Allein - Sylvia Schwarz - E-Book

Allein E-Book

Sylvia Schwarz

0,0

Beschreibung

Auf der Raumstation überschlagen sich die Ereignisse, nachdem ein gewaltiger Asteroid die Erde getroffen hat. Es gibt keinen Funkkontakt mehr zur Bodenkontrolle und der Astro-Botaniker ist einem grausamen Mord zum Opfer gefallen, der nicht der einzige bleibt. Innerhalb der Crew steigt das gegenseitige Misstrauen, während zugleich Pläne geschmiedet werden müssen, wie das Weiterleben funktionieren soll.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 303

Veröffentlichungsjahr: 2019

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 1

Dieses Experiment mit Bohnensprossen war das langweiligste, das David je erlebt hatte. Es ging allein darum, wie viele Millimeter die Pflanze binnen vierundzwanzig Stunden schaffte. Von links oben nach rechts unten wurden das Licht weniger und die Nährstoffe mehr. Die oberen Pflanzen erlebten die Simulation einer konstanten Schwerkraft, indem sie wild im Kreis gewirbelt wurden, wohingegen die unteren ohne jegliche Gravitation auskommen mussten. Einige Pflanzen erhielten weder Licht noch Nährstoffe und einige nicht einmal Wasser. Es war mühselig, gerade diese Mangelexemplare in der Länge zu bestimmen. David zwinkerte mehrmals und entschied sich bei der dritten Pflanze von links in Regalreihe C schließlich für null Millimeter. Verdammt sollte derjenige sein, der diesem mickrigen Spross irgendwelches Wachstum andichtete. Der Stängel war braun, verdorrte Keimblätter, eine einzelne Wurzel. Er kniff erneut die Augen zusammen und wartete, bis Tränenflüssigkeit den Juckreiz am Augapfel weggewaschen hatte. Wenn er berücksichtigte, wie der Keimling richtungslos eierte und nicht wusste, wohin er sich wenden sollte… Wenn man sacht zog und mit den Fingernägeln an dem entlang strich, was mal ein Stängel hätte werden sollen, also mit ein bisschen Hilfe war ein halber Millimeter drin. Sogar ein ganzer, sofern man den Kopf schief legte, die Augen verdrehte und auf die verschwommene Skala schielte.

Vom heftigen Schielen bekam David Kopfschmerzen. Er rieb sich die Stirn. „Dämliche Dreckspflanzen“, maulte er. Das blaue Licht war ihm angenehm, die Pflanzen mochten die in Rot getauchte Umgebung offenbar lieber. Er notierte Datum und Uhrzeit auf dem Erfassungsbogen. Zwölfter August. Sechzehn Uhr, zwölf Minuten, Standardzeit.

„Ben?“, ertönte Lis sonore Stimme hinter ihm. „Ben, sind Sie hier?“ Einen Augenblick später war die Enttäuschung deutlich zu vernehmen: „Sie sind es. Wo ist Ben?“ Als würde es Li ein Vermögen an Überwindung kosten, schob er ein zähneknirschendes „Bitte“ hinterher. David hob den Stift vom Tablet und zeigte auf die Tür, die den Fitnessraum vom Botanikbereich trennte. „Radelt einen Triathlon mit, um den Zusammenhang zwischen sehr hohem Schokoladenkonsum und körperlich wenig bis gar nicht ausgeprägter Fitness zu widerlegen. Ein Hersteller von ekliger Billigschokolade hat die Agentur zu diesem Test überredet.“ Er machte mit den Fingern der rechten Hand Gänsefüßchen in der Luft. „Ein kleiner finanzieller Anreiz hat dabei geholfen.“

„Das erklärt, warum wir vierhundert Schokotafeln dabeihaben.“ Li hielt sich an einem der Regale voller Setzlinge fest. „Ich will ihn nach Ergebnissen fragen. Ob er rausgefunden hat, wie gut die Pflanzen bei zwei Dritteln Schwerkraft und halbem Kohlendioxidgehalt wachsen, wenn der Boden die gesetzten Grenzwerte für Phosphat übersteigt.“ Er runzelte die Stirn unter seinen raspelkurzen schwarzen Haaren. „Warum hantieren Sie an den Pflanzen herum? Haben Sie die angefasst? Das dürfen Sie auf keinen Fall, es würde die Ergebnisse verfälschen. Niemand, der keine Ahnung hat, darf daran herumpfuschen.“

„Drehen Sie nicht durch, das ist mit Ben abgesprochen. Ich habe eine Wette verloren.“ David steckte den Stift in die Halterung und klemmte das Tablet am Klettverschluss gegen die Wand. „Jetzt muss ich zwei Wochen lang täglich dieses Grünzeug messen. Was wann unter welchen Bedingungen wie mies gewachsen ist.“ Er hielt sich die Hand an die Nase. „Steht mir bis hier.“ Er hob die Stimme: „Hören Sie, Ben, Ihre verdammten Pflanzen kotzen mich an! Mehr als Ihr arroganter Fleiß auf dem Rad und Ihre großkotzige Ausdauer auf dem Laufband.“ Er blickte zu Li. „Kann ich nicht nachvollziehen, wie jemand stundenlang auf dem Ergometer strampelt, um es einer Horde Wahnsinniger gleichzutun, die achthundert Kilometer tiefer dasselbe macht. Angeblich wollte man sogar ein Schwimmbecken erfinden, das im All funktioniert. Ben hätte nicht bloß radeln und laufen können, sondern auch schwimmen. Ein paar kleinere physikalische Probleme haben dies zum Glück verhindert. Wir sind schließlich keine Bademeister, die sich um einen Pool kümmern.“

„Sie sind kein Gärtner und kümmern sich trotzdem um die Pflanzen.“ Li schwebte zwischen den Regalen und hatte die Füße gegen einen Schrank gelegt, um nichts versehentlich umzuwerfen. „Ist Ben außer Puste, schon fertig mit der Runde oder warum antwortet er nicht? Gewöhnlich kriegt er seine Klappe kaum zu und wenn Sie beide sich im selben Modul befinden, ist Ihr Gezanke meistens durch die gesamte Station zu hören.“

David zog die Schultern bis zu den Ohren. „Ich bin erst seit fünf Minuten bei dem Grünzeug. Soweit ich mich an seine Vorgaben erinnern kann, müsste er etwa in einer halben Stunde die Etappe geschafft haben. Planmäßig werden die letzten beiden Kilometer live auf die Erde übertragen. Es gibt Interviews mit dem Schokomann, einem Arzt und einer Ernährungsberaterin. Zur Belohnung dürfen wir heute Abend eine Tafel billige, nach Asche schmeckende, von zu viel Zucker getragene Schokolade essen.“ Er zeigte auf eines seiner Ohren. „Vielleicht hört er die Übertragung live auf seinen neuen Brixons. Die sind extra für Sonnyboy Ben vor dem offiziellen Verkaufsstart per Express ausgeliefert worden. Das war die beste Werbung, die der Hersteller je bekommen hat. Seine Kopfhörer schaffen es ins All und der beliebteste Astronaut aller Zeiten hört damit Musik. Da dringen keine Störgeräusche von außerhalb durch. Sie können rufen, bis Sie heiser sind.“

„Was Sie alles mitkriegen.“ Li stieß sich vom Schrank ab und schwebte zur Tür. „Wenn er die letzten Meter vor einem Millionenpublikum radelt, wird er kaum nackig sein. Ich gehe einfach rein. Ist ja nur eine kurze Frage.“

Es schien immer Lis größte Sorge zu sein, ob jemand nackig war. Bei jedem Klopfen an einer privaten Tür fragte er, ob man angezogen sei. David holte sich das nächste Tablet und begann mit der weiteren Erfassung. „Er hat Hose und T-Shirt an, keine Bange. Schlimmstenfalls stinkt er nach Schweiß und den gasförmigen Ausdünstungen des gestrigen Chilis.“ Um die Hände frei zu haben, befestigte er das Tablet mit Klettverschluss an einem Regal. „Ich verstehe nicht, warum er die Daten seiner Pflanzen auf vier Tablets verteilt. Die Synchronisation frisst dermaßen viel Zeit und Energie. Vor allem meine Zeit und meine persönliche Energie. Das ist schlimmer als sein Schweißgeruch, glauben Sie mir.“

„Ben?“ Li klopfte an die Tür. Dazu musste er sich mit einer Hand am Griff festkrallen, um nicht vom Rückstoß weggeschubst zu werden. „Sind Sie angezogen? Ich will wissen, ob Sie Ergebnisse oder Prognosen haben? Ihrem Gehilfen ist, bei allem gebotenen Respekt, keine Verantwortung für die Pflanzen zu übertragen. Es könnte den Versuchsablauf empfindlich beeinflussen, wenn jemand ohne Sachverstand daran manipuliert, und David hat keinen Funken Verstand.“

David schnitt ihm eine Grimasse. „Blöder Wichser.“

„Selber.“ Li drückte den Türgriff. Die Schiebetür glitt über die Gummidichtung zur Seite. „Was zur…“

David schaute bewusst nicht zu ihm hoch. „Sie sind nicht der einzige mit einem summa cum laude, wissen Sie das? Exobiologen sind nicht die einzige wichtige Spezies auf einem Raumschiff. Steigen Sie von Ihrem hohen Ross, Sie arrogantes Arschloch.“ Li entgegnete nichts, obwohl er sich sonst nie die Chance auf eine heiße Diskussion entgehen ließ. David blickte hoch.

Li war weiß im Gesicht und seine Hand am Türgriff zitterte. Er holte immer mehr Luft, bis sein magerer Brustkorb wie ein Ballon gebläht war, und stieß einen gellenden Schrei aus, der durch die Raumstation schallte, selbst als David längst neben ihm war.

David machte keinen Mucks. Er fragte sich mehrere Dinge gleichzeitig und wunderte sich, warum er sich wunderte, wo der Anblick so offensichtlich war. Um ihn herum taumelten dicke rote Kugeln von der Größe einer Murmel, die grellrote Flecken an den Begrenzungen des Bereichs hinterließen. Es war nicht relevant, welche Begrenzung der Fußboden und welche die Decke war. Meistens wählten die Astronauten die umgangssprachlichen Bezeichnungen nach ihrer eigenen Perspektive aus.

Das Fenster, durch das man momentan keine Erde sehen konnte, war mit dem roten Zeug verschmiert und verkleckert. Zwischen den hellroten Kugeln, die sacht waberten, sich knäulten und dehnten, schwebte grauweiße Gehirnmasse langsam von links nach rechts. Sie haftete an einem Stück Schädeldecke, von dem die schwarzen Haare wie Draht wegstanden. Längst hatte Reba einen Haarschnitt angeordnet, doch Ben wollte sein schulterlanges Haar nicht schneiden. Er lachte gern darüber, wie es ihm vom Kopf abstand, als hätte er in die Steckdose gefasst. Außerdem standen die Mädels von der Öffentlichkeitsarbeit ungemein auf seine Frisur und Ben sparte nicht mit Erzählungen, wie aufregend herabhängende Haare beim Sex waren. Das galt nicht nur für Frauen, die oben waren, es galt genauso für Männer. Dabei lächelte er schelmisch.

Jene Hälfte, die von seinem Gesicht übrig war, machte einen verschmitzten Eindruck, jedenfalls waren die Mundwinkel leicht nach oben gezogen. Die Zunge hing heraus, aschfahl und grau. Das linke Auge stierte, das rechte fehlte. Es war mit jenem Teil von Bens Kopf unterwegs, zu dem die Schädeldecke gehörte.

Bens Füße waren auf den Pedalen des Ergometers festgeschnallt, das erleichterte das Treten ohne Schwerkraft. Sein Hintern hatte schwachen Kontakt zum Sattel und seine Arme taumelten in Kopfhöhe. Der gesamte Raum war voller Blut, denn die Tropfen verteilten sich und zu große Tropfen verkleinerten sich eigenständig und stoben auseinander. Teilweise war das Blut geronnen und fest. Es hinterließ keine Flecken, wenn es an die Wand stupste, sondern wechselte nach dem kurzen Klatschgeräusch die Flugrichtung. Das Lüftungsgitter war verstopft und bald würde die Klimaanlage auf Störung gehen, da war sich David sicher. Er besorgte besser schnell einen neuen Filter oder gleich zwei. „Wenn die Klimaanlage diese Sauerei bewältigen soll, muss ich mindestens drei Stufen höherstellen, damit die großen Stücke angesaugt werden. Durch das Gitter passen sie allerdings nicht.“

Beinahe konnte man glauben, Ben hätte den Triathlon gewonnen und würde mit erhobenen Armen durchs Ziel rauschen. Dabei blinkte die Anzeige im Display hektisch vor sich hin. Ben hatte einhundertfünfundfünfzig Kilometer und gute dreihundert Meter geschafft. David drückte die Taste für die durchschnittliche Geschwindigkeit. „Er hätte es nie im Leben pünktlich zum Finale geschafft. Bei dem Tempo hätten seine Fans auf der Erde mindestens zwanzig Minuten warten müssen, bis sie ihr Idol im Ziel bejubeln können.“

„Reba!“ Li schwebte rückwärts zur Tür. Er schubste die Blutkugeln zur Seite, teilte sie dabei, gab ihnen neuen Drall und machte die Schweinerei immens. Immer mehr Kugeln, Kügelchen und Blut in Staubkörnchengröße drängten sich im Raum, Richtung der fast vollständig verstopften Klimaanlage und durch die Tür nach drüben auf die Pflanzen zu. All die empfindlichen Geräte waren verloren, wenn die Sensoren von Blut oder Gewebe verklumpt wurden.

„Reba!“, brüllte Li erneut und sauste in gehörigem Tempo durch die Tür in den Verbindungsschlauch zwischen den Modulen. „Reba! Kapitän!“

David folgte ihm wenige Meter. Er zerrte die Tür wieder zu, damit all das Blut drinnen blieb, und kümmerte sich darum, die Kugeln im Botanikbereich einzufangen und das Blut zu erwischen, bevor es Chaos in den Apparaten anrichtete und Versuche zunichtemachte. Manche Bläschen waren klein, hatten kaum Masse und blieben allein der Elektrostatik wegen an ihm haften. Ihn graute vor dieser Mischung aus Blut, Schweiß und Gewebe und wenn er Bens nasse Hose bedachte, waren bestimmt Spuren von Urin und Kot verteilt. Dementsprechend stank es.

„Reba!“, hörte er Li brüllen. „Kapitän!“

„Ruhe!“, brüllte sie zurück. „Mit diesem Geschrei ruinieren Sie ständig meine Versuche!“

Li erwiderte nichts darauf, als wäre er verschwunden.

Nachdem er die meisten freischwebenden Teilchen eingefangen hatte und der Rest im Lüftungsgitter pappte, hangelte sich David durch die Verbindungsschläuche. Er passierte das Küchenmodul, in dem es zu essen gab und man sich während der seltenen Pausen aufhalten konnte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er das rot leuchtende Toilettenschild. Besetzt. Aus dem Inneren drangen die würgenden Kotzgeräusche Lis, lauter als der Absauger. Deswegen war er verstummt und Reba hatte ihre Schimpftirade unterbrochen, bevor sie richtig losgegangen war.

Hinter der Küche kam ein langer Gang mit Messinstrumenten und Geräten, die für die Lebenserhaltung notwendig waren. Luftfilter, Wasseraufbereiter, Kohlefilter. Die Aufbereitung des Wassers verursachte eine Menge Lärm und war in der Mitte der Station untergebracht, so weit weg von den meisten Schlafräumen wie möglich. Hier maßen Sensoren den Sauerstoffgehalt der Atemluft, die Temperatur und Luftfeuchtigkeit, von hier wurden Messwerte zum Boden geschickt und wenn David langweilig war, prüfte er all die anderen Messwerte und Daten, die interessant wurden, wenn man mit enorm hoher Geschwindigkeit um die Erde rauschte und die Zeit einfach nicht vergehen wollte. Natürlich verstrich sie umso langsamer, je eindringlicher man wartete. Aus dem Fach hinten links würde er nachher, wenn Meldung erstattet war, einen neuen Luftfilter holen und den versauten im Fitnessbereich ersetzen, damit die Klimaanlage mit der Reinigung fortfahren konnte.

„Reba!“, sagte David, als er an der Einheit für die Kommunikation vorbei schwebte. Auf dem Bildschirm waren für Timothy siebenundzwanzig neue Nachrichten angezeigt. Wahrscheinlich Fotos und Videos seiner kleinen Tochter Hannah. Sie war fünf Wochen alt und würde ihren Vater erst in drei Monaten kennenlernen. Obwohl sie in Trennung lebten, schickte Timothys Ex ständig Fotos und Filmchen von der Kleinen. Um dieser Datenflut Herr zu werden, teilte die Agentur ihr ein Volumen zu, das sie nicht überschreiten durfte. Was zu viel war, wurde einfach abgeknapst. In den ersten Tagen waren wegen der vielen Aufnahmen, die ein schlafendes Baby zeigten, wichtige Updates nicht gefahren worden.

Auch für Glenn waren Nachrichten vorhanden. Sie war eine alte Vettel von gut vierzig Jahren, die sich einen Scheiß darum scherte, wer auf der Erde sie vermisste. Jeden Sonntag kam eine Nachricht hinzu, die sie nie anschaute. Wenn sie frei hatte, las sie Bücher oder schaute auf die Erde. Sie sprach nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ, eine Eigenschaft, die für eine Ärztin, die Astronautin war, nicht unbedingt von Vorteil war. Für ihre Kollegen war es eine Herausforderung; David sprach aus Erfahrung.

Einmal hatte er sich den Zeh im Rolltor eingeklemmt. Er war mit Tränen in den Augen zu Glenn gekommen, stammelte etwas von Schmerzen im großen Zeh und sie blickte ihn an und wartete, bis er alles erzählt hatte. Die Sache mit dem Rolltor und dem Knopf, den er zu früh gedrückt hatte. Die Sicherheitsabschaltung des Rolltors funktionierte offensichtlich nicht und wenn Reba keine Lust oder keine Zeit hatte, um das zu reparieren, sollte sie es eben Martin anschaffen, damit nicht nochmal jemand das Tor auf den Fuß bekam. Mit Pech konnte der Zeh ja ab sein. Er erzählte, wie er sich zu waschen versucht hatte und vor Schmerz nicht aus noch ein wusste. Der Zeh war fürchterlich angeschwollen. Bis ins Schienbein hoch strahle der pochende Schmerz aus! Er hatte deutlich gespürt, wie das Blut ins Gewebe geschossen war. Von außen war nur ein blauer Fleck zu sehen, der sich vom Zehenglied bis zum Rist zog.

Glenn schwieg.

David fühlte sich zu weiterer Berichterstattung genötigt und beichtete die beiden Schmerztabletten, die er sich eingeworfen hatte. Mit dem Sekt, der von seinem Geburtstag übrig war, spülte er sie runter, und die Wirkung war hervorragend. Leider ließ sie bald nach, deshalb hatte er sich entschieden, Glenn um Rat zu fragen.

Diesmal blinzelte sie kurz mit schlaffen Lidern über den dunkelgrünen Augen. Sie zog die Nase hoch und fuhr sich mit den Fingern übers Kinn. Ihre Fingerspitzen fanden ein schwarzes langes Haar, packten und versuchten es auszureißen, jedoch ohne Erfolg. Das Haar kräuselte sich und war schlagartig viel auffälliger.

Erneut berichtete David von den Schmerzen in seinem Fuß und dem Zeh und seiner Vermutung, der Zeh sei gebrochen. Eine Vermutung, denn eine medizinische Ausbildung hatte er nicht. Den üblichen Kram für erste Hilfe, wie ihn jeder Astronaut lernte, mehr nicht. Da lernte man, in solchen Fällen den Arzt aufzusuchen.

Wieder die Schmerztabletten und der Sekt und außerdem, er gab es ja zu, eine dritte Schmerztablette in der Nacht. Sonst hätte er vermutlich den Zeitpunkt für das perfekte Foto der Erde neben dem Mond während einer Sonnenfinsternis, vom nördlichen Kanada aus gesehen, verpasst. Da ging es um Sekunden, die einem ein schmerzender Zeh verleiden konnte. Er gestand die leichte Übelkeit, von der er nicht wusste, ob sie vom Schmerz, den Tabletten oder vom Sekt kam. Es war der ganze Packen Sekt gewesen. Viermal ein Viertelliter auf nüchternen Magen. Schmerzmittel zu nehmen, ohne gegessen zu haben, war ohnehin keine gute Idee. Die waren am elften dritten abgelaufen, ein paar Wochen bloß über der Zeit, deshalb nahm er eine mehr, um die womöglich nachgelassene Wirksamkeit zu kompensieren. Beide Tabletten landeten im Magen, bevor ihm ein Licht aufging. Das Datum war andersrum aufgedruckt und die Tabletten am dritten November des Vorjahres abgelaufen. Fast ein Jahr drüber! Den Schock kurierte er mit einem Magenmittel, mit Mineralstoffen und Salzen, um seinen Elektrolythaushalt wieder ins Lot zu bringen. Rein pflanzlich und harmlos, genau wie die homöopathischen Mittel, die er zur Sicherheit nahm, damit der Zeh nicht länger pochte und hämmerte und sich die Fraktur verschlimmerte oder eine Entzündung sich ausbreitete, sein Herz erreichte und ihn mitten im All ins Jenseits beförderte.

Insgesamt saß er eine halbe Stunde gegenüber der Ärztin. Er plapperte wie ein Wasserfall und erzählte ihr seine ganze Lebensgeschichte oder besser gesagt, die Lebensgeschichte seines Zehs, der – seiner Meinung nach – gebrochen war. Als ihm nichts mehr einfiel, gar nichts mehr, denn selbst das mit Desinfektionslösung getränkte Klopapier an seinem offenen Pickel am Hintern hatte er gebeichtet, fühlte er sich müde, heiser und elend krank.

Glenn rollte einmal die Lippen. „Medikamente haben Sie genug intus. Vermeiden Sie es, mit dem Zeh erneut anzustoßen.“

Kein Röntgen, kein Tasten, kein Fühlen. Sie schaute sich den Zeh nicht einmal an, obwohl er längst die Socke ausgezogen hatte und den Fuß in die Höhe reckte. Ein sehr langes Haar hing von seiner Ferse und er fragte sich, woher das kam. An Bord hatte niemand so lange Haare.

„Reba!“, schrie er, als er die Zentrale erreichte, in der der Kapitän und der Steuertechniker arbeiteten. „Da ist etwas Fürchterliches passiert!“

„Darauf können Sie Gift nehmen!“, zischte sie zurück. „Sie haben mir mit Ihrem Geschrei meine Experimente ruiniert. Schon wieder! Ich kann keine Geräusche über fünfzig Dezibel brauchen und Ihr Geschrei hat mindestens siebzig.“

„Kapitän“, sagte Guylian von der anderen Seite, „das müssen Sie unbedingt sehen.“

„Muss ich sehen!“, blaffte Reba und schubste einen ihrer Plastikhandschuhe durch den Raum. „Muss ich sehen, muss ich sehen. Ist fürchterlich. Dramatisch. Nie dagewesen! Können Sie mich nicht in Ruhe lassen!“ Das war keine Frage, sondern ein Befehl.

Guylian schüttelte den Kopf. „Sie müssen das sofort sehen. Jeder muss es sehen. Rufen Sie die Crew zusammen.“

David zeigte hinter sich. „Im Fitnessraum.“ Er fühlte sich, als würde er keine Luft bekommen. Seine Kehle war wie zugeschnürt, das Herz hämmerte bis in den Hals, seine Hände waren schweißnass und verwischten die Blutflecken auf seiner Haut. Seit dem Frühstück hatte er nichts zu sich genommen. Seine Hände zitterten. „Ben ist…“

„Was“, unterbrach ihn Reba und zeigte durch das Panoramafenster nach draußen, „ist das?“

David schwebte näher, ebenso wie die anderen, die im Raum waren. Reba hielt sich an Guylians Stuhl fest und reckte den Hals nach vorn. Der zweite Pilot Sven machte große Augen und schlug ein Kreuz über der Brust. Er murmelte ein Ave Maria.

Vom gegenüberliegenden Verbindungsschlauch sausten dicht hintereinander Stan und Procter heran. Beide zeigten zum Fenster.

„Kapitän, sehen Sie das?“

„Wir alle sehen es“, murrte Guylian. „Soll ich Boden anfunken?“

„Und was sagen?“, flüsterte Reba heiser. „Hey, Leute, ihr werdet gerade…“

In diesem Moment gab es einen grellen Lichtblitz, der sich wie eine Explosion ausbreitete und mehrere Kilometer ins Weltall ragte. Eine weiße Wolke dampfte kreisförmig um den Kugelblitz herum. Im Blau der Ozeane war eine Druckwelle zu sehen, die vor den Kontinenten nicht stoppte. Sie raste weiter und wölbte für Bruchteile von Sekunden den Erdboden. Selbst dort, wo der Himmel voller Wolken war, erkannte man die Druckwelle. Sie zerstäubte den Hurrikan, der sich über dem Atlantik gebildet hatte, und sie wischte die Wolken über Südafrika fort.

Dort, wo der Brocken Kontakt zur Atmosphäre bekommen hatte, gab es eine glühende Staubwolke, schwarze Schlieren, Wellen, die durch die Atmosphäre rauschten, und Trümmerstücke, die zurück ins All geworfen wurden. Kurze Zeit später taumelten die meisten dieser Brocken als gigantischer Sternschnuppenregen zurück auf die Erde.

„Oh mein Gott!“, stieß Guylian aus. „Der Asteroid hat die Erde getroffen.“

„Woher wollen Sie das wissen?“, flüsterte Sven. „Es könnte alles Mögliche sein. Ein Meteorit, ein KBO, ein Komet.“ Er hustete knapp. „Es könnte ein interstellarer Asteroid gewesen sein, die sind groß, schnell und katastrophal. Kuiper Belt Objects sind gut erforscht, von denen war es wohl keiner. Woher er kam, woraus er bestand und wie seine Bahn um die Sonne verlief, davon hängt es ab. Ich habe keinen Schweif gesehen. Kometen haben Schweife. Es war kein Komet aus Eis.“

Guylian drehte ihm den gesamten Oberkörper zu. „Haben Sie den Verstand verloren? Was soll die Wortklauberei? Da ist ein Desaster passiert und Sie fachsimpeln? Wie bescheuert muss man sein!“

David spürte das dringende Bedürfnis nach einer Toilette. Siebzehn Uhr siebzehn. Ihm war schlecht. Der Zeh, den er sich vor einer Woche gebrochen hatte, tat wieder fürchterlich weh, er zitterte, bebte und fing gleichzeitig seine Tränen mit einem Taschentuch ein, bevor die kleinen Tropfen Guylians empfindliche Instrumente störten oder den Versuch des Kapitäns endgültig zunichtemachten.

Es dauerte Minuten, bis Procter fragte: „Wann lässt sich das Ausmaß der Zerstörung absehen?“

„Das Ausmaß?“ Guylian tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. „Tun Sie blöd oder sind Sie es? Sehen Sie nicht…“

Aus dem Verbindungsschlauch kam Dent geschwebt. Er hatte den Mund immer leicht geöffnet, was die Folge einer genetischen Mutation war, diesmal standen die Lippen besonders weit auseinander. „Habt ihr das gesehen?“, krächzte er. „Ein Asteroid hat die Erde volle Kanne getroffen. Wusste Boden nichts davon? Was machen wir jetzt? Gibt es Funkkontakt? Haben wir Kontakt?“

„Sehr wahrscheinlich war es ein Asteroid. Geschosse dieser Größe kommen meistens aus dem Kuipergürtel. Er sah nicht aus wie ein Klumpen aus schmutzigem Eis, denn die ziehen einen Schweif hinter sich her.“ Svens Stimme klang rau. „Bei dieser Wucht könnte es ein

Eisenmeteorit sein. Haben wir Aufzeichnungen?“

Es war deutlich zu hören, wie der Kapitän lange und tief durchatmete. Vielleicht legte sie sich Worte für eine Standpauke zurecht, weil sie wie so oft mit Informationen überschüttet wurde, die sie nicht angefordert hatte. „Guylian“, sagte Reba schließlich, „bitte versuchen Sie Boden zu kontaktieren.“

Guylian drückte Knöpfe. „Boden, hier Raumstation Pickles, bitte kommen. Boden, bitte kommen.“

Es rauschte, nachdem sie auf Lautsprecher geschaltet hatte. Es surrte und knarzte. Ein leises Pfeifen hörte man durch das blecherne Summen hindurch.

„Boden“, wiederholte Guylian, „Boden, bitte kommen. Bitte kommen, Boden. Hier Raumstation Pickles.“

Stan klemmte sich mit einem Bein an einer Halterung fest und verschränkte die Arme. „Da unten ist nichts mehr. Dieser riesengroße Wumms hat die halbe Welt gesprengt; der übrige Teil hat andere Sorgen als den Verbleib einer lächerlichen Raumstation.“

„Boden“, wiederholte Guylian. „Boden, bitte kommen. Boden, bitte kommen. Hier ist die Pickles.“

Reba hielt mit ihrer dürren Hand den eigenen Hals umfasst. „Herr im Himmel“, seufzte sie und schaute in die Runde. Als ihr Blick auf David fiel, flackerte ein Funken durch ihre Augen. „Sie wollten etwas berichten. Etwa einen Himmelskörper, der auf Kollisionskurs mit der Erde ist? Besser gesagt, war?“

David schüttelte den Kopf. „Ben sitzt tot im Fitnessraum auf dem Ergometer.“

Kapitel 2

„Ein Komet!“, brüllte Li, als er ins Steuerungsmodul schwebte. „Ein Komet hat die Erde getroffen! Vom Donnerbalken konnte ich es genau sehen! Er kam angerauscht aus dem Nichts und hat die Erde volle Kanne direkt in Mittelamerika erwischt.“

„Wissen wir.“ Reba fing Li am Arm ab und bugsierte ihn an die Decke der Zentrale, wo er sich festhielt. „Wir haben es gesehen.“

„Genau wie ich!“ Li schnappte nach Luft. „Ich musste. Mir haben sich die Innereien nach außen gestülpt. Durchfall. Kotzen. Schweißausbrüche. Mir ging Bens Anblick nicht aus dem Kopf, bis zu dem Moment, wo es diese furchtbare Explosion gab. Haben Sie es gesehen, genau dort, wo der letzte eingeschlagen hat. Der letzte, der hat die Dinosaurier weggefegt. Ein riesiger Klumpen Fels aus den Tiefen des Alls. Heute wieder. Ein gewaltiger Brocken kam gesaust und knallte gegen die Erde. Aus dem, was zurück ins All geschleudert wurde, wird sich vielleicht ein neuer Trabant bilden. Die Erde wird zwei Monde haben.“ Er ließ seine Faust in die Handfläche schmettern und musste sich sofort wieder am Griff festhalten, wollte er nicht zu drehen und torkeln anfangen. „Wusste Boden nichts davon oder haben sie absichtlich nichts gesagt? Woher kam das Geschoss? War es aus Eis oder Fels oder Eisen? Hat denn niemand Antworten?“

„Ich kriege keine“, zuckte Guylian die Schultern. „Egal auf welcher Frequenz ich es versuche, egal welche Station ich versuche…“ Sie hob kurz den Blick aus dem Fenster. „Wir sind beinahe über Europa, da müssten wir jeden Moment Kontakt zu Eucon 3 haben.“ Sie drückte Tasten und drehte Regler, die außer ihr und Sven niemand an Bord benennen konnte. „Boden, bitte kommen, hier ist die Pickles, bitte kommen. Können Sie uns hören?“

Es knackte im Lautsprechersystem. Jemand kicherte. „Pickles-Station, hier Bodenkontrolle. Ich will ja nicht wissen, wie viele Millionen der Pickles-Konzern hat springen lassen, um eine ganze Raumstation nach sich benennen zu lassen. Egal wie viel es war, der Name klingt so lächerlich, es hätte das Doppelte kosten müssen.“

„Boden“, sagte Guylian, „wir sind nicht zu Scherzen aufgelegt. Vor wenigen Minuten haben wir beobachtet, wie ein Asteroid im Norden Südamerikas eingeschlagen ist.“

„Nette Umschreibung“, murmelte Sven. „Was immer es war, ein Komet, ein Meteorit, ein Asteroid – dieses Ding hat Amerika weggesprengt. Bis auf kleine Reste ganz im Norden und weit im Süden dürfte alles weg sein. Ratzekahl. Ich wette, die nächsten Satellitenbilder zeigen auf dem Infrarot ein gewaltiges Loch.“

„Ha, ha, ha“, kam aus dem Lautsprecher zurück. „Wenn eine Sternschnuppe auf Amerika fällt, ist das uns…“ Die Stimme stockte. „Hey, was soll das? Pickles, bleiben Sie dran. Chris, was geht hier vor? Was sollen all die Fehlermeldungen? Sind die Satelliten ausgefallen? Alle? Was ist mit unseren Kontakten?“

„Woher soll ich das wissen?“, blaffte eine andere Stimme zurück. „Was ist das?“ Viele Stimmen sprachen durcheinander und immer wieder hörte man die Frage heraus: „Was ist das? Ein Erdbeben? Hier gibt es keine Erdbeben, das ist geologisch völlig ausgeschlossen.“

Die Funkübertragung knackte und schepperte, es begann zu rauschen und zu pfeifen. David fing Rebas besorgten Blick auf und die Geste, die sie Guylian gab. Sie kurbelte mit der rechten Hand.

Guylian drückte sich den Kopfhörer gegen das linke Ohr. „Boden, hier Pickles. Ein Asteroid hat Mittelamerika vor wenigen Minuten getroffen. Was Sie gerade erwischt, sind die ersten Ausläufer der Schockwelle. Sie erleben ein heftiges bis schweres Erdbeben, können Sie hören?“

Aus dem Lautsprecher drangen Schreie und laute Rufe. Eine Frau weinte. Umstürzende Möbel verursachten einen gewaltigen Radau und machten das Chaos größer.

David verzog das Gesicht. Ihm lief eine Gänsehaut über die Arme, als ein nicht menschliches Kreischen ertönte.

„Da birst Metall“, flüsterte Procter. „So hört es sich an, wenn Metallplatten unter großer horizontaler Krafteinwirkung verschoben und zerfetzt werden.“

„Die Tür zum Kontrollraum“, wusste Stan, „ist aus Metall.“

Die beiden Frauen tauschten einen langen Blick, bis Procter sagte: „In den Wänden und Decken sind Stahlträger verbaut, um die Anlage stabiler zu machen und gegen amateurhaftes Abhören zu sichern.“

David musste eine Weile nachdenken, um es zu verstehen. Procter war ein Genie. Sie tat sich leicht mit Zusammenhängen jeglicher Art, besonders, wenn es um Materialien und Materialverbundstoffe ging. Sie schnupperte an einem Stück Blech und wusste, welche Legierung es war und welche Anteile von welchem Metall darin waren. Sie meinte, das käme von ihrer jahrelangen Berufserfahrung, David fand ihre Fähigkeiten phänomenal. Übernatürlich. Quasi nebenbei berechnete sie mit Leichtigkeit Flugbahnen und Landeplätze, beschrieb ohne Mühe mathematische Kurven.

Stacey war Zoologin und kümmerte sich mehr oder weniger gut um die Mäusepopulation auf der Station. Sie hätschelte und betüdelte die Tierchen je nach Versuchsaufbau, fütterte sie liebevoll mit Leckereien oder knallhart mit nur einem Maiskörnchen am Tag, je nachdem, was im Laborbuch stand. Wenn der Versuch vorsah, ein Mäuschen in den Weltraum zu pusten, um zu sehen, wie lange es mit dem Sterben dauerte, stand sie mit einer Stoppuhr daneben. Sie ließ sich niemals mit Stacey ansprechen, sondern ausschließlich mit Stan. Das kam aus der Zeit, als sie einen Studienplatz suchte. Die Bewerbungen der Stacey Nathalia White führten zu Absagen, darum wurde sie wütend und kürzte ihren Vornamen ab. Sie fügte das N hinzu und gab sich als Stan aus. Dieselben Universitäten, die sie vorher abgelehnt hatten, schickten nun Zusagen und kassierten im Gegenzug Klagen wegen Diskriminierung.

„Da ist eine Menge Geld rausgekommen“, erzählte Stan bei Gelegenheit. „Erst dachte ich, das lege ich für die Rente zurück. Man kann heutzutage immer ein zusätzliches Polster für später brauchen. Letztendlich habe ich für einige Mädchenschulen in Indien gespendet. Die können sich dort noch weniger gegen Diskriminierung wehren als wir hier. Ich glaube, die können das Geld sinnvoll verwenden. Zwölf Millionen waren es. Abzüglich einer halben Million, die ich in eine Privatuni gesteckt habe. Ich dachte mir, warum sollte ich auf eine billige Uni gehen, wenn ich immer von einer schnieken Privatuni geträumt habe, wo jeder Student sein eigenes Apartment bewohnt, niemand dazuverdienen muss und die Schule echt Geld für die neueste Technik und die besten Professoren hat.“

David erinnerte sich, wie ihre Pupillen gefunkelt hatten, als sie diese Geschichte erzählte. Jetzt funkelte nichts in den weit aufgerissenen blauen Augen. Ihr blonder Pferdeschwanz schwebte hinter ihrem Kopf, das Haar war gerade lang genug, um es einzufangen und wie einen Besen abstehen zu lassen. Ihre Finger umklammerten einen Haltegriff. Seine Gedanken kehrten zu der aktuellen Lage zurück. „Ben ist…“

„Genau“, fiel ihm Dent ins Wort. „Wo ist Ben? Auf dem Ergometer hatte er zwar die Erde nicht im Blick…“ Er warf einen Blick auf seine Uhr. „Nicht um diese Zeit. Er hätte allerdings den Asteroiden kommen sehen müssen. An seiner Stelle wäre ich sofort vom Rad gesprungen. Es sieht dem Knallkopf gleich, sein Sportprogramm über eine derartige Sensation zu stellen.“

Reba fasste sich an den Kopf. „David, ist es wahr, was Sie gesagt haben?“

Aus den Lautsprechern tönte nach einem eindringlichen Brechen und Bersten, Krachen, Scheppern und Knirschen ein dumpfes Zischen. Keine menschliche Stimme war zu hören. Statisches Rauschen und Knistern, mochte Guylian noch so viel an ihren Schaltern drehen und den Knöpfen rütteln.

Li sagte: „Darüber macht man keine Scherze.“

Bis auf Modi war die Crew mittlerweile vollständig vor dem Steuerpult versammelt. Reba brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. „Guylian, Sie versuchen weiterhin eine Bodenkontrolle zu erreichen. Wir müssten es in wenigen Minuten zu Eucon 4 schaffen. Glenn und Dent, Sie kommen mit.“ Aus einer der Schubladen holte sie vier Kopfhörer, die sie nacheinander an Glenn, Dent und David reichte. Sich selbst steckte sie einen der Knöpfe ins Ohr und klemmte den Bügel hinter der Ohrmuschel fest. „Wir sind auf Kanal zwei zu erreichen. Ich will auf dem Laufenden gehalten werden, was mit Boden los ist.“

„Verstanden.“ Guylian schraubte und knapste an ihren Instrumenten herum. „Sven, volle Leistung auf das TiSet und den Bereich von MiKSat will ich so groß wie möglich. Sprechen Sie zufällig Russisch?“

„Ja“, war Svens Antwort. „Ich habe in Moskau studiert.“ Er begann zu sprechen und niemand auf der Pickles verstand ihn mehr.

David folgte dem Kapitän und den anderen durch den Verbindungsschlauch. Man war nach den Erfahrungen mit den anderen Raumstationen vor langer Zeit dazu übergegangen, die einzelnen Module durch flexible Schläuche zu verbinden. Wenn die Pickles auf Unebenheiten im Raum reagierte und schwankte oder rollte, zerriss es nicht gleich die gesamte Station. Die Astronauten waren weniger mit Reparaturen kleiner Risse beschäftigt und das System meldete nicht mehr so viele Fehler. Ein guter Teil dieser störungsfreien Arbeit war auch dem magnetischen Schutzschild geschuldet, der die Station umgab.

David nestelte am Kopfhörer herum, der an seinem anliegenden Ohr nicht recht halten wollte. Er stellte den Bügel fester und prallte mit der Schulter gegen die Schränke an der Seite. Prompt spürte er eine Hand, die ihn am Kragen des T-Shirts packte und fortzog.

„David“, sagte Reba ernst, „wenn das nicht wirklich ein Notfall ist, kriegen Sie so was von Ärger. Verarschen Sie mich niemals auf solche Weise, sonst wünschen Sie sich ganz schnell auf eine Einzelmission.“

Endlich blieb der Ohrstöpsel hängen. „Kapitän, mir ist nicht nach Späßen zumute. Li wollte Ben etwas wegen der Bohnen fragen. Wenn man die beiden reden hört, könnte man meinen, die Existenz der gesamten Menschheit hinge einzig und allein von diesen Bohnen ab. Er überschätzt zweifellos die Bedeutung seiner blöden Bohnen.“

„Kletterbohnen“, sagte Dent. „Li und Ben arbeiten mit Kletterbohnen, nicht Blödbohnen.“

„Blödbohnen“, nickte Reba. „Ich mag keine Bohnen und schon gar nicht, wenn Ben sie mit seiner eigenen Kacke zu düngen beginnt. Allein die Vorstellung ist dermaßen widerlich.“

David kam ein Schnauben aus. „Na, dieser Teil des Versuchs muss ausfallen. Was Ben an Kot produziert hat, ist in seinen Hosen gelandet.“ „Welche Wette haben Sie verloren?“, wollte Dent wissen. „Ich hab’s vergessen?“

„Er hat mich reingelegt.“ David schwebte näher bei den anderen, damit er nicht so laut sprechen musste. „In der neuen Programmversion kann man direkt aus dem Programm heraus als pdf speichern. Das wusste er, ich nicht. Ich sagte, er müsse umwandeln, er meinte, das ginge leichter. Er hat mich reingequatscht und zu dieser Wette verleitet und ich war mir ja sicher. Ich meine, wer, wenn nicht ich, sollte sich auskennen mit den Programmversionen?“

„Ja, ja“, machte Dent, „ich erinnere mich. Sie hätten seinen Schokoladenvorrat gewinnen können. Nicht die billige Schokolade, sondern die gute.“

„Schokolade!“ David versuchte den Gedanken an Süßkram aus seinem Kopf zu schütteln. „Wir hätten statt der Blödbohnen einige Kakaobäume mitnehmen sollen. Ich würde sterben für ein Stück richtig guter Schokolade.“ Auf dem Weg zum nächsten Durchgang suchte er seine Taschen ab. Schokolade hatte er natürlich keine und die Billigschokolade vom Sponsor schmeckte ihm nicht einmal, wenn er seit Wochen keine Schokolade gegessen hatte. Wenn alle paar Monate eine Versorgungslieferung kam, futterte er seine Tafel bester Premiumschokolade meistens am selben Tag. Kaugummi! Er fand das Döschen mit dem Kaugummi. Für den Notfall hatte er die Plastikbox an Bord geschmuggelt und wenn die Gier nach Süßem zu groß wurde, so wie jetzt, schob er sich einen Kaugummi zwischen die Zähne.

Reba wedelte mit dem Zeigefinger. „Spucken Sie den bloß nicht aus Versehen in die Ecke und pappen Sie ihn ja nicht an die Unterseite eines Tisches, verstanden?“

David zerstreute ihre Bedenken mit einer Pirouette um die Längsachse. „Ich schlucke meine Kaugummis runter, sobald der Zucker weg ist.“

Einen Moment schwebten sie schweigend hintereinander her, dann sagte Glenn plötzlich: „Zuckerfrei wäre besser, wegen der Zähne.“

Keine Sekunde dachte David ernsthaft darüber nach. Süßstoff hatte nicht dieselbe Wirkung wie Zucker und schmeckte mehr bitter als süß. Ihm prickelte davon die Zungenspitze wie von Kokain. Colageschmack und echter Zucker, das war die einzig wahre Kombination. Er machte eine kurze Handbewegung, als er sich an einer Halterung entlang hangelte. „Mein Zahnarzt hat mir am dreizehnten November einen Termin eingestellt, obwohl an meinen Zähnen nie was zu machen ist. Keine Füllung, keine Krone, nichts. Er will mich zweimal im Jahr sehen, weil er fürs Entfernen von kaum vorhandenem Zahnstein ein Heidengeld kassiert und ich ihm damit quasi den Maserati finanziere. Was meint ihr, wie groß die Verwüstung auf der Erde ist?“

„Total“, nickte Dent. „Ich wette, da steht kein Stein mehr auf dem anderen. Den Crash kann niemand überlebt haben. Wen der Einschlag selbst nicht niedergemacht hat, der wird an den Folgen jämmerlich krepieren.“

Reba war blass geworden. „Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen und abwarten, was Boden sagt, sobald sie wieder auf Sendung sind. Es gibt immer die Möglichkeit weiterzumachen.“

Dent tippte sich an die Stirn. „Dieser Asteroid hatte eine Größe von ungefähr vierzig Kilometern. Ich habe ihn fliegen sehen und seine Größe im Verhältnis zu Proxima gemessen.“

„Häh?“ David schloss zu ihm auf. „Sie haben Proxima gesehen?“

„Natürlich.“ Dent schwebte weiter. „Das Annäherungsfenster ist seit zwei Stunden bei hundertfünfzig Grad. Ich habe Proxima auf dem Monitor beobachtet, als dieser riesige Brocken hinter ihr entlanggeschossen ist. Auf dem Standbild sind die Größen gut zu erkennen und ich habe einen Durchmesser von ungefähr vierzig Kilometern berechnet.“

„Mit der Sonne als Lichtquelle?“, hakte David nach. „Sie steht im Moment völlig anders.“

„Der Mond“, sagte Dent über seine Schulter hinweg. „Die Reststrahlung des Mondes reicht, um ungefähr die Maße zu ermitteln. Es geht nicht auf den Zentimeter, Pi mal Daumen. Ich bin auf vierzig Kilometer, dreihundert Meter gekommen.“

„Vierzig Komma drei.“ Reba ließ Glenn und Dent vorausschweben. „Wie groß war der Asteroid, der die Dinosaurier ausgelöscht hat?“

Unisono sagten Dent und David: „Zehn Kilometer.“

„Den Einschlag damals“, überlegte Reba weiter, „haben die Dinosaurier nicht überlebt, weil das Licht weg war und die Pflanzen eingingen. Erst starben die Pflanzenfresser, dann die Fleischfresser und zuletzt die Aasfresser.“