Männerherzen fühlen - Christoph Glöckler - E-Book

Männerherzen fühlen E-Book

Christoph Glöckler

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was, wenn das männliche Herz im Grunde sehr sensibel, aber auch zutiefst verletzt ist? Was, wenn unter den Verletzungen eine ungeahnte Lebendigkeit verborgen liegt? „Männerherzen Fühlen“ blickt schonungslos in die verletzliche Tiefe der männlichen Psyche. Der Autor verarbeitet persönliche Erlebnisse aus Therapie und Körperarbeit und verbindet diese mit seinen pädagogischen Erfahrungen sowie mythologischen Deutungen. Das Buch legt die innere Zerrissenheit offen, die patriarchale Strukturen hervorrufen, und fordert ein radikales Umdenken. Es ermutigt Männer, ihrer Verletzlichkeit zu begegnen, alte, lähmende Dynamiken aufzulösen und neue, authentische Formen des Seins zu entdecken. Für Frauen eröffnet das Buch einen tiefgehenden Zugang zur männlichen Gefühlswelt, der es ihnen ermöglicht, Männer besser zu verstehen und in echten Kontakt mit ihnen zu treten. Ein inspirierendes und aufrüttelndes Werk für alle, die sich selbst und die Welt mit mehr Tiefe, Mut und Lebendigkeit erleben und ihr volles Potential entfalten möchten!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 273

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Männerherzen fühlen

Eine Reise aus der Ohnmacht in die Kraft

Christoph Glöckler

Tredition

2025-03-05

© 2025 Christoph Glöckler. Alle Rechte vorbehalten.

Männerherzen fühlen

Für alle Männer, Väter und Söhne. Für alle Frauen, Mütter und für meine Tochter.

Vorwort

Männerherzen fühlen. Wie verrückt ist eine Welt, in der man ein Buch mit diesem Titel schreiben muss! Sie ist verrückt. Mächtig verrückt. Aus den Fugen geraten. So lange schon. Wir leben mitten im Chaos einer großen Zeitenwende und dieses Buch ist dringend gebraucht: Ein Wegweiser!

Christoph Glöckler nimmt uns mit auf eine bewegende Reise – eine ganz persönliche, berührende, schonungslos ehrliche Reise, und zugleich eine Reise in das Mythologische, in das große kollektive Unbewusste und in scharfsinnige Analysen größerer Zusammenhänge.

Es ist ein mutiges Buch. Es scheut nicht Tabus zu berühren, Schatten preiszugeben, fühlend zu denken, noch nicht fertig Verdautes nieder zu schreiben, offene Enden stehen zu lassen. Es ist ein unkonventionelles Buch. Es ist ein berührendes, geistreiches und kluges Buch.

Es bewegt Themen, die viele betreffen – nein, die uns alle betreffen, die uns kollektiv und persönlich angehen. Es legt den Finger in schmerzhafte kollektive Wunden, Wunden, die wir nicht länger ignorieren können, wenn wir eine neue Welt, eine heilere Welt, eine friedlichere und lebendigere Welt bauen möchten.

Dieses Buch arbeitet Vergangenheit auf und scheint doch irgendwie aus der Zukunft geschrieben. Es ist, als schnuppere man den Duft der Möglichkeit einer neuen Zeit.

Danke für dieses Werk!

Dr. Hanna Milling, Autorin, Friedens- und Liebesforscherin, Gründerin von Authentic-Love

Aufbruch

Vorab

Dieses Buch

Ich wurde missbrauchtVon einer FrauIn meiner Brust.

Dieses BuchIst das KindDas dabei gezeugt wurde.

Dieses Buch erzählt vom Missbrauch, der tagtäglich passiert.

Es wurde viel über männliche Übergriffigkeit, männliche Gewalt, Machtmissbrauch durch Männer und das Patriarchat gesprochen. Nichts davon will ich leugnen oder abwerten. Die Erfahrungen von Frauen+ sind real, schmerzhaft und grauenvoll. Sie verdienen unser volles Mitgefühl.

Dieses Buch will dem etwas hinzufügen. Es ist kein stumpfes Buch, welches jetzt mit Frauen und dem Feminismus abrechnen will. Frauen, ihr seid wundervolle Geschöpfe! Dieses Buch will Männer wachrütteln. Es will zeigen, wie tief ihre Sensibilität, ihre Verletzlichkeit und ihre Wunden gehen. Es will Männer einladen, sich mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen, berührbarer zu werden und mit ihrem Herzen in Kontakt zu kommen. Dieses Buch will aufzeigen, wo Männer ohnmächtig sind und wo ihre Wut und ihr Schmerz verborgen liegen. Es ruft dazu auf, diese Gefühle an die Oberfläche zu holen und ins Licht zu bringen, um die eigene Lebendigkeit und innere Stärke neu zu entdecken.

Dieses Buch erzählt von meiner Ohnmacht und meinem Weg in die Kraft. Es erzählt die Perspektive eines weißen Mannes, der im Patriarchat sozialisiert wurde. Dieses Buch bewegt die Frage, was meine Rolle in dieser Gesellschaft ist, welche Verantwortung ich als weißer Mann habe und wie ich dazu beitragen kann, eine friedvollere Welt zu kreieren, ohne mich dabei auslöschen zu müssen.

Dieses Buch ist kein Männerbuch. Es ist kein Ratgeber, wie man ein besserer Liebhaber wird oder erfolgreicher im Beruf agiert. Es richtet sich nicht gezielt an Männer. Es betrifft uns alle. Denn wir alle haben mit Männern zu tun, wir alle haben ein Herz und wir alle fühlen. Aber wenn du dir dieses Buch zu Herzen nimmst, wirst du anders lieben und wirst anders arbeiten. Du wirst anders in die Welt gestellt sein – davon bin ich überzeugt. Doch diese Veränderung kommt ganz aus dir selbst heraus.

Parantatatam, etwas möchte beginnen.Etwas möchte von außen nach innen.Etwas möchte von innen nach außen.Etwas möchte sich mit Etwasen austauschen.

Denn etwas ist erwacht.Etwas hat jetzt lange genug im Dunkeln verbracht.Etwas hier drin will zerspringen und zerfetzen.Etwas steht jetzt auf und wird sich nie wieder setzen.

– Käpt’n Peng: Parantatatam

Dieses Etwas lebt in mir, in meiner Brust. Es ist ein Schatz, den ich in mir trage. Ein Schatz, den ich vergessen und verloren geglaubt habe. Als ich ihn wieder fand, war er ganz zerschunden. Viele Jahre habe ich seine Wunden verbunden und die Schichten abgetragen, die auf ihm lagen. Alte, schmerzhafte Verletzungen kamen dadurch an die Oberfläche, wurden gewaschen und gereinigt. Jetzt kann ich das Gold sehen, das unter all den Schichten verborgen lag. Und davon will ich erzählen.

Dieses Buch ist eine Schatzsuche!

Loslassen, was ich liebe

Ich schreibe über Männer. Über Männer und Frauen. Damit meine ich: Männer und Frauen. Aber ich meine auch das Männliche und das Weibliche in jedem von uns. Diese Polarität ist für mich unumstößlich und sie hat für mich einen klaren Ursprung: die menschliche Fortpflanzung. Sie manifestiert sich in unserem Körper und hinterlässt Spuren in unserer Seele und in unserem Geist.

Nun ist das alles nicht so eindeutig, wie man es sich manchmal wünscht, und das ist auch gut so. Es gibt nicht nur Penisse und Vaginas. Es gibt auch viele Geschlechtsorgane, die irgendwie dazwischen liegen. Es gibt Frauen, denen nur eine Brust gewachsen ist. Es gibt Männer mit nur einem Hoden. Und so vieles mehr. Nichts davon ist falsch, alles ist richtig, alles ist ein Ausdruck dieser Polarität. Das Gleiche gilt für das Seelische, da gibt es auch Eigenschaften, die dem Männlichen und dem Weiblichen zugeordnet werden. Trotzdem treffen sie nicht auf jeden Mann und jede Frau gleichermaßen zu. Und manch einer kann damit gar nichts anfangen.

Irgendwie gibt es in dieser Debatte Dinge, die kann ich nicht leugnen, die kommen mir immer wieder entgegen. In mir und in der Welt. Am stärksten ist mir dies bewusst geworden, als ich selbst Vater wurde. Hineingeworfen in den Ursprung der Polarität: die Fortpflanzung.

Wir kommen aus einer Zeit, in der die Polarität von Mann und Frau sehr stark auf uns eingewirkt hat. Identitäten und Rollenverteilungen haben sich tief in unsere Körperstruktur eingeschrieben, bis in die Zellen hinein. Das heißt nicht, dass ich an irgendetwas festhalten will. Im Gegenteil. Ich bin sehr feministisch aufgewachsen und wünsche mir, dass sich jeder Mensch frei entfalten kann, unabhängig von Geschlecht und Herkunft. Aber man kann seine Wurzeln nicht einfach leugnen, sie holen einen immer wieder ein. So ist es bei mir mit dem Mannsein. Lange Zeit und auch heute noch lehnte und lehne ich eine gewisse Männlichkeit ab, definiere mich ein Stück weit als einen anderen Mann. Aber das, was ich ablehne, klopft immer wieder an meine Tür.

Nein, ich will hier keine alten Mythen und Geschichten auf den Tisch legen, in denen ich alte Rollenmuster bestätigt sehe und glorifiziere. Mit denen ich begründe, warum Jungs mit neun Jahren von den Müttern geholt und sie die nächsten Jahre im Wald von Männern zu Männern erzogen werden sollten. Aber ich will verstehen, was dem Ganzen zugrunde liegt. Wenn ich die Vorstellung von Mann und Frau loslassen und verändern will, muss ich sie erst einmal voll und ganz durchdrungen haben. Ich will im tiefsten Kern begreifen, was es bedeutet, ein Mensch in einem männlichen Körper zu sein, und es voll und ganz annehmen. Erst dann kann ich mich frei davon entwickeln. Denn ich kann nur loslassen, was ich liebe.

Was ist zu erwarten?

Ich will dich auf eine Reise mitnehmen, eine innere Reise. Die Reise ist kein einfacher Spaziergang sondern erfordert etwas Ausdauer und Geschicklichkeit. Für die Route, die ich gewählt habe, braucht es einen Vertrauensvorschuss von deiner Seite. Urteile bitte erst am Ende über mich.

Für die Reise ist es hilfreich, dass du das Terrain schon ein wenig kennst. Kritik am Patriarchat und am weißen Mann sollten dir nicht völlig fremd sein. Ich werde zwar sehr niederschwellig beginnen, aber ich werde schnell einige Höhenmeter zurücklegen. Es braucht außerdem ein Verständnis für innere Arbeit, denn ich spreche zum Teil von meinen Therapieerfahrungen. Aber keine Sorge, du musst kein Experte auf den Gebieten sein.

Du bist hier richtig, wenn du mehr über die Psyche eines Mannes in Erfahrung bringen willst. Und du bist hier richtig, wenn du offen dafür bist, wenn ein weißer Mann über das Patriarchat spricht. Auch wenn du meinst, das Gelände schon gut zu kennen, glaube ich, dass ich dir neue Einblicke offenbaren und dich an doch noch unbekannte Orte mitnehmen kann.

Nimm dir Zeit, dieses Buch zu lesen, und lass die Kapitel in Ruhe auf dich wirken. Die Reise, auf die ich dich mitnehmen möchte, führt durch sehr unterschiedliches Gelände – wie eine Wanderung durchs Gebirge mit verschiedenen Tälern und Gipfeln, die immer wieder neue Perspektiven und Blickwinkel ermöglichen. Es wäre schade, zu zielstrebig voranzuschreiten und den Eindrücken nicht genügend Raum zu geben.

Die Reise führt teilweise durch unwegsames Gelände. Es war nicht immer leicht für mich, meine Gefühle in Worte zu fassen und meine Gedanken klar zu formulieren. Ich betrete zum Teil ein Terrain, das nur wenige vor mir erkundet haben – wenn überhaupt. Manch ein Kapitel ist noch nicht ganz ausgereift, wie ein enger Gebirgspass, der sorgfältige Vorbereitung erfordert, um überwunden werden zu können. Sollte eine Passage zu müßig zu lesen sein, bitte ich dich, die Reise nicht aufzugeben. Ich verspreche dir, dass der Weg, der danach kommt, wieder leichter wird und sich so mancher Groll in Frieden auflösen wird.

Ich erzähle von meiner persönlichen Reise, einer tiefen Auseinandersetzung mit dem, was es für mich bedeutet, als weißer Mann im Patriarchat geprägt zu sein. Dabei spreche ich zunächst von mir selbst, von meinen subjektiven Erfahrungen. Mit der Zeit objektiviere ich meine Wahrnehmung und treffe Verallgemeinerungen. Es gibt bewusst einen Wechsel zwischen den subjektiven Empfindungen und den objektiveren Gedanken.

Ich habe das Buch nicht aus dem Kopf geschrieben, sondern aus den Zellen meines Körpers und dem Schmerz in meinem Herzen. Dahinter stecken viele Jahre der Erfahrung und der Verarbeitung. Es ist keine logische Abfolge, die es zu verstehen gilt. Unser Verstand hätte das so gern, er sehnt sich nach einer logischen Abhandlung, frei von Widersprüchen. Aber selbst die Logik ist nicht widerspruchsfrei, das wusste auch schon Kurt Gödel.1

Viele Bücher von Männern über Männer sind aus einem rein objektiven Geist geschrieben. Das wollte ich tunlichst vermeiden, vor allem, wenn es um das Fühlen geht. Unser Verstand hat die Angewohnheit, dem Fühlen auszuweichen, wenn er ein Gedankenkonstrukt hat, an dem er sich festhalten kann. Ein ganzes Kapitel ist diesem Thema gewidmet. Ich möchte dich aber einladen, dass du beim Lesen das Fühlen zulassen kannst.

Von vielen Büchern bin ich es gewohnt, dass zuerst eine Theorie vorgestellt wird, die dann anhand von Beispielen veranschaulicht wird. Das mache ich bewusst anders. Denn die vorangestellte Theorie schränkt die Interpretation des Beispiels ein. Deshalb spreche ich zuerst über mich als lebendes Beispiel, ehe dazu eine allgemeine Erklärung folgt. Manchmal greife ich ein Thema erst einige Kapitel später wieder auf, manchmal verliert sich auch ein Faden und manch einer wiederholt sich.

Die Reise in diesem Buch ist keine lineare Reise. Unser Verstand hätte das so gern, er sehnt sich nach einer klaren Abfolge der Ereignisse. Aber unser Herz schlägt anders. Die Reise, von der ich erzähle, geht kreuz und quer. Eine einzige Erkenntnis, ein einziges Ereignis im Erwachsenenalter kann eine ganze Biografie verändern. Es kann das ganze Bild verändern, das wir bisher von uns und unserem Leben hatten. Eine ganze Kindheit, ein ganzes Leben kann in einem völlig neuen Licht erscheinen. Aus diesem Grund sind die Zeitformen, die ich verwende, nicht immer eindeutig und konsequent. Manchmal erzähle ich aus der Vergangenheit, weil es nur noch eine blasse Erinnerung aus ferner Zeit ist. Manchmal hebe ich ein Ereignis in die Gegenwart, weil es sehr lebendig in mir lebt und ich glaube, so das subjektive Empfinden besser näher bringen zu können. Manchmal bin ich mir aber auch nicht sicher, welche Zeitform jetzt die richtige ist. Mein Deutschlehrer würde mich lynchen. Sei bitte nicht mein Deutschlehrer.

Der einzige Grund, weshalb die Zeit existiert, ist, dass nicht alles gleichzeitig passiert.

– Albert Einstein

Es wird immer Sprünge geben. Hier und da werde ich mich wiederholen und andere Dinge auslassen. Ich hoffe, dass der Bogen am Ende rund ist. Gleichzeitig gibt es kein Ende. Das ist keine fertige, abgeschlossene Abhandlung, die sich hinstellt und für die Ewigkeit geschrieben steht. Die Reise ist nicht zu Ende, so wie ich nicht zu Ende bin. Die Seelenlandschaft verändert sich mit der Zeit. In zehn Jahren wird die Hälfte der Dinge nicht mehr relevant oder sogar falsch sein. Ich kann dir aber heute nicht sagen, welche Hälfte das sein wird.

Nimm mich nicht so ernst, wenn das, was ich sage, nicht stimmig für dich ist. Sicherlich hast du recht. Und gleichzeitig: Nimm mich voll und ganz ernst, denn es war nicht die Langeweile, die dieses Buch geschrieben hat. Und es war hoffentlich nicht die Langeweile, die dich das Buch hat in die Hand nehmen lassen. Darum die Einladung: Lass uns gemeinsam offen und neugierig bleiben, um etwas Neues entdecken zu können.

Gute Reise!

Sohn keines Vaters

Männer sind doof

Ich bin ohne Papa aufgewachsen. Und wenn ich ehrlich bin, finde ich das auch ganz gut so. Ja, ich war auch immer wieder traurig und wütend auf ihn. Vor allem in der Therapie. Da geht es ja immer um Mama und Papa. Und wenn da kein Papa ist, dann freut sich der Psychologe. Dann weiß er genau, wo er anfangen soll.

Klar, ich hätte mir gewünscht, dass jemand an meiner Seite ist, der mir was erklärt oder beibringt. Der mich daran gehindert hätte, vom Gymnasium zu gehen, weil ich gerade keine Lust hatte. So jemanden hatte ich nicht. Ich habe mir dann vieles selbst beigebracht oder abgeschaut. Aber ich hab mich auch oft nicht getraut zu fragen. Habe meistens so getan, als wüsste ich es schon.

Damals habe ich mir gewünscht, dass Papa geht. Okay, ich war zwar erst sechs Monate alt, als er ging. Aber wer sagt denn, dass der Wunsch eines Babys nicht in Erfüllung gehen kann? Papa ist ja gegangen.

Ich weiß, dass Männer doof sind. Das weiß ich von meiner Mama. Vor allem Papa, der ist ganz besonders doof. Der hat viele doofe Dinge getan, die meine Mama traurig oder wütend gemacht haben. Klar, dass er wegmusste.

Männer sind doof. Vor allem die alten, weißen Männer. Darüber wurde in den letzten Jahren auch viel gesprochen. Die sind schuld, dass es den Frauen schlecht geht. Und dem Klima. Die müssen auch weg.

Aber zum Glück bin ich anders. Ich weiß ja, dass Männer doof sind. Deshalb bin ich auch anders geworden. Okay, ich bin zwar auch ein Mann, aber ein anderer Mann. Ich bin nicht doof zu den Frauen. Und auch nicht zu dem Klima. Ganz im Gegenteil. Ich bin einer von den Guten.

Und das macht mich heute richtig wütend.

Aber alles der Reihe nach.

Nicht als Ingenieur geboren

Also, ich bin ohne Vater aufgewachsen. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich ein halbes Jahr alt war. Nach ein paar Dramen bekam meine Mutter das alleinige Sorgerecht. Mein Vater konnte dann seinen Unterhaltsverpflichtungen nicht nachkommen, hat es mit Drogenhandel versucht und ist für einige Jahre in Spanien im Gefängnis gelandet. Ich war über zehn Jahre alt, als ich ihn das erste und letzte Mal bewusst gesehen habe und hatte kein Interesse an einem Kontakt mit ihm. In der Zeit, in der Kinder eine Bindung zu ihren Eltern aufbauen, war er nicht präsent. Er war für mich eine fremde Person, die ich nicht kennenlernen wollte. Bis heute kenne ich meinen Vater nicht.

Wenn ich meine Geschichte erzähle, stößt sie viele Menschen vor den Kopf. Dennoch ist sie kein Einzelfall. Sie ist vielleicht extrem, aber viele Kinder wachsen ein Stück weit ohne Vater auf. Entweder arbeitet der Vater viel und sieht seine Kinder nur abends und am Wochenende. Oder die Eltern leben getrennt und die Kinder sind überwiegend bei der Mutter. Oder der Vater ist zwar da, aber emotional nicht verfügbar.

Ohne Vater fehlte mir als Junge eine Orientierung im Leben. Ich hatte keine Vorstellung davon, was es heißt, ein Mann zu werden. Ich wollte nicht so werden wie mein Vater. Aber wie wollte ich dann werden? In meiner Familie gab es nur negative männliche Vorbilder: Mein Vater. Mein Großvater: Er galt als cholerisch, depressiv, war missbräuchlich und nahm sich ein paar Jahre vor meiner Geburt das Leben. Aus gesundheitlichen Gründen. Der Freund meiner Großtante: ehemaliger US-Soldat mit Kriegstrauma und Alkoholproblem. Und der Mann meiner Tante: erfolgreicher Manager und Kapitalist mit Doppelhaus-Hälfte in einer Neubausiedlung.

Erst einmal durchatmen. Ich schreibe das so trocken, weil ich es schon so oft durchgekaut habe. Aber während ich hier sitze und diese Zeilen tippe, werde ich traurig. Ich sitze zusammengekauert vor meinem Laptop und fühle mich einsam. Obwohl ich meine Vergangenheit gut kenne, spüre ich immer wieder etwas Neues. Wie Schichten, die abgetragen werden. Darum geht es in dem Buch ja. Ich will dir nicht meine Geschichte erzählen, gepaart mit ein bisschen Küchentischpsychologie, damit du etwas lernen oder verstehen kannst. Ich will meine Geschichte fühlen und dich einladen, mitzufühlen. Oder noch besser: Ich will, dass du durch dieses Buch deine Geschichte mehr fühlen kannst.

Heute ist der zweite Tag, an dem ich an diesem Buch schreibe. Eine befreundete Schriftstellerin hat mir vorgestern gesagt, dass das Schreiben eines persönlichen Buches mich auseinandernehmen wird. Ich habe sie nicht ganz ernst genommen, weil ich dachte, dass ich die ersten Wochen damit verbringen würde, meine Gedanken zu sortieren. Fehlgeschlagen. So, wie ich mich jetzt fühle, fühlte ich mich damals. Verloren. Orientierungslos.

In meiner Jugend und als junger Erwachsener bin ich verschiedene Wege gegangen. Keiner davon war mein Weg. Ich wusste nicht, was ich wollte und wer ich war. So ziemlich jeder Jugendliche ist auf seine Weise orientierungslos. Manche merken es nicht und passen sich an, andere rebellieren. Jeder hat einen anderen Grund. Für den einen ist es das Elternhaus, für den anderen die Schule, für den dritten der Kapitalismus. Wir alle verlieren den inneren Kompass, den wir als Kind noch hatten. Eine Aufgabe im Leben besteht wohl darin, diesen inneren Kompass wiederzufinden. Den inneren Kompass, das Gespür für das Wahre, Gute und Schöne im Leben und die sprühende Lebendigkeit, mit der wir auf die Welt gekommen sind. So haben wir alle eine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte, wie wir etwas verloren und wie wir es wiedergefunden haben. Meine Geschichte handelt von fehlenden Männern, präsenten Frauen und dem Wunsch, die Welt zu retten.

Von den Sternen kommen wir.Zu den Sternen gehen wir.Das Leben ist nur eine Reise in die Fremde.

– Walter Moers

Nun, ich wollte nicht so werden wie mein Vater. In meinen Augen war er ein verantwortungsloser Draufgänger. Mein abwesender Vater war mein Sündenbock und wurde zum Denkmal für alles, was ich nicht wollte. Ich wollte nicht so werden wie er und hatte hohe Ideale in mir aufgebaut. Schule und Studium stellten für mich keine großen Herausforderungen dar, im Gegenteil, sie gaben mir die Orientierung, den Halt und die Sicherheit, die mir zuhause gefehlt haben. Sie waren wie ein Vater für mich. Gute Noten gaben mir Anerkennung und Bestätigung. Mit den meisten Lehrer:innen und Dozent:innen verstand ich mich gut. Heute würde ich sagen, dass ich ihre Aufmerksamkeit gesucht habe.

Ich bin Ingenieur geworden, nicht weil es mich interessiert hat, sondern weil es mir leicht fiel. Und weil meine Familie gesagt hat, ich soll Ingenieur werden. Weil ich gerne mit Lego gespielt habe und gut in Mathe war. Mein Studium habe ich dann mit Anfang 20 mit Auszeichnung abgeschlossen. Ich ahnte zwar schon, dass das nicht mein Leben war, aber ich schob es damals auf mein junges Alter. Obwohl ich mich aufgrund meiner guten Noten für sehr intelligent hielt, war ich noch ziemlich grün hinter den Ohren.

Während des Studiums hatte ich keine Vision, warum ich Ingenieur werden wollte. Es war klar, dass ich das tue, aber warum? Konnte ich nicht sagen. Ich entwickelte sogar eine regelrechte Abneigung gegen meinen Beruf, schließlich führten alle technischen Entwicklungen letztlich zu Umweltverschmutzung und dem Klimawandel. Ich beschloss, das vermeintlich einzig Richtige zu tun und die Welt zu retten. Als Ingenieur bin ich dann bei den erneuerbaren Energien gelandet. Halbherzig ebnete ich mir den Weg promoviert zu werden und arbeitete in der Industrie, Entwicklung und Forschung in der Solar- und Windenergiebranche.

Aber irgendwie fühlte ich mich fremd in meiner Haut. Wenn ich mit Hemd und Sakko auf Konferenzen erschien, kam ich mir vor wie ein Clown in einem Kostüm. Insgeheim wartete ich darauf, dass mich jemand entlarvte. Dass ich gar kein Ingenieur bin. Dass ich nur so tue. Dass ich nur eine Karikatur eines Ingenieurs bin, ein Gaukler, ein Hochstapler.

Das Leben wies mich zwar immer wieder darauf hin, andere Wege zu gehen, aber ich konnte dieser Stimme nie lange folgen. Etwas in mir hielt mich immer zurück. Meine inneren Überzeugungen können sehr rigide sein, mein Konstrukt, mit dem ich mir die Welt erkläre. So unumstößlich wie eine mathematische Gleichung, für die es nur eine Lösung gibt. Ich konnte den Ingenieur nicht loslassen.

Während ich das schreibe, spüre ich eine Anspannung und Härte in meinem Brustbein. Meine Mimik wird steif, der Mund zieht sich spitz zusammen, die Stirn ist gerunzelt. Langsam werde ich weicher. Mit der Weichheit kommt eine Traurigkeit. Die Härte in meiner Brust wird müde. Ich möchte die Spannung loslassen. Mein Brustkorb zieht sich wieder zusammen und wird eng.

Zusammenbruch

Meine inneren Überzeugungen waren fast unumstößlich und gleichzeitig fühlte sich mein Leben so falsch an. Um in diesem Spannungsfeld zu leben, zu überleben, half mir der Exzess. Laufen, Klettern, Slacklinen in den Bergen, Musik, Partys, Drogen. Wenn mir etwas nicht mehr ausreichte, betrieb ich es extremer als zuvor, oder suchte mir etwas Neues. Selbst aus Yoga machte ich in einen Leistungssport. Ich habe meinen Körper geschunden, zahlreiche Verletzungen erlitten, durchzechte Nächte erlebt. Ich könnte ein ganzes Buch über diese Zeit schreiben. Der Titel: Wenn der Körper schreit, weint die Seele.

In diesem Spannungsfeld war ich über die Jahre taub geworden. Mein Leben war so falsch, dass es zu schmerzhaft gewesen wäre, es anzuerkennen. Um überhaupt etwas zu spüren, um mich zu spüren, um mich lebendig zu fühlen, mussten die äußeren Reize immer intensiver werden. Meine körperliche Konstitution und meine innere Widerstandskraft haben das über viele Jahre ausgehalten und immer wieder neue Wege gefunden, das Spiel weiter zu treiben.

Bis es irgendwann nicht mehr ging.

Zu jener Zeit verbrachte ich die Nächte mit elektronischer Musik. Ich konnte ohne Drogeneinfluss stundenlang tanzen oder Schlagzeug spielen, ohne müde zu werden. Am Ende rauchte ich Gras, um wieder runterzukommen. Ich war Teil eines Kollektivs und wir veranstalteten Konzerte, Jams, Events und Partys. Mit meinen Musikprojekten war ich selbst aktiv beteiligt. Es war der Sommer 2017. Die Stadt Kassel verwandelte sich wie alle fünf Jahre zu einem kleinen Berlin. Grund dafür war die documenta, die bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die die Stadt für 100 Tage heimsuchte. Die halbe Welt strömte nach Kassel und überall entstanden provisorisch kleine Bars, Clubs und Veranstaltungsorte. Für uns und unsere Location bedeutete das: 100 Tage und Nächte Programm.

Doch so weit kam es für mich nicht. Bereits nach den ersten Wochen brach ich zusammen. Meine Erschöpfung zeichnete sich eigentlich schon viel früher ab, aber ich war zu ehrgeizig, zu ambitioniert. Ich wollte es mir nicht eingestehen. Ich habe es mir schlichtweg nicht erlaubt, schwach zu sein.

Diesmal konnte ich nicht mehr anders. Im Büro verursachte mir der chemische Geruch der Teppiche tagelang Kopfschmerzen und Gedächtnislücken. In vertrauten Stadtvierteln hatte ich mich verlaufen. An meinem 30. Geburtstag saß ich mit einer Freundin im Restaurant und konnte unserem Gespräch nicht mehr folgen. Mein Kopf war Matsch. Im Nebel suchte ich nach Worten, aber sie waren nicht mehr greifbar. Den größten Teil meiner Tage verbrachte ich im Bett. Überfordert, überreizt, erschöpft, leer. Ich war müde. Müde vom Leben.

Gewalt frei!

Pah.

Schmunzeln.

Pah. Tah.

Ein Kichern. Es fällt mir schwer, das alles ernst zu nehmen.

Pah.

Ein weiterer Schlag. Langsam gefällt es mir.

Poh. Tah. Kah.

Wir stehen im Bewegungsraum. Mit Boxhandschuhen schlage ich auf meinen Sparringspartner. Genau genommen ist er mein Therapeut. Eigentlich hatte ich nur um eine Einführung für den Boxsack gebeten. Die braucht man, wenn man ihn benutzen möchte. Jetzt boxen wir schon eine ganze Weile zusammen. Nach dem Lachen kommt die Wut. Verbissen schlage ich weiter zu. Mein Gegenüber bewegt sich durch den Raum, lässt sich von mir zurückdrängen. Blut strömt durch meine Adern und ich finde Gefallen daran.

In den nächsten Wochen verbringe jede freie Minute im Bewegungsraum und schlage auf den Boxsack ein. Dabei höre ich Linkin Park:

„I’ve become so numb.”

Unermüdlich schlage ich auf den Boxsack ein. Schreie. Wut. Traurigkeit. Wut auf meinen Vater. „Warum warst du nicht für mich da?“ Noch verstehe ich die Zusammenhänge nicht. Aber es tut verdammt gut. Ich gehöre zu den Menschen, die vieles erstmal mitmachen und hinnehmen. Und dann irgendwann platzen. Das ist dann oft zu viel. Im falschen Moment. Oder bei den falschen Leuten. Hier darf ich platzen und der Boxsack hängt am nächsten Morgen immer noch an Ort und Stelle. Bereit, die nächsten Schläge einzustecken.

„Shut up when I’m talking to you.”

Musik, die mich an meine Jugend erinnert. Zum Leidwesen meiner Nachbarn drehte ich regelmäßig die Anlage auf und schlug aggressiv auf mein Schlagzeug ein. Linkin Park war da noch eine der verträglicheren Sachen. Ich hatte viel Wut in mir. Aber mit meiner Wut bin ich im Leben nicht weit gekommen. Wut ist kein gern gesehener Zeitgenosse. Ich hatte gelernt, meine Wut so zu verstecken, dass ich selbst nicht mehr wusste, wo sie eigentlich war. Jahrelang bin ich einen scheinbar friedlichen Weg gegangen und hatte jede Form von Aggression abgelehnt. Gewaltfreie Kommunikation zum Beispiel.2 Während ich schreibe, muss ich lachen. Wie oft habe ich meinem Gegenüber vorgeworfen, nicht gewaltfrei zu kommunizieren? Nichts ahnend, wie viel unterdrückte Wut in mir und meinen Worten steckte. Gewaltfreie Kommunikation wird leider oft missbraucht, auch von mir. Um wirklich gewaltfrei kommunizieren zu können, braucht es den Kontakt zu den eigenen Gefühlen. Gefühle wollen gefühlt und bewegt werden. Gerade die Wut gehört zu den Gefühlen, die es dabei am schwersten haben.

Hier im Bewegungsraum darf sie zum ersten Mal sein, ohne abgelehnt zu werden. Ich bin jetzt seit zwei, drei Wochen hier und es tut mir richtig gut. Hier kann ich sein, hier habe ich meine Ruhe. Das Essen ist okay. Das Zimmer könnte gemütlicher sein, aber ich habe schon ein paar Pflanzen organisiert. Der halbe Tag ist ein bunter Blumenstrauß aus Gruppen-, Kunst- und Körpertherapie. Dazwischen Einzelsitzungen, Bewegungsangebote, Entspannungstechniken und genug Zeit für mich, um zu lesen oder durch die Wälder zu streunen.

Inzwischen bin ich schon einige Wochen krankgeschrieben. Eigentlich war ich immer kerngesund, bis auf die vier Erkältungen in meinem Leben. Und ein paar Mal in der Notaufnahme wegen eines Bänderrisses, einer angebrochenen Rippe oder eines gebrochenen Fußes. Doch selbst damit konnte ich noch am Computer arbeiten.

Mein Selbstbild als gesunder, erfolgreicher Mann geriet ins Wanken. Ich konnte nicht mehr ins Büro gehen. Allein der Gedanke an die Teppiche mit ihren chemischen Ausdünstungen macht mir Angst. Von einem Tag auf den anderen änderte sich mein Leben radikal. Zuvor lief ich 16 Stunden am Tag auf Hochtouren. Ich weiß gar nicht mehr, was und wann ich eigentlich gegessen habe. Mit meinem Hausarzt hatte ich die nächsten Schritte besprochen. Nach zwei therapeutischen Vorgesprächen wählte ich den Weg in eine psychosomatische Klinik. Diagnose: Multiple Chemische Sensitivität (MCS), chronisches Erschöpfungssyndrom, Burnout.

Dass ich ein Problem mit meiner Wut habe, war den Leuten hier wohl schnell klar. Schon beim Aufnahmegespräch habe ich versucht, mich mit Gewaltfreier Kommunikation zu profilieren. Denn ich hatte ein Buch im Regal der Therapeutin gesehen und dachte, dass ich mit diesem Stichwort Eindruck schinden könnte. Jetzt lese ich das Buch Wut ist ein Geschenk.3 Denn sie zeigt uns, dass etwas nicht stimmt. Aber was stimmte nicht?

Ich schlage weitere Male auf den Boxsack ein.

Frei wie ein Vogel

In der heutigen Sitzung hängt sich meine Therapeutin an dem Satz „Ich kann nicht mehr arbeiten” auf, den ich wohl immer wieder sage. Richtiger wäre wohl: „Ich kann nicht mehr ins Büro gehen.” Aber wieso kann ich nicht mehr arbeiten? Richtiger wäre wohl: „Ich will nicht mehr arbeiten.”

Wenn ich ehrlich bin, finde ich meinen Beruf langweilig. Mich macht es müde, jeden Tag ins Büro zu gehen, Formeln in den Computer einzugeben, irgendwelche komplizierten Berechnungen anzustoßen, die am Ende keine Relevanz besitzen. Die beste Zeit habe ich, wenn ich meine Kollegen beim Kaffeetrinken von der Arbeit ablenken kann. Manchmal glaubte ich, dass ich nicht wegen meiner fachlichen Qualifikation eingestellt wurde, sondern weil ich gute Laune in den trostlosen Laden gebracht habe.

„Aber ich kann doch nicht einfach aufhören.”

„Warum nicht?”

Ich erzähle ihr von sozialer Verantwortung, erneuerbaren Energien und Klimaschutz. Sie ist nicht beeindruckt, bleibt hartnäckig, fragt weiter. Ein Kräftemessen. Die Konfrontation tut mir gut. Meine vorherige Therapeutin hat mich zu viel reden lassen, mir zu lange nett zugehört. Zum Glück ist sie in den Urlaub gefahren. Wenn ich will, kann ich sehr bezaubernd sein, eloquent mit Worten spielen und einen guten Eindruck hinterlassen. Meinem Ego tut das sicher gut, aber es ist eine gefährliche Vermeidungsstrategie. Selbst eine ausgebildete Therapeutin kann einem jungen, charismatischen Mann verfallen. Hier komme ich mit meinen ausgefeilten Worten nicht weiter, im Gegenteil, mir fehlen die Worte. Ich stammle vor mich hin, werfe die letzten Argumente gegen meine Kontrahentin und ergebe mich.

Sie hat recht. Nichts hält mich in meinem Job, nichts hindert mich daran, aufzustehen, zu kündigen und den Laden nie wieder zu betreten. Ich habe genug Geld auf dem Konto, um ein paar Jahre nicht arbeiten zu müssen. Nichts hält mich, nur das, was ich mir selbst einrede.

Als der Knoten geplatzt ist, wird mir schlagartig klar, dass ich all die Jahre an meinem Beruf festgehalten habe, weil ich Anerkennung suchte. Anerkennung von meinem Vater. Nicht von meinem leiblichen Vater, sondern von meinem inneren Vater, den ich mir geschaffen hatte. Er stand für alle Ideale, für alles, wonach ich strebte. In mir war eine Polarität entstanden: Mein realer Vater stand für alles Schlechte, mein idealer Vater für alles Gute. Ich habe alles getan, um meinem idealen Vater gerecht zu werden, sein Lob zu bekommen. Ich wollte der Stolz der Familie sein und strebte nach gesellschaftlicher Anerkennung. Doch das war ein Fass ohne Boden, etwas, das ich nie nähren konnte. Zumindest nicht durch die Bestätigung, die ich im Außen gesucht habe. Ganz egal, was ich erreicht hätte. Selbst wenn ich eine Rakete gebaut hätte und zum Mars geflogen wäre. Die Sehnsucht nach der Liebe meines Vaters wäre nie gestillt worden.

Ich verlasse die Sitzung frei wie ein Vogel.

Sei kein Mann

Schweigegeld und Schmerzensgeld

Endlich konnte ich meinen Beruf loslassen. Nichts hielt mich mehr. Meine Projekte auf der Arbeit brachte ich zu Ende und kündigte. Währenddessen konnte ich das alles nicht mehr ernst nehmen. Ich bin zwar in einer männlichen Welt sozialisiert worden – während meines Studiums und als Ingenieur kann ich mich nur an zwölf Frauen in diesem Milieu erinnern – und doch fehlte mir etwas. Meine Wut richtet sich gegen die Männer und das Patriarchat. Wie kann es sein, dass ich von so vielen Männern umgeben war und mich trotzdem so verloren fühlte? Warum sind Männer auf bestimmten Ebenen so abwesend? Auf der kognitiven Ebene habe ich zwar viel von ihnen gelernt, aber auf der seelischen, emotionalen Ebene fehlte mir so viel. Welches Männerbild, welches Menschenbild lebt in den Schulen, in den Universitäten und in der Wirtschaft? Was habe ich in all der Zeit von ihnen gelernt? Wie ein Lemming bin ich blind ihren Lehren gefolgt und landete mit 30 Jahren im Abgrund. Ich war maßlos enttäuscht.

Natürlich wusste ich das alles schon. Kritik am Patriarchat, am Schulwesen und am Kapitalismus waren mir nicht fremd. Aber ich hatte nicht darunter gelitten, im Gegenteil. Als weißer, heterosexueller Mann mit Universitätsabschluss genoss ich so ziemlich alle Privilegien, die einem in der westlichen Kultur zur Verfügung stehen. Die Opfer des Systems waren die Anderen. Mir ging es scheinbar gut. Jetzt spürte ich die Verzweiflung am eigenen Leib. Es gibt keine Gewinner in diesem System, oder: Ich konnte mich zumindest nicht mehr zu den Gewinnern zählen.

In der Wirtschaft bekommt man kein Gehalt, sondern Schweigegeld. Spielt man das Spiel mit und hinterfragt es nicht, wird man reichlich entlohnt. Als angehender Ingenieur wurden mir viele Steine aus dem Weg geräumt. Mein Praxissemester während des Studiums absolvierte ich bei einem deutschen Automobilzulieferer an einem Standort in den USA. Als Gehalt bekam ich umgerechnet 1500 Dollar netto im Monat, dazu Auto und Wohnung gestellt. Für ein fucking Praktikum.

Meine Laufbahn hätte ich sicherlich schon viel früher aufgegeben, wäre sie nicht so bequem und lukrativ gewesen. Für mich hatte der Beruf viel bedeutet. Sozialer Aufstieg: Ich komme nicht aus dem Bildungsbürgertum; meine Mutter hat nicht einmal eine abgeschlossene Berufsausbildung. Finanzielle Sicherheit: Wir hatten nie viel Geld und lebten zum Teil von Sozialhilfe. Gesellschaftliche Anerkennung: Ich war ein willkommener, potenzieller Schwiegersohn. Dennoch füllte all das die eigentliche Sehnsucht in mir nicht aus.