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Für diese Vorstellung haben die Zirkusleute sich etwas Besonderes einfallen lassen. Die Gäste werden eine Show erleben, wie sie sie nie erlebt haben – und nie wieder erleben werden. Mit jeder atemberaubenden Nummer wird das Grauen größer und die Wahrscheinlichkeit, das nächste Opfer zu sein, steigt dramatisch an. Manege frei!
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Seitenzahl: 258
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Die Dame hinter der zerkratzten Glasscheibe trug eine dicke Daunenjacke, Fingerhandschuhe mit ausgefransten Kuppen und eine selbstgestrickte Wollmütze in verblichenen Neonfarben über dem struppigen grauen Haar. Durch ihre Hornbrille schaute sie mit kleinen Augen und versteckte dabei mühsam ein Gähnen in dem dicken Wollschal. „Wir sind ausverkauft.“ Ihre behäbige Stimme zog sich wie die schmierige Schleimspur einer Schnecke. „Bis auf einen Platz in der ersten Kategorie. Einen Hunni, die Karte.“
Ein schneidend kalter Wind fuhr Helen unter den kurzen Mantel und überwand den Wollpulli spielend. Ihre Bauchdecke fror ein und der Kaffee, den sie vorhin zur Hälfte getrunken hatte, verwandelte sich in ein Kaltgetränk. „Gesalzener Preis.“ Helen Jäger schaute hinter sich. Niemand außer ihr stand vor den Kassen. Nicht einmal hartgesottene Raucher harrten in der schneidenden Kälte aus. In der Parkbucht stand ein Leichenwagen, dessen Fahrer mit dem Handy telefonierte. „Gibt es Rabatt, weil ich die letzte bin?“ Sie lauschte ins Innere des Zirkusbaus. Musik war zu hören, Stimmen und Klatschen, fröhliche Ausgelassenheit. „Offenbar kommt niemand mehr.“
„Sieht so aus.“ Die alte Dame begann das halb zerfetzte Rollo in die andere Richtung zu drehen. Der Saum bewegte sich nach unten.
„Wollen Sie nun oder wollen Sie nicht? Wenn gnädige Frau sich entschieden haben, bin ich drinnen nämlich mit dem Bauchladen voller Konfekt dran.“
Eine weitere eiskalte Windbö machte Helen die Entscheidung leicht.
„Nehmen Sie Kreditkarte?“
„Selbstverständlich.“ Die Dame unterbrach das Kurbeln am Rollo und klebte ein verblichenes Ausverkauft-Schild vorne an die Scheibe. Sie schlüpfte aus dem rechten Handschuh, holte mit ihren faltigen Fingern die Kreditkarte durch den schmalen Spalt unterm Glas, hielt die Karte ans Lesegerät und schob Karte und Beleg zurück.
Helen machte eine wenig deutliche Unterschrift, nahm ihre Sachen und betrat das Gebäude durch die einzige Tür, die einen Spalt weit geöffnet war. In der angenehmen Wärme des Vorbaus nestelte sie ihre Kreditkarte zurück ins Portmonee. Um ihre Füße pfiff die eisige Luft durch die Tür, die sich nur langsam schloss. Ein Grüppchen junger Männer stand am Rand, die Hände tief in den Taschen. Einer drehte sich eine Zigarette.
Einem Kontrolleur in roter Uniform hielt sie ihre Eintrittskarte hin. Er nahm sie zwischen seine langen Finger und blickte darauf. „Für einen Moment fürchtete ich, die letzte Karte bliebe übrig.“ Er zeigte auf eine halb im Dunkeln liegende Treppe. „Gehen Sie hier hoch. Ihr Platz ist auf der linken Seite. Sie haben die beste Sicht auf die allerbeste Show.“
„Danke.“
„Wenn Sie Popcorn wollen“, fuhr er fort, „jetzt steht grad keiner an.“
Helen knöpfte ihren Mantel oben herum ein wenig auf. Der dunkelgrüne Wollmantel war für trockene Herbsttage geeignet oder einen leichten Frühling, der gestern in den Startlöchern gestanden hatte, sich heute aber nicht blicken ließ. Es war ihr Lieblingsmantel, nach dem sie griff, als sie überstürzt das Haus verließ. Er war dem stürmischen Tief aus dem Osten, das arktische Temperaturen mit sich brachte, nicht annähernd gewachsen.
Sie las das handgeschriebene Schild neben dem Verkaufsfenster. Die Preise fürs Popcorn und anderen Süßkram waren ebenso saftig wie der für die Eintrittskarte. Auch die Getränke waren deutlich teurer als in einem üblichen Restaurant. Sie warf einen langen Blick auf ihre Eintrittskarte und schob sie in die Manteltasche. Wahrscheinlich würde sie sie später ein zweites Mal herzeigen müssen. „Bei Mindestlohn“, murmelte sie, „muss man dafür ganz schön buckeln.“
Seine dunklen Augen blieben völlig ernst. „Leider sind nur wenige Karten teure Karten. Die meisten Leute sitzen auf billigen Plätzen und mit deren Eintrittsgeld lässt sich gerade mal der Betrieb am Laufen halten. Da ist für den Elefanten keine Banane extra drin.“
Helen stutzte. „Laut Ihrer Infotafel haben Sie keine Elefanten.“
„Das ist Ihnen aufgefallen? Den wenigsten Besuchern fällt das auf.“ Er streckte den Arm und sie erkannte an den goldenen Knöpfen seiner Uniform matte Stellen. „Wenn Sie Ihren Mantel abgeben wollen… Im Untergeschoss ist die Garderobe. Absolut zuverlässig, absolut vertrauenswürdig. Versuchen Sie es, lassen Sie Geld in der Tasche. Es wird nachher noch drin sein.“
„Danke.“ Helen öffnete alle Knöpfe. „Habe ich Zeit dafür oder komme ich zur Vorstellung zu spät? Ich platze nicht gern in die Eröffnungsrede.“ Diesmal huschte ein Lächeln über sein Gesicht. „Sie haben sieben Minuten. Das dürfte reichen.“
„Sieben Minuten?“ Helen erwiderte sein Lächeln. „In sieben Minuten wirke ich Wunder.“
„Das wäre schön“, sagte er und sie wusste nicht recht, worauf er sich bezog. Auf sie? Nun, Helen hatte nicht übertrieben. In sieben Minuten richtete sie ein Pausenbrot her, zwang ihre verschlafene Tochter in Alltagskleidung, sammelte die Schulsachen zusammen und prüfte, ob das Wetter nach Winterjacke oder Sommersandalen ausschaute. Nebenher machte sie sich einen Cappuccino, biss zweimal von einer Banane ab und fand heraus, ob während der Nacht wichtige E-Mails gekommen waren, die sie gleich nach ihrer Ankunft im Büro bearbeiten musste. Mantel abgeben und Popcorn besorgen – das war ein Kinderspiel in sieben Minuten, besonders, da die Garderobenfrau völlig allein hinter ihrem Tisch stand und an den Haken nur wenige Jacken hingen.
„Da wird die andere Garderobe überfüllt sein“, mutmaßte Helen.
Die pummelige Garderobenfrau hielt bereits einen Kleiderbügel in der Hand. „Es gibt nur diese eine Garderobe.“ Sie nahm den Mantel, legte ihn über den Bügel und klemmte oben am Griff eine Wäscheklammer fest.
„Tatsächlich?“ Helen öffnete ihre Handtasche und holte das Portmonee hervor. „Es wird ja nicht jeder im leichten Mäntelchen wie ich ankommen. Was machen die Leute mit ihren dicken Wintersachen? Hocken die darauf?“
„Ja.“
„Meine Güte.“
Die Garderobenfrau reichte Helen einen Papierabschnitt mit Nummer darauf. „Garderobe kostet vier Euro, die sich prima sparen lassen.“
Helen nahm den Abschnitt an sich. „Die Reinigung, die die Knitterfalten meines Hinterns aus dem Mantel dämpft, kostet neun Euro.“
Die Frau holte ein sichtbar mehrmals benutztes Stofftaschentuch aus ihrem Ärmel und wischte sich die Nase. „Dabei ist Ihr Hintern nicht mal für einen Seidenschal eine Gefahr. Glauben Sie mir, von den viertausendachtundfünfzig Leuten, die in den Bau passen, geben nur wenige ihre Anziehsachen ab. Ihr Mantel ist heute das hundertste Teil.“ Helen schaute auf das Stück Papier in ihrer Hand. Eins-null-null stand auf dem Abriss. „Macht vierhundert Euro für Sie.“
Das Stofftaschentuch verschwand wieder im Ärmel. „Wenn ich dem Boss das Geld hinlege, packt er es in die Kaffeekasse. Für besonders schlechte Zeiten. Oder er bezahlt damit den Klopapiereinkauf für den nächsten Monat. Je nachdem.“
Helen schaute auf ihre Armbanduhr. Fünf Minuten. „Ich muss los“, lächelte sie. „Popcorn kaufen, bevor die Vorstellung beginnt.“
„Die kleine Packung reicht“, meinte die Garderobenfrau. „Es schmeckt nicht besonders gut.“
„Popcorn?“, runzelte die blondlockige Verkäuferin mit dem bisher breit gehaltenen Lächeln hinter dem Süßigkeitenstand die Stirn. Sie hatte eine Narbe an der Wange, die zu breit war, um sie mit Make-up zu überdecken. „Sie sehen eher nach Eiskonfekt aus.“
„Draußen hat es fast zwanzig Grad unter null“, gab Helen zu bedenken.
„Im Moment ist mir das eisig genug.“
„Wie wäre es mit Schokofrüchten?“, schlug die Verkäuferin vor und dabei fand sie ihr breites Lächeln wieder. Makellose Zähne blitzten, am vorderen linken Eckzahn trug sie ein Glitzersteinchen. „Popcorn passt nicht zu Ihnen.“
Helen suchte in den stahlgrauen Augen, woran die Verkäuferin die Vorliebe für Naschwerk ablas. An der Nase? An den Hüften? „Im Grunde“, sagte Helen, „mag ich Schokolade sehr viel lieber. Eiskonfekt auch.“ Sie hatte die Hände mit den beiden Münzen auf dem Tresen liegen und klapperte mit dem Geld. „Meine Tochter isst viel lieber Popcorn.“
„Verstehe“, lächelte die Verkäuferin unverwandt. „Wartet Ihre Tochter am Platz?“
„Sie ist daheim.“ Helen drückte den flachen Rand der Münze unter ihren Daumennagel, bis es wehtat. „Daheim bei ihrem Vater.“ In Gedanken sah sie die beiden am Tisch sitzen. Pheme fluchte und murrte angesichts der Vokabeln, die sie lernen sollte, Bernhard knirschte mit den Zähnen. Wenn er seine Finger nach den Karteikarten streckte, zischte Pheme die schlimmeren Flüche und schickte hinterher: „Bring mich nicht durcheinander!“
„Ich will nur schauen.“ Bernhards Hand schwebte über den gestapelten Kärtchen. „Ich hatte nie Latein.“
„Ja!“, giftete Pheme. „Deshalb mache ich das alleine. Nimm die Finger weg.“
Bernhard zog die Hand langsam zurück. „Mich interessiert, was du machst.“
In diesem Moment rollte Pheme immer die Augen. „Ich gehe in mein Zimmer und lerne dort weiter. Das ist hier echt nicht gemütlich.“
Wenn die Tür ins Schloss gedrückt wurde, ließ Bernhard ein tiefes Seufzen hören. „Im Sommer habe ich sie jeden Tag mit den Kärtchen abgefragt, jetzt scheint es das schlimmste Verbrechen aller Zeiten zu sein.“
Der pubertierende Teenager war genauso weit weg wie der ratlose Ehemann. „Sie haben recht. Die Schokofrüchte, bitte.“
„Banane-Erdbeere oder Weintraube-Ananas?“
„Beides.“ Sie schmulte auf die Uhr. Drei Minuten. Hinter sich hörte sie Leute gehen, reden, lachen. Sie warf einen Blick über die Schulter.
Einige kamen oder gingen Richtung Toilette.
„Bewahren Sie die Ruhe, von denen hat es schließlich auch keiner eilig.“ Die Verkäuferin packte mit einer Zange Schokofrüchte in Papiertüten. „Jeden Moment klingelt von irgendwem das Smartphone und er brüllt, er könne nicht telefonieren, weil die Vorstellung gleich losgehe. Oder ein Geschäftsmann schreit seinen nächsten Businessplan ins Gerät. Ach, das wird mir fehlen.“
Helen hatte die Münzen weggepackt und legte einen Schein auf den Tresen. „Warum fehlen? Hören Sie hier auf?“
Ein Schrecken huschte über ihr Gesicht, bevor das höfliche Lächeln die Oberhand gewann. „Na, die Anrufe werden von den Kurznachrichten abgelöst, die sich alle schreiben. Nur kurz antworten, schnell ein Selfie schicken, rasch ein Update posten. Die Gespräche am Telefon werden deutlich weniger. Wenn überhaupt, bekomme ich Sprachnachrichten zu hören. Einbahnstraße. Nur Absender, Sie verstehen?“
In ihrem Hinterkopf begann die Uhr zu ticken. Sie kam wirklich sehr ungern zu spät und schon gar nicht aus banalen Gründen wie Schokofrüchten. Helen nahm die Papiertüten hoch und schob das Geld zu der Verkäuferin. „Behalten Sie den Rest.“
Sie erreichte ihren Platz wenig später. Wenn sie gedacht hatte, sie wäre die letzte und alle würden auf sie gucken, war sie deutlich auf dem Holzweg. Es herrschte stetes Kommen und Gehen, Tumult, Geplapper, laute Stimmen. In der Manege zerrten Requisiteure an einem großen roten Teppich, das Orchester hatte Platz genommen und die Instrumente gaben ziemlich schräge Töne von sich. Eine Trompete spielte die Tonleiter rauf und runter. Immer wieder.
Sie hatte ihren Platz ganz links außen, also umrundete sie den Sitzblock und kam von der anderen Seite. Leise setzte sie sich und stellte ihre Handtasche zwischen die Füße, wie sie es immer tat. Der Frau neben sich lächelte sie einen Gruß zu.
Diese Frau überschlug die Beine, strich sich das schwarze schulterlange Haar aus der Stirn und steckte eine Strähne hinterm Ohr fest. „Hey“, wisperte sie, „warum sind Sie von hinten gekommen, anstatt die ganze Sitzreihe aufzuscheuchen?“
„Na“, flüsterte Helen zurück, „es gehört sich so.“
Die junge Frau machte eine anerkennende Bewegung mit den Lippen und ließ gleichzeitig den Blick gen oben wandern. „Selbst die alte Schachtel mit ihrem Enkel, drei Reihen hinterhalb, hat mich vom Sitz gejagt. Obwohl ich ihr sagte, sie hätte die falsche Reihe erwischt. Steht ja deutlich außen am Sessel.“
„Nun“, wisperte Helen, „sie hat ihr Missgeschick sicherlich mit tausend Entschuldigungen eingesehen.“ Vorsichtig kippte sie alle Schokofrüchte in eine Tüte, damit sie nicht auf zwei Dinge aufzupassen hatte. Sie knüllte die übrige Tüte zusammen und schob sie in die Seitentasche ihrer Handtasche. Dorthin, wo immer aller Müll landete, wenn sie allein oder mit Familie unterwegs war. Dorthin, wo der Aquariumsprospekt vom letzten Ausflug steckte, zusammen mit den Kinokarten für den Film, den sie voriges Wochenende mit Pheme geguckt hatte.
„Es ist fast drei“, sagte die Frau neben ihr. „Gleich geht es los. Das wird eine Show, wie Sie sie nie erlebt haben.“
„Glaube ich gern.“ Helen lächelte ihr zu. „Ich bin zum ersten Mal hier.“
„Aha.“ Die Nachbarin lehnte sich entspannt zurück und verschränkte die Hände vor dem flachen Bauch. „Plötzlicher Sinneswandel, unerklärliches Interesse oder die Kälte? Was hat Sie hergeführt?“
„Die Kälte.“ Helen piekte eine der Schokofrüchte auf und schob sie sich in den Mund. „Zwanzig Grad unter null und Nordostwind sind zu kalt, um in der Stadt herumzulaufen.“
„Sie hätten nach Hause gehen können“, wurde ihr vorgeschlagen. „Sie haben gewiss ein Zuhause?“
„Natürlich.“ Helen fischte mit dem Holzpieker eine von Schokolade überzogene Weintraube aus der Tüte. Sie schmeckte herrlich. Schokolade und Obst passten ihres Erachtens perfekt zusammen.
„Und?“, fragte die Frau neben ihr.
Helen schaute sie kauend an. „Bitte?“
„Was ist mit Ihrem Zuhause?“, bohrte sie nach. „Es hörte sich nach einem gewaltigen Aber an.“
Daraufhin hob Helen die Schultern und suchte zwischen den Schokofrüchten nach einer weiteren Weintraube. „Ich möchte Sie ungern mit meinem Leben langweilen. Freuen Sie sich auf die Vorstellung und beachten Sie mich nicht.“
„Wenn das so einfach wäre.“ Die Frau streckte ihre Beine, bis die Füße in den perfekt geputzten und polierten schwarzen Absatzstiefeln beinahe gegen die Rückenlehne des Vordermannes stießen. Schwarze Hose mit Bügelfalte. Akkurat gezogen und messerscharf. Da war beim letzten Bügeln nichts aus der Spur gelaufen.
Helen lief ein Schauer über den Rücken und sie guckte schnell zurück in ihre Obsttüte, ehe ihre Sinne ihr einen Streich spielten und sie das Zischen des Bügeleisens zu hören begann. Dabei bügelte sie seit Jahren nicht mehr. Das erledigte Fräulein Roswitha mit aller Hingabe. Helen schob die Schokofrüchte herum. Da war ja eine Weintraube!
„Ich heiße Devendra“, stellte sich die Frau vor. Sie hatte ihre Beine wieder eingezogen und streckte ihr die Hand hin. „Wie heißen Sie?“
„Oh.“ Schnell ließ sie den Pieker in die Tüte fallen und ergriff die dargebotene Hand. „Helen Jäger. Angenehm.“
Zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit lief ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Es lag an dem Händedruck, der überaus fest und zupackend war, und Devendras Blick, der ungeachtet der lockeren, gelösten Atmosphäre von Sorge getragen war. Das waren keine Lachfalten an der Stirn und um die Augen.
„Ich bin Helen Jäger“, wiederholte sie. „Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.“
„Das hat lange niemand zu mir gesagt.“ Wenn Devendra lächelte, kniff sie die Augen leicht zusammen und in den Winkeln kräuselten sich kleine Fältchen. Die Sorgenfalten an der Stirn waren verschwunden. „Sind Sie allein hier?“
Diesmal hatte Helen eine Erdbeere erwischt. „Ja.“ Ihr gefiel Devendras hellblaue Bluse, die von einem dunkelblauen Halstuch begleitet wurde. Dazu trug sie eine schwarze Jacke. Sie hätte mit ihrem Outfit in eine Bank gepasst oder ins Management einer großen Firma. „Und Sie?“
Devendras strahlend weiße Zähne blitzten im Licht der umherwandernden Scheinwerfer. Sie hob ihre rechte Hand und zeigte einen breiten goldenen Ring. „Ich bin mit dem Trapezkünstler verheiratet. Der Zirkusdirektor ist mein Vater.“
Weil sie dabei eine fröhliche Grimasse schnitt, schmunzelte Helen.
„Eine Claqueurin also?“
„Ein bezahlter Mensch im Publikum, der an den richtigen Stellen zu klatschen und zu jubeln beginnt?“ Sie zögerte. „Nein. Geld bekomme ich nicht dafür.“
„Irgendwie schon“, fand Helen. „Sie sitzen auf einem der teuersten Plätze. Mit diesem Stuhl wird kein Geld verdient. Genau genommen bescheren Sie dem Zirkus Verlust.“
Devendra dachte nicht über diese Kritik nach. „Ich darf das. Ich habe mich heute für lau um die Technik gekümmert und schikaniere meine drei Helfershelfer mit meinem Perfektionswahn. Die haben mich mehr als einmal in die Hölle gewünscht.“
„Sie wollen sehen“, vermutete Helen, „ob alles gut klappt und jeder Scheinwerfer sein Ziel trifft? Prüfen, ob etwas verbessert werden könnte?“
„Nicht ganz.“ Ihre Stimme klang plötzlich dunkler. „Für die heutige Vorstellung haben wir uns etwas sehr Besonderes ausgedacht. Da will ich mittendrin sein. Nein, da muss ich mittendrin sein. Für diese Arbeit würde ich niemand anderen verantwortlich zeichnen lassen.“
Die Erdbeere in ihrem Mund war sehr reif und zuckersüß. Helen genoss den Geschmack, als sich das Aroma mit der Schokolade mischte und sagte erst nach dem Schlucken: „Sie machen mich neugierig.“
Unvermittelt legte Devendra ihr die Hand auf den Arm. „Haben Sie gute Nerven, Helen?“
Helen ließ ihren Blick durch den hohen Zirkusbau schweifen. Viele Meter über dem Boden gab es Seile, Ketten und Scheinwerfer, Lautsprecher und Dinge, die sie nicht benennen konnte, die für die Vorstellung wichtig waren. Das Trapez hing ebenfalls dort oben, sicher verstaut und gehalten von einem Seil.
„Wegen der Artisten?“, fragte Helen. „Als kleines Mädchen war ich zuletzt in einem Zirkus. Es war ein mickriger, jämmerlicher Wanderzirkus, der außer drei Ponys und einem dressierten Hund sehr unlustige Clowns und einen Schlangenmenschen zu bieten hatte. Ich habe keine Ahnung, was Artisten heutzutage leisten und ob ich die Luft anhalten muss, wenn ich fürchte, eines der Kunststücke könnte schiefgehen.“
„Die Artisten.“ Devendra verschränkte die Arme. „Ja, die sind atemberaubend und gerade heute laufen sie zur Höchstform auf. Die Luft, liebe Helen, wird Ihnen wegbleiben.“
Helen warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war drei Minuten nach dem geplanten Vorstellungsbeginn. Gäste standen zwischen den Sitzreihen und plauderten, viele wischten auf ihren Smartphones, schossen Fotos oder zeigten sich gegenseitig lustige Clips. Ein Jugendlicher direkt vor ihr machte mit seinem Tablet ein Foto nach dem anderen und Helen konnte sehen, wie er es sofort ins Netz hochlud. Er begann ein Video zu drehen. Wahrscheinlich fehlte nicht viel zu einem Live-Stream.
Das Orchester spielte auf. Zuerst ein Tusch, dann die Willkommensmelodie, die Helen aus einigen Kinderfilmen kannte, in denen der Zirkus eine Rolle spielte. Das Licht dunkelte ab, manche der stehenden Gäste setzten sich. Blitzlicht funkelte auf, wenn jemand ein Foto machte.
„Programme!“, rief eine Stimme neben ihr. Eine junge Frau mit Dauerlächeln und hellroter Uniform stakte auf unglaublich hohen Schuhen an ihr vorbei. „Möchten Sie ein Programm? Ein Programmheft?“
„Nein, danke.“ Helen hielt ihre Tüte mit Schokofrüchten und die Hand mit dem Pieker, zwischen deren Fingern eine Serviette klemmte, etwas in die Höhe. „Ich wüsste nicht, wohin damit.“
„Seitlich in den Sitz“, schlug die Frau im extrem knappen Rock vor und zeigte lächelnd eine schmale Ritze, in die das Programmheft trotz seines beachtlichen Umfangs passte. „Da geht es während der Vorstellung nicht im Weg um und Sie können in der Pause darin schmökern.“
Helen wollte kein Programmheft. Es würde, sofern sie es überhaupt nach Hause nahm, in einer Ecke liegen, verstauben und irgendwann im Altpapier landen. Es war der Hochglanzdruck, der ihr Interesse weckte. Teuer. Qualitativ hochwertig. Sie mochte keine Werbeflyer, keinen sinnlosen, minderwertigen Schnickschnack. Ihr gefiel die erhaben geprägte Überschrift, die aufwändige Inszenierung, das liebevoll gestaltete Titelbild. Es war kein dünnes, dürftiges Heftchen, eher ein Buch, mit dem sich jemand viel Mühe gegeben hatte. Sofort dachte sie an ihren Chef, der eine Druckerei für seinen Jahresbericht suchte und solche detailverliebte Arbeit schätzte.
„Das ist ja ein Prachtstück.“ Sie holte ihre Tasche heran und fischte mit einer Hand im Inneren, während sie versuchte, die Schokofrüchte nicht über die Tribüne zu verteilen.
Neben ihr lachte Devendra. „Geben Sie her. Ich halte die Früchte so lange. Keine Angst, ich nasche keine weg.“
„Danke.“ Mit zwei Händen fand Helen das Portmonee schnell und zückte einen Schein. Ein Programmheft mit dieser Papierqualität und diesem aufwändigen Druckverfahren war geradezu ein Schnäppchen. Sie ließ ihre Finger über die Schrift gleiten, fühlte die Prägung und staunte, wie matt der goldene Schriftzug im Scheinwerferlicht wirkte.
Keine störenden Facetten, kein nervendes Gefunkel oder verwirrendes Geglitzer.
Obwohl sie gern sofort im Programmheft geschmökert und den Duft nach frischem Papier und Druckerfarbe genossen hätte, schob sie es seitlich zwischen das Sitzpolster ihres Sessels und die Armlehne. Sie spürte deutlich einen kurzen Widerstand wie von einem Haken oder einer Halterung. „Danke.“ Sie nahm Devendra die Schokofrüchte ab.
Diese machte eine wegwischende Handbewegung. „Danke, danke, danke. Wir haben keine fünf Sätze gewechselt, aber ich habe Sie schon ein dutzend Mal danke sagen hören.“
Darauf wusste Helen nichts zu erwidern. Sie piekte sich eine Schokofrucht aus der Tüte und betrachtete die Frau neben sich unauffällig aus dem Augenwinkel. Verschränkte dünne Arme, zierliche Hände, schlanke Finger. Kurze Fingernägel. Helen gefiel der schwarze matte Lack. Diese Hände machten nicht den Eindruck harter Arbeit. Das war wohl eher der Fall für ihre Mitarbeiter, die sie Helfershelfer nannte. Helen piekte erneut eine Frucht aus der Tüte und erwischte diesmal eine Banane. Sie ließ die Schokolade im Mund schmelzen, ehe sie das feste Fruchtfleisch zerkaute. Sie sollte sich öfter solche Köstlichkeiten gönnen und nicht immer gucken, was Pheme und Bernhard lieber hatten. Auch mal an sich selbst denken, wie jetzt. Einfach mal in den Zirkus gehen und Schokofrüchte essen und die eigenen Bedürfnisse nach vorne stellen. Plötzlich schmeckte die Banane weniger intensiv. Das hier waren nur Schokofrüchte, bloß mit kakaohaltiger Fettglasur überzogenes Obst, das sie während einer künstlerischen Darbietung aß, die ihr nichts bedeutete und in die sie niemals gegangen wäre, wenn das Wetter nicht gar so kalt gewesen wäre. Nicht wirklich wichtig und schon gar nicht das, woran sie dachte, wenn sie über ihre Bedürfnisse grübelte.
„Wissen Sie“, unterbrach Devendra diese Gedanken, „das Orchester übt täglich viele Stunden, um am Nachmittag und am Abend in jeweils zweieinhalb Stunden die Gunst des Publikums zu gewinnen. Es gibt kaum mehr einen Zirkus, der Live-Musik anbietet. Bei den meisten kommt die Musik aus dem Lautsprecher. Das kostet weniger und macht keine Mühe.“
„Nun“, sagte Helen, „die Worte Beruf und Berufung haben nicht von ungefähr denselben Klang. Für eine echte Berufung nimmt man Überstunden, pausenloses Training und grenzenlosen Einsatz gern in Kauf. Ohne Fleiß kein Preis. Bei körperlicher Leistung oder künstlerischer Darbietung tritt dieser Zusammenhang sehr deutlich zutage.“
Devendra nickte nach vorn, wo sich der schwere dunkelrote Brokatvorhang hob und ein kleiner dicker Mann ins Rampenlicht trat.
„Das ist mein Vater, der Große Ultor.“
So hatte Helen ihn sich vorgestellt. Ein kleiner Mann mit Bauch, der einen schwarzen Smoking mit aufwändig bestickter Chemisette trug. Seine auf Hochglanz polierten Schuhe funkelten im Scheinwerferlicht, auf der Stirn glänzten ihm Schweißperlen, die er mit einem weißen Tuch abtupfte. Sein langes Haar war grau. Er trug es im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Helen schätzte ihn auf um die siebzig, obwohl seine Bewegungen energisch und fließend waren. Es war der Ausdruck in seiner Haltung, der sie auf die ursprüngliche Schätzung von Anfang sechzig einige Jahre aufschlagen ließ. Er schien müde zu sein, erschöpft. Die Schultern hingen, der Rücken war leicht gebeugt, seine Atemzüge tief.
In der rechten Hand hielt der Große Ultor ein Mikrofon: „Sehr geehrtes Publikum“, tönte seine tiefe, dröhnende Stimme. „Verehrte Damen und Herren, liebe Kinder!“
Helen hörte zu kauen auf. Sie hatte eine Erdbeere im Mund, deren Kerne knackend ihren Backenzähnen zum Opfer fielen. Damit sie den Großen Ultor besser hören konnte, hielt sie ihre Kiefer still. Trotzdem wurde es nicht still ringsum. Zuschauer tuschelten und plauderten. Eine Mutter hinter Helen zischte ihrem Sohnemann zu, endlich still zu sitzen und die Klappe zu halten, wo die Scheißkarte so verdammt viel Geld gekostet hatte und sie sowieso nur seinetwegen gekommen sei. „Geh mir bloß nicht auf die Nerven und pass mit deiner Cola auf!“
„Meine Damen und Herren“, verkündete der Große Ultor erneut und drehte sich einmal im Kreis, als wollte er jeden Gast einzeln begrüßen.
„Verehrtes Publikum!“
Obwohl das Licht im Zuschauerraum längst verloschen war und sich der einzige Scheinwerfer sich auf den Großen Ultor richtete, sah Helen Leute unbekümmert kommen und gehen. Einer kämpfte mit seiner Winterjacke, die zu dick war, um darauf bequem zu sitzen, einer kam mit zwei Flaschen Bier und einigen Hotdogs, die eine Spur an Ketchupklecksen hinterließen, die Stufen herab, Männer standen zwischen den Sitzen und plauderten, Frauen unterhielten sich stehend im Aufgang, Mamas mit Kindern stakten die Treppen hinab Richtung Toilette.
„Typisch“, lächelte Devendra, „kaum beginnt die Show, müssen kleine Kinder aufs Klo.“
„Die müssen meistens nicht“, flüsterte Helen zurück. „Die wollen nur wissen, ob es ein Klo gibt und wie es aussieht.“
„Eigene Erfahrung?“ Devendra drehte ihr das Gesicht zu. „Verzeihen Sie meine Dreistigkeit, Sie sehen nicht alt genug aus, um Kinder zu haben.“ Diese Schmeichelei ignorierte Helen. Sie ballte die Faust und reckte den Daumen in die Höhe. „Eine Tochter von beinahe fünfzehn Jahren.“
„Fast fünfzehn!“, stieß Devendra aus, sehr leise und dezent. „Sie wollen mich foppen.“
Helen schüttelte den Kopf und nahm, nachdem sie zur Begrüßung des Direktors brav mitgeklatscht hatte, ihre Schokofrüchtetüte wieder hoch.
„Ich war zweiundzwanzig als ich sie bekommen habe.“
„Meine Damen und Herren“, wiederholte der Große Ultor unablässig lächelnd und nachdem auch beim dritten Anlauf keine Ruhe im Publikum einkehrte, fuhr er fort: „Sie werden eine Vorstellung erleben, wie Sie bisher keine erlebt haben. Wie Sie sie nie wieder erleben werden!“
Helen hatte Begrüßungen aller Art kennengelernt. Sie wusste, wie überschwänglich man in südlichen Ländern gern begrüßt wurde, wie nüchtern es bei den Asiaten zuging und wie groß die Verwirrung war, wenn Erwartung und Realität nicht zueinander passten. Diese Worte hatte Helen erwartet, nur die Betonung schien unglücklich. Er legte keinen Überschwang in die Stimme, weckte keine Erwartungshaltung, klang kein bisschen spannend. Seine sonore Stimme blieb im Keller.
Vor Helen begann der Teenager mit spitzem Finger auf sein Tablet zu hacken. „Was zum…“, stieß er unangebracht laut aus, „da stimmt was mit dem fucking Internet nicht. Ich bin draußen. Total offline!“
Neben sich sah Helen Devendras Lächeln in sich zusammenfallen. Sie hatte offensichtlich den Tonfall des Großen Ultors ebenfalls bemerkt und er gefiel ihr nicht.
„Loser“, gackerte der zweite Teenie mit dem schief sitzenden Käppi und zückte sein Smartphone. Beide Displays zusammen leuchteten grell und verhinderten Helens ungetrübten Blick nach vorn. „Krass“, plärrte der zweite Teenie übermäßig laut, „ich bin zum ersten Mal seit unserem Urlaub auf Mauritius voll offline. Hey, Mann, wir haben ein Funkloch gefunden! Mitten in der Großstadt!“
Sie lachten keckernd darüber, viel zu überdreht und sich aufspielend, als müssten sich alle Menschen ringsum dafür interessieren, dabei hatten die meisten Gäste längst selbst das Funkloch bemerkt. Viele ratlose Gesichter guckten hoch und die Leute zeigten einander die Bildschirme mit dem verlorenen Netz. Helen ließ ihren Blick zu einigen Zirkusmitarbeitern schweifen. Manche der jungen Männer in dunkelroten Uniformen setzten sich in Bewegung und verteilten sich zwischen den Zuschauern und an den Auf- und Abgängen der Treppen. Der freundliche junge Mann, der ihre Karte kontrolliert und ihr den Weg zum Sitzplatz gezeigt hatte, stieg vier Stufen zu einer Treppe hinab. Dort stand ein Stuhl und Helen nahm an, er würde sich setzen, um die Vorstellung zu verfolgen und im Bedarfsfall mit den an der Decke des Zirkusbaus aufgehängten Seilen, Ringen und Tüchern zu helfen. Er bückte sich hinter den Stuhl, wo eine längliche Kiste stand, öffnete deren Deckel und holte etwas heraus, das im Halbdunkel wie eine Waffe aussah.
Helen mahnte sich innerlich zur Vernunft. Eine Waffe. Im Zirkus. Welches irre Huhn hatte sie gepickt? Das war völlig abwegig, wenngleich nicht völlig aus der Luft gegriffen. „Heutzutage“, flüsterte sie, „muss man sich wohl einiges einfallen lassen, um die Jugend von ihren virtuellen Existenzen abzulenken.“
„Wir lassen uns immer etwas einfallen“, sagte Devendra. „Die heutige Vorstellung allerdings wird sämtliche Erwartungen sprengen.“
Der Große Ultor wurde ernst. Er stand im Lichtkegel der erhellten Manege. Sein Smoking hob sich vom tiefroten Teppich ab. Schweißtropfen auf seiner Stirn reflektierten helle Blitze, das Mikrofon in seiner Hand knackte. „Sie werden“, sagte er ernst, „eine solche Vorstellung nicht noch einmal erleben, denn die meisten von Ihnen werden am Ende der Schau nicht mehr am Leben sein. Bleiben Sie auf Ihren Plätzen sitzen, meine Damen und Herren, egal, was passiert.
Stehen Sie nicht auf, bleiben Sie sitzen. Sie werden Unglaubliches erleben, Unbegreifliches, Fürchterliches. Wenn Sie an Ihrem Leben hängen, bleiben Sie sitzen.“ Er hob den linken Arm steil in die Höhe. „Beginnen wir mit denen, die sich selbst den großen Auftritt gönnen, im Mittelpunkt stehen, im Sichtfeld anderer Gäste, die ihr eigenes Bedürfnis nach Beachtung über die Existenz anderer Gäste stellen. Schenken wir all denen, die sich so unverschämt profilieren und präsentieren unsere ungeteilte Aufmerksamkeit!“
Helen war eine solche Begrüßung nie vorgekommen. Sie hatte weiß Gott unzählige Seminare, Fortbildungen, Meetings erlebt. Skurriles war darunter gewesen, Merkwürdigkeiten. Ein Trainer war als Zombie verkleidet erschienen, ein Geschäftspartner einmal völlig betrunken. Manchmal musste man erst eine gefühlte Ewigkeit Smalltalk über sich ergehen lassen, andere kamen sofort zum Geschäft und das Meeting endete nach wenigen Minuten. Eine Managerin hatte es in der Kaffeepause mit dem jungen Mann getrieben, der die Kekse und das Wasser auffüllte und alle, die sich auf dem Gang die Beine vertraten, hörten den Akt klar und deutlich. Der Große Ultor mit seiner Begrüßung war neu. Helen war sich nicht sicher, ob ihr diese Art, eine Vorstellung zu beginnen, gefiel.
Der junge Zirkushelfer, der sich vor wenigen Augenblicken ein Gewehr genommen hatte, berührte dieses an der Oberseite, zog etwas mit einem Klacken zurück und richtete den Lauf auf einen Mann, der gerade die Treppe hochkam und sich den Hosenstall zuzog. Im nächsten Moment zerfetzte ohrenbetäubender Lärm die Luft. Es knatterte und knallte, donnerte, hämmerte, schepperte. Blitzweiße Funken flogen. Es begann nach Schwarzpulver zu riechen, nach Verbranntem, nach Blut, nach Urin, nach Erbrochenem. Helen spürte etwas Schnelles an ihrem Kopf vorbeisausen und hob instinktiv die Hände über die Ohren. Sie beugte sich weit vornüber, bis ihr Gesicht auf den Beinen lag. Ihr Herz pochte in der Brust, sie spürte, wie ihr Magen das Mittagessen so schnell wie möglich loswerden wollte und in den nächsten Verdauungsabschnitt weiterschickte. Wenn sie an die Konsequenzen dachte, die eine unüberlegte Bewegung wahrscheinlich auslöste, verging ihr das Bedürfnis nach einer Toilette. Minutenlang verharrte sie zusammengekauert. Sie zählte ihre Atemzüge.
Als der knatternde Lärm verstummt war und sie nur mehr leises Weinen und Schluchzen hörte, hob sie zögernd den Kopf und lugte unter ihrem Arm hervor. Neben ihrem Sitz lag ein toter Mann, der halbe Oberkörper fehlte ihm, weggeschossen, der Hosenstall stand zur Hälfte offen. Über seinen Beinen lag ein weiterer Mann, dessen Gesicht völlig zerfetzt war. „Was…?“ Helen ließ ihre Hände sinken. Sie spürte Finger, die sich von der rechten Seite auf ihren Arm legten.
Es war Devendra. „Bleiben Sie sitzen.“
„Was…?“
Devendra drückte zu. „Bleiben Sie sitzen.“
Helen hatte ein furchtbar trockenes Gefühl im Mund. „Das sagte Ihr Vater bereits.“
„Er hat absolut recht mit jedem Wort.“
Helen erinnerte sich. „Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist…“ Sie versuchte zu schlucken. Ihr Gaumen war hart und staubig. Der Sitz war zu eng, zu wenig breit, obwohl zu beiden Seiten ihrer Hüften mehrere Zentimeter vom dunkelroten Sitzpolster zu sehen waren. Siedend heiß pochte das Blut durch ihren Körper, brachte ihr Herz zum Rasen und ihre Gedanken zu abstrusen Schlüssen. Sie hätte in ihrem Leben viel mehr Schokolade essen und sehr viel mehr Rum trinken sollen.
Nach einem Moment der fassungslosen Ruhe begannen Leute zu kreischen. Kinder fluchten, Frauen zeterten, Männer weinten. All jene, die eben zwischen den Reihen gestanden hatten, die von der Toilette zurückkamen oder sich anschickten einen Kommentar in die digitale Welt zu blöken, all jene, die nicht brav auf ihren Plätzen saßen, lagen tot zwischen den Reihen, auf den Wegen, auf den Stufen. Weiter unten lagen viele Personen, die sich Chancen bei der Flucht ausgerechnet hatten, leblos über dem runden Holzbogen, der die Manege einfasste. Starre, an die Decke oder in den Boden gerichtete Blicke überall, sofern die Augen nicht aus ihren Höhlen geschossen worden waren.