen hatte. In Hollywood war diese Einheit nur damit beschäftigt, gegen Stalker zu ermitteln, die den Stars in der Filmmetropole nachstellten. Wenn unser Schlagerstar wirklich gestalkt wurde, dann gab das dem Fall eine völlig neue Perspektive.
„Frau Goldberg, haben Sie deswegen schon die Polizei informiert?“, fragte ich direkt nach.
„Nein, ich wollte erst mal keine Polizei …“
„Das müssen wir klären“, unterbrach ich sie, „wir müssen uns Ihr Smartphone und Ihren Computer ansehen. Möchten Sie jetzt jemanden ihres Vertrauens verständigen?“
Sie nickte: „Ja, aber meine Mutter ist noch in unserem Haus in Südfrankreich. Chris, mein Manager, er kann bestimmt kommen.“
„Dann rufen Sie ihn bitte an, unsere Techniker werden gleich kommen und sich Ihr Handy und den Rechner ansehen“, bat ich, da sie jetzt bestimmt Unterstützung brauchen konnte.
Sie nahm ihr Smartphone vom Couchtisch, sah kurz auf das Display und suchte dann in den Kontakten nach einer Rufnummer. Sie startete den Anruf und sah dann wieder aus dem Fenster. Plötzlich schien sie um Jahre gealtert, aber dennoch abgeklärt und kontrolliert. Ich hatte für wenige Sekunden wieder das Gefühl, diese Situation schon einmal erlebt zu haben. Irgendwie kam sie mir bekannt vor und ich fragte mich, ob sie nicht vielleicht auch ein Motiv hatte.
Er sah auf den Bildschirm seines Laptops, der den Hauseingang zeigte. Die beiden Typen verließen gerade das Appartementhaus. Mit einem Mausklick wechselte er die Perspektive und hatte nun eine Übersicht der Schiebetüren in der Totalen. Sie betrat in diesem Moment die Dachterrasse, das Handy am Ohr und in der anderen Hand ein Glas Whiskey. Ihr trauriger Gesichtsausdruck hinterließ für einen Sekundenbruchteil einen Stich in seinem Herz. Doch dann lächelte er und tippte auf die Audiotaste seines Smartphones, und während sie die erste Strophe intonierte, sang er leise mit und wusste, dass er alles unter Kontrolle hatte.
Die heruntergekommene Gaststätte lag in Tatortnähe neben dem Minigolfplatz. Die verlebte Wirtin saß auf einem Barhocker hinter der Theke. Ihr Alter war schwer zu schätzen, wahrscheinlich irgendwo zwischen sechzig und achtzig. Die grauen Haare klebten fettig über ihrem aufgedunsenen Gesicht, ihre zusammengekniffenen Augen lugten müde über dunklen Tränensäcken hervor. Die ehemals bunte Kittelschürze war von Fett- und Soßenflecken übersät und dünstete eine aufdringliche Mischung aus Schweiß, Alkohol und Bratfett aus. Sie klammerte sich an ein geleertes Apfelweinglas, warf nur einen kurzen Blick auf das Opferfoto auf meinem Handy und zeigte sofort mit dem Daumen nach unten: „Das da draußen, das ist der Spanier, den es erwischt hat, oder? Der hatte die Drei“, meinte sie ungerührt, „und der ist noch eine Woche im Rückstand, wer zahlt mir das denn?“