Totsicher - Sylvia Schwarz - E-Book

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Sylvia Schwarz

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Beschreibung

Mit der modernsten Technik ausgestattet, soll das neue Hochhaus seine Bewohner vor jeder denkbaren Bedrohung schützen. Als sich jemand des Systems bemächtigt, wird das Haus zur Todesfalle, aus der es kein Entkommen gibt. Für Thyra und ihre Nachbarn beginnt ein Albtraum und diese Nacht wird ein schlimmes Ende nehmen.

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Seitenzahl: 310

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 1

„Harriet Kullmann, World News. Ich stehe hier vor der grauenhaften Szenerie des Schreckens. Nachdem in der Nacht zum Sonntag ein infernalischer Brand ausgebrochen ist, scheint die Lage endlich unter Kontrolle zu sein. Bei mir ist Kriminalkommissar Klötz. Herr Klötz, können Sie uns sagen, was hier Fürchterliches geschehen ist?“

Der Polizist, dem sie das Mikrofon unter die Nase hielt, rümpfte diese kurz und kratzte sich am kahlen Hinterkopf. Er öffnete den Mund. „Also…“ Er machte den Mund wieder zu und biss sich von innen auf die Lippen, während er seine 70er-Jahre-Koteletten abwechselnd rechts und links mit dem Zeigefinger striegelte.

Harriet Kullmann ließ das Mikrofon sinken. „Geht das nicht ein bisschen flotter? Wenn ich meine Frage in diesem Stakkato-Ton stelle, sollst du nicht klingen wie eingeschlafene Füße.“

Klötz legte den Kopf leicht schief und blinzelte. Ihn blendete einer der aufgestellten Flutlichtscheinwerfer, der schräg in die Höhe leuchtete anstatt auf das Geschehen. „Ich kann nicht so tun, als würden wir einander nicht kennen. Wir sind gemeinsam zur Schule gegangen und ich verstehe nicht, wie du für den Boulevard-Proleten World News arbeiten kannst. Das ist nicht beeindruckend, sondern lächerlich. World News. Ein ziemlich klangvoller Name für mickrige Inhalte.“ Er breitete die Arme auseinander. „World News berichtet live von der Szenerie des Schreckens, live vom Hochhausbrand in Oberzollering, bei dem vergangene Nacht wohl sage und schreibe zwanzig Leute ums Leben gekommen sind. Plus minus eine Handvoll.“ Er ließ die Arme wieder sinken. „Das ist der Welt egal.“

Harriet wedelte mit ihrem Puschelmikrofon über das zusammengestürzte Hochhaus im Hintergrund. Ihre Armreifen aus Modeschmuck klimperten dabei. „Wenn das ein Terroranschlag war…“ „Quatsch!“ Klötz strich sein schütteres schwarzes Deckhaar zurück über die blanke Stelle am Hinterkopf und rückte die gestreifte Krawatte zurecht. „Welchen Grund sollte es für einen Terroranschlag geben in einer Gegend, die am Entstehen ist? Das ist Schwachsinn.“

„Denk an den Schwarzen Mittwoch“, sagte Harriet ernst. „Da ist ein ganzer Wohnblock in Schutt und Asche gelegt worden von einem Tanklaster, der ins Foyer eines Hochhauses gerast und explodiert ist. Ein wahnsinniger Durchgeknallter hat tausend Tote verursacht!“

„Neunhundertzwanzig Tote“, verbesserte Klötz. „So viele Leute leben hier nicht. In dem einzigen fertigen Haus waren von achtzig Wohnungen gerade mal dreizehn bezogen. Zwanzig Leute ungefähr, wobei wir prüfen, ob ein paar davon nicht auswärts waren in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Wir stehen mit den Ermittlungen erst am Anfang.“ Er setzte sich seine Polizeimütze auf und sie rutschte ihm bis knapp über die Augen, ehe sie an seinen leichten Segelohren hängenblieb. Was seinem Aussehen dank der Mütze an Autorität fehlte, legte er in eine tiefe Stimme: „In einem Jahr hätte sich ein Anschlag gelohnt. Das alte Haus gegenüber mit dem dichtgemachten Jeansladen im Erdgeschoss wird demnächst abgerissen und ein neuer Luxusblock hingeknallt. Dazu Tiefgaragen und eine Shoppingmall mit Juwelieren, Pelzhändlern und teuren Designerketten. Die Blade Corporation hat das gesamte Areal aufgekauft und einen ganz neuen Plan für das ganze Gebiet präsentiert. Rund um die Mall werden fünf weitere Luxusblöcke hingeknallt, Golfclub und Segelclub inklusive. Dort, wo sie den Kies abgebaut haben, wird es den passenden See dazu geben. Naherholung auf höchstem Niveau. Die Bauarbeiten zu den Häusern beginnen nächsten Monat und bereits im Sommer ziehen die Leute ein. Diese Michelle Timsarian, die das alles managt, tritt ordentlich aufs Gas und sie hat dem Stadtrat ganz schön eingeheizt, damit die Genehmigungen alle so schnell wie möglich durchgedrückt werden.“ Er schmunzelte. „Erst dachte dieser Altherrenclub, mit dem Frauchen wäre es einfach. Sieht granatenmäßig scharf aus. Super Figur, bildschönes Gesicht. Feuerrotes Haar.“ Er breitete die Arme aus und beschrieb einen Kreis um seinen Kopf herum. „Feuerrote Locken hat sie, die wie eine Mähne abstehen. Sieht toll aus.“ Er ließ die Arme wieder sinken. „Schöne Frauen sind gewöhnlich leicht zu manipulieren und marschieren brav in die Richtung, in der man sie haben will. Timsarian allerdings hat die Männer laufen lassen und die meisten haben die Hosen jetzt gestrichen voll.“

Harriet stellte sich andersrum, damit der Wind ihr ins Gesicht blies und ihr nicht das blondierte Haar in die Augen trieb. „Sind die Wohnungen alle verkauft?“

„Vom Reißbrett weg.“ Klötz kratzte mit gestrecktem Zeigefinger Dreck von seinem rechten Daumennagel. „Für zwanzig Riesen den Quadratmeter.“ Er ließ seinen Blick über die schwelenden Trümmer und die von Qualm überwaberten Felder schweifen. Die Straßen waren blitzblank sauber, der Park für die Wohnanlagen fertig, einen Spielplatz gab es und natürlich die alten Baracken gegenüber, von deren Fassaden der Putz bröselte. Im Hintergrund war das Seeufer angelegt und mit Vegetation begrünt. Im Frühjahr würde alles anfangen zu wachsen und in ein paar Jahren konnte man unter Bäumen am Seeufer liegen oder im teuren Café Espresso genießen. Angeblich hatte der berühmte italienische Barista Luigi Trentino das Grundstück für seine Kaffeebar bereits gekauft.

„Hier leisten sich richtig reiche Leute eine Wohnung“, sagte Klötz. „Es gibt sogar einen Hausmeister in jedem Haus, der sich um alles kümmert, was reichen Leuten auf den Sack geht.“ Er lachte. „Also, beim Blick vom Penthouse in die Berge oder auf den See würde mir nichts mehr auf den Sack gehen. Auf der Dachterrasse gibt es sogar einen Pool mit Glasdach, das man je nach Wetter vor und zurück fahren lassen kann.“ Er stutzte. „Den Pool hat es gegeben. Ist ja eingestürzt, das Haus. Jetzt wird ein anderes gebaut, das sich besser ins Gesamtkonzept einfügt. Mehr Wohnungen, mehr Geld, mehr Gewinn, das will die Blade Corporation. Daheim auf dem Dorf hätten die Leute gesagt, da sei jemand aufgebrannt. Aufgebrannt, nicht abgebrannt, weil der Wert nach dem Brand höher ist als vorher. Man zieht Vorteile aus dem Unglück.“

Diese Feinheiten traditionellen Sprachgebrauchs interessierten Harriet nicht. „Könnte ein schlampiger Hausmeister unter Drogeneinfluss etwas mit dem Brand oder dem Einsturz zu tun haben? War er wegen einer Sexgeschichte abgelenkt oder wurde er vom Nutznießer der Katastrophe womöglich angeheuert, um dem Feuer nachzuhelfen?“

Seinem Gesichtsausdruck nach wollte Klötz sich nicht ihren Spekulationen anschließen. „Wir wissen von dem Brand. Vielleicht wegen einer umgefallenen oder abgebrannten Kerze, wahrscheinlicher war es ein Kurzschluss in einer der vielen elektrischen Einrichtungen. Das würde erklären, warum keiner der Bewohner Hilfe rufen konnte. Weißt du, dieses Haus war technisch auf dem neuesten Stand und alles lief digital und automatisch. Türen, Fenster, Lüftung – alles wurde mit dem Computer gesteuert und bedient. Jedes Gerät war online, vom Abluftfilter in der Esse bis zum Zahnrädchen im Wäscheabwurf. Da lief nichts analog.“ Er seufzte laut. „Ohne Strom war das Haus eine Falle. Keine Tür ging auf, kein Rauchmelder pfiff, kein Telefon funktionierte.“ „Handy?“, fragte Harriet.

„Nix Handy.“ Klötz schob die Hände in die Hosentaschen, was bei der ohnehin zu engen Hose zwei hässliche Beulen machte. „Wegen der Terrorverordnung nach dem Schwarzen Mittwoch sind die Häuser massiv mit Bunkerstahl vollgepumpt. Mobilfunk hat da keine Chance. Verstärker leiten die Signale weiter, damit die Smartphones funktionieren, aber ohne Strom gehen die Verstärker nicht.“ Er ballte die Fäuste, ignorierte das Knirschen des Hosenstoffs und schaute über das Aufgebot an Feuerwehren und Polizeifahrzeugen. „Kurz nach halb sechs in der Früh haben wir einen Notruf empfangen. Der Anrufer war unglaublich schwer zu verstehen. Wir konnten eine Streife hinschicken. Da brannte das Haus bereits lichterloh und es stürzte ein, ehe die Feuerwehr da war.“

„War es ein Bewohner des Hauses? Vielleicht der Verursacher des Brandes?“ Harriet stand neben Klötz und hielt sich das Haar fest. Es hatte zu nieseln begonnen und nun fröstelte sie in ihrem kurzen Rock und der Feinstrumpfhose. Der schwarze Blazer war schick, nicht warm. Es war November, eiskalter Ostwind blies und es war Blitzeis angesagt. Das Nieselwetter presste den Qualm auf den Erdboden und rollte die Schwaden wie einen Teppich zwischen die Häuser des nächstgelegenen Stadtviertels. Höchstens einen halben Kilometer war es bis dorthin. Das Gebiet dazwischen gehörte seit einigen Wochen der Blade Corporation und würde so bald wie möglich mit stylischen Wohnblöcken zubetoniert. Je näher am neuen See, desto teurer. Ein paar Enten auf dem Wasser scherten sich nicht um Grundstückspreise und beanspruchten die Regionen direkt am Ufer mit lautem Gequake, das bis zu ihnen zu hören war.

Klötz trat einen Schritt zurück und warf Windschatten für sie. „Wahrscheinlich jemand, der es durch den Brand ins Erdgeschoss schaffte und mit dem Smartphone nahe genug an der Außenwand war, um ein schwaches Signal aufzufangen. Ehrlich, der Anruf war kaum zu verstehen. Die Verbindung brach immer wieder ab, es krachte und schepperte. Ich habe mir die Aufzeichnung angehört und erst beim dritten Anlauf eine Männerstimme ausmachen können.“

Eine Weile standen sie nebeneinander und schauten auf die rauchenden Überreste des Hauses. Es war nicht senkrecht in sich zusammengefallen, sondern hatte sich geneigt und war schräg über die Straße gestürzt. Das vordere Nachbarhaus, das leer war und auf den Abriss wartete, hatte es erwischt. Das hintere Haus war zum Glück nicht betroffen. Dort standen an zwei Fenstern Leute und schauten mit Kaffeebechern in der Hand den Feuerwehrleuten bei der Arbeit zu.

Auf dieses Haus zeigte Harriet. „Hat von denen niemand den Brand bemerkt?“

Klötz winkte ab. „Letzte Woche wurden vier Parteien zwangsgeräumt und nach Hundsbuckel umgesiedelt. Die übrigen vier Parteien sind nächsten Freitag dran. Glaub mir, das sind keine Leute, die nachts aus dem Fenster sehen und checken, ob die Nachbarschaft ruhig ist. Die checken eher, ob es Krawall gibt, dem man sich anschließen kann.“ Er rührte mit den Fäusten in den Hosentaschen. Wieder hörte man, wie ein Faden riss. „Der neue Investor hat mit den Räumungsklagen richtig Druck gemacht, deshalb läuft die Zwangsumsiedlung jetzt so flott.“

„Hätte den Leuten im brennenden Haus vielleicht das Leben gerettet, wenn mal jemand aus dem Fenster geschaut hätte“, meinte Harriet.

„Jemand hat.“ Klötz zückte sein Smartphone und wischte kurz mit dem Daumen übers Display. „Um halb sechs ist dieses Video online gestellt worden. Man sieht das Haus lichterloh brennen. In den oberen Geschossen hat es durch den Druck der Hitze die Mauer nach außen gebogen. Wenn der Trottel gleich den Notruf gewählt hätte…“ Er tippte auf den Balken mit der Laufzeitanzeige. Das Video dauerte fünf Minuten und dreißig Sekunden. „Heutzutage hält man eher drauf als zu helfen.“

„Ermittelt ihr nach dem Filmer, wegen unterlassener Hilfeleistung?“, wollte Harriet wissen. „Kommt der Gaffer in den Knast?“

Klötz machte eine wegwerfende Geste. „Ist über ein soziales Netzwerk gelinkt worden. Wenn man da etwas ermitteln will, kostet es viel Geld und Zeit, weil man gegen den Betreiber vorgehen muss. Das ist bisher immer schief gegangen, weil die Server im Ausland stehen. Der Arsch kommt davon.“

„Ähm“, räusperte sich jemand hinter ihnen. „Dein Beitrag ist Kacke; den musst du neu sprechen.“

Es war der Kameramann, der mit der Kamera auf der Schulter alles filmte. Harriet blies die Backen auf und fummelte an ihrem vom Wind verdrehten Ohrring. „Hast du die Ruine?“

„Mehr als einmal.“ Er schwenkte die Kamera weiter. „Ich habe die Rettungsfahrzeuge, die Feuerwehren, Krankenwägen, die Polizei, die Presse. Du fehlst mir.“

Harriet horchte auf. „Welche Presse?“

„Sonntagsblatt.“ Ihr Kameramann zeigte nach vorn, wo etwa hundert Meter vor ihnen der Transporter des Sonntagsblatts parkte. Ein alter Mann im Cordanzug stand daneben und sprach mit einem Feuerwehrmann.

„Canaille“, zischte Harriet. „Anstatt unseren Beitrag zu kaufen, drehen sie selber einen.“ Sie wuschelte sich durch das Haar. „Probieren wir es, ehe ich hier festfriere. Wenn wir schneller sind, kriegen wir die Klicks.“ Sie stupste Klötz in die Seite. „Kannst du ein bisschen mehr Eifer an den Tag legen? Wir können hinterher zum Italiener gehen, wenn du willst. So wie in alten Zeiten.“

Da waren sie ein paarmal Essen gegangen und danach im Bett gelandet. Er war zwar nicht der Brüller, aber ganz ordentlich und weil sie lange keinen Kerl mehr gehabt hatte, kam er ihr durchaus gelegen. Bei ihr daheim war einigermaßen aufgeräumt und Kondome hatte sie neulich gekauft. Ihre Pussy war nicht frisch rasiert, was einem Mann wie ihm, der seit fünfzehn Jahren mit derselben Frau verheiratet war, gleichgültig war.

Klötz rollte die Lippen und zog die Jacke glatt. „Ich glaube nicht. Ich bin nicht so der leidenschaftliche Typ, wenn es um tragische Geschichten geht.“ Er zeigte kurz hinter sich, denn der Kameramann hatte ihn mit den Ruinen im Rücken postiert. „Da sind Menschen gestorben, weil der Strom nicht funktioniert hat. Kann es einen banaleren Grund geben? Ich meine, jedes Auto funkt sofort, wenn es einen Unfall hat. Jeder Wanderer hat ein GPS bei sich, mit dem er sofort gefunden werden kann, wenn es brenzlig wird. Man wird rund um die Uhr überwacht und kontrolliert und trotzdem müssen Menschen wegen eines Stromausfalls sterben.“

Harriet trat von einem Bein aufs andere, ohne damit gegen die Kälte anzukommen. „Hat einer der Elektriker Mist gebaut? Vielleicht ist der Brand wegen Pfusch am Bau ausgebrochen? Es wird ja mit den Subunternehmern aus Fernost immer schlimmer mit der Qualität. Wie hoch ist der Sachschaden, weißt du das?“

„Schon“, machte Klötz ein langes Gesicht. „Allein der Fuhrpark in der Tiefgarage war knapp vier Millionen wert. Sportwagen, Luxuskarossen, neue E-Autos. Ein flaschengrüner Oldtimer-Mini war dabei. Um den ist es echt schade.“

„Langweilig.“ Harriet dehnte sich den Nacken und setzte ihr breites Lächeln von vorhin auf. „Harriet Kullmann, World News. Ich stehe hier direkt vor der Szenerie des Schreckens, wo in der Nacht ein dreißigstöckiges Luxus-Hochhaus brannte und einstürzte. Wie Kriminalkommissar Klötz mir versichert, gibt es keine Überlebenden. Kommissar Klötz, können Sie uns berichten, was heute Nacht hier vorgefallen ist? Wer ist für diesen fürchterlichen Brand verantwortlich?“ Klötz wusste nicht, wohin er schauen sollte. Seine Augen huschten hin und her zwischen Harriet und der Kamera. Er machte den Mund auf. „Also…“ Er klappte die Kiefer wieder zu.

Harriet ließ erneut das Mikrofon sinken. „Das darf nicht wahr sein! Jetzt stotterst du wieder in die Kamera. Kriegst du nicht wenigstens einen vernünftigen Satz heraus?“

Klötz checkte nebenher etwas auf seinem Smartphone, das einen kurzen Piepton von sich gegeben hatte. „Wir haben im Erdgeschoss eine verkohlte Kinderleiche gefunden, die mit den Resten eines Sofas verschmolzen ist. Offenbar ist das Kleinkind auf dem Sofa gestorben, hoffentlich am Rauch, damit es vom Feuer nichts mehr mitbekommen hat. In der Lobby liegen weitere Leichen, alle bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Da wird selbst die Gerichtsmedizin die genaue Todesursache nicht mehr rausfinden können, falls wir sie mit den Robotern überhaupt bergen können. Ansonsten bleiben die Bilder der Mini-Drohnen und vielleicht eine DNS-Spur aus den Knochenresten. Weißt du, Harriet, wir haben beide beruflich mit Tragödien zu tun. Ich interessiere mich für die Opfer und was sie durchgemacht haben, wohingegen du immer nach einem Täter suchst, dessen Geschichte du ausschlachten kannst.“

Harriet verdrehte die Augen. „Wir sind alle Opfer, mein Süßer. Manche mehr, manche weniger. Für mich wird es interessant, wenn die Menschen die Seite wechseln und vom Opfer zum Täter werden.“ Sie lächelte breit. „Wird es hier einen Täter geben? Wer ist verantwortlich für die Toten und den Sachschaden?“

„Wird sich zeigen.“ Klötz drehte sich leicht und blickte auf die Trümmer des Hauses. „Das wird sich zeigen, falls wir eine Ahnung davon bekommen, was heute Nacht dort passiert ist. Jedes Detail werden wir nicht rausfinden können, dazu hat das Feuer zu sehr gewütet. Schlimm. Wirklich schlimm. Ich muss jetzt wieder zurück zu den Kollegen.“

Kapitel 2

Wenn sie träumte, handelte der Traum stets von dieser riesengroßen Welle, die sie wegspülte. Es schien sich immer um dieselbe Welle zu handeln, wenngleich die Szenerie des Albtraumes sich änderte. Mal kniete sie am Pool und staunte durch glasklares Wasser hinunter zu einem atemberaubend schönen Riff, wo sich Fische zwischen roten, weißen, gelben Korallenästen tummelten, mal saß sie an einem Strand, die Füße im weißen Puderzuckersand, das Gesicht der Sonne zugewandt. Immer war das Wasser klar und sauber, immer sah sie Fische schwimmen und ausnahmslos fand sie den Traum wunderbar, bis diese Welle kam. Aus dem Nichts türmte sie sich auf, höher als ein Wolkenkratzer. Die anderen Menschen, die im Traum bei ihr waren, schrien und rannten davon. Thyra hatte oft versucht ihren Traum zu beeinflussen. Sie war auf die Welle zugelaufen, wollte in dem sich bildenden Tunnel surfen, wollte mit der Welle schwimmen oder über sie hinweg, wollte endlich einen Albtraum erleben, der nicht mit einem Schweißausbruch endete und ihr Herzrasen verursachte.

Diesmal war ihr Plan gut. Sie hatte in ihrem Traum ein Jetpack in einer Streichholzschachtel gefunden und als die Welle anrückte, schnallte sie es sich um und wollte davonfliegen. Leider war sie keine gute Pilotin. Sie verwechselte die Knöpfe und stürzte ab, direkt auf ein kleines Kind. Das Mädchen schrie aus Leibeskräften und davon wachte Thyra auf.

Sie schmiegte ihr Gesicht in das warme Kissen und zog sich die Decke über die Ohren. „Diese Träume“, hörte sie in Gedanken ihren Therapeuten sagen, „werden immer wieder kommen, wenn es Ihnen nicht gelingt sie zu beherrschen.“

Wie sollte sie einen Traum beherrschen, wenn sie wach war?

„Greifen Sie zu bizarren Lösungen.“ Der Psychiater machte sich Notizen in seinem schwarzen Büchlein. „Reiten Sie auf einem Hai, werden Sie zur Nixe. Egal was und wie, beherrschen Sie den Traum.“

Schlafen war dazu auf jeden Fall nötig. Thyra kniff die Augen zusammen, als konnte sie dadurch zurück ins Reich der Träume finden. Wenn sie lange genug still lag und den Bewegungsdrang ihrer Arme und Beine ignorierte und nicht gähnte, gelang es ihr vielleicht.

Das kleine Mädchen schrie viel zu laut.

Einen Moment später sortierte ihr schlaftrunkener Geist die Schreie in die Wirklichkeit. Thyra tastete nach ihrem Smartphone und blinzelte mit einem Auge auf die Uhrzeit. Der Home-App nach war es fünf Uhr dreißig.

Halb sechs. Der Zwergenaufstand, den Elaine am Vorabend geliefert hatte, schien sich fortzusetzen. Was hatte sie? Blähungen wegen der Zwiebeln, nasse Windel, Durst?

Thyra rieb sich das Gesicht und kratzte an einem Pickel herum. Dieses Geschrei klang eine Oktave höher als das übliche Gezeter, mit dem die Mama genervt oder überzeugt werden sollte. Sie brüllte mit einem Unterton von Panik. Vielleicht war es ein böser Traum, der sie erschreckte.

Thyra schubste ihre Decke zur Seite, drehte sich aus dem Bett und landete auf den Füßen. Sie tappte ohne Schuhe aus dem Schlafzimmer, über den vom Mondlicht erhellten Flur, vorbei am Badezimmer, in Elaines Zimmer.

Weil Elaine Angst im Dunkeln hatte, schloss Thyra niemals die Rollläden. Sie sah draußen den Vollmond am sternenklaren Himmel stehen. Er warf sein weißes Licht auf das zweijährige Mädchen, das vor dem Bett stand und schrie. Ihr fehlten der Schlafanzug und die Windel. Thyra rieb sich die Augen, um den verschwommenen Blick zu klären. Elaine stand nackt neben dem Bett. Die Arme hingen seitlich herab und von ihren Fingerspitzen tropfte Blut.

Thyras Herzschlag setzte aus. Sie hielt den Atem an und fiel vor ihrer Tochter auf Knie. Sie wagte nicht das Kind anzufassen. Unzählige Schnitte waren dem kleinen Körper beigebracht worden und jeder blutete. Dicke Tropfen liefen über die Arme, die Beine, den Bauch. Schnitte am Hals, an den Schultern, an der Brust, den Beinen. Überall! Sogar an den Wangen und der Stirn.

„Engel!“, keuchte sie, „was ist passiert?“

Die Kleine brüllte lauter. Sie kippte nach vorn gegen Thyras Schulter und Thyra, die mit fliegenden Augen im Zimmer suchte, schloss ihr Kind in die Arme. „Was ist passiert, mein Mäuschen? Hast du dir wehgetan?“ Elaine war gerade zwei und nicht halb so eloquent wie der Tausendsassa aus der Krippe, der zu jedem Dreck seinen Senf in Form einer ausführlichen Vorgangsbeschreibung ablieferte. Elaine heulte. Aus ihr war nichts herauszubringen.

Thyra ließ sich mit ihrem Kind in den Armen aufs Bett sinken und suchte nach einem Grund für diese Verletzungen. Die Gardinen bewegten sich sacht vor dem Fenster, das völlig intakt war. Auf dem Boden lagen keinerlei Splitter von Glas oder einer zerbrochenen Schüssel. Manchmal schmuggelte Elaine eine Glasschüssel mit Gummibärchen in ihr Zimmer, aber wenn sie sich daran verletzt hätte, müssten irgendwo Scherben liegen.

Sie spürte, wie ihr T-Shirt nass wurde. Es war eine Mischung aus dem, was Elaines Nase hergab, Tränen und zähem Blut, das im fahlen Licht schwarz wirkte. Der Stoff saugte alles auf.

„Computer“, sprach Thyra mit zitternder Stimme, „Notruf wählen.“

Das vertraute Blubb-Geräusch, das der Computer von sich gab, wenn er eine Spracheingabe verstanden hatte, blieb aus. Thyra wiederholte den Befehl: „Computer, Notruf wählen.“ Sie sprach langsam und deutlich.

Die Technik reagierte nicht. „Schätzchen“, flüsterte Thyra, „ich muss ein Telefon suchen und den Doktor rufen.“

Sie wollte Elaine nicht allein im Zimmer lassen, also nahm sie das Kind mit. Sie setzte es sich auf die Hüfte und trat auf den Flur zurück. Es war hell genug im Mondlicht, um auf den Kommoden leere Flächen zu sehen, kein Telefon. Deshalb ging sie ins Wohnzimmer. „Computer, Licht!“

Als wäre das Ding ausgefallen! Alles blieb dunkel. Thyra berührte den Sensor neben der Tür, um Licht zu machen, aber wie heftig sie auch drückte, es blieb dunkel. Das Telefon entdeckte sie trotzdem neben ihrem Laptop.

„Endlich!“ Thyra strich mit dem Daumen übers Display und tippte die Notfallnummer ein. Sie erinnerte sich daran, was bei einem solchen Anruf wichtig war. Wer, wann, was, wo. Als sie es klacken hörte, plapperte sie los: „Guten Morgen, hier ist Thyra Banks. Ich wohne in der Rosenstraße Nummer vier und ich brauche dringend einen Arzt für meine zweijährige Tochter. Sie ist mit Schnittwunden übersät und blutet fürchterlich.“

An dieser Stelle erwartete sie beruhigende Worte der Gegenstelle. „Machen Sie sich keine Sorgen“, zum Beispiel,„ich schicke Ihnen sofort mehrere Ärzte und Hubschrauber. Man wird an Ihrer Tür klingeln, ehe dieses Gespräch beendet ist.“

Stattdessen war die Leitung tot. Das Knacken war von Elaine gekommen, die ihre Fingernägel außen ans Telefongehäuse klappern ließ.

„Verdammtes Ding!“, fluchte Thyra und wiederholte das Wählen. Sie tippte auf die Zahlen im Display und schaute auf den Balken, als die Verbindung aufgebaut wurde. Kurz bevor er den rechten Rand des Displays erreichte, erschien ein rotes Kreuz. Verbindung nicht möglich.

„Verbindung nicht möglich“, zischte Thyra. „Was soll das heißen?“

Sie versuchte es erneut und drehte sich dabei in ihre Küche. Sie spürte das Zittern ihrer Muskeln im Oberarm. Elaine war nicht leicht und wegen der Wunden wollte sie sich nicht anfassen lassen. Es war, als versuchte sie einen Sack Kartoffeln auf der Fingerspitze balancieren.

„Mäuschen“, bückte sich Thyra, „ich setze dich auf die Couch und hole dir ein Pflaster, ja?“

Elaine schluchzte, als Thyra mit einer Hand die Decke vorzerrte, um das blutende Kind nicht direkt auf das weiße Ledersofa zu setzen. „Ich bin gleich wieder da“, flüsterte Thyra. „Ich hole ein Pflaster aus dem Bad, in Ordnung?“

Natürlich war es nicht in Ordnung. Kaum drehte sich Thyra um, brüllte Elaine lauter. Sie rutschte von der Couch und tappte der Mutter nach, wobei sie eine deutliche Blutspur nach sich zog.

Auf dem Weg ins Bad warf Thyra einen Blick in die Küche. Alle Geräte zeigten ganz normale Funktionen an. Der Herd meldete die Uhrzeit der Home-App, der Kühlschrank mahnte mit einem Ausrufezeichen den Ablauf des Haltbarkeitsdatums beim Quark. Am Eingang zum Bad flackerte das Display, das Temperatur, Uhrzeit und das Wetter von morgen anzeigte. Eine Störung? Der Sensor für Licht und Heizung tat jedenfalls keinen Mucks. Thyra warf ihr Telefon ins Waschbecken und riss das Schränkchen oberhalb auf. „Pflaster“, murmelte sie. „Pflaster, wo bist du?“ Ihre Finger flatterten im dunklen Schrankfach über verschiedene Tablettenblister, Tapes und das Etui mit dem Nagelset.

In diesem Moment hängte Elaine sich an ihr rechtes Bein und sank auf den Boden. Sie kuschelte das Gesicht an Thyras nackte Haut und weinte. Nicht mehr ganz so schrill wie vorhin, wahrscheinlich ging ihr die Kraft aus.

„Engelchen“, seufzte Thyra, „du sollst im Wohnzimmer bleiben. Mama ist gleich wieder bei dir.“ Sie lächelte hinunter auf das zerschnittene Gesicht der Kleinen und spürte, wie ihr selbst die Tränen in die Augen stiegen. „Sei ein braves Mädchen und geh wieder hinüber. Ich kann das Pflaster nicht finden, wenn du an mir zerrst.“

Sie wollte nicht. Thyra fand das Pflaster, das sie selbst gekauft hatte. Rosa mit glitzernden Funkelsteinchen darauf. Es waren winzige Streifen, die nicht einen der vielen Schnitte abdecken konnten.

„Mist“, fluchte sie, „den abgelaufenen Meterstreifen Pflaster habe ich letzte Woche erst weggeworfen.“ Selbst außerhalb des Datums würde er mehr helfen als dieses Glitzerzeug.

Thyra nahm das Pflaster trotzdem mit. Sie bückte sich und hob Elaine wieder auf die Hüfte. „Zurück auf die Couch mit dir.“

Neben Elaine landete alles Pflaster. Prompt fing die Kleine an, mit ihren Fingerchen die Plastikfolie zu lösen. Diesen Moment nutzte Thyra, um aus dem Schlafzimmer ihr Smartphone zu holen. Sie hatte gewählt, als sie wieder bei Elaine war.

Verbindung nicht möglich, sprach das Display. Das Feld, in dem mit vier unterschiedlich großen Balken dargestellt wurde, wie gut der Empfang war, zeigte keinen einzigen Balken. Kein Empfang.

Thyra schüttelte ihr Smartphone leicht. „Willst du mich verarschen?“ Sie suchte in den Einstellungen des Geräts, ob sich ein anderes Netz anwählen ließ. Vielleicht war ein Update während der Nacht nicht richtig gelaufen und verursachte Fehler in genau diesem Programmbereich.

Nach dem dritten Versuch gab sie es auf. Sie wollte in der Home-App irgendeine Anwendung starten, das Licht, Musik, die Nachrichten, ohne eine Reaktion zu erhalten. Nicht einmal die letzte Playlist ließ sich abspielen. Über eine Lösung nachdenken konnte sie nicht, denn Elaine hatte sich ein Pflaster mitten in die Wunde geklebt und heulte, weil sie es nicht mehr wegzupfen konnte und ihr das Blut über die Finger perlte. Thyra sauste in die Küche und holte eine Rolle Küchenpapier. Während sie nach einer Idee fahndete, wie sie an Hilfe kam, tupfte sie das Blut von den Schnitten und die Tränen von Elaines Gesicht. Die Kleine schluchzte immer wieder und zuckte zusammen, wenn Thyra einen der Schnitte berührte.

„Wie ist das passiert?“, fragte Thyra. „Hast du gespielt?“

Elaine schüttelte den Kopf mit ihren dichten schwarzen Haaren, die sich hinter den Ohren lockten. „Safen.“ Sie zeigte in die Richtung, in der ihr Zimmer lag.

„Du hast geschlafen.“ Thyra zwang sich zu einem Lächeln. „Und du hast dir wehgetan.“

„Sau“, meinte Elaine. Sie war nicht gut im Aussprechen von bestimmten Lauten.

„Ein Tier?“, fragte Thyra nach und sie betonte die Nomen besonders. „Oder eine Frau?“

Elaine zeigte wieder zu ihrem Zimmer. „Da wehst.“

Wie sollte in der Wohnung, in Elaines Zimmer, ein Tier sein, eines, das ihr Schnitte zufügte? Eine Einbrecherin konnte Thyra sich auch nicht vorstellen. Sie knüllte das blutgetränkte Küchentuch zusammen und warf es unter den Glastisch. „Elaine, du musst hier sitzen bleiben, ja? Mama muss etwas nachsehen. Du bleibst hier. Verstanden?“

Elaine blieb tatsächlich sitzen, als Thyra das Zimmer verließ und an das Sensorfeld tippte, um in der gesamten Wohnung das Licht anzuschalten. Wie zuvor blieb es dunkel. Mehrmals klopfte sie gegen den Sensor. Ohne Erfolg.

„Ist da wer?“, fragte Thyra mit lauter Stimme und so wütend sie konnte. „Hallo! Ist da jemand?“ Die Umrisse all der vertrauten Gegenstände wirkten fremd im Dunkeln.

Sie schubste die Badezimmertür mit der Fußspitze auf. Am Boden waren die blutigen Fußabdrücke Elaines zu sehen. Eine kleine Ferse und fünf winzige Zehen. Das Waschbecken war blutverschmiert, nachdem Thyra sich mit ihrem schmutzigen T-Shirt am Rand angelehnt hatte. Die Badewanne in der Ecke war leer, die Duschkabine hinter der Tür ebenfalls. Niemand war hier. Niemand konnte sich in den kleinen Schrankfächern verstecken.

Das nächste Zimmer war Elaines Kinderzimmer. Thyra betrat es und drehte sich um die eigene Achse. Die Schränke waren geschlossen und davor stand das Spielzeug so aufgebaut wie am Abend zuvor. In den Gehegen aus Holzklötzchen standen ordentlich beisammen die Holztiere. Immer eine Mutter mit ihrem Baby, was Elaine sehr genau nahm. Neben dem Marienkäfer lag ein Papierschnippel mit der aufgemalten Larve. Es gab keine Marienkäferbabys aus Holz, also hatte Thyra selbst gemalt.

„Welche Frau?“, überlegte Thyra murmelnd und ging zum nächsten Zimmer weiter. „Ein Tier?“ Ihr Büro. Diese Schränke waren voller Akten und Papiere, dort konnte sich niemand verstecken, der größer als eine Streichholzschachtel war. Das Fenster war geschlossen, die Heizung still. Thyra knirschte mit den Zähnen. Sie hatte sich beim Hausmeister über diese Nachtabsenkung beschwert. Er hatte gesagt, er würde sich darum kümmern und entgegen aller Umweltschutzgründe und wider alle menschliche Vernunft die Nachtabsenkung ausschalten. Wahrscheinlich hatte er es vergessen.

Sie sah die Unterlagen über Michelle Timsarian auf dem Schreibtisch liegen, die ihr gestern per Eilboten zugestellt worden waren. Ein brauner großer Umschlag war prall gefüllt mit Dokumenten, Fotos und handschriftlichen Notizen. Durch das Sichtfenster im Kuvert war ein Teil von Timsarians Haarpracht zu sehen. Seit eh und je trug sie ihre schulterlangen, roten, gelockten Haare offen und sie standen ihr weit vom Kopf ab. Meistens passten sie nicht komplett auf die Pressefotos. Am liebsten hätte Thyra sich sofort an die Auswertung gemacht, doch dafür war keine Zeit. Elaine musste dringend zum Arzt.

„Hallo?“, fragte Thyra erneut.

Der Wirtschaftsraum mit Waschmaschine und Trockner und Platz zum Aufhängen der Wäsche war ebenso leer wie das Gästezimmer mit dem zugehörigen Bad, die Rumpelkammer, die Speisekammer und das andere Schlafzimmer mit Bad. Um sich davon zu überzeugen, musste sie ihr Smartphone holen. Der Mond schien nicht in diese Räume und es fiel nicht genügend Licht vom Flur herein. Das Smartphone hatte eine Taschenlampen-App, mit der sie leuchtete.

Die Küche, die durch eine Theke vom Wohnraum getrennt war, konnte ebenso wenig einen Bösewicht beherbergen. Sie waren allein in der Wohnung.

Einerseits atmete Thyra auf, andererseits wäre es ihr bedeutend lieber gewesen, sie hätte einen Grund für Elaines Schnittverletzungen gefunden.

Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, lag Elaine auf der Couch. Sie war kreidebleich um die Nase, hatte verweinte Augen und verklebte Wimpern. Von tiefen Schluchzern geschüttelt pappte sie Pflaster auf die Küchentücher, während sich das Blut auf der Decke ausbreitete. Als sie Thyra bemerkte, hob sie einen Arm. „Aua!“

„Ich weiß.“ Thyra fand über der Sessellehne die bequeme Jogginghose, die sie am Vorabend dort abgelegt hatte, weil sie das einzige Kleidungsstück aus dem Korb war, das ihr gehörte. Die übrigen Sachen waren längst aufgeräumt. Kleine Socken, Unterwäsche, T-Shirts, alles für Elaine. Sie schlüpfte in die Jogginghose und zog dir Kordel zu. „Mal sehen, ob das Telefon vom Nachbarn funktioniert.“ Sie nahm eine Sportjacke vom Haken der Garderobe.

Die Eingangstür zur Nachbarwohnung lag direkt gegenüber, aber dort wohnte niemand. Die Familie, die einziehen wollte, war in Singapur und würde erst zum Jahresende herkommen. Also ließ Thyra ihre eigene Tür weit offen und ging über den stockdunklen Flur zu der anderen Wohnung.

In zwanzig-drei wohnte ein Mann, der etwa in ihrem Alter war. Sie hatte ihn ein paarmal getroffen und gegrüßt. Sie berührte den Sensor der Klingel, ohne ein Ergebnis zu erhalten. Gewöhnlich gab es eine kurze visuelle Rückmeldung bei der Berührung.

Aus ihrer eigenen Wohnung hörte sie Elaine schluchzen und schniefen. Sie verdammte den Nachbarn, der offensichtlich die Klingel abgeschaltet hatte. Der dumme Kerl garantierte sich selbst einen ungestörten Sonntagmorgen. Als würde es ständig nachts bei ihm klingeln!

„Mäuschen“, sagte Thyra laut und dabei steckte sie den Kopf zur Tür hinein, „ich muss nach unten zum Hausmeister. Bleibst du auf der Couch liegen oder kommst du mit?“

Elaine klopfte mit der kleinen Faust auf die Decke. Sie wollte also bleiben. Ihre Augenlider waren halb geschlossen und sie nuckelte an einem Zipfel der Decke. Vielleicht schlief sie sogar wieder ein. Thyra drückte den Aufzugknopf.

Der Hausmeister hatte seine Wohnung unten neben dem Eingang. Er nahm Post entgegen, die nicht in den Briefkasten passte, und kümmerte sich um Reparaturen, die Reinigung des Treppenhauses und die Pflege der Außenanlagen. Rund um das Haus gab es Blumenbeete, die er ordentlich hielt. Im Sommer musste er die Gehwege fegen, im Winter Schnee räumen und Salz streuen.

Als sie vor fünf Wochen eingezogen war, hatte sie ihn kennengelernt. Sie war beinahe über den alten Mann gestolpert, der die welken Blätter von den Rosen zupfte. Mit dem Karton vor der Brust konnte sie nicht sehen, wo sie hintrat. Erst im letzten Moment rief eine Männerstimme: „Halt! Sie rennen gleich meinen Vater nieder!“

Thyra drehte sich herum, den Karton in den Händen, und erblickte den Hausmeister, der aus dem Fenster seiner Wohnung schaute. Schwarzes kurzes Haar, dunkle Augen. Er trug ein verwaschenes blaues T-Shirt mit irgendeiner chemischen Formel darauf und eine enge Jeans. Er trocknete einen Topf ab. „Sie müssen aufpassen, wo Sie hinlatschen.“

Der Umzugskarton schien mit jeder Sekunde schwerer zu werden. Thyra presste ihn gegen ihre Beckenknochen und erwiderte: „Was sollte mich dazu veranlassen ein Hindernis im Weg anzunehmen? Wie Sie sehen, ziehe ich gerade ein und ich bin diese Strecke innerhalb der letzten zehn Minuten mehrfach gegangen, ohne auf ein Hindernis zu stoßen.“

Er rieb mit dem Geschirrtuch in aller Seelenruhe den Topfboden trocken. „Tempora mutantur.“

Sie stellte den Karton ab. „Was soll das heißen?“

Auch er stellte den Topf ab, direkt auf das Fensterbrett, und beugte sich zu ihr. „Das heißt, wenn der Weg die letzten Minuten frei war, lässt sich von dieser Tatsache nicht auf freie Bahn in der Zukunft schließen. Mit ein bisschen Transferleistung hätten Sie das selbst entschlüsseln können, also rennen Sie bitte meinen Vater nicht nieder.“

Dreist und frech war er. „Ach“, gab sie zurück, „die Rosenstraße Nummer vier hat einen Hausmeister, der eine umfangreiche humanistische Bildung genießen durfte und des Lateinischen mächtig ist.“

Er drehte sich kurz um und als er wieder zu ihr sah, hatte er den passenden Glasdeckel zum Topf in der Hand. „So ist es und bevor Sie fragen: In dieser verdammten Stadt bekommt man mit dem Gehalt eines Lehrers die Hausmeisterwohnung finanziert. Großkotze wie Sie haben die Preise in den Himmel getrieben, deshalb kriegen normale Typen wie ich keine bezahlbare Bleibe mehr. Es sei denn, wir machen vor und hinter den Großkotzen sauber und lassen uns von neureichen Schnöseln über den Haufen rennen.“

Innerlich hörte sie die Uhr ticken und im selben Takt ließ der Fahrer des Lastwagens seine Finger an der Plane tanzen, während Freunde und Bekannte sich bemühten, all die Kartons aus dem Laster auf den Gehweg zu stapeln. Sie hatte keine Zeit für eine Grundsatzdebatte.

Ihre beste Freundin Annegret, der die nassgeschwitzten Haarsträhnen in die Augen hingen, trug ihr breitestes Lächeln im Gesicht. Ihr charmantestes. Sie zog ihr T-Shirt glatt. „Lehrer“, flötete sie, „das ist ein wunderschöner Beruf. Was unterrichten Sie? Latein und Sozialkunde? Wegen der Milieustudie, meine ich.“

„Latein und Mathe.“ Er ließ seinen Blick über ihre Figur wandern und zwinkerte ihr zu. „Kurvendiskussionen sind mein Spezialgebiet. Konstante Glieder, Extremwerte und Lagen im Raum, interessieren Sie sich dafür?“

Annegret kicherte. „Im Moment finde ich starke Arme am interessantesten. Ich habe Krämpfe in den Muskeln und dieser verdammte Laster will überhaupt nicht leer werden. Thyra hat eine Million Bücherkisten.“

„Bücher.“ Der Hausmeister drehte den Kopf und starrte Thyra an. „Aus welchem Jahrhundert stammen Sie? Heutzutage hat jeder die gesamte Weltliteratur im Smartphone stecken.“

„Thyra nicht“, lachte Annegret. „Sie hat die analoge Version daheim stehen und wir müssen es ausbaden. Was ist nun? Helfen Sie uns schleppen?“

„Nö“, lächelte der Hausmeister. „Ich bin kein Sherpa.“

„Wilhelm Gustav!“ Das war die Stimme des alten Mannes, über den Thyra vielleicht gestolpert wäre. „Ich habe dich nicht zu einem fiesen Drecksack erzogen, der eine so freundlich Bittende eiskalt abblitzen lässt. Lass das Geschirr stehen und hilf den Damen!“

„Wilhelm Gustav?“ Annegret entfuhr ein kurzes Lachen. „Ist der Name von einem Urahn übrig geblieben?“

„Vom Großvater.“ Wilhelm Gustav legte den Glasdeckel auf den Topf. „Ich finde es schöner, wenn man mich Will nennt. Wilhelm Gustav sagt mein Vater, wenn er es ernst mit mir meint.“ Er faltete das Geschirrtuch zusammen und legte es neben den Topf. „Also gut. Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen zur Hand zu gehen.“

Nun stand Thyra vor dem Aufzug und drückte erneut die Taste und wartete auf das vertraute Pling, während sie hinter sich zur Tür ihrer Wohnung blickte. Sie hatte sie geschlossen, damit Elaine sich nicht wider Erwarten auf den Weg zum Hausmeister machte. Der Gedanke an ihr eingeschlossenes Kind ließ sie unruhig werden und sie lenkte sich mit der Vorstellung ab, Elaine mit nach unten zu nehmen, blutüberströmt und quengelnd wie sie war, sich auf ihrem Arm windend, weil sie einerseits getröstet werden wollte, andererseits jede Berührung wegen der Schmerzen zu vermeiden suchte. Es war komfortabler für sie beide, wenn Elaine in der Wohnung blieb. Ganz wohl war ihr nicht.

„Mach hin“, zischte sie den Aufzug an und traktierte den Rufknopf mit hämmerndem Drücken. „Wo zur Hölle bleibst du?“

Morgens, wenn sie die Mails checkte und Elaine neben ihr tänzelte, schien er immer in Windeseile da zu sein. Heute kam er nicht. Als ihr die Finger vom Drücken wehtaten und sich kein Lift zeigte, hatte sie die Nase voll und wandte sich dem Treppenhaus zu. „Zwanzig Stockwerke nach unten“, maulte sie. „Scheißdreck.“

Im Treppenhaus glaubte sie eine Vibration des Handys zu spüren, während sie mithilfe der Taschenlampen-App über die Treppen nach unten stieg. Sie blieb stehen und prüfte, ob das Gerät eine Verbindung zu irgendeinem Netzwerk hatte. Vielleicht zu einem offenen WLAN eines Nachbarn? Nein, sie hatte sich getäuscht. Wahrscheinlich steckte in den Wänden des Hauses mehr Stahlbeton als in einem klassischen Bunker. Unheimlich still war es. Kein Laut war zu vernehmen, der nicht von ihr selbst kam. Schritte und Atem. Bald zog es in den Muskeln auf der Vorderseite ihrer Oberschenkel. Direkt über den Kniescheiben.

Trotzdem reduzierte sie das Tempo nicht und so stand sie Minuten später vor der Tür zur Hausmeisterwohnung und betätigte den Klingelsensor. Es gab kein Geräusch und kein Leuchten.