Wie immer, bloß besser - Sylvia Schwarz - E-Book

Wie immer, bloß besser E-Book

Sylvia Schwarz

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Beschreibung

Eva ist unglücklicher Single und mit ihrem Übergewicht und ihrem Dasein generell äußerst unzufrieden. Sie überredet ihre beiden Freundinnen, wenigstens für finanzielle Gerechtigkeit zu sorgen und mit dem erbeuteten Geld alle Lebensprobleme zu lösen. Leider scheitert der brillante Plan an den Unwägbarkeiten des Lebens, einer gehörigen Portion Idiotie und an Leuten, die es gut mit ihnen meinen.

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Seitenzahl: 342

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Grundlagenforschung

Kapitel 2: Transferleistung

Kapitel 3: Individualschaden

Kapitel 4: Pulsbeschleunigung

Kapitel 5: Naturgewalten

Kapitel 6: Retourkutschen

Kapitel 7: Enthüllungen

Kapitel 8: Schlechtwetterzone

Kapitel 9: Kommissarenmonolog

Kapitel 10: Punktlandung

Kapitel 1

Grundlagenforschung

Da stand sie nun. Hinter sich eine riesige grellbunt-braun geringelte Schlange, vor sich die vermaledeite Wahl zwischen Latte Macchiato und Mineralwasser. Ihr Blick schwankte zwischen dem Latte-Becher mit den aufgedruckten Zuckerstückchen und lachenden Gesichtern und der nackten, kalten, glasigen Sprudelflasche.

„Nun machen Sie schon“, zischte der Kopf der Schlange, „nehmen Sie die Latte und fertig.“

Der Stimme nach, dachte Eva, war das ein Traum von einem Mann. Eins neunzig groß, durchtrainiert, Muckis von einer Seite bis zur anderen, von oben bis unten, kurzes schwarzes Haar, braune Augen, einnehmendes Lächeln. Ein Mann, der versprach: „Nehmen Sie ruhig die Latte Macchiato; wenn Sie heute Nacht in meinen Armen liegen, werden Sie jede einzelne Kalorie dringend brauchen, denn ich werde Sie küssen, ausziehen und lieben, lieben, lieben, in jeder erdenklichen Position und wenn Sie glauben, Sie könnten nie mehr zu Atem kommen, ist es gerade der Anfang einer lebenslangen …“

„Ja!“, hauchte Eva und drehte sich herum, „genau in dieser Reihenfolge.“

„In dieser Reihenfolge – was?“ Vor ihr stand ein glatzköpfiger Wurzelgnom mit Hornbrille auf der krummen Nase und gestärktem Hemdkragen unterm kackbraunen Anzug. An seinem faltigen Hals saß eine schlecht gebundene gepunktete Fliege. In der einen Hand hielt er zwei siebzig in Kleingeld, in der anderen eine schwarze Ledertasche. Er ließ die Münzen in seiner Hand klimpern. „Ich stehe seit exakt acht Minuten siebzehn Sekunden hinter Ihnen und höre Ihren Gedanken zu. Latte – dreihundert Kalorien. Wasser – null Kalorien. Eine halbe Stunde walken oder Film auf arte. Nachher soll es regnen, Nugat ist im Schrank.“ Er stampfte mit dem Fuß auf. „Sie sind nicht die einzige Person mit Problemen! Ich muss mit meiner dämlichen Katze zum Tierarzt, weil das Drecksvieh ständig bazillenverseuchte Taschentücher, die ein Arschloch in unseren Garten wirft, frisst und auf die Teppiche kackt. Ich hab’s eilig, also bestellen Sie Ihren verdammten Kaffee und zischen Sie ab!“

„Manche Dinge“, hob Eva die Nase an und ignorierte die anderen acht Menschen in der Schlange, die dem Wurzelgnom nickend und grimmig schauend Recht gaben, als hätten sie alle halb vergiftete Katzen daheim, „manche Dinge wollen gut überlegt sein.“

„Nein!“, brüllte der Gnom mit hochrotem Gesicht und er stampfte den rechten Fuß beinahe durch die Bodenfliesen. „Ein Topmodel, das sein Geld mit Hungern verdient, würde aus Angst vor zu viel Gewicht nicht mal das Wasser nehmen! Bei Ihrem Arsch ist es scheißegal! Da kommt es auf eine Latte hin oder her nicht an! Es spielt schließlich keine Rolle, ob ich einen Teelöffel Salz ins Tote Meer kippe!“

Eva spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss und sie knallrot wurde. Ihre Wangen glühten. Ihr wurde heiß und der Schweiß durchtränkte binnen Sekunden ihre hellblaue Bluse. Der Rockknopf, der am Morgen, als sie flach auf dem Bett gelegen hatte, gerade so zugegangen war, verlor jeglichen Halt. Es tat ein dumpfes Plopp, der Knopf sauste davon und der Rockbund stand vorn ein Stück offen. Schlagartig war es sehr viel bequemer.

„Wow“, hörte sie den Mann mit den langen verfilzten Haaren und der neonrosa Jacke hinten in der Schlange sagen, „der Knopf ist bis zu mir gesaust. Der tanzt sogar!“

„Kein Wunder“, zischte der Wurzelgnom. „Dahinter war mehr Spannung als im Nahostkonflikt.“

Über den fiesen kleinen Mann hinweg streckte eine junge Frau den Arm und reichte Eva eine Pappkarte. „Konstantina Lafayette. Mir gehört ein Kleidergeschäft und meine Spezialität sind Übergrößen. Ich würde für Ihre Rundungen gern eine hummelige Verpackung finden. Bei mir ist Mode GROSS angesagt.“

„Hummelig?!“ Der Wurzelgnom legte den Kopf weit in den Nacken, um zur Modelady aufsehen zu können. „Machen Sie mit der pottwaligen Qualle lieber einen Abspeckkurs.“

„Nicht jede Frau“, gab die Boutiquebesitzerin zurück, „besteht ausschließlich aus Haut und Knochen. Zum Glück, möchte man sagen. Männer haben Pieker lieber im Küchenschrank als im Bett.“

„Quatsch!“ Der Wurzelgnom ließ seinen Kopf zurück nach vorn schnackeln. „Dieses Märchen verbreiten Weiber, die einen gewaltigen Arsch und riesige Möpse haben und sich bei Sahnetorte und Chips nicht zurückhalten können. Leider sind beschissene Emanzen wie Sie völlig taub auf diesem Ohr!“

„Also“, saugte die junge Frau heftig die Luft durch die Nase ein, „also, der jungen Frau würden Stulpen in Pink prima stehen, wohingegen Ihre Wortwahl, mein Herr, auf sehr große persönliche Frustration schließen lässt.“

Nicht mehr viel und der Wurzelgnom platzte. Er plusterte sich auf und ballte die Faust um sein Kleingeld. „Erst geht mir der aufgequollene Pottwal gewaltig auf die Nerven und nun soll ich mir von einer Schnepfe in die Parade fahren lassen? Wissen Sie, die wievielte Nummer Sie sind, die mir heute auf meinen gewaltigen Sack geht? Wie viele Leute mir auf den Schreibtisch scheißen wollten, Sie dämliche…“

Blitzschnell trippelte Eva aus dem Café. Sie flitzte durch die Tür und zog gleichzeitig die Bluse tiefer, damit niemand den aufgeplatzten Rockbund sehen konnte. Sie stieg ins Auto, schnallte sich an und richtete den Blick nach vorn auf die Straße. „Fahr‘ los. Da drin ist die Hölle los; wir trinken im Dorfladen einen Kaffee.“

„Echt?“ Jette ließ den Motor an. „Dabei sind die immer total flink mit der Bedienung.“

„Pf“, winkte Eva ab, „da konnte sich ein Wurzelgnom nicht entscheiden, was er will: Eine Anzeige wegen Beleidigung oder gleich eins auf die Fresse. Er hat Streit mit einer Tussi angefangen und ich glaube, die stampft ihn mitsamt seinem abgezählten Kleingeld in den Boden.“ Sie zog den Bauch ein und den Rockbund über die Wampe und begutachtete die beiden abgerissenen Fäden, die wie Antennen nach vorn wegstanden. „Gibt es die Schneiderei an der Hauptstraße noch?“

„Ist dein Rock zu weit?“ Jette beugte sich zu ihr und rempelte ihr den Ellbogen in die Seite. „Du hast abgenommen, bist richtig schmal im Gesicht geworden. Ich nicht. Ich habe – schöner Mist – seit gestern achtzig Gramm zugenommen und das ist keine Muskelmasse, sagt meine Waage. Du hingegen siehst…“ Sie zögerte und es war nicht sicher, ob sie wegen der Fußgängerampel überlegte, die gerade von einem spindeldürren Mädchen mit riesigem Schulranzen gedrückt worden war. „Du siehst blendend aus“, fuhr Jette fort, nachdem sie bei Rot über die Ampel gebraust war und das Mädchen ihr mit fliegenden Armen hinterher schimpfte.

„Von wegen.“ Eva fischte ihre Handtasche unterm Sitz hervor, die dank Jettes Beschleunigungsaktion bis zum Verbandskasten gerutscht war. Ohne den lästigen Knopf im Bund klappte das Bücken viel besser. „Seit Michael passé ist, habe ich gefühlte fünf Pfund zugenommen.“

„Oha. Wie viele sind es wirklich?“

„Fünf Kilo.“ Eva stützte ihren Arm ans Fenster und legte die Stirn gegen die Scheibe. Draußen rauschte der Wald vorbei. „Jede Woche eins.“

Raus aus dem Dorf, durch ein anderes Dorf, hinein ins Heimatdorf. Eine Hauptstraße, sieben Nebenstraßen, von denen eine dreimal so lang wie die Hauptstraße war, eine Sackgasse. Es gab eine große Kirche, einen Kindergarten, einen Dorfladen und jede Menge talentierter Leute. Eva kannte drei Architekten und jemanden, der Gefahrguttransporte bewertete, eine Frau übersetzte Krimis vom Finnischen ins Deutsche, eine andere reparierte Autos, bei denen alle Hoffnung verloren schien. Es gab einen Yoga-Guru und einen Feng-Shui-Berater, Masseure, Friseure, Dekorateure. Eva hoffte, die Schneiderin an der Hauptstraße konnte den verlorenen Knopf ersetzen und vielleicht den Rock weiter machen. Oder sollte sie die Fäden so abstehen lassen, damit jeder sehen konnte, was sie tunlichst zu vertuschen versuchte?

„Ach, Eva.“ Jette bog Richtung Dorfladen ab. „Der war nicht der Richtige. Im Bizeps bestimmt tausend Watt, nur leider leuchtet im Oberstübchen kein einziges Lämpchen. Du hast was Besseres als dieses Muttersöhnchen verdient.“

„Er hat mich seiner Mutter nicht mal vorgestellt.“ Eva sank in ihren Sitz, bis sie die Knie am Airbag hatte. „Ich bin achtunddreißig und seit zwanzig Jahren auf der Suche nach Herrn Richtig. Der wird nie kommen und ich werde alleine alt. Älter als ich eh schon bin.“

„Alt werden geht immer allein.“ Jette fuhr langsamer. „Ob verheiratet oder nicht. Ich kann dir meinen Mann geben, dann weißt du, wie du dich mit jedem Mann in spätestens vier, fünf Jahren fühlst.“

„Oh“, zog Eva eine Schnute, „wieder Streit mit Gerd?“

„Streit?“ Jette blieb stehen, als sie am linken Straßenrand eine Frau stehen sah, die in den Abfalleimer neben dem Bushäuserl guckte und eine Pfandflasche herausfischte. „Zum Streiten braucht man jemanden, dem man seine Wut ins Gesicht schleudern kann. Ich habe gestern mit dem Zimmerfarn gestritten, ihn einen faulen Nichtsnutz genannt und ihm vorgehalten, warum er nicht endlich mal eine Blüte bringt. Letztlich ist er in der Biotonne gelandet, völlig zerrupft und zerzaust, weil Gerd um halb sechs angerufen hat, um mir zu sagen, er müsse leider, leider für den Rest der Woche nach Köln, um in einigen wichtigen Meetings wieder mal die Welt zu retten. Jetzt kann ich zusehen, wie ich zwei Elternabende gleichzeitig durchkriege, und wie ich meiner stinkfaulen Frau Tochter die Prozentrechnung erkläre, wo die Schnarchnase schon das Bruchrechnen für eine ärztliche Disziplin hält, und ich muss mich allein mit dem Techniker anlegen, der die Heizungsanlage prüfen soll. So ein Arschloch.“

„Ist das der Techniker vom letzten Mal, der seine halbstündige Toilettensitzung als Arbeitszeit abgerechnet hat? So ein Arschloch.“

„Nicht der Techniker ist ein Arschloch, sondern Gerd.“ Jette ließ die Seitenscheibe runter. „Hallo, Amiti!“ Ihr Fuß rutschte von der Kupplung und der Motor starb mit einem grässlichen Hüpfer ab. „Verdammte Scheiße, das passiert mir mit diesen verdammten Schuhen heute zum vierten beschissenen Mal.“ Sie ignorierte die amüsierten Blicke der Dorfjugend, die sich auf der Bank vor dem Bushäuserl versammelt hatte, um über die Schule, das andere Geschlecht und den Rest der Welt zu motzen. Während Jette den Zündschlüssel drehte und den Motor ihres alten Golfs aufjaulen ließ, streckte sie den Kopf aus dem Fenster. „Na, Amiti, willst du mit in den Dorfladen? Auf einen Kaffee?“

Eva beugte sich über Jette weg und winkte durchs offene Fenster hinaus. „Halli-hallo!“

Amiti strich ihre langen schwarzen Haare zurück und knabberte auf der Unterlippe. Ihre braunen Augen fanden den strahlend blauen Himmel. „Kaffee?“

Eva sah, wie Amiti zwei Finger ihrer rechten Hand hob, zwei Finger abknickte und den Mittelfinger hin und her wedeln ließ. Eva hatte keine Lust auf Kopfrechnen. „Ich lade dich ein.“

„Hast du letztes Mal schon.“

„Ich brauche jetzt dringend eine große Latte Macchiato mit extra viel Zucker und einer Kugel Vanilleeis.“

Jette drehte den Kopf zu ihr. „Dein Tag war echt nicht gut, oder?“

„Eine Kugel Eis?“, flachste jemand aus der Ansammlung der Dorfjugend. „Muss eine gewaltige Kugel sein…“ Eine andere Stimme kicherte: „Deshalb werden die Polkappen seit Jahren kleiner!“

Eva stützte sich auf den Türrahmen und schwenkte die Faust aus dem Fenster. „Noch so ein Spruch – Kieferbruch!“

„Hahaha!“, lachte der Rädelsführer mit seinem schief sitzenden Käppi und der Jeans in den Kniekehlen, „wir können gern mal ausprobieren, ob du mir überhaupt nachkommst.“

„Uh“, feixte ein anderer, „aufpassen: Kraft ist Masse mal Beschleunigung und von Masse hat die Alte eine ganze Menge.“

„Alte!“, schnappte Eva nach Luft und drückte den Knopf für die Scheibe in die andere Richtung. „Freches Pack, verdammtes.“ Nichts rührte sich. Sie drückte immer wieder, hin und her, hin und her. Die Scheibe rührte sich nicht. „Scheiße, Jette, ich glaube, deine Scheibe ist kaputtgegangen. Keine Angst, ich bin gut versichert.“

„Das hat die Karre öfter.“ Jette haute mit der Faust gegen den unteren Teil der Scheibe. Es surrte und quietschte und die Scheibe stieg hoch. „Wenn man sich mit viel Gewicht drauflehnt, verhakt der Fensterheber.“ Sie bremste die Scheibe ab. „Was ist nun, Amiti, kommst du mit?“

Amiti kam über die Straße. Sie öffnete die hintere Tür und bugsierte ihre magere Gestalt auf den Rücksitz. „Lass dir von den Jungs nicht den Tag verderben, Eva. Wenn die wüssten, was für eine klasse Frau du bist.“

„Mehr verderben geht nicht.“ Eva drehte sich im Sitz halb herum, damit Jette und Amiti sie besser hören konnten. „Meine detailliert durchkalkulierte Rechnung geht so: Für den Flug in die USA, die Unterkunft und die Verpflegung brauche ich etwa viertausend Euro. Die Magenverkleinerung kostet siebzigtausend. Insgesamt wollte ich einen Kredit über fünfundsiebzig. Die übrigen zwei lila Scheine hätte ich gleich in Chicago vershoppt.“

„Du bist verrückt!“, stieß Jette aus und tippte sich mit der linken Hand an die Schläfe. Mit der rechten Hand tat sie den Blinker rein, um abzubiegen. Eine Schrecksekunde später steuerte der Wagen auf Lentingers Gartenzaun zu und Jette brachte blitzschnell ihre Hände wieder ans Lenkrad.

Eva kniff die Augen zu, bis Jette ihre üblichen Schlangenlinien kontrolliert ausführte. „Dafür hat der Vorstand charmantere Worte gefunden. Er meinte, wozu wolle ich mich unters Messer legen und mir den halben Magen wegnehmen lassen, wo es auf die inneren Werte ankäme und ich wäre so ein netter, zuverlässiger, beliebter Mensch. Darauf ich: Sie reden sich leicht. Sie sind eins neunzig groß, superschlank, sportlich, haben eine dekorative Frau und drei bezaubernde Kinder, da können Sie Ihren Erfolg mit aller Gelassenheit auf Ihre inneren Werte schieben. Ich hingegen bin achtunddreißig, allein, ohne Lebenspartner, ohne Kinder und seit zehn Jahren Serviceberaterin in einer Bank, obwohl ich Betriebswirtschaft studiert habe und bei meiner Einstellung die Rede von nur ein paar Monaten Servicedienst war. Meine inneren Werte sind absolut in Ordnung, deshalb schiebe ich meine unglückliche Lebenssituation in aller Gelassenheit auf die äußeren Fakten, sprich: mein Übergewicht. Ich will meinen verfressenen Saumagen loswerden, ich will abnehmen und endlich mein Äußeres mit meinem Inneren in Einklang bringen. Dafür brauche ich den Kredit. Mein ganzes Wochenende ist fürs Üben dieser Rede draufgegangen. Ich habe sie aufgeschrieben und auswendig gelernt und vor dem Spiegel geprobt, obwohl ich mein Spiegelbild überhaupt nicht leiden kann.“

„Ui“, zog Amiti eine beeindruckte Schnute, „wenn ich Kredite vergeben würde, ich hätte dir sofort einen genehmigt.“

„Tja“, hob Eva die Schultern, „mein Vorstand nicht. Er rechnete mit drei Fingern nach, wobei Zeige- und Mittelfinger für Fixkosten und Kosmetikkosten standen und nur der Daumen für mein monatliches Gehalt. Sein Daumen ist wesentlich kürzer als seine anderen Finger und deshalb meinte er, ich könne den Kredit nie und nimmer zurückzahlen. Da meinte ich, in diesem Land würde man nicht mit Fingern sondern mit Zahlen rechnen, und seine eigenen Worte verrieten, wie dringend ich eine Gehaltserhöhung bräuchte, wo ich seit zehn Jahren mit derselben monatlichen Knausrigkeit auskommen müsste und nicht mal die Provisionen einstreichen dürfte.“

„Toll.“ Jette freute sich ehrlich. „Den Zaster hast du gekriegt.“

„Nein, die höfliche Bitte zu gehen.“ Eva drehte sich zurück nach vorne, denn Jette hatte eine Parklücke erspäht und wenn das Einparken schief ging, wollte Eva dem Untergang wenigstens ins Auge blicken. „Kein Kredit, keine Gehaltserhöhung, keine Provisionen, schöne Scheiße. Natürlich bin ich sofort zur Gleichstellungstussi, um mich wegen der fiesen Abrechnung der Provisionen zu beschweren. Alle Kundenberater bekommen sie und ich, wo ich den gleichen Job mache, ich kann dumm gucken. Sie ist auf Fortbildung zum Thema Förderung weiblicher Führungskräfte. Die Dummtussi hat dem Prokuristen brav die Stange gehalten und zwar mit beiden Händen. Die hat sich den gut bezahlten Job ervögelt, was ich genauso tun würde, wenn mir einer das Angebot macht, was mir mit meinem Aussehen nicht passiert.“

Jette stoppte ihren Golf, als sie mit der Stoßstange vorn die Dekoration aus großen Wackersteinen touchiert und Amiti beim Kratzen von Stein über Kunststoff das Gesicht verzogen hatte. Unbeeindruckt setzte Jette ihre Strickmütze auf. Ja, es hatte gute zwanzig Grad und in der Sonne war die Hitze kaum auszuhalten. Trotzdem trug sie eine Wollmütze. Grobstrick, extra schick. „Wisst ihr, was meine Schwiegermum letztens sagte?“ Sie musste ihren Schlüssel im Autoschloss mehrmals hin und her bewegen, ehe die Zentralverriegelung alle Türen verschloss. „Sie ist auf Gerd mindestens so grantig wie ich, weil er auf ihre Anrufe nicht reagiert, was ein absolutes No-go bei meiner Schwiegermutter ist. Sie hätte einen solchen Ehemann längst vor die Tür gesetzt und ich sollte mal genau darüber nachdenken, ob ich ihn behalten würde, wenn die Schulden auf dem Haus nicht wären. Das wäre ihr Tipp für mich. Also sind wir auf einen Rosinenstriezel ins Café gegangen, haben gesprochen und ich bin der Trennung mental einen großen Schritt näher gekommen.“ Sie war die erste an der Tür des Dorfladens und hob den Perlenvorhang, der gegen zu viele Fliegen schützen sollte, auf die Seite. „Wir haben nicht ewig Zeit, meine Damen, in einer Stunde muss ich die Kinder vom Fußball holen. Übrigens, Amiti, brauchst du für Leonie Fußballschuhe? Louis ist aus seinen rausgewachsen, rausgewachsen aus sechs Wochen alten Schuhen.“

„Ich weiß nicht.“ Amiti hatte sich im Perlenvorhang verfangen und musste sich wie eine Ballerina herausdrehen. „Ich weiß nicht, ob Leonie weiter ins Fußball geht.“

Eva zeigte auf den Tisch in der Ecke. „Setzt euch; ich besorge den Kaffee. Amiti, gib die dumme Pfandflasche her, die geben wir gleich zurück, ehe du sie mit heim nimmst.“

„Danke.“ Amiti reichte Eva die Pfandflasche und bekam dafür dreißig Cent Kleingeld, was doppelt so viel war wie das Pfand. „Danke für dein caritatives Mitgefühl, Eva.“

Eva winkte ab und stellte sich an den Kaffeetresen. Hinter ihr stand niemand und davon überzeugte sie sich gleich zweimal. Keine Kundschaft außer ihnen und der alten Frau Delbar war im Laden zu sehen. Die Alte hielt in jeder Hand eine Weintraube und schnüffelte abwechselnd daran. Eva legte die Pfandflasche auf den Tresen und bestellte das, was sie immer bestellte: „Einen Espresso, einen Cappuccino und eine Eis-Latte Macchiato mit extra Vanilleeis und extra Zucker.“

„Zucker ist…“, bückte sich die Verkäuferin nach dem Pfandflaschenträger neben der Kühltheke, stellte die Pfandflasche hinein und richtete sich wieder auf. „Zucker steht am Tisch. Wir sind von diesen Einmaltütchen zu großen Spendern übergegangen.“

Warum wohl, dachte sich Eva und rollte die Augen. „Kein Kommentar zu meiner miserablen Figur. Da haben mich heute schon drei Typen dumm angemacht. Wenn ich einen weiteren blöden Spruch von der Sorte ‚Für die fette Sau ist selbst der große Zuckerspender zu klein‘ höre, laufe ich Amok.“

Die Verkäuferin blickte sie sehr intensiv an. „Der Umwelt wegen. Die Tütchen haben zu viel Müll produziert und sind bei Wind in der ganzen Nachbarschaft rumgeflattert.“

„Ach so.“ Eva spürte, wie sie rot wurde. „Entschuldige bitte. Ich habe… Ich bin…“

Die Verkäuferin holte Tassen und ein Glas aus dem Regal und stellte alles auf die Theke. „Ich mache dir Schokopulver über die Latte. Das hilft, wenn ich nicht statt Schokopulver Backkakao erwische. Wie vorhin.“ Sie drehte sich um. „Kann ich Ihnen helfen, Frau Delbar?“

„Non, non!“ Die alte Frau an den Weintrauben drehte sich herum. „Es ‘eißt Madame Delbar. Isch schnüppere nur, ob isch Rückstande von die Pflanzenschützenmittel riesche. Allerdings, die rieschen beide gleich.“

Ein Mann tauchte hinter dem Gewürzregal neben Frau Delbar auf. „Sie haben die gleichen Trauben. Italienische, konventioneller Anbau. Bioware würde hier drüben liegen, wenn sie nicht ausverkauft wäre.“ Eva bemerkte seinen gezwinkerten Gruß und zog als Zeichen ihrer Missbilligung die linke Augenbraue hoch.

„Scheißendreck.“ Frau Delbar ließ die Hände mit den Trauben sinken. „Da können isch lang schnüppern und die Ünterschied suschen. Wie bei eine Fehlerbild, wo die nix darin steckt Fehler. Viele Donk, junge Mann, isch nemme lieber von die Jogurt.“ Frau Delbar legte die Trauben weg und als sie sich zur Kühltheke drehte, entdeckte sie Eva. „Ah, bonjour Madame Eva, schon fertisch mit die Arbeit in die Bank? Es ist gerade geteilt die drei Ühr?“

„Gerade mal“, verbesserte Eva. „Ja, Madame, ich habe mir heute frei genommen.“

„Oh là là…“ Madame Delbar kicherte. „Steckt sich da eine Mann hinter? Isch ab nie die Verstand, wie ein prall Frau wie Sie keine Mann aben kann. Leben ohne Sex ist keine Leben nischt. In meine Alter, oui, da laufen nischt mehr voll die pauselose Amour, mais ganz ohne? Mon dieu, das isch alte nischt für möglisch. Genießen Sie, Madame, und wenn er nischts taugt, c’est la vie!“

Eva schob einen Geldschein über den Tresen, kassierte das Wechselgeld und trug die drei Kaffeespezialitäten auf dem Tablett an den Tisch, wo Jette und Amiti sich beinahe wegwarfen vor Lachen.

„Ohhh…“, kicherte Jette lautlos und nahm ihren Espresso auf ihre Tischseite. „Fick-Tipps von die alte Schaschtel…“

Eva schnappte sich den Zuckerstreuer und stellte ihn über ihrem Glas senkrecht. Der Zucker begann zu rieseln. „Die Alte hat wenigstens Sex. Wahrscheinlich mehr als ich, egal ob mit oder ohne Beziehung. Naja, mit seinem Smartphone hat Michael einen Porno nach dem anderen gezischt, nur hat er mit mir nix davon in die Praxis transferiert, der gemeine fiese Sack. So viel Testosteron im Klopapier…“

Amiti trank sofort einen Schluck vom Cappuccino. „Ich bin nicht auf ihr Sexleben neidisch, sondern auf ihre Jacke. Die sieht klasse aus.“

„Habt ihr gesehen, wie Hopfi geschmunzelt hat?“ Eva beugte sich weiter nach vorn, nachdem sie den Zuckerspender um einiges hatte leichter werden lassen. „Hat er wieder nichts anderes zu tun als sinnlos im Dorf rumzuhängen und das Geld seiner Oma durchzubringen. Leute, komisch ist das schon, er macht Bankgeschäfte, die wirklich kompliziert sind, als würde er tatsächlich begreifen, wie sie funktionieren. Mir ist er suspekt, wenn er sich zwischen Trauben und Bananen rumtreibt. Der verheimlicht was.“

In dem Moment trug die Schaumschicht auf dem Latte Macchiato das Gewicht des Zuckers nicht mehr. Der Zucker brach ein, sackte tief und es spritzte bis zur Decke, wo es einen hässlichen Fleck gab. Eva beobachtete, wie sich eine Tropfnase bildete. „Kann das sein? Tausende Latte werden jeden Tag mit Zucker überflutet und meiner spritzt!“ Sie wischte die Tropfen auf dem Tisch mit dem Finger auf. „Also, Amiti, warum geht Leonie nicht mehr ins Fußball? Ich dachte, die kleine Maus lebt dafür?“

Amiti saß mit überschlagenen Beinen auf der Bank und schaute dem Cappuccinoschaum beim Knistern zu. Ihre braunen Augen glänzten. „Sie kann dafür leben, nicht davon und ich nicht damit. Es geht ins Geld.“

„Das bisschen Fußball?“ Eva ließ den langen Löffel in ihr Glas sinken und quirlte das Vanilleeis. „Hammer.“

Amiti stützte den Kopf auf die Hand. „Anstatt mir den Unterhalt für September zu überweisen, hat Peter, der alte Drecksack, mir gute zweihundert Euro abbuchen wollen. Er hat beschlossen, den Unterhalt rückwirkend seit Juni um jeweils zweihundert Euro pro Monat zu kürzen.“

„Sauerei!“, schimpfte Eva. „Das darf er nicht!“

„Die Lastschrift ging nicht durch.“ Über Amitis Gesicht flog ein kurzes Lächeln. „Mangels Deckung zurückgebucht. Trotzdem blöd, mir fehlt der Unterhalt für September.“

„So ein Scheiß.“ Jette presste ihre Fingerkuppen gegen die heiße Kaffeetasse. „Was meint der Anwalt?“

Amiti kippte ihre Tasse leicht und verfolgte den Bogen, den der Schaum machte. „Der Anwalt schreibt für teuer Geld einen Drohbrief. Von dem kann ich die Kinder ein paarmal abbeißen lassen, wenn mir die Kohle für Brot fehlt. Fünf Tage nach dem bösen Brief ist fast der ganze Unterhalt gekommen und die Mitteilung, Peter ließe die Summe neu berechnen.“ Sie senkte die Stimme. „Er zahlt jetzt einen zusätzlichen Kredit für die Vietnamreise im Sommer ab, was er in die Berechnung einfließen lassen will. Außerdem hat er sich Jeans, Schuhe und einige Hemden gekauft und diese Kosten will er als Sonderausgaben geltend machen und den Unterhalt entsprechend kürzen. Was kommt als nächstes? Wenn er eine Dose Mais kauft, kriege ich vierzig Cent weniger? Der hat sie nicht alle!“ Amiti lehnte sich zurück. Sie presste ihren Rücken gegen die Holzlehne, als würde das eine Massage ersetzen. „Gleich am ersten Elternabend hat Leonies Lehrerin vierzig Euro für Arbeitshefte eingesammelt und zwanzig Euro für die Klassenkasse, damit sie nicht wegen jedes Euros einen Rundbrief verfassen muss. Ludovica ist in der zweiten Woche ins Schullandheim gefahren und Lotte brauchte einen Atlas für vierzig Euro. Am zweiten Schultag war mein Konto genauso leer wie mein Kühlschrank.“

„Am zweiten Schultag“, erinnerte sich Jette, „saß ich mit zwei Listen Schulbedarf und einem Fieberkind daheim. Zum Glück hat meine Schwiegermutter die Einkäufe übernommen.“

„Fieber?“, hakte Eva nach. „Geht es wieder?“

Jette stellte ihre leergetrunkene Espressotasse ab. „Wahrscheinlich war Louis die Aufregung zu viel. Seine Lehrerin ist schwanger geworden, deshalb hat er eine neue bekommen. Eine Frau Herbst. Ich dachte, die wäre nett, bis ich das Hausaufgabenpensum gesehen habe. Louis sitzt länger als Luise, dabei ist die in der sechsten Klasse, er nur in der vierten.“

„Grundschulabitur.“ Amiti begann den Milchschaum zu löffeln. „Wohin soll es nach dem Übertritt gehen? Standard, Mein-Kind-macht-später-weiter oder Resteschule?“

„Damit gehen mir alle auf den Senkel.“ Jette fasste sich an den Hals, als wollte sie sich selbst würgen. „In drei Wochen Schule hat Louis fünf Noten kassiert. Im Diktat eine vier. Er hat Rotz und Wasser geheult, nachdem ihm Fräulein Naseweis von nebenan ihr beschissenes Halbwissen vor die Füße gekotzt hat: Mit einer vier kommst du nicht aufs Gymnasium, höchstens ans Steuer eines Müllwagens. Da wirst du nicht Arzt, sondern Aufstocker.“ Sie ließ ihren Hals los. „Wenn ich dieses Besserwisser-Gör dieser oberschlauen Dummtussi sehe…“

Eva ließ einen Löffel Vanilleeis auf der Zunge zergehen. „Wenn er Arzt werden will, kommt er ums Abitur nicht rum. Kann er sich gleich an den Stress gewöhnen und daran, rund um die Uhr zu arbeiten. Ärzte schieben Wochenenddienste von fünfzig Stunden, wusstet ihr das?“

„Tja“, schaute Jette in ihre leere Tasse, „den Sturkopf hat der kleine Mann nicht von mir. Da ist Luise ganz anders. Von allein kriegt sie den Arsch nicht hoch.“

„Warum sollte sie?“ Amiti zog eine Grimasse. „Solange du den Überblick hast?“

„Ist da ein Ratschlag im Anmarsch?“ Jette blickte Amiti mit zusammengezogenen Augenbrauen von unten herauf an. „Wie war das mit der Lerngruppe? Zweimal die Woche jeweils neunzig Minuten?“

„Als Mentor“, beugte Amiti sich zu ihr. „Was schlimm genug ist. Ich als Thailänderin muss den Deutschen die Grammatik ihrer Muttersprache erklären, Wortarten, Satzglieder, Zeitformen. Ich fürchte, Resi und Mausi haben bis heute den Unterschied zwischen Attribut und Adverb nicht verstanden.“

Eva kramte in ihrem Gedächtnis unter den Stichworten Lerngruppe, Resi und Mausi und fand nichts. „Welche Lerngruppe?“

„Nicht mitgekriegt?“ Jette lehnte sich lässig zurück und schlug die Beine übereinander. „Mausi und Resi, diese beiden Überglucken vom Anger haben – als ihre Kinder vor dem Übertritt standen – eine Lerngruppe eingerichtet.“

„Wir sind damals in der Schule nur in Lerngruppen abgehangen“, erinnerte sich Eva. „Mit Lerngenossen leidet es sich leichter.“

„Nicht die Kinder haben gelernt, sondern die Mamas.“ Jette rieb sich demonstrativ die Stirn an der Stelle, wo man einen gefiederten Mitbewohner vermuten würde. „Damit sie ihren Kindern Grammatik und Mathe richtig erklären können. Ich bin der Gruppe ein Jahr später zum Opfer gefallen, als Amiti schon wieder draußen war.“ Jette schaute tief in ihre leere Espressotasse. „Wer bei so viel Gruppendynamik nicht mitmacht, gilt gleich als desinteressierte Assi-Mami. Jetzt mache ich schon wieder mit, sitze während der Hausaufgaben neben meinen Kindern und wir hören beim Autofahren Vokabel-CDs. Glaubt mir, auf der Gluckenskala ist immer Luft nach oben.“

„In Ludovicas Klasse hat eine Mama während der Sommerferien Latein gepaukt, damit sie ihrem Sohnemann helfen kann.“ Amiti lachte kurz und trocken. „Gleich nach der ersten Lateinstunde hat der junge Mann ein Theater gemacht, als stünde er kurz vor seiner Hinrichtung. Er durfte wechseln und seine Mama hat sich einen Selbstlernkurs besorgt.“

„Die Mütter von heute“, nahm Eva mit einem großen Happen so viel Milchschaum wie möglich in den Mund, „haben Pfeffer im Arsch.“

Jette ließ ein schweres Seufzen hören. „Meine Bewerbung ist im großen Kuvert zurückgekommen. Dabei war ich wirklich zuversichtlich. Die Ausschreibung war wie für mich gemacht.“ Sie dachte kurz nach. „Bis auf den Vollzeit-Teilzeit-Konflikt, die flexiblen Arbeitszeiten und meine eher rudimentären IT-Kenntnisse. Spanisch kann ich auch nicht, ansonsten wäre ich wie geschaffen für die Stelle. Ich kann gut organisieren.“ Sie warf einen Blick auf die Uhr. „In einer halben Stunde muss ich die Kinder holen. Amiti, willst du die Schuhe nun haben?“

„Eher nicht“, zögerte Amiti. „Wenn Leonie weiter ins Fußball geht, will Ludovica wieder in den Gitarrenkurs und Lotte zum Schwimmen. Macht vierzig, sechzig, fünfundzwanzig, insgesamt hundertfünfundzwanzig Euro im Monat, plus neues Trikot, neue Schuhe, plus Notenheft, plus neuer Badeanzug. Das kann ich mir wie immer nicht leisten.“ Sie stützte den Kopf auf die Hände und zauste sich das Haar. „Wenn ich anderswo sparen könnte, aber alles, wovon ich im Überfluss habe, sind Peters dumme Sprüche und die Briefe seines dämlichen Anwalts.“ Sie zeigte mit beiden Händen auf die leere Cappuccinotasse. „Ich kann mir nicht mal einen Cappu leisten. Ist das nicht traurig?“

„Absolut“, sagte eine feste, tiefe, wohlklingende Männerstimme.

Die drei Frauen schauten hoch zu Hopfi, dem Mann, der das Traubenproblem für Frau Delbar gelöst hatte. Er stand neben dem Tisch, nur gut eins siebzig groß, schlank, Glatze, Brille. Er war Mitte dreißig und meistens extrem gut gelaunt.

Jette glotzte ihn mit großen Augen an, Amiti hob skeptisch eine Augenbraue und Eva wischte sich hastig ihre Milchschnute weg. „Hey, Hopfi, machst du das Dorf unsicher?“

Hopfi hob einen Stoffbeutel an. „Einkäufe für Oma und mich. Es gibt Couscous mit Sojagemüse.“

Eva schnitt eine kurze Grimasse. „Du bist einer der durchgeknallten Mode-Veganer?“

„Manchmal.“ Hopfi nahm den Beutel über die Schulter und zeigte kurz auf Amiti. „Interesse an einem gutbezahlten Job?“

Amiti zog beide Augenbrauen weit nach oben. „Welcher Frosch hat keine Lust auf den Kuss einer Prinzessin?“ Im nächsten Moment fielen die Augenbrauen ins Bodenlose. „Leider bin ich ein Frosch mit drei Kindern, von denen jedes einen übervollen Terminkalender und vierzehn Wochen Ferien im Jahr hat. Mein unzuverlässiger Ex-Gatte ändert die Zeiten, in denen er die Kinder betreuen soll, nach eigenem Gutdünken oder storniert sie ganz, vorzugsweise wenn ich arbeiten könnte. Ich kann keinen Schulabschluss und keine Ausbildung nachweisen, die hier in Deutschland anerkannt werden. Solche Frösche werden nicht geküsst, sondern an die Wand geschmettert.“

Hopfi hatte zu jedem Einwand unablässig genickt und gerade als er den Mund öffnete, um zu antworten, klingelte sein Telefon. „Lass uns ein andermal sprechen.“ Er fasste in seine Sakkotasche und verschwand aus dem Dorfladen.

Eva sah, wie er auf seinem Smartphone wischte und zu sprechen begann. Sie schlürfte den Rest aus ihrem Glas und stellte es ab. „Der Typ ist komisch.“

„Durch und durch.“ Amiti beobachtete ihn mit messerscharfem Blick. „Kein Mensch dieser Welt macht Witze über gutbezahlte Jobs.“

„Wenn er einen zu vergeben hätte“, sagte Jette, „würde ich ihn sofort nehmen. Mit Job könnte ich Gerd den Arschtritt verpassen, den er längst verdient hat. Ich würde ihn in hohem Bogen vor die Tür setzen.“ Amiti legte einen Arm über die Lehne ihres Stuhls. „Ich habe mir mein Leben anders vorgestellt, als ich vor einer gefühlten Ewigkeit diesem adretten Deutschen ins Land von Milch und Honig folgte. Nicht mal Cappuccino kann ich mir leisten.“

„Und ich mir keine Operation.“ Eva stützte den Kopf auf die Hand und zerdrückte mit dem Löffel die Reste vom Milchschaum in ihrem Glas. „Mit hunderttausend wären wir saniert.“

„Für jede von uns.“ Jette versuchte zu lachen. „Du immer mit deiner Rechnerei.“

„Ich begreife mein Leben durch Zahlen.“ Sie setzte sich aufrecht und zupfte die Bluse über den offenen Rockbund. „Wenn ich genug hin und her gerechnet habe“, fand sie, „fühlt es sich nicht mehr ganz so schlimm an.“

„Es ist wie immer.“ Amiti trug ihre übliche selbstgestrickte bunte Jacke, obwohl es draußen recht mild war. Sie zog den Häkelgürtel enger. „Mir ist elend kalt und ich könnte tot umfallen, wenn ich an den Winter und seine Heizkosten denke. Hoffentlich darf Peter den Unterhalt nicht kürzen. Wenn er darf und mir wirklich zweihundert Euro im Monat weniger zustehen, kann ich mir die Kugel geben. Scheiße, eine Knarre kostet fünfhundert aufwärts und die Patronen sind nicht inklusive.“ Sie begann an ihren Fingernägeln zu knibbeln.

„Das ist nicht gut“, nahm Eva ihre Hand und hielt sie fest. „Je mehr du an den Nägeln und der Haut zupfst, desto schlimmer wird es.“ Sie zeigte ihre eigenen Fingernägel, die sie silber lackiert hatte. „Bei schicken Nägeln ist der Ansporn größer, nicht mehr zu zupfen und zu kratzen.“

„Lackieren?“ Amiti verzog das Gesicht. „Ich habe mich eben auf einen Cappuccino von dir einladen lassen und keinen Euro übrig für egal welchen billigen Lack.“

Eva winkte ab. „Wenn du mal bei mir bist, hübsche ich dich auf. In meiner Spezialschublade gibt es mehr als dreißig Farbtöne, weil ich mir immer Nagellack kaufe, wenn ich sexuell frustriert bin.“

„Ui“, fand Jette, „mit dieser Analyse bist du besser als mein Seelenstreichler. Wann hast du Zeit für eine Sitzung? Ich würde gern alle deine Farben durchprobieren und sogar ein Fläschchen Nagellackentferner mit Aceton springen lassen. Habe ich von meiner Oma übrig. Das alte Zeug ist der Hammer. Kriegt jede Farbe weg.“ Sie senkte die Stimme. „Sogar Autolack. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche.“

„Du hast dein Auto mit Nagellackentferner bearbeitet?“ Amiti hatte jede Silbe besonders betont. „Das ist total dämlich.“

Jette kippte ihre Espressotasse zur Seite, um den letzten Tropfen zusammenlaufen zu lassen. „Genau genommen geht es auf Gerds Konto. Ich habe ihn gefragt, ob er was gegen Vogelschiss hat und er meinte, er würde mir was holen. Ein Tag verging, der zweite Tag verging, am dritten Tag war ich sauer und am vierten Tag ging ich mit dem Entferner ans Werk.“ Sie ließ die Finger, mit denen sie aufgezählt hatte, sinken. „Wenn ich den Kerl nur sehe, geht er mir tierisch auf den Sack. Wahrscheinlich kommt er am Samstagabend, wirft mir die Dreckwäsche hin – nein, nicht in den Keller oder in den Wäscheabwurf, sondern einfach neben das Bett – und verkriecht sich in sein Arbeitszimmer oder die Kneipe. Mir wäre die Kneipe lieber.“ Sie beugte sich nach vorn und flüsterte: „Könnt ihr euch das vorstellen? Seit Monaten ist bei uns im Bett tote Hose und es macht mir überhaupt nichts aus. Gar nichts.“

„Ach“, überlegte Amiti, „bei mir ist es Jahre her, seit ich neben einem Mann geschlafen habe, geschweige denn mit einem.“

Die Verkäuferin hinter der Theke fluchte, weil eine ihrer Kolleginnen die Spülmaschine nicht mit Klarspüler, sondern mit normalem Spülmittel befüllt hatte und das Geschirr nun matt und klebrig war. „Wie daheim!“, murrte sie nicht leise genug. „Da sind beide Flaschen blau und wenn ich meine bessere Hälfte dazu zähle, sind es sogar drei Flaschen, die blau in der Ecke lümmeln.“

Eva atmete tief ein. „Die Welt dreht sich an uns vorbei. Andere reiten auf der Welle, wir sitzen unter ihr. Andere schmeißen die Fete, wir räumen hinterher auf. Alle ziehen ihr Ding durch, wir werden durchgezogen. Wir sind draußen. Drunter. Am Arsch eben. Wir brauchen Veränderung, Bewegung. Alles muss anders werden.“

Prompt stand Jette auf. „Ich hole jetzt die Kinder vom Fußball. Wie machen wir das mit dem Lackieren? Am Samstag ist meine Schwiegermutter mit den Kindern beim Shoppen in Garmisch.“

„Ui“, machte Amiti. „So eine Oma hätte ich gern für meine Kinder, vorausgesetzt, sie will von mir kein Geld für den Shoppingausflug haben.“

„Will sie nicht.“ Jette fummelte drei Euro aus ihrer Hosentasche und legte sie auf den Tisch. „Einen Tag lang ist sie spendabel und kauft Klamotten, Kosmetik, Taschen, Tücher und alles, was zwei Kinder eben brauchen. Dafür gibt es zu Weihnachten nur eine Tafel Schokolade und zwanzig Euro für jeden. Also, was ist mit Samstag? Ich könnte Semmeln mitbringen und wir frühstücken, bevor wir lackieren?“

„Bei mir passt es perfekt“, sagte Amiti. „Papa-Wochenende.“

„Perfekt sagt man nicht mehr“, wandte Jette ein. „Perfekto, das ist ein guter Ausdruck momentan. Dein Ex nimmt die Kinder perfekto übers Wochenende, sofern er es sich nicht anders überlegt, was dann non-perfekto wäre.“

Amiti riss ihren Blick von dem Kleingeld am Tisch. „Ich habe ihm Karten für die Puppenkiste besorgt, da muss er hingehen.“

„Prima.“ Jette schob das Kleingeld zu Eva. „Hier. Um halb zehn? Eva, ist dir das zu früh?“

Mit beiden Daumen in die Höhe gereckt machte Eva eine zuversichtliche Miene. „Um halb zehn habe ich meiner Theorie nach bereits mein Walking-Pensum erfüllt und den ersten Entschlackungstee getrunken, während im Radio die vierte Folge von Traumhaft schlank durch Hypnose läuft.“ Sie stutzte. „Wofür sind die drei Euro?“

Jette war schon im Gehen. „Für den Espresso, meine Liebe. Bis Samstag!“

Kapitel 2

Transferleistung

Es klingelte an der Tür. Nach einigen Sekunden erneut und wesentlich länger. Eva zog die Decke höher unter die Nase und schauderte, als dabei ein eiskalter Luftzug ihre nackten Füße streifte. Die fühlten sich wie Eiswürfel an. In Form gepresste, fußähnliche Eiswürfel, bei denen der Körper sich weigerte weiter Blut hinein zu pumpen und Wärme zu verschwenden.

Es hämmerte an der Tür. „Eva! Pennst du? Träumst du wieder von der Blumenwiese voller Geld? Kein Mensch kann Geld aus seinen Träumen in die Realität transferieren!“

Die Idee!

Eva schoss mit zu viel Schwung aus dem Bett. Der Vorleger unter ihren Füßen rutschte weg, sie geriet ins Straucheln und knallte volle Kanne gegen das weit geöffnete Fenster. Raureif klebte an ihrer Nase und weh tat es außerdem. „Scheiße!“ Eva rieb sich die schmerzende Stelle und begann gleichzeitig von einem Bein aufs andere zu tänzeln. Der Laminatboden war verflixt kalt. „Das ist die Idee!“, rief sie und warf auf dem Weg zur Wohnungstür einen kurzen Blick in den Spiegel. „Das ist überhaupt die Lösung für alle Probleme!“ Sie riss die Tür auf. „Seht nicht zu genau hin, Mädels“, näselte sie. „Ich habe Haare wie ein Engel. Ein Engel, der durch eine Flugzeugturbine ins Gebüsch gefallen ist. Kommt rein.“

„Wir haben dich aus dem Bett geholt.“ Jette schaute auf ihre knallgrüne Armbanduhr. „Es ist fast zehn. Du wolltest längst dein Sportpensum erledigt haben. Also, ich war heute fünfzehn Kilometer laufen. Ich dachte, ich käme nicht rechtzeitig bei Amiti an und habe mir schon Ausreden überlegt, du weißt ja, sie ist pünktlicher als der Klischeedeutsche schlechthin. Zu meinem Glück hat Peter die Kinder mit Verspätung geholt.“

Amiti war bereits aus den Schuhen geschlüpft. „Er hat sie heute ein bisschen später geholt, dafür bringt er sie morgen vor dem Frühstück zurück. Mein freies Wochenende schrumpft auf zweiundzwanzig Stunden und ich muss nachmittags in den Laden und die Abrechnung prüfen. Mein Chef ist morgen bei irgendeiner seiner vielen Tanten eingeladen und hat keine Zeit, um seinen eigenen Fehler zu suchen. Wenigstens zahlt er mich schwarz und zusätzlich, da kann ich am Montag gleich meinen Kühlschrank auffüllen. Frischkäse und Toast, mehr ist aktuell nicht drin.“

Eva runzelte die Stirn. „Länger als eine Stunde wirst du nicht brauchen, um den Fehler zu finden. Wie willst du mit einem Zehner deinen Kühlschrank füllen? Wo zur Hölle gehst du einkaufen?“

„Bei den Tafeln“, gab Amiti zurück. „Die haben prima Sachen und mir bleibt eh nichts anderes übrig. Ich muss sehen, wo ich bleibe, deshalb werde ich für die Fehlersuche mindestens drei Stunden benötigen, selbst wenn ich zwei Drittel der Zeit im Büro sitze und den neuen Gruselroman von Silvie Noir lese. Den habe ich mir illegal aus dem Netz gezogen.“

„Illegal?“, verdrehte Jette die Augen. „Wenn das jeder machen würde, bräuchte die Autorin einen gut bezahlten Nebenjob.“

Eva wischte die aufkeimende Debatte schnell mit hektischen Armbewegungen zur Seite. „Solche Probleme sind nicht mehr lange welche.“ Sie machte die Schlafzimmertür zu. „Zum Glück habe ich verschlafen. Gerade als ihr mir fast die Tür eingetreten habt, ist es mir gekommen.“

„Echt?“, begann Jette zu grinsen. „Sollen wir ein paar Minuten draußen warten?“

„Warum?“

„Na, wenn es dir gekommen ist? Hast du einen Kerl im Schrank versteckt oder war es ein Einzelvergnügen?“

Eva gähnte lange und herzhaft. „Gekommen ist mir die genialste aller genialen Ideen. Die muss ich euch gleich erzählen. Kommt, wir gehen in die Küche.“

„Ist es da wärmer?“ Jette raschelte mit der Tüte Semmeln. „Bis vor ein paar Minuten waren die warm und frisch und keine Aufbacksemmeln. Ist deine Heizung ausgefallen? Oder hat das Sparen auf deine OP eine neue Dimension erreicht und du knappst nun an jedem Cent?“

Die Küche war ein Teil des Wohnzimmers, davon abgetrennt durch eine lange Theke, auf der immer allerlei Zeug in Streuordnung lag. Zwischen uralte Zeitungen, unbeantwortete Post, leere Getränkeflaschen, Schminkzeug, original verpackte Feinstrumpfhosen und einen BH legte Jette die Semmeln und Eva drückte den Knopf an der Kaffeemaschine. „Diese Idee ist klasse, Mädels, die wird alles verändern und unser aller Leben völlig auf den Kopf stellen.“

„Man kann es mit dem Sparen übertreiben.“ Jette kannte sich in der Küche aus und holte Teller aus dem Schrank. „Da fängst du dir Rheuma ein, bei dieser Kälte.“

„Also gut, ich erkläre es euch.“ Eva schob die Tür zum Flur zu, tappte zum Fenster und drehte die Heizung höher. „Der Körper ist eine Wundermaschine. Er macht aus Fett pure Energie in Form von Wärme. Das macht der Körper immer, es sei denn, die Außentemperatur ist recht hoch. Bei Hitze schwenkt er um von Wärme auf Schweiß.“

Amiti nahm mit einem sehr skeptischen Blick die Teller und trug sie zum Esstisch. „Du meinst, je kälter es um dich herum ist, desto mehr Energie muss dein Körper produzieren, desto mehr Fett muss er verheizen.“

„Logisch, oder?“, fand Eva. „Mein Fett schmilzt dahin.“ Sie legte Kaffeepads in die Maschine und stellte eine Tasse drunter. „Bloß war mir saukalt und ich konnte ewig nicht einschlafen. Kaum war ich eingeschlafen, bin ich wieder aufgewacht. Muskelschmerzen vom Zittern. Einmal dachte ich, es wäre ein Einbrecher im Zimmer. Irgendwas hat geklappert.“

Amiti holte aus dem Kühlschrank Butter und Marmelade. „Lass mich raten, das waren deine Zähne. Du hast geschnattert vor Kälte.“