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Mit einem fürchterlichen Schrei beginnt eine grausame Mordserie in dem sonst so ruhigen Dörfchen. Eine dämonische Bestie direkt aus der Hölle soll ihr Unwesen treiben und jene heimsuchen, die Schuld auf sich geladen haben. Abgeschnitten von der Außenwelt folgen Candice und einige Dorfbewohner der blutigen Spur, um herauszufinden, wer die Bestie entfesselt hat.
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Seitenzahl: 217
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
„Manche Nächte sind so hell, da werfen sogar die Häuser Schatten.“ Sie ließ den Blick über das verschlafene Dörfchen streifen. Nicht bloß die Häuser warfen Schatten. Die Bäume, die Autos, die Laternen. Die Büsche und Sträucher warfen Schatten. Der Vollmond kroch hinter dem Rabenkopf, dem Berg links der Benediktenwand, hervor und tauchte die Welt in ein Dämmerlicht. Manchmal zog Candice früh am Tag die Rollläden hoch, in der Annahme, es graute der Morgen bereits, dabei war es das Licht eines Vollmondes, das sie in die Irre führte.
Diesmal war es eine vorgetäuschte Abenddämmerung. Die Sonne war vor etwa einer halben Stunde untergegangen und der Himmel längst grau, abgesehen von einem hellblauen Streifen im Westen. Der hellste Himmelskörper war zweifellos der Vollmond, der, einem kreisrunden Käselaib gleich, sacht orange schimmerte.
„Nutzen Sie diese einmalige Gelegenheit und schauen Sie Sternschnuppen“, riet der Wetterfrosch vom dritten Programm. „Bis zu fünfzig, sechzig Sternschnuppen pro Minute sind zu erwarten und wer sich diese Chance entgehen lässt, muss ein ganzes Jahr bis zum nächsten Perseidenschauer warten, um annähernd diese Zahl an kosmischen Wundern zu erleben.“
Nicht bei diesem Licht. Der hellste Stern, meinte das Internet, sei heute der Jupiter. Allerdings gehörte Jupiter zu den Planeten, nicht zu den Sternen, das wusste Candice genau. Außerdem behauptete eine andere Seite, es sei der Saturn, der im Südosten so hell stand, denn der Jupiter käme erst eine Woche später über den Horizont. Dem Internet war nicht zu trauen.
Sie klappte den Deckel ihre Tablets zu und versank für einen Moment tatsächlich in Dunkelheit. Es dauerte, bis sich ihre Augen an die Nacht gewöhnt hatten. Unter dem Kastanienbaum in ihrem Garten hörte Candice den Igel schmatzend und rülpsend die Sonnenblumenkerne schmausen, die die vorwitzigen Spatzen tagsüber aus dem Futterhaus geworfen hatten.
Ringsum reckten die Bäume ihre kahlen Äste gen Himmel. Es war der zwölfte August und es war kalt. Candice fröstelte, obwohl sie sich eine Wolldecke um die Schultern gelegt hatte. Zwölf Grad waren für Mitte August einfach zu wenig. Der Klimawandel machte sich in diesem Jahr nicht bemerkbar, allerdings behaupteten andere Leute, genau dieses kalte Wetter sei eine Folge des Klimawandels.
Ein Windhauch strich über ihre Terrasse. Die Überdachung aus Sicherheitsglas hatte ihre Topfpflanzen vor dem schlimmsten Unwetter seit Jahren geschützt, das vor zwei Wochen übers Dorf gezogen war. Seitdem waren die meisten Bäume kahl wie im Winter, viele schwache Stämme sogar abgeknickt und die Autos reihum sahen aus wie nach einem Angriff. Tiefe Dellen in den Dächern und Motorhauben, manchmal sogar gesprungene Scheiben. Entlaubte Bäume und Büsche, flachgelegte Ziergräser und zerzauste Bambuspflanzungen. Ihr Chinaschilf musste frühzeitig abgeschnitten werden, es hatte braune Blätter wie im späten Herbst bekommen. An manchen Häusern trugen die Dachfenster nun Sprünge, so schlimm war der Hagel niedergeprasselt. Ihre Dachziegel und Dachfenster waren zum Glück heil geblieben und sogar die Solaranlage für das Heißwasser war unversehrt.
Die Kirchturmuhr schlug zehn. Seit dem Sturm ging sie völlig falsch, mal ging sie deutlich vor, mal hinkte sie kräftig nach, und wenn die Glocke schlug, dann immer zehn Uhr, aber es durfte niemand auf den Turm steigen, um die Zeiger richtig zu drehen und nach dem Uhrwerk zu sehen. Die heftigen Orkanböen hatten den Kirchturm, der ohnehin auf viel zu weichem Untergrund stand, in drastische Schieflage gebracht und einzig den Fledermäusen war es erlaubt unters Dach einzufliegen.
Das zuständige Landratsamt forderte wegen Einsturzgefahr den sofortigen Abriss, der Kirchenrat überlegte, ob es eine Möglichkeit zur Reparatur gab, die das schmale Budget nicht völlig überlastete. Erste Freiwillige hatten Spenden angetragen, eine Bank richtete ein Konto dafür ein. Nein, Candice gab keinen Betrag für die Erhaltung des Kirchturms, egal wie oft Cordula vom Kirchenrat lästig nachfragte. Ihr wäre es lieber, man würde das wackelige Ding abreißen, bevor es krachend in einer Staubwolke einstürzte und womöglich jemanden unter sich begrub oder die Häuser ringsum beschädigte.
Oben am Fußweg war eine Stimme zu hören, gedämpft und leise, wie es zu nächtlicher Stunde angemessen war. Schritte. Wenig später eine Gestalt, die auf Höhe ihrer Terrasse stehenblieb. „Candy.“ Er flüsterte, als wäre es ein Verbrechen, in der Dunkelheit über den Gartenzaun zu sprechen.
„Candice“, verbesserte sie.
„Candice.“ Er tippte sich an die Stirn. Vielleicht wollte er mit dieser Geste den richtigen Namen ins Hirn klopfen. „Magst auch Sternschnuppen schauen? Heute soll es richtig viele geben. Die Trümmer eines Asteroiden schwirren zusätzlich zu den Perseiden vorbei.“
„Wunschliste liegt bereit, Gustav.“
„Leider ist der Vollmond viel zu hell.“ Sie konnte seine großen Augen wie schwarze Nadelstiche hinter der winzigen Brille sehen. Sein langes Haar war zu wild für seine kleine Gestalt und seine Lederjacke zu groß für die schmächtigen Schultern. Schräg hinter ihm stand seine Frau, die viel kleiner als er war und niemals etwas sagte. Candice wusste gar nicht, ob sie überhaupt sprechen konnte. Sie war so unscheinbar in Aussehen und Verhalten. Hose, Jacke, leicht geduckter Gang. Candice konnte nicht einmal sagen, welche Farbe ihr Haar hatte. Jetzt, im Halbdunkel, schien es mausgrau zu sein.
„Oben im Moos“, erzählte Gustav, „suchen sie jemanden. Erst dachte ich, die suchen eine ausgebüxte Kuh.“
„So, so.“ In ihrer Kinder- und Jugendzeit, die sie ein paar Dörfer weiter verbracht hatte, war um eine weggelaufene Kuh kein Aufheben gemacht worden. „Die kommt wieder“, war die allgemein lässige Meinung dazu. Wenn die Kuh genug von ihrem Ausflug hatte, kam sie von selber nach Hause in den Stall zum Melken und Füttern. Seit damals waren die Landwirte weniger geworden und selten gab es Kühe, die nicht festgebunden in einer Fleisch- oder Milchfabrik ihr Dasein fristeten. Eine davongelaufene Kuh war heutzutage eine Sensation.
„Es scheint ein Pole zu sein“, fuhr Gustav fort, „jedenfalls hört man sie immer ‚Pole! Pole!‘ rufen.“
Candice fand es ungewöhnlich, eine vermisste Person bei ihrer Nationalität zu rufen. Gab es keinen Namen? Wusste man den nicht? „Sind Fremde im Dorf?“, wunderte sie sich. „Mir ist niemand aufgefallen, aber ich war auch den ganzen Tag auswärts.“
„Pole! Pole! So geht das die ganze Zeit. Wenn man hinten bei den Schrebergärten ist, hört man es deutlich.“ Gustav schrie nicht in die Nacht hinein, seine Stimme war gedämpft. „Das ist halt blöd, wegen des Wolfs, der rumläuft. Du hast von dem Wolf gehört, der das Lamm gefressen hat?“
„Bei uns laufen keine Wölfe rum“, sagte Candice mit fester Stimme. Sie hatte die Gerüchte über die zottelige Bestie natürlich mitbekommen, glaubte aber kein Wort davon. Ein Wolf!
Vor fünf, sechs Jahren war tatsächlich ein Wolf aus dem Bayerischen Wald in diese Gegend gekommen und hatte für Aufsehen gesorgt. Eine Freizeitschäferin, die Angst um ihre Lämmer hatte, verlangte sofort den Abschuss des Wolfes. Tierschützer gingen auf die Barrikaden, um den Wolf zu verteidigen. Bevor der Gemeinderat überhaupt einen Termin zur Beschlussfassung für das Wolf-Problem fand, entschied sich der Wolf die Bundesstraße zu überqueren und ein Tanklaster setzte ihm ein Ende.
„Das ist ein Wolf“, beharrte Gustav. „Ein riesiger Wolf. Wir haben ihn beim Spaziergang gesehen und erkannt. Vor drei Tagen erst und heute haben wir einen Schatten gesehen, der zu ihm passt. Gleich drüben bei Küsters am Haus. Das ist ein großer Wolf, der durch die Gegend streift. Er ist dreist, wenn er so nahe ans Dorf herankommt.“
„Du wirst den Hund von Müllers gesehen haben“, wandte Candice ein. „Der sieht aus wie ein Wolf, weil sein Vater wohl tatsächlich ein Wolf war. Groß, dunkelgraues Fell, zottelig. Er knurrt und geifert ständig. Er hat so wenig Hundeartiges an sich und die Müllers wohnen schräg gegenüber von Küsters. Da treibt er sich herum.“
„Ein halber Wolf also.“ Sein Blick verdüsterte sich. „Das Vieh mag ich nicht. Wenn ich es freilaufend erwische, knalle ich es ab.“ Er machte kein Geheimnis aus seinem Jagdschein, seiner Leidenschaft als Sportschütze und er brüstete sich damit, alle seine Waffen bei sich in der Wohnung aufzubewahren. „Den knalle ich dir aus dem Garten ab, wenn ich ihn erwische. Auch auf der Straße. Ist mir scheißegal. Verdammtes Vieh. Ein Hund gehört an die Leine, besonders so ein Hund mit einem so miesen Charakter, in dem ein halber Wolf steckt.“
Müllers Hund hatte voriges Jahr dem kleinen Tom übel in die Hand gebissen und zwei Hunde in der Straße ernsthaft mit seinen Krallen und Zähnen verletzt. Der Hund entkam den Müllers immer wieder aus dem Garten, was kein Wunder war, denn der Zaun ums Grundstück reichte dem Hund nicht mal bis zur Schulter. Ein Hüpfer und er war drüber weg. Müllers ließen ihn obendrein beim Gassigehen immer ohne Leine laufen, obwohl Gustav ihnen und allen anderen Hundehaltern angedroht hatte, er würde jeden Hund abknallen, den er ohne Leine laufen sah, egal ob Bulldogge oder Chihuahua. Im Dorf, da war Candice ziemlich sicher, durfte er das nicht. Außerhalb oder im Wald schon. Da durften freilaufende Hunde zum Schutz der Wildtiere abgeschossen werden.
„Ich kenne den Unterschied zwischen einem Hund und einem Wolf“, sagte Gustav. „Das Vieh im Moos ist ein gewaltiger Wolf, kein Hund und auch kein missratener Mischling.“ Er machte zwei Schritte weiter den Weg entlang und blieb erneut stehen. „Wenn der Wolf den vermissten Polen erwischt und er einen schwächlichen Eindruck macht, ist zappenduster. Er ist ausgehungert und hat keine Angst vor einem Menschen, der geschwächt ist, und das ist der Pole zweifellos, wenn er bei der kühlen Luft seit Stunden im Moos umherirrt.“
„Der Wolf ist bestimmt nicht ausgehungert. Er wird was gefressen haben.“
„Hat er ein Schaf gerissen? Oder eine Katze oder ein Reh? Mir ist nichts dergleichen zu Ohren gekommen. Dir? Hast du etwas mitbekommen? Er macht die Gegend unsicher, man sieht seine Tatzenspuren im Matsch, Fellbüschel am Stacheldraht, man hört ihn knurren und fletschen. Der Bruno, der hat Überwachungskameras aufgestellt, die ihm melden, sobald irgendwer oder irgendwas übern Zaun zu seinen Schafen hüpft. Dann ist er im Handumdrehen dort und er hat seine Knarre dabei.“
Um diese Art Sicherheitsvorkehrungen machte Candice sich keine Gedanken. „Ich glaube, es ist ein Hund. Ein zotteliger Hund, der sich nicht gern neben seiner Besitzerin aufhält, sondern lieber allein strawanzt. Wie eben der Hund von Müllers.“
„Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, knalle ich ihn ab. Die Bestie ist gefährlich.“ Er tat zwei Schritte. In diesem Tempo, überlegte Candice, konnte es länger dauern ihn loszuwerden. Ihr Grundstück war an der Seite des Fußweges zwanzig Meter lang. Von der Terrasse waren etwa sieben Meter einzusehen und wenn er diese sieben Meter in kleinen Etappen von zwei winzigen Schrittchen pro fünf Minuten machte, würden sie in der Morgendämmerung noch dastehen und reden.
„Außerdem“, fuhr Gustav fort, „könnte der Pole in eine der Gumpen fallen und jämmerlich ersaufen. Seit dem Unwetter sind alle Gumpen zum Überlaufen voll. Kommt er da hinein, ist es vorbei mit ihm. Das Wasser ist eisig, man kühlt aus, kann sich nicht selbst helfen und muss ertrinken.“
„Wer ist ihn denn suchen gegangen?“ Candice glaubte in der Ferne Menschenstimmen zu hören. „Weiß man denn den Namen des Vermissten nicht?“
Wieder zwei Schritte Richtung Grundstück der Nachbarn. Dort gab es eine hohe Bambuswand, die neugierige Blicke abhielt. Sie war vom Sturm umgeknickt und trotzdem gute zwei Meter hoch. „Ich glaube“, sagte Gustav, „die meisten Leute des Suchtrupps tummeln sich rund um das Bienenhaus. Vielleicht wollte er Bienen oder Honig stehlen, der Pole? Bei den Leuten aus dem Ostblock ist Vorsicht immer besser als Nachsicht.“
Plötzlich hatte Candice eine Erleuchtung. „Den Polli suchen sie, keinen Polen. Den Imker, der dieses abgelegene Bienenhaus betreibt. Den nennt man Polli, weil er seinen Pollen als Wundermittel gegen jede mögliche Krankheit anpreist. Egal, ob du dich in den Finger geschnitten oder eine Magenverstimmung hast, er schwatzt dir Pollen auf.“ Sie rieb sich nachdenklich übers Kinn. „Zuletzt habe ich ihn am Samstag im Dorfladen gesehen. Er hat Semmeln gekauft und gefragt, ob sie Nachschub an Honiggläsern brauchen.“
„Ach, der Schierler Hans.“ Anscheinend kannte Gustav ihn. „Der Schierler Hans ist verschwunden. Das ist übel. Er hat was am Herzen, das könnte schlimm für ihn ausgehen.“
„Wer ist ihn suchen gegangen?“, wollte Candice erneut wissen.
„Die Oberstallerin mit ihrem Eichenschutzverein sucht, ein Teil der Feuerwehr auch, der Kindergarten.“ Kurz schien Gustav aus der Fassung geraten, sein linkes Auge zuckte seltsam. „Unser beschaulicher Kindergarten hat heute zum Sternschnuppenschauen ein hübsches Camp im Pfarrgarten aufgeschlagen, aber dann ist dem Pfarrer eingefallen, er möchte keine Kinder im Pfarrgarten haben. Angeblich soll da was mit der Versicherung sein, also sind sie zum Weiher und haben sich auf den Steg gelegt. Man sieht bei dem Vollmond keine Sternschnuppen und es ist saukalt, deshalb haben sie beschlossen, beim Suchen zu helfen. Damit die Kinder wenigstens ein Abenteuer erleben. Außerdem kennen sie alle das Bienenhaus und haben den Schierler schon oft bei der Arbeit besucht.“
Candice tat der Hintern auf der harten Holzbank weh. Sie hätte sich ein Kissen unterlegen sollen, was ihr zu viel Aufwand für eine halbe Stunde Sternschnuppenschauen zu sein schien. Wenn tatsächlich so viele Sternschnuppen kamen wie angekündigt, brauchte es kein stundenlanges Warten, um beeindruckt zu sein. Sie fröstelte. Unter der Wolldecke, die um ihre Schultern lag, zog ein eiskalter Lufthauch um ihre Füße.
„Der Wolf“, zählte Gustav an den Fingern ab, „die vollgelaufenen Gumpen und die endlos vielen Mücken und Bremsen. Da möchte ich nicht durchs Moos laufen. Da wirst du bei lebendigem Leib gefressen. Gott bewahre.“
An jeder Ecke der Welt gab es religiöse Extremisten und sogar in diesem kleinen Dorf brachte ein Mückenschwarm des nachts einen erwachsenen Mann dazu sich schnell zu bekreuzigen und auf den Boden zu spucken. „Mir ist das Moos eh nicht geheuer, seit voriges Jahr die Touristen verschwunden sind.“
Nun musste Candice lachen. „Die sind nicht verschwunden, sondern abgereist. Man darf dort nicht campen.“
Er schien sie nicht zu hören. „An einem Tag waren sie da, bretterbreit in der Kreuzung, und die Oberstallerin konnte nicht zu ihrer Wiese kommen. Nicht einen Meter zur Seite sind sie gefahren, aus Angst, der Campingbus könnte im Morast versinken. Später, als die Oberstallerin mit der Polizei sie zum Wegfahren zwingen wollte, waren sie verschwunden.“
„Sie sind halt abgefahren.“
„Spurlos verschwunden.“
„Die werden eingesehen haben, wie dämlich ihre Idee war. Mit einem Campingbus Feldwege blockieren, ist nicht besonders schlau. Besonders dann nicht, wenn man einer resoluten Bäuerin im Weg ist.“
Gustav zog den Kopf zwischen die Schultern und flüsterte: „Die sind nie daheim angekommen. Wochen später haben wir den Fall im Fernsehen gesehen. Bei dieser Krimi-Reihe, wo sie ungelöste Verbrechen an die Öffentlichkeit bringen und um Mithilfe bitten. Das war schaurig.“
Candice unterdrückte einen Seufzer, den man bis zum Suchtrupp im Moos gehört hätte. „Ach, Gustav.“
„Seitdem gehe ich nicht mehr ins Moos, wenn es dunkel wird. Da geht was Unheimliches um. Die Frauen vom Kirchenchor sind ebenfalls dieser Meinung. Sie haben öfters ein Knurren und Grollen gehört wie von einem Monster aus der Hölle.“ Er nickte bedächtig, als würde seine Geschichte glaubhafter, wenn er nur langsam und betont sprach und dabei viel nickte. „Auch heute haben wir dieses unheimliche Knurren und Schnaufen gehört, nicht wahr, Gertrude?“ Seine Frau schwieg und Gustav fuhr fort: „Wir sind bloß am Rand entlang, hinten bei den Schrebergärten, das war schaurig genug. Mir haben sich alle Haare aufgestellt.“
„Die Familie ist abgereist“, wiederholte Candice. „Deine Worte. Nach dem Rüffel der Bäuerin haben sie ihren Kram gepackt und sind abgefahren.“
„Die Grotte, Candy“, wandte Gustav ein und Candice verbesserte sofort: „Candice. Ich heiße Candice.“
Gustav ließ nicht anmerken, ob er verstanden hatte. „Die Grotte, die ist unheimlich. Kennst du die Grotte?“
Mühsam unterdrückte Candice das Klappern ihrer Zähne in der Kälte. Sie zog die Decke fester um die Schultern. „Die hat eine Bauersfrau gestiftet, weil sie nach fünf Fehlgeburten endlich ein gesundes Kind bekam.“
„Eben“, sagte Gustav bedeutungsschwer. „Eben.“ Zum Glück machte er wieder einige Schritte, ehe er eine neuerliche Aufzeichnung mit den Fingern begann: „Der Wolf, die Gumpen, die elend vielen Mücken und Bremsen, das Moos, die Grotte, der verschwundene Schierler. Hier ist es nicht geheuer. Der Schierler Hans ist im Dorf aufgewachsen und lebt schon immer hier. Er ist sogar Gemeinderat. Einer wie er verläuft sich nicht im Moos. Dem ist was zugestoßen. Also, wir gehen jetzt nach Hause und verrammelt alles. Schließlich wollen wir den morgigen Tag erleben.“ Er stutzte. „Morgen ist Freitag, der dreizehnte. Gott bewahre. Komm, Gertrude.“
Die Kirchturmuhr schlug zehn. Candice atmete auf, als Gustav mit seiner Frau endlich hinter der umgeknickten Bambuswand verschwunden war. Einige Sekunden lang hörte sie die Schritte auf dem geteerten Weg, ehe Stille einkehrte. Eine Fledermaus zischte durch den Garten, am Himmel zog ein Flugzeug seine Bahn und der Vollmond stand direkt hinter dem Haus ihrer unmittelbaren Nachbarn. Candice hatte immerhin eine Sternschnuppe gesehen, die groß und lang genug war, um dem Vollmond ein Schnippchen zu schlagen. Eine einzige Sternschnuppe.
Ein plötzlicher Knall zerfetzte die Nacht und knatterte als Widerhall durch das Dorf. Fast gleichzeitig schwoll ein Schrei oben an der Straße an und sein Echo wurde vom Nachbarhaus auf Candices Terrasse geworfen. Als würde jemand direkt neben ihr aus Leibeskräften kreischen. Panisch. Voll Angst. Sie spürte einen heißen Blitz durch ihren Körper zischen, obwohl sie sich vor Schreck nicht bewegen konnte.
Im nächsten Augenblick war es totenstill und Candice war sich trotz ihres rasenden Herzens nicht sicher, ob sie überhaupt etwas gehört hatte. Nebenan die Nachbarn blieben ruhig. Sie guckten immer aus den Fenstern, wenn sich etwas tat, aber diesmal ging kein Licht an, kein Riegel wurde geöffnet und kein Kopf aus dem Dachfenster gereckt. Lotte war die neugierigste Person, die Candice kannte. Sobald die Sirene überm Feuerwehrhaus ertönte, schickte sie ihre Familienmitglieder zu den Fenstern, um herauszufinden, was passiert war. Wenn vom Fenster aus nichts zu erkennen war, mussten die Söhne Ralf und Torsten aufs Fahrrad steigen und zur Feuerwehr wetzen, um Erkundigungen einzuholen. Lotte hörte das Gras wachsen. Wenn sich bei ihr nichts im Haus tat, war sie wohl nicht daheim. Dieser Schrei hätte sie ganz sicher aufgescheucht.
Candice guckte hinüber zu den Nachbarhäusern, die sie reihum sehen konnte. Im großen Garten direkt nebenan war es ruhig. Sie hörte eine Holzliege knarren und ahnte, was die Tochter des Hauses mit ihrer neuen Bekanntschaft dort trieb. Selbst wenn die beiden intensiv miteinander beschäftigt waren, mussten dieser Knall und der fürchterliche Schrei sie aufmerksam gemacht haben. Er war laut genug, um Candice in den Ohren zu klingeln. Von der Holzliege hingegen kicherte es verhalten. Vielleicht trugen die jungen Leute Kopfhörer, wie es momentan so modern war. Da ging kein Geräusch von außerhalb durch.
Im Haus schräg vor ihr ging das Licht im Treppenhaus an. Da würde sicherlich gleich die alte Frau von Waals besorgt aus der Tür gucken und in die Nacht rufen. Stattdessen sah Candice die weißhaarige Frau an der Glastür vorbeigehen und die Treppe nach oben in Angriff nehmen. Sie war nicht gut zu Fuß und brauchte einen Treppenlift und sie trug ein Hörgerät, aber diesen Lärm musste selbst sie gehört haben. So taub konnte niemand sein.
Der Hund von Patty und Sam begann zu bellen. Er war erst vier Monate alt und lebte sein Temperament zu jeder Tageszeit aus. Er bellte wild und kläffend und ausdauernd. „Wenigstens einer außer mir“, flüsterte Candice, „der den Schrei gehört hat.“ Tatsächlich ging nebenan das Fenster auf und Lotte streckte ihren Kopf heraus: „Ruhe, verdammt! Es ist nach zehn! Die Töle soll endlich Ruhe geben!“
Der Hund bellte auch für Candices Empfinden oft und lange und viel. Er war halt jung und unerzogen. Lotte hatte ihr Haus weiter unten am Fußweg direkt neben Patty und Sam. Sie hörte den Hund umso besser. Zwischen Candices Terrasse und dem Haus, wo der Hund wohnte, lagen zwei Garagen und eine dichte Buchenhecke. Beides dämpfte Geräusche.
„Hast du das gehört?“, empörte sich Lotte. Die Nacht war hell genug, um wichtige Details oder eine auf der Terrasse sitzende Nachbarin zu sehen. „Hast du das gehört?“
„Ja“, schüttelte sich Candice, „das war schauderhaft. Mir ist ganz anders.“
„Das ist lästig“, widersprach Lotte. „Der Hund kläfft den ganzen Tag und die halbe Nacht. Wir haben eine App und ein Mikrofon installiert, mit der wir das ganz genau verfolgen, damit unser Anwalt etwas gegen diese Hundehalter in der Hand hat.“
„Ach, der Hund.“
„Ja, was denn sonst?“ Lotte beugte sich weit aus dem Fenster und schaute umher. „Ist außer dem Gebell etwas passiert? Habe ich was nicht mitbekommen?“
„Ein Schrei“, erklärte Candice. „Dieser markerschütternde Schrei und der Knall. Wie ein Schuss. Hast du nichts gehört?“ „Nein.“ Sie schüttelte heftig den Kopf und dabei verlor sie einen ihrer Lockenwickler, der leise knackend auf den Boden ein Stockwerk tiefer plumpste. „Was für ein Schrei? Wer hat geschrien? Oder geschossen? Wer hat geschossen? Das ist ein Wohngebiet, hier schießt niemand.“
Candice fühlte sich dazu veranlasst aufzustehen. Länger hielt es sie nicht auf der Holzbank und auch nicht auf der Terrasse. Sie schlüpfte in die Gartenschuhe, die am Blumenbeet standen, und trat näher an den Zaun und an Lotte heran. Candices Haus lag deutlich höher, weshalb beide nun beinahe auf Augenhöhe waren. „Nach dem Knall hat jemand gebrüllt wie am Spieß. Eine, zwei Sekunden lang. Dann war wieder Stille.“
Lotte machte große Augen und ließ ihren Blick soweit über die Umgebung schweifen wie es ihr möglich war. „Meine Güte, ich habe nichts gehört.“ Sie konnte von diesem Fenster tatsächlich kaum etwas sehen. Die Garagen, die Hecke, Candices Haus, den umgeknickten Bambus. „Ich habe überhaupt nichts gehört, so ein Mist.“
„Hast du dir die Haare gemacht?“
„Ja, ja.“ Sie tastete mit der Hand über die eingedrehte Pracht. „Waschen, spülen, kuren, eindrehen, anföhnen. Wenn ich mir den Spätfilm auf dem zweiten Programm angucke, kann die Kur einziehen.“
„Dein Mann?“, schlug Candice vor.
„Schaut Fußball im Chat mit seinen Kumpels. Da hört und sieht er nix.“
„Die Kinder?“, fragte Candice. „Haben die was gehört?“
Lotte winkte ab. „Die sind im Moos beim Helfen. Der Schierler Hans ist heute von den Bienen nicht heimgekommen. Sie helfen ihn suchen.“ Sie schnappte nach Luft. „Womöglich hängen der Schuss und der verschwundene Schierler Hans zusammen? Da ist vorhin auch dieser schießwütige Notar vom Ende der Straße unterwegs gewesen, dieser Gustav Klimt. Der hat ein Jagdgebiet irgendwo Richtung Dorfen, bei dem sitzt das Schießeisen recht locker. Weißt du was? Ich komme raus und wir gucken gemeinsam nach, was das für ein Schuss gewesen sein könnte. Ich muss mir bloß was über die Wickler legen, sonst fange ich mir einen Zug ein.“
Es dauerte ein paar Minuten, bis Lotte den recht steilen Fußweg heraufkam. Sie wohnte unterhalb, Candice oberhalb, dazwischen etwa sieben Höhenmeter. Lotte hatte einen prima Ausblick auf die Berge und die Wiesen und den Bolzplatz, wo ihre Jungs sich gern herumtrieben. Candice hatte uneingeschränkten Blick auf Lottes Haus mit dem einzigen Fenster auf dieser Seite, durch das Licht ins Treppenhaus fiel. Candice machte es nichts aus, aufs Nachbarhaus zu gucken, anstatt auf Berge, Wiesen und Weite. In der Vergangenheit hatte Lotte sie oft deswegen bedauert, aber vor einer Weile waren Bagger, Tieflader und Baumaschinen angerückt und aus dem Bolzplatz wurde ein Baugebiet.
Ein Investor hatte der Gemeinde das riesengroße Grundstück abgekauft, um insgesamt achtundzwanzig Häuser mit knapp fünfzig Wohneinheiten zu bauen. Viele der Häuser und Wohnungen waren bereits vor Baubeginn an betuchte Privatleute weiterverkauft worden. Auch Einheimische hatten was vom kostspieligen Kuchen abbekommen. Gustav, der Notar und Freizeitjäger hatte ein schmuckes Grundstück in ausgezeichneter Lage ergattert und würde sein schlichtes Einfamilienhäuschen bald gegen einen repräsentativen Neubau im toskanischen Landhausstil tauschen.
Für Lotte bedeutete das Neubaugebiet das Ende vom Bergblick und für die Kinder des Dorfes war es vorbei mit dem Toben auf dem Bolzplatz. Die Baustelle war riesig. Das gesamte Gebiet wurde sogar mit einer zweigeschossigen Tiefgarage unterkellert.
Dieses Wohngebiet war ein Zankapfel im Dorf. Der alte Keppler Anton, dem das Gelände ursprünglich gehört hatte, wollte nämlich selbst Häuser dort bauen. Er hängte seine Landwirtschaft aus Altersgründen an den Nagel und hätte seine Rente gern mit Mieteinkünften aufgebessert. Allerdings genehmigte der Gemeinderat die Nutzungsänderung von Viehweide auf Baugrund nicht. Es wurde sogar darüber nachgedacht, die Kosten für einen Damm, der die Gemeinde bei Starkregen vor Überflutung schützen sollte, teilweise oder ganz auf den alten Keppler umzulegen. Das überstieg den Ertrag aus einer verpachteten Viehweide bei Weitem und deshalb verkaufte der alte Keppler die vielen Hektar Grund für das sprichwörtliche Butterbrot an die Gemeinde.
Gleich danach ging es allerdings sehr schnell mit der ursprünglich verweigerten Nutzungsänderung. Aus der jämmerlichen Wiese wurde begehrter Baugrund und der Investor stieg ins ganz große Geschäft mit ein.
Oft, wenn Candice auf das Baugebiet guckte oder die Bagger und Raupen sie frühmorgens aus dem Schlaf ratterten, musste sie an den alten Keppler denken, der übervorteilt ins Moos gegangen und sich in der Gumpe das Leben genommen hatte. Erst hatte er freilich auf gerichtlichem Wege versucht an das entgangene Vermögen zu kommen, aber rechtlich war alles ordentlich abgelaufen.
„Ihr habt das wasserdicht eingefädelt“, appellierte er an den Gemeinderat, „moralisch ist es unter aller Sau. Ehrlose Gauner seid ihr allesamt. Ihr habt einen alten Kleinbauern ganz fies übern Tisch gezogen.“
Unter dem höhnischen Gelächter der Gemeinderäte verließ der alte Keppler mit eingezogenem Kopf den Sitzungssaal, ging direkt ins Moos und stürzte sich in eine der Gumpen. Drei Wochen war die Beerdigung her. Drei Wochen erst.
Candice glaubte nicht an rachsüchtige Geister, obwohl es schon unheimlich war. Einmal krachte mitten in der Nacht die am Kran aufgehängte Betonmaschine laut scheppernd zu Boden, ein andermal sprang ein Bagger partout nicht an. Es ging heftiger Wind an dem Tag und ein Baum stürzte auf den maroden Bagger. Der Fahrer kam mit dem Schrecken davon, weigerte sich aber auf dieser Baustelle weiterzuarbeiten.
Im Dorf begannen die Leute zu tuscheln, es wäre des nachts eine weißschimmernde Gestalt zu sehen, die über die Baustelle spukte, und dabei seufzte und klagte. Eine Katze ertrank in einer mit Regen vollgelaufenen Baugrube und als der Bauleiter sich das Bein brach, weil er über ein Rohr stolperte, gab es nur mehr wenige Leute im Dorf, die nicht an Kepplers Fluch glaubten.