Malcontenta - Felix Kucher - E-Book

Malcontenta E-Book

Felix Kucher

5,0

Beschreibung

Said, Bertie und Battista: drei Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Said, der junge Graffitikünstler aus Koufra in Libyen, der 2012 die beschwerliche und ungewisse Flucht in eine bessere Zukunft in Europa antritt. Bertie Landsberg, der Bankierssohn, der hundert Jahre zuvor seine Sehnsucht nach dem Wahren und Schönen verfolgt. Und schließlich Battista Franco, der am Hungertuch nagende, bei Frauen jedoch durchaus erfolgreiche Freskenmaler im 16. Jahrhundert. Unter den von ihm gestalteten Fresken in der Villa La Malcontenta vor Venedig feiern Bertie und die High Society der 1920er Jahre Feste, diskutieren in intellektuellen Salons und genießen das Leben. Bis sich die politischen Wolken in Italien und Europa zusammenziehen … Ein raffiniertes Debüt: Auf drei Zeitebenen porträtiert Felix Kucher drei Männer, jeder ein Kind seiner Zeit, alle drei auf der Suche nach dem gelungenen Leben.

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FELIX KUCHER

Malcontenta

Manches, wovon im Roman die Rede ist, hat tatsächlich stattgefunden, vieles ist erfunden. Der Roman zeigt, was möglich war, er zeigt nicht, wie es wirklich war.Es ist ein Roman, keine Dokumentation.

Copyright © 2016 Picus Verlag Ges.m.b.H., WienAlle Rechte vorbehaltenGrafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien Umschlagabbildung: IMAGNO/Österreichisches VolkshochschularchivDruckerei Theiss GmbH, St. Stefan im LavanttalISBN 978-3-7117-2041-2eISBN 978-3-7117-5319-9

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at

Felix Kucher, geboren 1965 in Klagenfurt, studierte Klassische Philologie, Theologie und Philosophie in Graz, Bologna und Klagenfurt und ist Qualitätsmanager, Lehrer und Weinbauer. Zahlreiche Fachpublikationen zu Humanismus und Pädagogik. Er lebt und arbeitet in Klagenfurt. »Malcontenta« ist sein erster Roman.

FELIX KUCHER

Malcontenta

ROMAN

PICUS VERLAG WIEN

Prolog

Am Silvesterabend 1938 saß ein Mann im Halbdunkel eines kreuzförmigen Saales. Die Stimme Beniamino Giglis quoll aus dem Trichter des Grammofons, das auf dem Tisch neben ihm stand. »Nessun dorma.« Zwei Kandelaber zu je acht Kerzen ließen die Fresken an den Wänden und Gewölben immer wieder kurz aufflackern. Der Mann beachtete die Wände nicht. Er starrte auf das Fresko in der Lünette über der Tür, die ihm gegenüberlag. Das Bild zeigte die Götter Zeus und Hermes, die seelenruhig zusahen, wie ein Wanderer überfallen wurde. Niemand wusste, warum der Maler diese Szene gemalt hatte. Sie fand sich in keiner Quelle, die die Geschichte von Philemon und Baucis erzählte, die von den beiden Göttern besucht wurden und denen der Zyklus gewidmet war. So viele Gelehrte hatte er befragt in den letzten achtzehn Jahren. Er würde es jetzt zurücklassen, ohne hinter sein Geheimnis gekommen zu sein. Er würde das Haus zurücklassen und sein bisheriges Leben.

Das abschließende »Vincerò« verklang – »ich werde siegen«, die Nadel kratzte auf dem Schellack. Dem Mann floss eine Träne über die linke Wange. Er lauschte dem Knirschen, als wartete er auf etwas. »Vincerò«, murmelte er.

EINS

Said und Bertie

 

1

2012, Al-Dschauf, Oase von Koufra, Libyen

»Chan hat’s geschafft. Er hat mich gestern angerufen.«

Said zuckte zusammen und starrte Bey an. Er hatte mit seinem Onkel gerade eine Kiste aus dem Pick-up gehoben, die Griffe schnitten in die Hände ein. Bisher hatten sie kaum ein Wort gesprochen, die Arbeit war Routine.

»Chan? Wo ist er? Warum sagst du das erst jetzt?«

»Jetzt lass bloß nicht die Kiste fallen! Ich wollte nicht, dass die anderen es hören. Ja, auch mein Zweiter hat’s geschafft. Er wird jetzt zusehen, dass er nach Marseille kommt, zu den Verwandten.«

Sie trugen die Kiste zum anderen Pick-up und luden sie auf. Sie schwiegen, während sie an den anderen Trägern vorbeikamen, die zurückgingen, um neue Kisten zu holen. Said schloss seine Jacke und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

»Ich dachte schon, er kommt wieder zurück. Nach der Katastrophe beim ersten Mal …«, murmelte er. Er dachte an die Nachricht, die ihm Bey vor zwei Wochen überbracht hatte: Das Boot war nach wenigen Kilometern zerbrochen, die Insassen retteten sich schwimmend zurück. Niemand sprach davon, wie viele es nicht geschafft hatten. Chan hatte überlebt.

»Und du kannst dich noch immer nicht entscheiden?«

Said konnte nicht sagen, ob in Beys Stimme Bedauern oder ein Vorwurf lag.

Er blickte zu Boden. »Ich weiß nicht …«

Er hatte Angst. Er wusste, dass Bey wusste, dass er Angst hatte. Angst, wegzugehen. Angst, zu ertrinken. Angst, zusammengepfercht in einem Lager dahinzuvegetieren. Angst, ein Haus, einen Beruf aufzugeben. Angst, in ein Land zu gehen, dessen Sprache er nicht sprach.

»Komm, zwei, drei Kisten noch!«

Sie schlichen zum Pick-up zurück, der in fünf Minuten wieder in der Wüste verschwinden würde.

Vor zwei Monaten war es Cheik gewesen, Chans älterer Bruder. Und jetzt Chan. Gemeinsam hatten sie Sandkuchen gebacken, Lehrer geneckt, Wettrennen auf Schrottmofas veranstaltet und den Bau des großen Lagers beobachtet, das die EU in diesem gottverlassenen Winkel Libyens errichten ließ, um die Flüchtlinge zurückzuhalten, deren Strom aus Zentralafrika nie zu versiegen schien. Sie kannten jeden Winkel in Al-Dschauf, waren unzertrennlich, sogar die Schule schmissen sie gemeinsam. Chan trat einen Job als Lkw-Fahrer an und kreuzte in der Oase nur noch alle vierzehn Tage mit irgendeiner dubiosen Fracht auf. Sie hatten sich in letzter Zeit nicht mehr oft gesehen.

Als Said seine Mechanikerlehre machte, hörte er fürchterliche Geschichten über das Flüchtlingslager. Immer wieder flohen ausgemergelte Sudanesen aus dem stacheldrahtumzäunten Gelände. Verdammte Flüchtlinge. Früher waren sie Arbeiter, Lehrer, sogar Ärzte und Architekten gewesen, jetzt nur noch Bettler und winselnde Streuner. Nie würde er fliehen, nie so leben wollen wie diese schattenhaften Gestalten, die manchmal in der Siedlung auftauchten und wieder verschwanden. Und jetzt Chan.

Der eigene Pick-up war vollgeladen, der andere schon außer Hörweite. Said und Bey stiegen ein. Während der Fahrt gab ihnen der Beifahrer zwei Scheine. Bei den ersten Häusern von Al-Dschauf stiegen sie aus und verabschiedeten sich voneinander. Said hatte noch drei Gassen bis zur Wohnung seiner Eltern.

Es war immer dieselbe Liste an Argumenten. Der Verdienst als Mechaniker reichte schon lange nicht mehr. Dabei hatte er sich spezialisiert und konnte nicht über zu wenig Arbeit klagen. Seitdem das Kombinat die kreisrunden Felder mitten in der Wüste angelegt hatte, gab es ständig einen Traktor oder eines der selbstfahrenden Bewässerungsgestelle zu reparieren. Das konnte nicht jeder. Er sah meist auf den ersten Blick, wo es haperte: ein lecker Hydraulikschlauch, zu wenig Öldruck, eine schlecht geschweißte Bruchstelle. Er wurde gebraucht. Doch es war zu wenig Geld, viel zu wenig. Es reichte nicht für das tägliche Essen, nicht für die Medikamente seiner Mutter. Das Geld, das er zugesteckt bekam, wenn er hin und wieder nach Dienstschluss einen Zahnriemen wechselte oder einen Holm schweißte, benutzte er, um sein Konto zu sanieren, oft war er haarscharf an der Sperre. Einzig das Geld aus der Nachtarbeit sparte er eisern. Weiß Gott, was die Kisten so schwer machte. Sicher keine Hilfsgüter.

Said huschte die Treppe hinauf und öffnete leise die Tür der Wohnung. Er lauschte und schlich dann an den abgewetzten Fauteuils vorbei. Ein Dieselmotor nagelte unten vorbei. Dann wieder Stille. Er passierte die Tür zum Elternzimmer. Sein Vater schnarchte nicht mehr seit seiner Operation vor einem Jahr, auch die hatte er mitfinanziert. Er tappte weiter in sein Zimmer, legte die Kleider ab und ging ins Bad. Geräuschlos wusch er sich und legte sich schlafen. Auch hier machte ihn die kühle Luft frösteln. In vier Stunden begann seine Schicht. Er sollte schlafen. Wie immer war er hellwach.

Er dachte an die Kisten. Wahrscheinlich Waffen, was sonst. Sie kamen da her, wo die Flüchtlinge auch herkamen, aus dem Süden. Seit einem Jahr machte er den Job jetzt, manchmal luden sie die ganze Nacht. Verdammt, er sollte schlafen!

Auch heute Nacht waren sie wieder gefallen, die Namen der Orte: Lampedusa. Sizilien. Ceuta. Gibraltar. Sie klangen magisch, es war eine andere Sprache, wie Zaubersprüche. Wenn du dort bist, hast du es geschafft, sagten sie. Bis Lampedusa eine Woche Überfahrt ab Libyen. Wenn du mehr Geld hast, kannst du es ab Tunesien in drei Tagen schaffen oder sogar in einem. Und dann kann dir nicht mehr viel passieren. Entweder du haust gleich ab, in dem überfüllten Lager hat sowieso niemand die Übersicht. Oder du lässt dich ordentlich in ein anderes Lager überstellen und verschwindest dann auf der Fahrt. Das einzige Problem ist der Hunger und ein Dach überm Kopf. Sonst bist du denen egal, ein Problem weniger, wenn du weg bist.

Ein Problem weniger. Ein Problem weniger. Said schlief ein.

2

1913, Paris

Am 5. Mai 1913 ritt ein junger Mann durch den Bois de Boulogne. Ein Spaziergänger hätte ihm beim ersten Hinsehen vielleicht vierzehn Jahre gegeben, dabei war er fast zehn Jahre älter. Die schlaksige Gestalt steckte in einem maßgeschneiderten weißen Anzug, ein zu groß wirkender Borsalino beschattete das glatte Knabengesicht. Trotz des Hutes sah man, dass er die Haare zurückgekämmt trug, wodurch sein hoher Haaransatz betont wurde, vielleicht wollte er älter wirken. Die vollen Lippen und die zarten Gesichtszüge, in denen sich nichts Hartes und Kantiges fand, gaben dem jungen Mann eine androgyne Note. Er hielt das Pferd an. Aus einem Pavillon tönte Musik, ein paar Streicher spielten einen Walzer. Er lauschte. Wahrscheinlich Émile Waldteufel, ein gefälliges Stück. Er schüttelte tadelnd den Kopf. Warum spielten sie statt dieser Walzerseligkeit nichts Zeitgenössisches? Rimski-Korsakow oder Prokofjew? Die Zeit dieser Musik war doch vorbei!

Er trieb sein Pferd wieder an. Der Stallbesitzer würde schon warten und er musste in diese verhasste Bank, wo ihn niemand brauchte. Er ritt an einer Gruppe Damen mit gerüschten Sonnenschirmen vorbei und beschloss, die Abkürzung durch ein kleines Wäldchen zu nehmen. Die Sonne war für Mai schon sehr heiß. Das Knallen des Schusses kam wie ein Blitz, es war ohrenbetäubend. Er merkte noch, wie seine Stiefel sich aus den Steigbügeln lösten und er nach hinten fiel. Dann wurde alles schwarz.

3

Er nahm zuerst das schmerzhafte Pochen im Kopf wahr, dann in den Gliedmaßen. Er bewegte Finger und Zehen. Alles noch dran. Er öffnete langsam die Augen. Mit dunklem Holz vertäfelte Wände. Dicke dunkelrote Brokatvorhänge, ein offener Kamin. Umrisse von Ohrensesseln. Er stützte sich auf den linken Ellenbogen. Das Pochen wandelte sich in ein Prickeln, absteigend vom Kopf über die Wirbelsäule und langsam bis in die Fingerspitzen und Zehen. Wie war er hierhergekommen? Langsam, Bertie. Er setzte sich in Zeitlupe auf. Das taube Hintergrundgefühl war Kopfschmerz, der erst jetzt wehtat. Gehörte es zu ihm? Ruhig atmen. Ein Erinnerungsfetzen: Das Pferd … er war geritten, und dann? Er schloss die Augen und atmete aus. Langsam wieder ein. Immer mehr Fragmente blitzten auf: Bois de Boulogne, die Sonne, er musste das Pferd zurückbringen … Ein Schuss, genau, ein Knall war es gewesen, die Stute hatte gescheut und sich aufgebäumt. Er war gefallen, offensichtlich war er bewusstlos geworden. Aber wie kam er hierher? Das war ein Privathaus, keine Klinik oder Arztpraxis. Andererseits schien nichts gebrochen zu sein. Dann eine weitere Empfindung: Es ist noch jemand hier.

»Ist der junge Herr aufgewacht?« Eine tiefe Stimme, Französisch mit englischem Akzent, sonor, aber ein wenig nervös.

Bertie richtete sich langsam auf. Er keuchte, der Schmerz schoss ein, als er den Kopf hob. Jetzt sah er den Mann im Lehnstuhl, er saß völlig im Schatten der Kandelaber.

»Haben Sie noch Schmerzen?«

Bertie versuchte, sich ganz aufzusetzen und suchte nach französischen Worten, doch sie kamen nicht. Begriffe schwirrten herum … Welcher zuerst …? Er beherrschte diese Sprache doch! Der Mann stand auf, machte ein paar Schritte auf ihn zu und verneigte sich. »Verzeihen Sie, dass ich mich nicht vorgestellt habe. Rodocanachi. Paul Rodocanachi. Sie sind hier in meinem Haus.« Er nickte kurz zur Begrüßung.

Bertie wollte antworten, aber die französischen Worte brauchten noch immer zu lange. Er versuchte es auf Englisch: »Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft. Ich denke, Sie sprechen Englisch.« Mehr als ein Krächzen war das nicht.

»Was für ein wunderbarer Akzent!« Der Fremde schien dankbar, dass Bertie das Idiom gewechselt hatte.

»Oxford?«

Bertie versuchte den Kopf zu schütteln. »Nein, Cambridge. Au, mein Schädel … Trinity Hall. Vorher Harrow.«

Er setzte sich ganz auf, versuchte aufzustehen, gab es gleich wieder auf.

»Sie verzeihen, ich kann noch nicht … Gestatten: Landsberg. Albert Clinton Landsberg.« Bertie streckte seine Hand im Sitzen aus, Rodocanachi schüttelte sie.

»Verzeihen Sie, ich glaube, ich kann noch nicht aufstehen. Übrigens, meine Freunde nennen mich Bertie. Aber sagen Sie, bitte, was ist passiert?«

Er blickte seinen Gastgeber an, der jetzt im Licht vor ihm stand. Scharf geschnittenes ovales Gesicht, auf Millimeter getrimmter Schnurrbart, der sich am Ende ein wenig zwirbelte, glattes, akkurat gekämmtes Haar. Rodocanachis Gesicht wirkte orientalisch, aber nicht wie das eines Türken. Dünne Lippen, die sich jetzt ein wenig verzogen: »Ein Deutscher aus Oxford, ähm, ich meine Cambridge, in Paris? Klingt interessant. Sie sind … nun ja … vom Pferd gefallen. Ich bin ausgeritten und kam gerade vorbei, als ein Schuss fiel. Keine Ahnung, wer geschossen hat. Ich habe eine Kutsche gerufen und Sie in mein Haus bringen lassen.« Er zuckte mit den Mundwinkeln. »Ich fürchtete schon das Schlimmste, Sie haben sich nicht gerührt. Der Kutscher hat Ihnen den Puls gefühlt und gemeint, das werde schon wieder. Er hat mir geholfen, Sie hier hereinzuschaffen. Nun, da liegen Sie jetzt noch keine Stunde. Wenn Sie es wünschen, rufen wir selbstverständlich einen Arzt. Ihrem Pferd geht es gut, es steht draußen in meinem Pferdestall.«

Bertie rieb sich den Hinterkopf und lächelte schwach. »Ich danke Ihnen. Ich stehe in Ihrer Schuld.«

Offenbar war er auf einer Art Gutshof gelandet. Er stand mit einem Ruck auf, es wurde ihm wieder dunkel vor den Augen. »Ich glaube, ich bin noch etwas benommen.« Er sah sein Gegenüber an. »Ich bin übrigens kein Deutscher, aber egal. Warum hat da jemand geschossen? Wollte mich jemand treffen? Hat man den Täter gefunden?«

Paul hob die Augenbrauen. »Sie haben ja keine Ahnung, wie viele Leute im Bois de Boulogne einfach herumschießen. Auf Vögel, Steine, Büchsen, alles Mögliche. Ich glaube nicht, dass es jemand auf Sie abgesehen hatte.«

Bertie wurde blass. »Das ist ja ein Skandal, gibt es denn keine Polizei in der Nähe?«

Paul sah ihn amüsiert an. »Ich fürchte, Sie sind noch nicht lange in Paris. Hier lebt man ein wenig freier als in England. Aber bitte, gehen wir zu den Lehnstühlen, ich werde John bitten, einen Tee zu machen.«

Er drückte auf einen Knopf an der Wand, irgendwo schrillte zweimal eine Klingel.

4

2012, Al-Dschauf, Oase von Koufra, Libyen

Sie standen vor dem dreistöckigen Wohnblock, in dem Said mit seinen Eltern wohnte. Bey rauchte. Feierabend.

»Überleg es dir. Ich weiß auch schon, wo ich fürs Erste arbeiten kann. Rosarno heißt der Ort. Tomatenplantagen.« Er deutete auf sein Handy. »Das hier behalte ich, solange ich kann. Sobald ich eine italienische Nummer habe, schicke ich sie dir.«

»Ich weiß noch immer nicht, ob ich meine Eltern alleinlassen kann, ich …«

»Sie wären froh, wenn es wenigstens einem gut ginge, verdammt noch mal. Wie oft haben wir das schon durchgespielt. Hör auf deinen alten Onkel.« Bey sagte das oft, obwohl er erst zweiundvierzig war. Er spuckte aus.

»Was willst du denn noch hier? Warten, bis dich jemand als Künstler entdeckt? Glaubst du, irgendjemanden interessieren die Sprühereien?«

Said zuckte mit den Schultern.

»Mir gefällt’s. Und die Farbe würde sonst eintrocknen. Ich verwerte die Dosen wenigstens irgendwie.«

Said dachte an die Graffitis, die er auf Kartons und Autoschrott mit dem Airbrush nach Dienstschluss gemacht hatte. Sein Chef hatte ihn sogar dazu ermutigt, wahrscheinlich witterte er ein Geschäft. Viele Pick-ups hier hatten martialische Airbrush-Bilder auf den Motorhauben. Das war etwas, das Said nicht verstand: Die meisten Leute waren bitterarm, aber um ihre Rostschüssel aufzumotzen, kratzten sie den letzten Dirham zusammen.

Bey nahm einen Zug und legte den Kopf zur Seite. An den Schläfen zeichneten sich graue Strähnen ab.

»Egal. Überleg’s dir nicht zu lange. Das Meer ist jetzt so ruhig wie das ganze Jahr nicht.«

Er drückte Said einen Zettel mit einer Handynummer in die Hand.

»Das ist der neue Mann. Vielleicht brauchst du sie ja. Ich gehe jetzt noch rein, deine Eltern …« Er umarmte ihn und löste sich schnell. Said blickte ihm nach. Er war so anders als sein Vater, mehr wie ein älterer Bruder. Sein Vater würde nie mehr weggehen, nicht in seinem Alter.

Seine Kunstwerke.

Da war dieser Fremde eines Tages in der Werkstätte gewesen, ein Schweizer. Said wusste nicht genau, wo die Schweiz lag, er suchte es später im Internet in Suzy’s Café. Der Fremde sah die Graffitis und redete etwas von einem Kunstprojekt, Said solle sich melden. Er schrieb ihm Webadresse und Telefonnummer auf einen Zettel, Swiss Libyan Art Project. Der Zettel hing noch immer an der Korkpinnwand in Saids Zimmer.

Ein Grollen im Hintergrund ließ ihn aufhorchen. Granatendonner. Vor einem Monat war er nur sporadisch zu hören gewesen, in der Nacht. Inzwischen schossen sie auch am Tag. Der Kampf zwischen Suwaja und Toubou näherte sich der Stadt. Die Stammesfehde hatte sich zum Bürgerkrieg ausgewachsen und die künstlichen Felder und der Flughafen von Al-Dschauf würden bald umkämpft sein. Dahinter waren die Dschihadisten im Anrollen, die die Suwaja vor sich her trieben. Sein Vater sprach von nichts anderem mehr. Wenn die Gotteskrieger kommen, sind wir geliefert. Dazu kamen jeden Tag mehr bettelnde Sudanesen. Jeden Tag weniger Einheimische. Aus jedem Wohnblock seiner Siedlung war schon jemand abgehauen. Manchmal hörte er Helikoptergeräusche in der Nacht. Die Frontex.

Er beschloss, noch ein wenig durch sein Viertel zu schlendern. Zu Hause würde er nicht wissen, was er sagen sollte. Sein Blick fiel auf das Schild des Supermarkts. Keine Butter mehr seit einer Woche. Vor der Kneipe, in der er mit Chan früher alkoholfreies Bier getrunken hatte, lungerten Bettler, Sudanesen wahrscheinlich. Sie sahen nicht auf, als er vorüberging, einer von ihnen sang unverständliche Silben. Said wich einem stinkenden Müllberg aus. Es roch nach totem Tier. Der nächste Granatendonner. Verdammt, er musste hier weg. Weg! Aber er hatte einen sicheren Job hier und würde wohl kaum arbeitslos werden, auch wenn es eine andere Regierung gäbe. Traktoren und Bewässerungsanlagen würden immer kaputtgehen. Aber das Problem waren die Suwaja. Wenn sie die Oase übernähmen, wäre er als Toubou ein Mensch zweiter Klasse. Seine Eltern waren als Kinder noch Nomaden gewesen und waren in Al-Dschauf sesshaft geworden. Toubou galten als rückständig, er war mit Diskriminierungen aufgewachsen. Aber dieser Hass, der sich jetzt gegen seinen Stamm entlud, war ihm neu. Er dachte, diese Zuordnungen wären längst überwunden gewesen, aber die Verhältnisse in der Stadt, wo bisher eher zwischen Arm und Reich unterschieden wurde, hatten sich verändert. Jeder wurde nun zugeordnet. Und er blieb ein Toubou, schwärzer als die anderen Schwarzen, eindeutig erkennbar.

Er beschloss, wieder umzukehren. Ein Paar kam ihm entgegen, die Frau ein schwarzes Gespenst. Die sah man jetzt immer öfter.

Nicht auszudenken, wenn die Gotteskrieger kämen. Unmöglich war es nicht. Terror, Steinigungen, Folter.

Er beschleunigte seinen Schritt. Seine Eltern standen mit Bey auf der Straße. Sie umarmten einander sicher schon zum hundertsten Mal. Er umarmte Bey ein letztes Mal, entschuldigte sich, er müsse ausschlafen. Er ging auf sein Zimmer, wusch sich, legte sich ins duftende Bett. Mutter hatte es frisch überzogen. Er blickte auf die Zimmerdecke, bis ihn die Augen schmerzten.

5

1913, Paris

Paul zog eine kleine Dose hervor und entnahm ihr einen Fingernagel voll Schnupftabak. Er zog ihn ein, wartete, nieste und putzte sich dann die Nase. »Verzeihen Sie, ein Laster. Sie haben sich sicher schon gefragt, wo Sie hier gelandet sind. Ich glaube, ich muss da einiges erklären. Mein Name klingt etwas eigenartig, meine Vorfahren kommen aus Griechenland. Wenn Sie es nicht schon vergessen haben, ich heiße Rodocanachi. Aber nennen Sie mich einfach Paul. Ich bin ebenfalls Jude, wie auch Sie, nehme ich an. Unsere Geschichte ist eine von Vertreibungen. Aber ich rede zu viel. Wie geht es Ihrem Kopf?«

Bertie lächelte. »Ich glaube, es ist nicht so schlimm. Ich werde leicht ohnmächtig. Sie sehen ja, ich bin nicht der Kräftigste.«

»Dann ist es gut.« Paul suchte einen Spucknapf und spuckte hinein. Er warf Bertie einen entschuldigenden Blick zu.

Bertie fühlte einen kleinen Stich im Kopf und lehnte sich in die Pölster des Sofas. »Sie … Sie sagten, Sie sind vertrieben worden? Oder Ihre Vorfahren?«

»Sie sollten sich jetzt schonen«, sagte Paul.

»Sie können mir ruhig erzählen. Ich kann ohnehin nur daliegen und in die Luft starren. Wenn Sie nichts dagegen haben, natürlich.«

Wieder dieses Zucken der Mundwinkel. »Sie haben schon gemerkt, dass ich gerne erzähle. Aber ich warne Sie, ich bin schwer zu bremsen«, sagte Paul und grinste.

Bertie lauschte seinem Gastgeber, als dieser weit ausholte. Pauls warme Stimme kontrastierte eigenartig mit seinem strengen Habitus. Er erzählte, wie seine Vorfahren in den 1820ern von der Insel Chios emigriert waren, gerade noch rechtzeitig, bevor der osmanische Feldherr Kara Ali allen Bewohnern zunächst die Köpfe und von diesen dann die Ohren separat abschneiden ließ. Er schickte alles zusammen an den Sultan, der Köpfe und Ohren dann vor dem Serail aufgespießt zur Schau stellte. Pauls Familie ließ sich in London nieder, wo sie aufgrund der guten Kontakte zu ihrer ehemaligen Heimat ein Import-Export-Unternehmen aufbaute.

»Haben Sie das Bild von Delacroix im Louvre gesehen? Es heißt genau so, das Massaker von Chios. Mein Vater hat es in Auftrag gegeben. Der bärtige Mann, der im Vordergrund liegt, trägt seine Züge …«

Bertie antwortete nicht gleich, vor seinem inneren Auge wirbelten noch blutige Ohren und Türkensäbel durcheinander.

»Ich bedaure«, stotterte er endlich und merkte im selben Moment, dass er niemanden zu bedauern hatte, da Pauls Familie davongekommen war.

Paul räusperte sich. »Ich will Sie nicht langweilen. Wie ich schon sagte, Sie müssen mich bremsen.«

Bertie merkte, wie er errötete.

»Sie werden jetzt sicher nach Hause wollen.«

»Ja, danke, ich denke, es wird schon gehen.« Er stand auf, es schwindelte ihn, er hielt sich an der Armlehne des Sofas fest.

»Was ist mit Ihnen?«, fragte Paul.

»Geht schon, danke. Ich brauche wohl noch ein wenig Zeit. Und ich müsste später telefonieren … mein Hotel … das Pferd. Und in der Bank muss ich Bescheid geben. Aber sonst fühle ich mich, offen gesagt, sehr wohl hier. Für meinen Brummschädel können Sie ja nichts.«

Paul runzelte die Stirn. »Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber vielleicht brauchen Sie noch ein, zwei Tage Erholung. Sie können auch gerne in meinem Haus bleiben. Ich habe mehrere Gästezimmer. Das Telefon ist im Flur.«

Bertie hörte sich selbst das Angebot annehmen und fragte sich, ob es er war, der da redete. Machte er nicht einen Fehler? Er kannte diesen Mann nicht, doch der Raum und die warme Stimme hatten in ihm eine Heimeligkeit aufkommen lassen, die ihm nicht geheuer war und gegen die er sich wehrte. War er schwach und durch luxuriöse Umgebungen leicht verführbar? Wie auch immer, es war in seinem Zustand vernünftig, hierzubleiben und sich eine Nacht auszuschlafen. Jeder würde das tun. Er dürfe nicht immer gleich eine Schwäche wittern. »Im Flur, sagten Sie?«

6

2012, Al-Dschauf, Oase von Koufra, Libyen

Erst als sein Wecker ihn um zwei aus dem Schlaf piepste, stellte er fest, dass er eingeschlafen sein musste. Das Hemd klebte ihm am Brustkorb, sein Atem stank. Die nächsten Kisten warteten irgendwo in der Wüste. Er schälte sich aus dem Bett, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und schlich die Treppe hinunter. Kein Laut im Haus, keiner draußen. Doch, leiser Donner. Kämpfe. Er trabte ein paar Kreuzungen weiter und hörte schon den Dieselmotor. Ein Hilux blubberte um die Ecke.

Bey reichte ihm die Hand und er stieg auf. Der Pick-up steuerte in die pechschwarze Nacht hinaus, dem Grollen entgegen, das immer lauter wurde. Jetzt sah Said auch das Wetterleuchten des Mündungsfeuers der Geschütze. Der Fahrer hielt geradewegs auf die Blitze zu. Said schluckte. Waren die Suwaja schon so nah? Sie fuhren eine halbe Stunde, die Geschütze feuerten immer lauter, das Wetterleuchten wurde immer gespenstischer. Der Wagen hielt plötzlich, ohne dass eine Wegmarke sichtbar war. Said fragte sich immer wieder, wonach sich die Fahrer orientierten. Nach ein paar Minuten hörten sie das vertraute Brummen des anderen Pick-ups. Als er über die Kuppe fuhr, die durch die Blitze für Zehntelsekunden sichtbar wurde, ertönte mit einem Mal ein scharfes Pfeifen. Ein Feuerball grollte auf, wo eben noch das Auto gewesen war, gefolgt von einer noch größeren Explosion, in die sich knatternde Funken mischten. Der Feuerschein flackerte über die Gesichter von Saids Mithelfern.

Er starrte in Richtung Explosion, es schien ihm wie ein Film zu sein. Es knatterte wie aus einem Maschinengewehr. Die Ladung Waffen und Patronen, die sie in Empfang hätten nehmen sollen.

Er spürte das Anlassen des Motors mehr als er es hörte und hielt sich gerade noch rechtzeitig an dem Holm hinter der Fahrerkabine fest. Der Fahrer trat das Gaspedal durch, sodass ein anderer Helfer auf Bey purzelte, der dies mit einem Fluch quittierte. Hinter ihnen wirbelte der Sand in die Höhe, von Blitzen erhellt, als ob jemand fotografierte. Die Reifen verloren kurz den Grip, der Fahrer ging vom Gas und lenkte scharf links ein. Bey krachte gegen Said, der sich noch immer festklammerte, ein Dritter hatte sich auch gefangen, der Vierte fiel auf seinen Hintern und bekam Beys Bein zu fassen. Der Fahrer stieg wieder aufs Gas und trieb das Auto durch die Nacht zurück. Nach zehn Minuten erstarb der Donner mit einem Mal und sie fuhren durch pechschwarze Nacht. Der Vierte – Said kannte die Namen der beiden nicht – wimmerte. Niemand sagte ein Wort.

Am nächsten Tag nahm sich Said nachmittags frei, er hatte noch Überstunden gut und momentan gab es in der Werkstatt nicht viel zu tun. Die herannahenden Kämpfe hatten technische Gebrechen in den Hintergrund treten lassen. Wahrscheinlich würde der Chef selbst am Nachmittag zusperren.

Said rief die Nummer von Beys Zettel an, behob sein Erspartes bis auf hundert Dinar und teilte seinen Eltern die Entscheidung mit. Seine Mutter weinte, sein Vater umarmte ihn. In zwei Tagen sollte ein Platz auf einer Ladefläche für ihn frei sein.

7

1913, Paris

»Wenn Sie wollen, können wir gleich beginnen.« Er saß mit Paul am Frühstückstisch auf der Terrasse und hatte gerade den letzten Schluck des türkischen Kaffees ausgetrunken. Die Kopfschmerzen, die ihn in der Nacht gequält hatten, waren am Morgen wie weggeblasen gewesen. Sein Blick fiel auf den kleinen barocken Garten, der von den zwei Flügeln des Palais flankiert wurde. Die Sonne stand schon hoch, Bertie glaubte eine Lerche singen zu hören. Er sog die Luft durch seine Nase. Es war das Paradies hier, am Rande der Großstadt. Paul fragte ihn nach dem Frühstück, ob er eine Führung durchs Haus geben dürfe.

Bertie bedankte sich. »Ich habe schon bemerkt, Sie haben ihr Heim exquisit ausgestattet. Aber … ich will Sie nicht inkommodieren. Müssen Sie nicht ins Büro? Sie sagten doch, Sie hätten eine Import-Export-Firma.«

Paul lachte. »Nein, nein, mein Vater hatte die. Jetzt betreiben sie meine Cousins. Ich habe dort nie gearbeitet. Ach, verzeihen Sie, Sie wissen ja noch immer nichts von mir. Sehen Sie … ich bin mit achtzehn nach Paris gegangen, um Architektur zu studieren.« Er hob den rechten Zeigefinger und deutete auf die Skizze eines Hauses, die gerahmt an der Wand hing. »Eine Studienarbeit. Ich lege aber Wert darauf zu sagen, dass ich dieses Studium nicht beendet habe. Ich habe es nicht geschafft, die Sache abzuschließen.«

Noch ein Privatier, dachte Bertie. In Paris gab es offenbar noch mehr Leute, die nicht arbeiteten, als in London.

Paul griff sich an das Ende seines Schnurrbartes und zwirbelte herum. »Wie soll ich sagen … die Vorstellung, fertig zu sein, einen bürgerlichen Beruf zu haben, auf ein Metier, eine Profession festgelegt zu sein, sich alles andere zu versagen, die anderen Wege zuzuschütten … es war für mich, je länger ich studierte, immer unmöglicher. Ich habe einfach beschlossen, Dilettant zu bleiben. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen. Ich wäre vielleicht nicht der schlechteste Planer geworden.« Er stand auf und ging voraus, Bertie folgte. Er deutete auf die fünf großformatigen Skizzen im Flur, die gerahmt auf der mit Seidentapeten überzogenen Wand hingen: ein Grund- und ein Aufriss eines bizarren Gebäudes, ein Schnitt des Pantheons in Rom, ein Entwurf für einen Garten und für etwas, das aussah wie ein Tafelservice.

Bertie starrte auf die Bilder. »Diese Skizzen … von Ihnen?« Die Zeichnungen waren akkurat. Er zeigte auf die zwei Skizzen. »Dieses Gebäude hier …?«

»Es existiert nicht, keine Angst.« Paul lachte, indem er ausatmete. »Eine Laune, frei nach Bernini.«

»Und das Service?«

Paul lachte jetzt gelöst. »Nur das Pantheon existiert, wenn es inzwischen nicht zusammengerumpelt ist. Ja, ich habe mich auch mit Gärten und Haushaltsgeräten beschäftigt, vielleicht findet sich einmal ein Gärtner, der so einen Garten anlegt.«

»Ich darf Ihnen ein großes Kompliment machen wie auch mein Bedauern darüber ausdrücken, dass Sie nicht in dieser Profession tätig sind. Das ist großartig.«

Paul winkte ab. »Danke, schön gesagt. Brechen wir auf! Darf ich bitten?«

Paul ging voran und öffnete die Türen, Bertie folgte und kam aus dem Staunen nicht heraus. Hatte er zuerst gedacht, in einem exquisiten, aber langweiligen Louis-quinze-Haus zu sein, merkte er beim Gang durch die Zimmer, die kein Ende zu nehmen schienen, dass jeder noch so kleine Raum in diesem Gebäude exquisit ausgestattet war und einen völlig anderen Charakter aufwies als die übrigen. Die Stimmung in den Räumen ergab sich nicht durch die Stilepochen, aus denen die Kunstwerke stammten, sondern aus den eigenartigen Kombinationen: Bertie sah groteske Tapeten, die mit englischen Blumenmustern korrespondierten, dunkle Winkel, in denen er Regale mit chinesischen Figuren zu erkennen glaubte, dann wieder wandhohe Fensterfronten, die an ein Gewächshaus erinnerten, daneben Butzenscheiben, indische Zapfendecken und Kreuzgewölbe, Empire-Stühle und Art-nouveau-Tischchen, südamerikanische Teppiche und kubistische Ölgemälde. Trotz der offenkundigen Brüche fügten sich die einzelnen Elemente in eins, nichts wirkte geschmacklos oder übertrieben, obwohl ein Mann mit weniger Geschmack in der Kombination derselben Dinge nur zu leicht hätte danebengreifen können. Das Badezimmer wirkte wie ein Salon, erst durch Wegklappen von Tischplatten und Abdeckungen kamen die Becken und Ablagen zum Vorschein. Es gab verschiebbare Bücherregale, Geheimtüren und verborgene Durchreichen.

Paul sprach ohne Punkt und Komma. Er erzählte, wie er das Haus gekauft und erweitern hatte lassen, wie ruhig es hier in Neuilly-sur-Seine sei und was ihm das Leben zwischen Kunstwerken bedeute. Er erzählte von präkolumbianischen Kulturen und zog eine Verbindung zu den surrealistischen Künstlern, er pries die Vorzüge des schwarzfigurigen Stils antiker Vasen und verdammte im nächsten Moment barocken Nippes. Bertie sog die Worte auf wie ein Durstiger, der nicht geahnt hatte, wie groß sein Durst war. Er schwitzte. Er fühlte, dass er schon rot angelaufen sein musste, das Hemd klebte am Leib. Das ist es!, schoss ihm durch den Kopf. So leben! Umgeben von erlesenen Dingen, den Blick auf die Geschichte, aber zugleich auf die Kunst der Gegenwart gerichtet. Keine Ablenkungen durch angebliche Experten. Keine billigen Kompromisse mit künstlerischen Moden. Ein solches Haus einrichten! Genau so! Er blickte aus dem Fenster, einen Kloß im Hals.

»Haben Sie etwas gesagt? Genau so?«

Bertie erschrak. Hatte er den letzten Gedanken laut ausgesprochen?

»Es ist nur … so möchte ich auch leben«, stammelte er und kam sich wieder unendlich dumm vor.

»Und warum leben Sie nicht so?«

8

2012, Al-Dschauf, Oase von Koufra, Libyen

»Nimmst du dein Handy nicht mit? Es liegt noch unten.« Aus dem Gesicht seines Vaters funkelten zwei dunkle Augen. Er wirkte schlaff. Er altert jetzt so schnell, dachte Said. »Nein, ich nehme das alte. Das neue nehmen sie mir sofort ab. Die Akkus halten auch länger.«

»Ach ja, das Essen ist fertig. Mutter wartet.« Der Vater drehte sich auf der Schwelle um und ging Stufe um Stufe hinunter. Said zögerte. Mein letztes Essen hier, schoss ihm durch den Kopf. Er kämpfte die Tränen, oder zumindest den Anflug davon, nieder. Das Handy würde er brauchen, um Chan oder Bey zu kontaktieren. Er war am Nachmittag in Suzy’s Café gewesen und seinen Facebook-Account gecheckt. Es war keine Nachricht von Chan oder Bey dabei gewesen, der eine war vielleicht noch in einem Auffanglager, der andere vielleicht noch in Afrika.

Er ging die Betontreppe hinunter in den Hauptraum und spürte die Blicke seiner Eltern und seiner beiden jüngeren Brüder Achmed und Paulos, die schon um den Tisch saßen. Das Schweigen bedrückte ihn. Er versuchte zu lächeln. Die Mutter hatte das Huhn mit Reis gemacht, das ihm so gut schmeckte. Er setzte sich, der Vater murmelte ein Gebet zu den Ahnen. Während des Essens tauschten sie belanglose Neuigkeiten aus. In den Nachrichten war wieder von Gotteskriegern die Rede gewesen. Und wieder war ein Boot im Hafen von Tripolis abgefangen worden. Nach dem Essen holte der Vater die versilberten Becher aus dem mit Schnitzereien verzierten Mangoholzschrank und schenkte allen einen Schluck ein. Sie blickten einander an. Said löste sich und stürzte den Becher hinunter, wie es der Brauch wollte. Der Vater nahm die Flasche, stand auf und ging zur Tür. Er drehte sie um und ließ die Neige, die noch darin war, auf die Schwelle laufen. Die Flüssigkeit versickerte in den breiten, porösen Fugen des Fliesenbodens und färbte sie braunrot. »Die Tür steht dir immer offen.«

Said merkte, dass sein Blick verschwamm. Einige Male hatte er den Brauch schon miterlebt, nun betraf er ihn. Er fühlte den Kloß im Hals und brachte nur ein glucksendes »Ich werde jetzt schlafen gehen, ich muss früh raus« hervor. Wie er es auch an gewöhnlichen Tagen sagte. Er legte sein Gewand für den nächsten Morgen auf dem Sessel zurecht. Er würde den Anorak nehmen, in Europa konnte es am Tag so kalt sein wie hier nachts. An Schlaf war wieder kaum zu denken.

Als er die Ladefläche des Pick-ups bestieg, war es noch dunkel. Geld bar auf die Hand, dann rauf. Er war jetzt schon froh, dass er warm angezogen war. Wer weiß, wie viele Nächte sie unterwegs sein würden. Auf der Ladefläche kauerten drei Menschenbündel, eingehüllt in Plastikplanen. Sie rührten sich nicht. Er stellte seine Tasche auf die Ladefläche und setzte sich zu ihnen. Der Fahrer wartete mit laufendem Motor und fluchte. Nach zwanzig Minuten keuchten zwei Männer um die Ecke, auch sie eingepackt in dicke Jacken. Überdimensionale Rucksäcke schienen sie zu erdrücken. Der Fahrer zischte sie an, Said verstand die Worte nicht. Sie durften erst aufsteigen, nachdem sie Strafgeld gezahlt hatten.

Der Wagen fuhr an. Die vertraute Wüstenkälte. Ein paar letzte Sterne blinkten am grauen Himmel. Sie fuhren nach Norden, es war die einzige Straße, die aus der Oase wegführte. Said war sie nicht oft gefahren. Eine Woche Fahrt war vereinbart, aber wer konnte das mit Sicherheit sagen? Der Pickup rumpelte über ein Schlagloch. Er hörte die beiden Jungen, vielleicht Anfang zwanzig, neben sich stöhnen. Wahrscheinlich Leute aus dem Niger. Der dritte schlief offenbar noch. Said sprach sie auf Französisch an.

Sein Nebenmann räusperte sich und spuckte über die Bordwand.

»Ja, Niger. Viel erlebt, da kannst du sicher sein.«

Said versicherte, dass dieser Fahrer ein guter Tipp war.

»Na hoffentlich«, meinte der andere. »Wir hatten schon einen Typen, der uns mitten in der Wüste ausgelassen hat. Kein Witz. Du gehst stundenlang, dann tauchen endlich Leute auf, aber es sind Banditen, die dich so lange verprügeln, bis sie dein Geld finden, auch wenn du es in die Unterhose eingenäht hast.«

Said schluckte. Er hatte schon viele Geschichten gehört, aber keine aus erster Hand. Er würde sich darauf einstellen müssen, viel Unangenehmes erzählt zu bekommen.

»Wie lange seid ihr schon unterwegs?«

Der Junge musterte ihn mit alten Augen. »Du bist von hier. Hast verdammtes Glück, nur eine Grenze. Du hast ja keine Ahnung. Du hast keine Ahnung.« Sein Kopf sackte nach unten.

Der Pick-up bockte, der Fahrer hatte sich wohl verschaltet.

Said dachte eben, dass der Junge nichts mehr sagen würde, als er wieder zu sprechen begann. Er schien nach jedem Wort zu suchen.

»Wir sind schon einen Monat unterwegs, quer durch die Wüste, und fast das ganze Geld ist weg. Immer passieren solche Sachen. Es gibt sogar Polizisten, die sagen, sie wollen dich kontrollieren. Du musst absteigen, dann lassen sie dich für ein paar Dollar laufen. Mitten in der Wüste. Das Auto ist natürlich weg.«

Der Junge lachte auf. Auch sein Lachen klang alt. »Du verlierst den Anschluss an die Gruppe, verstehst du? Der Polizist steigt in seinen Jeep und fährt weg. Du stehst mitten auf der Landstraße oder in einem Dorf und weißt nicht, wie es weitergeht. Wir sind wenigstens zusammengeblieben.«

Er atmete laut aus und deutete auf seinen Nebenmann.

»Seyni, mein Bruder. Ich bin Mahmadou. Den anderen kenne ich auch nicht.«

Said stellte sich vor. Seyni fiel ihm ins Wort.

»Zweimal sind wir so gestrandet. Verdammte Scheiße, du musst dann alles wieder von vorne organisieren, verstehst du?« Alte Augen.

Said nickte. Was ging ihn das an? Dieser Seyni drückte seine Stimmung und fütterte seine Ängste.

»Zuletzt waren wir drei Tage auf einem Pick-up ohne hintere Bordwand, du kannst jederzeit runterfallen. Jeden Tag eine Panne, mitten in der Wüste. Wasser rationiert auf zwanzig Liter pro Person. Der Fahrer musste dauernd Vollgas geben, damit er nicht einsackt. Ist aber trotzdem passiert. Dann kannst du schieben und du weißt, es gibt heute kein Wasser mehr …«

Es schien, als ob er noch etwas sagen wollte. Er blickte ein paar Sekunden vor sich hin und drehte sich dann zu seinem Bruder. Die anderen schienen zu schlafen.

Said schloss die Augen und kauerte sich zusammen. Er erinnerte sich an die Bedingungen, die der Mann am Telefon genannt hatte: acht Tage Fahrt, Übernachtung auf der Pritsche in Schlafsäcken, Verpflegung durch Fastfood. WC und Waschgelegenheit in der Natur oder an einer Tankstelle. Allinclusive-Preis.

Ich werde es schaffen, dachte Said, ich bin erst gestartet. Ich habe noch Kraft. Die tunesische Grenze ist das letzte wirkliche Hindernis. Dann gibt es nur noch das Meer.

Der Pick-up fuhr durch eine Siedlung, die Staubwolke war hier kleiner. Die Sonne würde bald aufgehen.

9

1913, Paris

»Also: Warum nicht?«

»Bitte?«

»Warum leben Sie nicht so?«

Sie saßen inzwischen wieder im Salon bei einem Aperitif. Bertie merkte, wie ihm der Alkohol sofort zu Kopf stieg.

»Mein Vater«, entfuhr es ihm. Er stoppte. Er war dabei, einem wildfremden Menschen private Dinge zu erzählen.

Paul lächelte. »Lassen Sie mich raten. Ihr Vater will, dass Sie etwas Ordentliches machen. Bankgeschäfte wahrscheinlich. Sie haben gestern in einer Bank angerufen.«

Bertie ärgerte sich, wie leicht er zu durchschauen war.

»Mein Vater … ja, er hat eine Bank, eigentlich eine Vermögensverwaltung. In London und auch hier in Paris.«

Paul hob die Augenbrauen. »Hört sich interessant an. Ein deutscher Jude aus Brasilien, der eine Bank in London besitzt.«

»Ach, Brasilien. Ich habe Ihnen schon gesagt, ich bin nur dort geboren. Und mein Vater war auch nur ein paar Jahre dort. Ich kenne das Land eigentlich gar nicht, obwohl ich einige Sommerferien dort verbracht habe. Brasilien … das ist doch kein Land, keine Nation. Niemand fühlt sich dort als Brasilianer. Die Deutschen haben ihre eigenen Stadtviertel oder sogar Städte, ihre Vereine, und die Italiener oder Portugiesen ebenso. Die eigene Kultur dort ist die der Indianer.«

Paul schenkte ins leere Sherryglas nach. Bertie blickte das Glas an. Er musste langsamer trinken.

»Erzählen Sie doch ein wenig von sich. Ich möchte nicht indiskret sein, aber warum ist Ihr Vater überhaupt ausgewandert, wenn er doch wieder in Europa ist?«

Bertie räusperte sich. Er spürte, wie der Alkohol gerade dabei war, seine Zunge zu lösen.

»Hm. Mein Vater … ich denke, der konnte dort schneller Geld machen. Er ist von Deutschland so enttäuscht gewesen.«

Bertie dachte an das handkolorierte Bild, das seinen Vater in grauer Uniform der preußischen Ulanen auf einem Pferd zeigte, einen kurzen, krummen Säbel in der Hand, ein schwarz-weißer Wimpel wehte von einer Rute, die irgendwie im Sattel steckte.

Sein Vater. Was wusste er schon von seinem Vater?

10

2012, Al-Mahdiyah, Tunesien

Die Boxershorts drückten am Bund, als er sich hinlegte. Die Hundert-Euro-Scheine waren noch da, wo er sie selbst mit ein paar Stichen eingenäht hatte. Das Nachtasten war ihm zur Routinebewegung geworden, bevor er sich in Unterwäsche schlafen legte. Für seine Flucht hatte er seine gesamten Ersparnisse aufgewendet und genau kalkuliert, zwei, drei Notgroschen mit eingerechnet. Die eiserne Reserve steckte in den Schuhen, im Gürtel und in den Boxershorts, das andere Geld trug er wie die anderen in einem Lederfutteral um den Hals. Das All-inclusive-Angebot hatte sich bald als Lüge herausgestellt. Seit drei Wochen saßen sie hier fest und jeden Tag kassierte der Kapo die Tagesmiete für das Quartier, wer weiß, wie lange das Warten noch dauern würde. Wenn die Überfahrt scheiterte, würde es zusätzlich kosten. Schließlich würde er ein neues Handy oder wenigstens eine SIM-Karte brauchen. Gott sei Dank konnte er hier wenigstens laden.

Er drehte sich auf die Seite und blickte in den Raum. Obwohl die Jalousie geschlossen war, strahlte durch die Löcher der Fadenperforation das Licht der Hafenanlagen herein. Die anderen waren noch nicht da, rauchten wahrscheinlich noch vor der Tür und starrten auf das Meer. Eigentlich sollte er ihre Stimmen hören, aber irgendein Transformator brummte hinter dem Gebäude, der zum Dauergeräusch geworden war. Er fragte sich, warum er sich niedergelegt hatte. Die Müdigkeit war weg. Er umfasste mit seiner Rechten das Stahlrohr des Stockbetts und spürte der Kühle nach. Wenigstens ein stabiles Bett in einem richtigen Zimmer. Es war ursprünglich wohl ein Dreibettzimmer gewesen, jetzt standen hier vier Stockbetten, dazwischen ein paar zerbeulte Blechspinde. Im Haus gab es vier solche Räume. Er deckte sich ab, setzte sich auf und ließ die Beine baumeln. Lichtpunkte fielen auf das Bettgestell gegenüber. Die Besetzung des Zimmers wechselte fast jeden Tag. Mal sehen. Mohammed, darunter Ben, dann Kimberley mit der Narbe auf der Wange, darunter Lansana, dann Charles und Ensor. Den Namen des Senegalesen, der unter ihm lag und immer erst kurz vor Mitternacht zurückkehrte, hatte er nie erfahren. Sie redeten nicht viel. Und trotzdem hatten die drei Wochen gereicht, um immer wieder dieselben Geschichten zu hören. Ben und Kimberley kamen aus dem Kongo und hatten in jedem Land, durch das sie reisten, einen anderen Pass auftreiben müssen, ohne Pass gab es nicht einmal eine Fahrkarte am Bahnschalter. Mohammed war in Camps verprügelt und ausgeraubt worden. Er erzählte von Ghettopräsidenten, wie er sie nannte, die in diesen Lagern wie Könige regierten. Andere erzählten von Minen, in denen sie Zwangsarbeit hatten leisten müssen und Landstrichen, in denen Banden herrschten.

Said erzählte nichts. Was waren fünf Nächte auf der Pritsche des Pick-ups, drei Nächte im Palmenwald und eine auf der Müllhalde gegen diese monatelangen Qualen. Er glaubte, eine leise Verachtung der anderen dafür zu spüren, dass er bisher so verschont worden war.

Er sprang vom Bett und zog sich Hose, T-Shirt und Schuhe an.

Vor der Tür stand zu seiner Überraschung niemand, sie mussten woanders rauchen. Er blickte die Küste entlang. Links glommen die Lichter von Al-Mahdiyah. Sie waren bei der Ankunft schnell durchgefahren. Said hatte noch nie so gepflegte Häuser und ordentliche Straßen gesehen, weiter im Norden zeichneten sich die Konturen von Hotelburgen ab. Ihm wurde mit einem Mal bewusst, was für ein wohlhabendes Land Tunesien war.

Auch die Grenze war kein Hindernis gewesen. Sie überschritten sie am helllichten Tag an einem offiziellen Grenzübergang. Der Beamte bekam einen Umschlag, mit dessen Inhalt er sehr zufrieden war.

Er blickte in die andere Richtung, aus der er Stimmen hörte. Hier musste einmal ein Hafen gewesen sein. Weiter unten standen Bagger und Lkw. Bald würden auch hier Hotels stehen. Das Haus, in dem sie jetzt untergebracht waren, würde bald weggeschoben werden. Die Gruppe näherte sich, sie sprachen gedämpft. Said blickte ihnen entgegen, sie nickten ihm nur zu und gingen an ihm vorbei.

Sein Blick blieb an Kimberleys Narbe hängen. Er dachte an zu Hause. Ob der Krieg inzwischen die Oase erreicht hatte? Ob es Verwundete, Tote gab?

Er ging ins Haus zurück, zog sich aus und kletterte die Leiter hoch. Wieder tastete er seine Geldverstecke ab. Alles noch da. Schön, wenn jemand es schafft, so schnell einzuschlafen. Ensor gegenüber schnarchte.

War es feig gewesen wegzulaufen? Ob die Eltern wohlauf waren? Er würde sie morgen kurz anrufen, auch wenn jede Minute wieder Geld kostete.

Er atmete tief durch.

Ich habe das Richtige getan, dachte er sich, während er die Decke über sich zog. Er schlief bald ein. Das Rumpeln mitten in der Nacht hörte er nicht.

11

»Ich bin Cheik. Seltsam, dass wir uns in Al-Dschauf nie getroffen haben. Wie lange bist du schon hier?«

Said musterte den kleinen Mann mit seinem gelb-blauen Hemd, der in der Früh aus dem Bett gegenüber stieg, in das sich Mohammed am Vorabend gelegt hatte. Said hatte schon einmal in den drei Wochen erlebt, dass in der Nacht Leute verschwunden waren. Waren sie abgehauen? Oder bevorzugt worden? Nur nicht nachdenken.

»Said. Einer meiner Cousins heißt auch Cheik. Er … er hat’s schon hinter sich.«

Cheik sah ihn fragend an.

»Er ist schon in Europa. Vor einem Monat aufgebrochen. Frankreich.«

Cheik nickte und bleckte die Zähne.

»Wir werden es auch schaffen, du wirst sehen!«

Sie gingen in den Waschraum und putzten sich die Zähne.

Dann standen sie vor dem Haus. Aus dem Waschraum hörte man das Murmeln einiger Männer, dann das Plätschern des Wassers. Der Transformator war seltsamerweise still.

»Drei Wochen.«

»Bitte?«

»Du hast vorher gefragt, wie lange ich schon da bin. Zuerst hieß es ein paar Tage. Und jeder Tag kostet.«

Said lehnte sich an die bröckelnde Mauer, Cheik setzte sich auf einen erodierten Betonbrocken, der vielleicht einmal das Fundament für einen Kran gewesen war.

»Niemand weiß, wann er dran ist. Aber Maurice ist ein guter Chairman. Er hat noch alle hinübergebracht, sagen sie. Angeblich keine Ausfälle.«

Said versuchte, routiniert zu wirken, so als wüsste er noch viel mehr, würde sich aber aufs Notwendigste beschränken. Doch er hatte schon alles gesagt, was er wusste. Informationen waren rar, sie sollten warten, hieß es jeden Tag.

Auf der anderen Seite des Hauses grummelte ein Dieselmotor und erstarb. Stimmen bellten Befehle. Cheik sprang auf. Said machte eine beschwichtigende Geste.

»Das hört sich nach Neuen an. Jeden zweiten Tag kommt eine neue Ladung. Ich weiß nicht, wo die alle schlafen werden.« Er stieß sich von der Mauer ab und deutete Cheik an, mitzukommen. »Du solltest dich auf dein Bett setzen oder legen, sonst bist du es los.« Sie kamen ins Zimmer, in dem fast jeder schon auf seinem Bett saß. Einer fehlte. Cheik legte sich auf das Bett, über das er in der Nacht zuvor seinen Schlafsack gebreitet hatte.

Said blickte zu ihm hinüber, beide im ersten Stock. Die Stimmen wurden lauter. Fremde Wörter wurden gerufen.

»Ich habe hier in drei Wochen so viele Sprachen gehört wie in meinem gesamten bisherigen Leben noch nicht«, sagte Said zu Cheik hinüber. In diesem Moment war ihm egal, was die anderen dachten. Cheik grunzte nur.

Charles, der Algerier mit dem schiefen Mund, der seit zwei Tagen über Ensor schlief, stürzte herein und wuchtete sich aufs Bett. Er fluchte.

Der Lärm draußen legte sich. Ein Kapo lugte herein und sah sie auf ihren Betten sitzen. »Alles voll hier«, brummte er und ging weiter.

Sie hörten, wie die Neuankömmlinge wieder auf den Pickup verladen wurden und abfuhren. Sie würden zum nächsten Quartier fahren, die Ruine eines Lagerhauses weiter unten am Strand.

Die Stimmung entspannte sich.

»Was ist los mit dir, Charles?«

Das war Ensor unter ihm.

»Jemand hat das gesamte Klo vollgekotzt. Wieder einmal wischt das niemand auf.« Er blickte auf Cheik. »Warst du das? Verdammte Nomaden, ihr seid hier nicht in der Wüste.«

Er sprang vom Bett herunter und sah zu Cheik hinauf, was unfreiwillig komisch aussah, da er versuchte, wie ein Anführer zu wirken. Er grinste verzerrt. »Hat dir Said schon die Regeln erklärt? Erste Regel: Der zuletzt kommt, ist auch der Letzte hier, der was zu sagen hat. Du bist heute gekommen, also bist du das. Regel zwei: keine Tricks. Keiner von uns ist abgehauen, weil es ihm so gut ging. Wer hier klaut, kommt nie nach Europa. Regel drei: Wasser ist beschränkt, also spare es. Wer früher aufsteht, hat warmes Wasser.«

Das ist meist nur einer, dachte Said.

»Regel vier: Pass auf die Schwulen im Bad auf, sonst hast du einen Schwanz im Arsch.«

Die anderen lachten, Charles machte kehrt und verließ wie ein Feldwebel das Zimmer. Das Lachen erinnerte Said an das Japsen eines Hunderudels.

Er blickte zu Cheik. »Du musst nicht alles ernst nehmen. Du wirst ihn noch kennenlernen.«

Cheik nickte.

Nach und nach setzten sich alle um den Tisch.

»Habt ihr gehört?«, fragte Ben. »Gestern ist wieder ein Boot von hier nach Lampedusa durchgekommen. Hab’s vorhin aufgeschnappt.«

Ensor sprang auf und lief hinaus.