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Dolores Gräber, Mitte 60, rundlich und grundsätzlich sehr entspannt, muss ihr kriminalistisches Gespür wieder einmal unter Beweis stellen, denn am Maibaum hängt ein Toter. Ausgerechnet in der Früh am Ostersonntag, was im kleinen oberbayerischen Dorf schnell für Aufsehen sorgt. War es Selbstmord oder Mord? Dolores und ihr Zwergkugelfisch Knödel, den sie in einem Glas gern spazieren trägt, nehmen die Ermittlungen auf - und jeder Lesende ist eingeladen mitzuraten. Die Kapitel mit den einzelnen Verdächtigen können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden und wer sich sicher ist, den Täter oder die Täterin zu kennen, kann die Vermutung im letzten Kapitel überprüfen.
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Seitenzahl: 168
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Anleitung
Erstes Kapitel – Die Leiche wird gefunden
Gundula – Karls Witwe wird befragt
Griffel – Karls bester Spezl sagt nicht viel
Abdullah – Feuer und Flamme für den Burschenverein
Lotte – Einpflanzen und Ausreißen
Torben – „Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen“
Berthold – Der Pate
Letztes Kapitel – Auflösung
Jede der Gräber G’schichten beginnt mit dem Kapitel, in dem die Leiche gefunden wird. Dieses Kapitel sollte natürlich zuerst gelesen werden, weil es grundsätzliche Informationen liefert.
Ganz hinten findet sich das letzte Kapitel mit der Auflösung, also dem Tathergang und der Aufdeckung des Mörders oder der Mörderin. Wer miträtseln möchte, sollte dieses Kapitel als letztes lesen.
In den Kapiteln dazwischen befragt Dolores Gräber, unsere Ermittlerin, die Verdächtigen. Jede Spürnase kann/darf/sollte diese Kapitel in beliebiger Reihenfolge lesen, je nachdem, in welche Richtung Dolores ermitteln soll.
Der Lohn fürs fleißige Mitraten ist das gute Gefühl, genauso schlau oder sogar schlauer zu sein als Dolores Gräber und ihr Zwergkugelfisch Knödel.
Dolores Gräber, Mitte 60, rundlich und grundsätzlich sehr entspannt, eilte mit kleinen Tippelschritten durchs Dorf. Sie war spät dran. Ihre dauergewellten graumelierten Haare wippten im Takt, die schwarzen schönen Schuhe, die sie bloß selten trug, aber die eben reinschlüpfbereit vor der Tür gestanden hatten, drückten am kleinen Zeh. Diese dumme dunkelblaue Stoffhose kniff im Bund und gab keinen Millimeter nach. Gestern hatte sie – also Dolores, nicht die Hose – eindeutig über die Stränge geschlagen, was das Essen und Trinken anbelangte. Vor allem das Trinken.
Die Kirchturmuhr schlug sieben und das war kein gutes Zeichen. Sie sollte längst in der Kirche sein.
„Knödel“, brachte Dolores abgehakt zwischen ihren hektischen Atemzügen heraus, „wir sind spät dran. Sehr spät dran.“
Damit war die Reihe wohl an ihr, eine Runde für den Chor zu spendieren. Das war die Regel. Wer als Letzter oder Letzte zu spät zur Chorprobe kam, musste für die anderen eine Runde ausgeben.
Früher war es eine Runde Schnaps beim Trödler gewesen, aber mittlerweile… Dolores Gräber schnappte nach Luft. Es ging leicht bergab über das Kopfsteinpflaster und sie musste aufpassen nicht zu fallen. Die Steine lagen nicht mehr ganz eben, seit der Schneepflug im letzten Winter das Räumschild zu tief eingestellt hatte.
Zu ihrer Linken der Trödler, das Kult-Bistro des Dorfes, der Treffpunkt für Jung und Alt, der Mittelpunkt des Geschehens. Wer etwas erfahren wollte, ging zum Trödler. Wer etwas zu erzählen hatte, auch. Ein uriges Bistro mit den besten Cocktails weit und breit. Früher gab es eine Runde Schnaps, also Willi für alle, heute Amaretto, Baileys, Whisky, Whiskey, glutenfrei, laktosefrei und natürlich – für die, sie es so wollten – alkoholfrei. Wenn man dem Chor eine Runde spendierte, war der Kassenbon dafür länger als die Auffahrt hinterm Haus.
Dolores hastete an den Fenstern der Gaststube vorbei. Eben wegen dieser sagenhaft guten Cocktails war sie zu spät dran. Drei Pina Colada mit den Leuten vom Chor waren schon grenzwertig und dann spendierte Karl anlässlich der Geburt seines Sohnes Karl Junior Erdbeerlimes für das ganze Lokal. Mehrere Flaschen. „Reiner“, sagte Karl und knallte dabei einen grünen Schein auf den Tresen, „Erdbeerlimes für alle. Kindsbier quasi, bloß ohne Bier. Für mich ein Wasser, mir ist nicht so.“
Ablehnen wäre unhöflich gewesen, vor allem, weil Karlchen schon einige Monate alt war und der Karl sich hatte durchringen müssen, die Geburt dieses Kindes zu feiern. Er war auch nicht bis zum Schluss geblieben. Als Dolores sich – wankend und lallend und schwindelig im Kopf – für die spendierten Getränke bedanken wollte, war er nirgendwo zu finden.
Sie hörte etwas rascheln und entdeckte das Medium hinter einem großen Pflanztrog. Die rüstige Dame im bunten Flatterkleid hielt ein Pendel über eine kümmerliche Tulpenansammlung und summte leise vor sich hin. Dolores hätte den Kopf geschüttelt, wenn es nicht ein so alltäglicher Anblick gewesen wäre. Das Medium befragte alle Pflanzen im Dorf, ob sie sich an ihrem Standort wohlfühlten, ob sie Dünger brauchten oder mehr Wasser oder einen Rückschnitt. Mit dem Pendel fragte sie, immer mit dem Pendel. Darüber hätte Dolores gleich nochmal den Kopf schütteln können, aber die Blumen, Büsche und Sträucher, die das Medium betreute, waren die schönsten im ganzen Dorf. Irgendwas war an der Sache mit dem Pendel dran.
Ihr Kopf tat weh. Dolores bremste ab, denn die Hauptstraße lag vor ihr. Das Gehirn drückte von innen gegen die Schädelvorderseite und verursachte ein heftiges Stechen, das mit Blitzen vor den Augen einherging. Dolores kniff kurz die Augen zusammen, ehe sie nach links und rechts schaute. Das war reine Gewohnheit, dieses Schauen in beide Richtungen, denn normalerweise kam Sonntagfrüh kein Auto diese Straße entlang. Auch heute kam kein Auto, dafür sah sie am Maibaum auf der anderen Straßenseite eine Gruppe von Leuten stehen, die miteinander tuschelten.
„Der Wolfi“, stellte Dolores murmelnd fest. „Die Gitta ist auch da und der Peter. Na, dann geht die nächste Runde jedenfalls nicht auf meine Kosten. Knödel, Glück gehabt.“ Sie machte einen tiefen Atemzug.
In dem großen runden Glas, das sie mit sich schleppte, zog ihr Zwergkugelfisch Knödel zwei schnelle Runden, ehe er sich vorn am Glas die Nase plattdrückte und zu den Leuten unterm Maibaum schaute. Er hatte verdammt gute Augen.
Dolores überquerte die Straße. Sie sollte rasch in die Kirche gehen und so tun, als wäre sie absolut pünktlich gewesen. Sollten Wolfi, Gitta und Peter unter sich ausmachen, wer der letzte war und eine Runde ausgeben musste! Der Peter, dieser Korinthenkacker, hatte eh noch nie zahlen müssen.
Ihre Neugier jedoch siegte, besonders, weil Pater Notker bei der Gruppe stand und inbrünstig betete. Sein braunes Mönchsgewand, stellte sie ein bisschen irritiert fest, war schon wieder etwas zu kurz, dabei hatte er erst zu Weihnachten neue Gewänder bestellt. Die Rechnung dafür war irgendwie im Netz gelandet und hatte ihrer Höhe wegen für große Empörung gesorgt. So viel Geld für so ein schlichtes Gewand.
Gerade als Gitta etwas in Peters Ohr flüstern wollte, entdeckte sie Dolores und schrie auf. „Dolores! Dolores, was für ein Glück, dass du kommst.“ Sie tippte auf ihr Handgelenkt. „Du bist fei zu spät für die Chorprobe. Brauchst dich nicht rausreden wollen, die nächste Runde geht auf jeden Fall auf deinen Deckel. Weil, wir stehen ja schon eine ganze Weile so beieinander.“
Dolores hätte sich den Schädel gehalten, wo bei jedem Ton ein rasender Kopfschmerz durch die Gehirnwindungen schoss, wenn sie nicht Knödels Glas hätte tragen müssen.
Gitta beugte sich leicht nach vorn und stupste mit dem Finger gegen das Glas. „Servus, Knödel, wie es aussieht, bist du um einiges fitter als dein Frauchen. Ist spät geworden, gestern, nicht wahr? Wann wart ihr denn daheim? Ja, wann hat sie dich kleines Fischlein denn ins Aquarium zurückgelassen?“
Diese Frage galt natürlich nicht dem Zwergkugelfisch, sondern Dolores. „Zwei“, sagte sie mit brüchiger, knarziger Stimme. „Ich glaube, es war so gegen zwei.“
Peter schnaubte in ein Taschentuch und knuddelte es zurück in seinen Ärmel. „Woischd, s’war wohl eher gegen halb vier, vier.“
„Halb vier, vier“, äffte ihn Dolores nach. „Ja, kann auch halb vier, vier gewesen sein. Auf jeden Fall tut mir der Kopf furchtbar weh und ich habe keine Kopfwehtablette dabei. Meine Stimme klingt wie ein Reibeisen. Ihr werdet heute keine Freude mit meiner Singerei haben.“
Gitta, Peter und Wolfi tauschten Blicke. Lange, eingehende Blicke. Gitta knibbelte an ihren Fingernägeln herum, die ohnehin sehr kurz waren. Wolfi stupste Pater Notker den Ellbogen in die Seite, aber der Pater betete unbeirrt weiter.
Eindeutig war hier etwas faul. Dolores schaute von einem zum anderen. Sie spürte ein Ziehen in der Schulter und beschloss Knödel abzustellen. Nur wenig entfernt stand eine Hausbank und dort wurde Knödel nun geparkt.
„Was“, fragte Dolores ernst, „ist los mit euch?“
Gitta zog eine Grimasse wie bei schlimmem Bauchweh und deutete mit dem Daumen über ihre Schulter. Dort stand der Maibaum, es gab die Straße zum Dorfladen hinunter, den Pfarrhof und eben der Rest der Hauptstraße. Nichts, was Dolores nicht kannte, und nichts, was irgendwie ungewöhnlich aussah. Sie zuckte die Schultern. „Und?“
Gitta verstärkte ihre Geste und deutete zweimal heftig mit dem Daumen hinter sich. Dabei machte sie leise Grunzgeräusche.
Peter, der ganzjährig unter Heuschnupfen und anderen Allergien litt, schniefte laut und deutlich. Er war kleiner und dicker als Dolores, mit einer Glatze und schlecht rasiertem Drei-Tage-Bart. Ohne lange zu zaudern, nahm er Dolores‘ Gesicht in die Hände und bog ihren Kopf nach vorn. Ihr Blick glitt nach unten auf den asphaltierten Platz rund um den Maibaum.
Eine leergerauchte rote Zigarettenschachtel wartete zusammengeknautscht auf den Wurf in einen Abfalleimer, der einzige Müll, der herumlag. Weil Ostersonntag war, hatte man den Platz gefegt und alles Streugut, das vom Winter übrig war, weggeschafft. Nur die leere Zigarettenschachtel lag da.
Dolores stand der Sonne zugewandt. Ostersonntag. Ein sonniger Ostersonntag. Sie sah auf dem Asphalt den Schatten des Maibaums, wie gewöhnlich. Nein, nicht wie gewöhnlich. Der Schatten zeigte eindeutig den Maibaum mit den Schildern der örtlichen Vereine zu beiden Seiten, aber da war noch etwas. Ein weiterer Schatten, ein dunkler Fleck, der Dolores eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Ihr Kopf schoss in die Höhe und sie starrte den Maibaum an. Eine Leiche!
„…in Ewigkeit, Amen“, sprach Pater Notker. „Möge die arme Seele Frieden finden und der Herr ihm alle Sünden vergeben. Gegrüßet seist du, Maria…“ Er begann ein weiteres Gebet.
Dolores hatte vor Schreck die Hand vor den Mund geschlagen und die Luft angehalten. Nun atmete sie mühsam aus. „Das ist ja der Karl, unser Tenor!“
Gitta tat einen schweren Seufzer und nickte ernst. Sie, die sonst den Mund nicht leicht halten konnte, schwieg. Sie steckte die Hände tief in die Taschen ihrer Kittelschürze.
Ein Motorengeräusch ließ alle aufhorchen. Die Hauptstraße entlang kam ein Porsche gefahren, ziemlich langsam, dafür mit sehr lauter Rock-Musik. Als er an ihnen vorbeituckerte, hob Stefan zum Gruß die Hand. Neben ihm saß Alwin, offensichtlich total betrunken, und er hatte einen Joint in der Hand. Aus dem offenen Fenster wehte eine Wolke, die sehr süß duftete. Alwin bemerkte Dolores, lachte und grinste übers ganze Gesicht. Er streckte ihr den Arm entgegen, Zeige- und kleiner Finger von der Faust abgespreizt und brüllte aus voller Kehle: „Iron Maiden!“
Dolores grüßte mit einer Handbewegung zurück. Gestern hatte es, obwohl Karsamstag war, in der Stadt eine Rock-Tribute-Party gegeben und natürlich waren Stefan und Alwin dort mit von der Partie.
„Heim um sieben“, schüttelte Gitta den Kopf. „Also, die Jugend von heute… Sowas hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben.“
Peter winkte dem Porsche selig lächelnd hinterher. „Rechd hen se. Obwoll ich de Eiron Meden eä zu em Mäddl zähle ded…“ Als er Gittas missbilligenden Blick bemerkte, wurde er sofort wieder ernst und er wechselte sofort zurück ins Hochdeutsche. „Der Karl, ja, ja, unser Karl. Der beste Tenor, woischd, den wir je hatten.“
„Gegrüßet seist du, Maria…“, begann Pater Notker eine neue Gebetsrunde. Er hatte einen Rosenkranz um seine Hände gewickelt und ließ Perle um Perle durch seine Finger gleiten.
Ein Windstoß brachte Dolores‘ Haar in Bewegung und die Leiche zum Baumeln. Sie roch einen Hauch von Salz und spürte ungewöhnliche Wärme. „Fön“, stellte sie fest. „Vielleicht kommt mein Kopfweh daher.“
Wolfi schnaubte. „Das kommt schon vom Saufen, genau wie mein Brummschädel auch. Da quält man sich aus dem Bett, frühmorgens am Ostersonntag, um in der Kirche den Begleitchor für unseren ach so tollen Star-Tenor zu geben, und dann hängt der Depp am Maibaum und ist tot.“
Mit strengem Blick schaute Pater Notker von seinem Rosenkranz hoch. „Heilige Maria, Mutter Gottes!“
„Ist doch wahr“, brummte Wolfi. „So ein Arschloch. Ausgerechnet jetzt.“
„Möchte anmerken“, sagte Pater Notker, „es ist zwar früh am heiligen Ostersonntag, aber die richtige, wahrhaftige Ostermesse fand bereits vor vier Stunden statt. Die Familie Setzer hat die Gelegenheit genutzt, um den kleinen Benedikt taufen zu lassen.
Eine Taufe in der Osternacht ist immer ein sehr ergreifendes Ereignis.“
Vielleicht, überlegte Dolores, war es ergreifend genug, um den kleinen Schreihals eine Weile zum Schweigen zu bringen. Das Kind war drei Monate alt und in einem anderen Zustand als lauthals brüllend hatte Dolores es nie gesehen.
„War er da schon tot?“, fragte Dolores.
Pater Notker bekreuzigte sich. „Gott bewahre, der kleine Benedikt erfreut sich hoffentlich bester Gesundheit.“
„Nein.“ Dolores zeigte auf den toten Karl. „Ob er da schon tot war.“
Gitta schnaufte scharf ein. Sie hatte Lockenwickler in den feuchten Haaren, die mit einem Kopftuch abgedeckt waren. Anscheinend war sie schon länger auf heute früh, denn das Kopftuch war an manchen Stellen schon getrocknet. „Meinst“, zischte sie, „wir lassen den stundenlang tot am Maibaum hängen, bloß damit nichts den Gottesdienst in der Osternacht stört? Also, Dolores, wofür hältst du uns?“
Wolfi hatte genug vom Stehen. Er ging zur Hausbank, wo Knödel stand, und setzte sich vorsichtig auf die wackelige Konstruktion. „Wahrscheinlich“, sinnierte er, „hat die Dolores da schon ihre Erfahrungen gemacht.“ Er hob den Zeigefinger, als Gitta ihn unterbrechen wollte. „Denk an den Masskrugmord anno dazumal. Da hätte gleich die Polizei geholt gehört, aber damit unsere besten Dorf-Läufer beim Nachtmarathon mitrennen und wichtige Punkte sammeln können und nicht im Polizei-Verhör festsitzen, hat man die Polizei erst gerufen, als die Dolores die Täterin ermittelt hatte. Diese rabiate Busfahrerin, dieses Prackl-Weib, könnt ihr euch erinnern? Nachtmarathon vor Polizei, Punkte im Sport vor Verbrechensbekämpfung.“ Er winkte mit einer weiten Armbewegung ab. „So läuft das bei uns im Dorf. Genau wie letztes Jahr im Herbst, wo diese damische Nudel wild in der Gegend rumgeballert hat. Genau hier beim Rathaus. Der Stefan mit seinem Porsche war auch verdächtig, könnt ihr euch erinnern? Also, der Stefan mit dem alten Porsche. Hat ja einen neuen gekriegt, weil im alten irgendwas mit der Elektronik kaputt war. Der Mord, letztes Jahr, ich weiß es ganz genau, das war die… die… die damische Nudel halt. Damisch wie die Würstel, die sie verkauft hat. Mei, schade. Seitdem hat der Metzger wegen Personalmangel vier Tage die Woche zu.“
Peter nahm Nasenspray. Er sprühte sich jeweils einen Stoß in jedes Nasenloch und begann sofort mit heftigem Hochziehen. „Da hat er schon recht, woischd. Meistens wird die Polizei erst geholt, wenn’s keine Fragen mehr gibt.“ Er zog die Nase lauter und länger hoch als man für möglich gehalten hätte.
„Perfekt!“ Gitta klatschte triumphierend in die Hände und machte gleichzeitig ein saures Gesicht. „Du bist ein ganz schönes Ferkel mit deiner Rotzerei. Also rufen wir jetzt gleich die Polizei an, weil’s ja keine Fragen mehr braucht. Offensichtlich hat der Karl sich am Maibaum aufgehängt. Suizid.“ Sie schaute ernst nickend von einem zum nächsten. „Selbstmord.“
„Herr im Himmel!“, stieß Pater Notker aus. „Vater unser im Himmel…“ Auf seiner kahlen Stirn und dem haarlosen Schädel bildeten sich kleine Tröpfchen. Er war das Gegenteil von fit und kämpfte bei der geringsten Anstrengung mit üblen Schweißausbrüchen und Kurzatmigkeit. Eine Runde Rosenkranz war ihm anscheinend schon zu viel.
Mit verschränkten Armen schaute Wolfi hoch zur Leiche, deren Füße gute zwei Meter über dem Boden im Fön schaukelten. „Suizid. So, so. Knödel, was meinst?“
Grundsätzlich wohnte Knödel, der Zwergkugelfisch, in einem geräumigen Aquarium, zusammen mit seinem langjährigen Zwergkugelfischfreund Streifchen und einem Schwarm dämlicher Neonbarben. Irgendwann hatte Dolores Gräber bemerkt, wie neugierig die beiden Zwergkugelfische waren. Besonders Knödel, der vom vielen Schneckenfressen tatsächlich kugelrund wie ein Knödel war, zeigte großes Interesse an allem, was außerhalb des Aquariums passierte. Einmal tauchte Dolores einen großen Messbecher ins Becken und Knödel schwamm sofort hinein. Sie stellte den Messbecher ans Fenster, damit Knödel rausschauen konnte, und sie hatte den Eindruck, es gefalle dem Kugelfisch. Sie besorgte ein rundes Goldfischglas, ließ Knödel hineinschwimmen und begann ihn im Dorf spazieren zu tragen und sie nahm ihn auch zur wöchentlichen Chorprobe mit.
„Weißt“, sagte Wolfi zu Knödel im Glas, „zweifellos hängt der Karl am Maibaum und tot ist er auch, zweifellos, aber ob er sich aufgehängt hat? Selber? Ganz allein?“
Knödel schwamm rasch mehrere Runden hintereinander, ein Verhalten, das von Dolores und allen, die Knödel kannten, als Ablehnung interpretiert wurde. Wenn Knödel zustimmte, kam er ruhig nach vorn ans Glas und verharrte dort.
„Siehst!“ Wolfi zeigte auf das Spazierglas. „Dein Fisch, Dolores, hat auch seine Zweifel an der Suizid-Theorie.“
Gitta stampfte mit dem Fuß auf. „Der Knödel ist ein Fisch! Ein süßer Fisch zwar, aber immer noch ein Fisch mit allerhöchstens einem Hirn wie ein Spatz! Wie soll der Karl denn an den Maibaum gekommen sein, wenn er sich nicht selbst aufgehängt hat? Meinst, da geht nachts einer umher und knüpft die Leute auf?“
„Genau“, nickte Wolfi.
Gitta schnaubte.
„Ganz genau“, wiederholte Wolfi. „Weil…“ Er hob dramatisch mahnend den Zeigefinger in die Höhe. „Wie soll er sich selber denn aufgehängt haben? Es ist überhaupt nichts rundum zu sehen, wo er hätte draufsteigen können. Keine Leiter, keine Kiste, nichts.“
Gitta schickte ihm einen Fluch entgegen, bevor sie zu dem Geländer trat, das den Maibaum von der Hauptstraße trennte. Sie klopfte auf den obersten Querbalken. „Da ist er draufgestiegen, keine Frage, und runtergesprungen. Schon hängt er am Maibaum.“
Pater Notker fand kein Ende im Beten. Er hatte den Rosenkranz bestimmt schon mehrfach durch. „Hand an sich legen, Herr im Himmel, erbarme Dich, Hand an sich legen, Gott erbarme Dich. Möge der Herr dieser armen Seele gnädig sein.“
„Amen.“ Gitta stemmte die Hände in die Hüften. „Der hat sich aufgehängt, weil er beim Superstar überhaupt nicht punkten konnte. War doch im Fernsehen, ganz groß, wie der Karl vorgesungen hat und ihn alle ausgebuht haben. Die Jury hat ihn postwendend heimgeschickt, unseren Startenor.“
Wolfi grunzte. „Geh weiter, wegen so einem Schmarrn bringt man sich nicht um.“
„Eine Blamage war es!“
„Schmarrn!“
Jetzt grunzte Gitta. „Gut, dann halt wegen der Schulen, die ihm über den Kopf gewachsen sind und weil er kurz davor steht seine Zimmerei zu verlieren. Die Zimmerei, die er von seinem Vater selig übernommen hat. Verzweiflung. Schiere Verzweiflung. Wegen so was hängen sich die Leute schon auf.“ Sie schaute auf ihre Uhr. „Ich telefoniere jetzt nach der Polizei und wenn die da sind, können wir endlich in die Kirche gehen. Um zehn ist Gottesdienst und wir wollten vorher den Kanon üben.“ Sie fischte in ihrer Handtasche nach dem Handy.
„Kanon!“, stieß Wolfi aus. „Den können wir schon üben und singen auch, aber mit dem Solo wird es nichts. Der Tenor hängt nämlich ziemlich durch.“
„Ach so. Ja.“ Gitta zuckte die Schultern. „Dann singen wir halt Das Grab ist leer, das ist nicht so altbacken wie die anderen Lieder.“
„Altbacken“, tadelte Pater Notker. „Wo der Herr ist, ist Ewigkeit. Kein Frohlocken, kein Hosianna kann je altbacken sein.“
„Kann’s schon“, widersprach Gitta. „Haben Sie mal auf die Texte gehört? Altmodischer geht es kaum. Da sind Wörter drin, die kennt nicht mal meine Großmutter.“
Pater Notker begann mit dem Zeigefinger zu wackeln. „Frau Gitta, Frau Gitta, es geziemt sich nicht blasphemische Kommentare abzugeben oder gegen die ehrwürdige Mutter Kirche zu wettern.“
„Großmutter Kirche…“ Gitta rollte mit den Augen und suchte mit ihrem Handy nach Empfang. In der Dorfmitte sah es damit schlecht aus, sofern man nicht einen ganz bestimmten Anbieter hatte. „Ich hab eh keine Lust auf den Kanon, wo ich bloß Hintergrundmusik für den Startenor bin. Seit dreißig Jahren singe ich im Kirchenchor, da bin ich schon was Besseres als bloß Hintergrund für einen hochnäsigen Gockel, der beim Superstar nicht mal die Vorrunde gepackt hat.“
„Von mir aus.“ Wolfi holte Tabak aus seiner Tasche und begann sich eine Zigarette zu drehen, jedenfalls hofften alle, es war eine gewöhnliche Zigarette mit normalem Tabak. „Singen wir halt vom leeren Grab. Wir können das vierte Lied meinetwegen auch ganz weglassen, wird der Gottesdienst nicht so elend lang.“
Sofort drehte sich Pater Notker zu ihm herum und drohte mit dem Zeigefinger. „Herr Wolfi, schlagen Sie bitte nicht in dieselbe Kerbe wie die verderbte Frau Gitta. Der feierliche Gottesdienst anlässlich des Osterfestes kann gar nicht lang genug sein. Es ist eine Freude, dieses göttliche Ereignis, dieses Wunder mit immer neuen Lobliedern zu besingen.“
„Go, tell it on the mountain!”, warf Peter hustend ein. „Woischd, das wollte ich schon längst einmal singen. Fröhlicher geht es kaum und es bringt ein bissle Pepp in die ganze Sache.“
Pater Notker schnaubte. „Neumoderner Firlefanz!“
„Ich hab kein Netz“, jammerte Gitta. „Gestern war noch eins da, jetzt ist es weg.“