Mark Twain in Berlin - Andreas Austilat - E-Book

Mark Twain in Berlin E-Book

Andreas Austilat

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Beschreibung

Mark Twain lebte in den Jahren 1891/92 mit seiner Familie in Berlin, das er für die "neueste Stadt" hielt, die er je gesehen hatte. Andreas Austilat erzählt anhand von Twains Tagebuch-Aufzeichnungen und Briefen aus dieser Zeit, in der der große amerikanische Humorist mit Kaiser Wilhelm II. speiste und in Berlin als Celebrity gefeiert wurde. Zahlreiche Abbildungen und zeitgenössische Zeitungsberichte runden das Bild dieser bislang kaum beachteten Periode in Twains Biografie ab.

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Andreas Austilat

Mark Twain in Berlin

Bummel durch das europäische Chicago

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2016

© dieser Ausgabe

berlin edition im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2014

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Marijke Topp, Berlin

Umschlaggestaltung: typegerecht, Berlin

ISBN 978-3-8393-4123-0 (epub)

ISBN 978-3-8148-0206-0 (print)

www.bebraverlag.de

Inhalt

Der Blick des Fremdenvon Harald Martenstein

Mark Twain in Berlinvon Andreas Austilat

Geschichten von Mark Twain

Wie man in Berlin eine Wohnung mietet

Gedanken zum deutschen Kachelofen

Der Postdienst

Fragment Preußischer Geschichte: Wilhelmine, Markgräfin von Bayreuth

Berlin – das Chicago Europas

Die deutsche Presse über Mark Twains Berlin-Aufenthalt

Mark Twain in Berlin

Mark Twain

Amerika in Berlin

Anhang

Zu den Quellen

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Personenregister

Die Beteiligten

Berlin ist ein leuchtendes Zentrum der Intelligenz – ein Ort, wo die Errungenschaften der gesamten Forschung dem zur Verfügung stehen, der danach sucht. Berlin ist eine wunderbare Stadt für diese Art von Chancen. Sie lehren hier alles. Ich glaube, es gibt nichts auf der ganzen Welt was du in Berlin nicht lernen kannst, außer der deutschen Sprache.

MARK TWAIN

Der Blick des Fremden

VON HARALD MARTENSTEIN

Dieses Buch stellt einen weltberühmten Klassiker vor, und gleichzeitig einen nahezu unbekannten, noch zu entdeckenden Autor, beide heißen Mark Twain. Der Erfinder von Tom Sawyer und Huckleberry Finn war eine ganze Weile englischsprachiger Feuilletonist in Deutschland, der in Berlin lebte und für verschiedene Blätter Artikel über deutsche Kultur und deutsche Gewohnheiten verfasste.

Twain-Kennern sagt man damit nichts Neues. Neu ist die Erkenntnis, dass Twains Berliner Werk umfangreicher war als bisher vermutet. Die New Yorker Verlegerin Eva C. Schweitzer und der Berliner Autor Andreas Austilat haben in Archiven in Berlin und Berkeley Unbekanntes, Verschollenes und Vergessenes von Mark Twain zutage gefördert. Ihnen ist zu verdanken, dass hier, in dieser Zusammensetzung, tatsächlich ein gänzlich neues Buch von und über Twain vor Ihnen liegt, mehr als hundert Jahre nach seinem Tod.

Die Leserinnen und Leser werden Mark Twains Stimme sofort wiedererkennen – den Sarkasmus, den Witz, die genaue Beobachtung. Die Texte sind kurz, ihr Thema ist meist der Alltag, heute würde man so etwas wohl »Kolumnen« nennen.

Twain war insofern ein Prototyp des modernen Intellektuellen, als er zeitlebens scharfe Gesellschaftskritik mit einem mindestens so stark entwickelten Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung zu verbinden wusste.

Der Kleinstädter und Autodidakt Twain, 1835 geboren unter dem Namen Samuel Langhorne Clemens, aufgewachsen in Hannibal, Missouri, versucht sich als Steuermann, als Goldgräber, als Reporter und Verleger, und erst, als er sich den dreißig nähert, kommt seine schriftstellerische Karriere in Fahrt. Er wählt ein Pseudonym aus der Sprache der Fluss-Schiffer des Mississippi. Mark Twain heißt: Zwei Faden Wassertiefe. Das sind fast vier Meter. Twain will einerseits ein tiefes, andererseits ein einfach zu befahrendes Wasser sein.

Twain ist immer viel gereist, und er liebte Europa. Dort hat er, mit und ohne Familie, neun Jahre seines Lebens verbracht. Er konnte sich das leisten, seine Bücher waren erfolgreich. Als Geschäftsmann dagegen scheiterte er. 1891, also mit Mitte fünfzig, längst etabliert und berühmt, kommt er nach Berlin. Die funkelnde Weltstadt befindet sich in einer der besten Phasen ihrer Geschichte, sie gefällt ihm sofort, sie fasziniert ihn, und er richtet sich auf längeres Bleiben ein.

Twain ahnt noch nicht, dass er Amerika sehr lange nicht wiedersehen wird. 1894 enden die Druckerei und der Verlag, an denen er Beteiligungen hält, nach längerer Krise endgültig im Bankrott. Twain, der Erfolgsautor, hat jetzt hohe Schulden. So etwas kommt also nicht nur bei Leonard Cohen vor, oder bei deutschen Schauspielern, die in Ostimmobilien investieren.

Um seine Schulden abzuzahlen, wird der nicht mehr ganz junge Mann jahrelang auf Lesetour gehen, kreuz und quer durch die Welt. Er bleibt eine Weile in Wien; in einem niederösterreichischen Dorf, Kaltenleutgeben, setzt er sich an seine Autobiografie. In diesen späten Jahren wird sein Ton ernster, härter, bitterer, nicht nur wegen seiner Finanzen. Drei von Twains vier Kindern und seine Frau Olivia, der wichtigste Mensch seines Lebens, sterben vor ihm.

Aber in Berlin, im Herbst 1891, zu Beginn seiner langen, auch traurigen Reise, scheint die Welt noch in Ordnung. Und Twain stürzt sich in diese Stadt. Er beobachtet, er schreibt, und er lernt sogar Deutsch, immerhin gut genug, um den Struwwelpeter ins Englische zu übertragen.

In Berlin verbrachte Mark Twain ausgerechnet einen Winter. Wie jeder weiß, ist das nicht die schönste Jahreszeit der Stadt. Und er wird auch bald krank, vier Wochen, schwere Lungenentzündung, und verpasst deshalb erst einmal eine Einladung von Kaiser Wilhelm (die nachgeholt wird). Die Wohnung in der Körnerstraße in Tiergarten, nahe der Potsdamer Straße, die Olivia ausgesucht hat, weil sie nicht teuer war, ist offensichtlich ein Desaster. Im März flüchten Mark und Olivia aus Berlin nach Südfrankreich. Wären sie doch im Sommer gekommen! Aber es ist nicht nur der Berliner Winter, der die Familie vertreibt, es ist auch der ständige Geldmangel. Zu allem Überfluss führt Berlin im Januar 1892 noch eine Steuer für Ausländer ein. Berlin, so schlägt Twain der »National-Zeitung« vor, solle lieber Hunde besteuern, die ihn mit ihrem Bellen nerven. Und so geschieht es inzwischen auch,– heute werden Hunde besteuert, und so hatte Twain tatsächlich Einfluss.

Andreas Austilat erzählt auf den folgenden Seiten die höchst unterhaltsame Geschichte dieser Monate, wo manches dem Leser von heute durchaus bekannt vorkommt – vom brummigen Berliner Hausmeister, der aus dem Bett geklingelt wird, bis zum schimpfenden Berliner Straßenbahnfahrer, der einen Schwarzfahrer erwischt. Aber zum Glück der Leser sind Twains Berliner Monate nicht nur eine Leidenszeit gewesen. Er begeistert sich für vieles, für den Berliner Kachelofen, die Berliner Architektur und die neuen, breiten, schnurgeraden Straßen der Gründerzeit, und er glaubt sogar, dass Berlin die am ordentlichsten reglementierte, allerdings auch am meisten reglementierte Stadt der Welt sei, die Stadt, wo sie eine Regel für alles haben, und wo die Behörden und die Polizei niemals etwas vergessen.

Das mag überraschend klingen für den zeitgenössischen Berliner, der eine Stadt gewohnt ist, deren Stadtväter nichts so richtig auf die Reihe bekommen, keinen Flughafen, keine S-Bahn, die auch im Winter fährt, keinen Hauptbahnhof, der überdacht ist, keine Schulen, wo die Kinder auch etwas lernen – selbst der Zoodirektor lässt sich von einem Affen den Finger abbeißen. Liest man Twains Berichte aus dem Berlin von 1891, hat man rasch den Eindruck, der Letzte, der hier korrekt ein Bauwerk errichten konnte, mit fließend Wasser und allem, war Kaiser Wilhelm. Kein Wort, in meiner Gegenwart, gegen Kaiser Wilhelm!

Ein Reporter schlägt Twain einmal vor, ein Buch über Berlin zu schreiben, die aufstrebende Weltstadt. Es gebe doch von ihm ohnehin schon einige Texte über Berlin. Twain erwidert sinngemäß, dass er satirisch schreibe und es hasse, wenn Europäer in den USA die Gastfreundschaft der Amerikaner in Anspruch nehmen, und dann anschließend in ihren Texten ahnungslos oder arrogant über das Land urteilten. Das will er Berlin nicht antun.

Erfreulicherweise hat Twain sich nicht immer daran gehalten. Er hat satirisch über Berlin geschrieben, er hat über Berlin geurteilt, aber, wie Sie feststellen werden, nicht arrogant und schon gar nicht ahnungslos.

Mark Twain in Berlin

VON ANDREAS AUSTILAT

Das Brandenburger Tor mit der Siegesgöttin Viktoria auf ihrem Streitwagen, gezogen von vier bronzenen Pferden, war einst der Haupteingang nach Berlin. Hier liegt der Pariser Platz, historisches Terrain, umgeben von Botschaften, Banken und Bürohäusern, dem Nobelhotel Adlon und der Akademie der Künste. Direkt am Tor ist ein kleines Museum dem Maler Max Liebermann gewidmet, der einst hier lebte. Den Auftrag zur Anlage des Platzes erteilte 1730 Preußens König Friedrich Wilhelm I.; das klassizistische Tor kam erst sechzig Jahre später dazu. Der Boulevard Unter den Linden, der am Tor beginnt, war der Königsweg in die Stadt, hier ritten die Monarchen vom Schloss zur Jagd in den Tiergarten.

Heute herrscht auf dem Pariser Platz jahrmarktähnlicher Trubel: Musiker, Jongleure und Amateurschauspieler posieren für Fotos verkleidet als preußische Hoheit, russischer Soldat oder Berliner Bär, aber auch als Darth Vader oder Mickey Mouse. Indianer im vollen Federschmuck spielen El Condor Pasa, und Demonstranten jeder Art halten Mahnwache vor der amerikanischen oder der nahen russischen Botschaft. Pferdekutschen und Touristen bevölkern den Pariser Platz. Genau hier, in einem Hotel mit Blick auf das Brandenburger Tor, lebte vor hundertzwanzig Jahren der amerikanische Humorist, Journalist, Auslandskorrespondent, Romancier und Reiseschriftsteller Samuel Langhorne Clemens, besser bekannt als Mark Twain.

»Berlin ist eine neue Stadt; die neueste, die ich je gesehen habe«, schrieb Twain voller Staunen in seinem Reiseessay für die Chicago Daily Tribune (heute Chicago Tribune), der im April 1892 veröffentlicht wurde. »Der Großteil des heutigen Berlin hat nichts mit der Vergangenheit zu tun. Das Gelände, auf dem es steht, hat Tradition und eine Geschichte, aber die Stadt selbst hat weder Tradition noch Geschichte. […] Die Masse ihrer Bauten sieht ganz so aus, als wären sie letzte Woche errichtet worden […] Keine andere Stadt macht einen derart geräumigen Eindruck, frei von Gedränge. Keine andere Stadt hat so viele schnurgerade Straßen.«

Twain und seine Familie – seine Frau Olivia, die drei Töchter Susy, Clara und Jean und seine Schwägerin Susan Crane – verbrachten den Winter 1891/92 in der deutschen Hauptstadt. Zuerst mieteten sie eine Wohnung im Bezirk Tiergarten, eine gemischte Nachbarschaft in einer nicht besonders leisen Straße. Drei Monate später wechselten sie in das bedeutend standesgemäßere Hotel Royal Unter den Linden. Der Boulevard verband das gewaltige, von einer grünen Kupferkuppel gekrönte Schloss an der Spree, Regierungssitz und Stadtwohnung des Kaisers, mit dem Tiergarten. Gesäumt wurde er von Luxushotels und Adelspalais, von der Friedrich-Wilhelms-Universität, der Königlichen Oper, der Königlichen Bibliothek und dem Zeughaus; nahebei lagen die Ministerien und Bankhäuser der Wilhelmstraße.

Twain war im Berlin der 1890er Jahre höchst prominent. Er verkehrte mit Diplomaten, Gelehrten, Prinzen und Prinzessinnen, und er wurde sogar von Wilhelm II. eingeladen. Über Twain erschienen Artikel in Zeitungen, Berliner grüßten ihn auf der Straße. Er arbeitete an Büchern, Artikeln und Reisegeschichten, er hielt Reden, er forschte, etwa über den Philosophen Arthur Schopenhauer und über Wilhelmine von Preußen, die Schwester Friedrichs des Großen. Er übersetzte den Struwwelpeter, um das Kinderbuch in den USA als Slovenly Peter herauszubringen. Zugleich dirigierte er sein amerikanisches Verlagsgeschäft aus der Ferne. Er kommentierte die politischen Verhältnisse in Deutschland in diesen turbulenten Zeiten und hielt sich dabei nicht zurück.

Die Familie Clemens: Mark Twain (oben links), seine Frau Olivia (oben rechts), seine Töchter Susy (unten links) und Clara (unten rechts).

Berlin war für europäische Verhältnisse bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts keine besonders beeindruckende Stadt. Das sollte sich nach 1871 ändern, als Frankreich besiegt und Berlin Hauptstadt des unter Bismarck vereinigten Deutschen Reiches wurde. Der »Eiserne Kanzler« regierte Deutschland bis 1890, als ihn der neue, noch junge Kaiser Wilhelm II. entließ. In dieser Gründerzeit und den Jahren danach entstanden unzählige Fabriken; Bahnhöfe wurden errichtet und Bahnlinien erschlossen das ganze Land. Deutschland schickte sich an, England, das Mutterland der Industrie und Werkbank der Welt, zu übertrumpfen. Bis dahin hatten die Kirchtürme noch die Zeit vorgegeben, jetzt übernahmen die Bahnhofsuhren diese Aufgabe, und sie schlugen überall im gleichen Takt. Die Modernisierung nahm ein Tempo auf, das für die Zeitgenossen atemberaubend war. Elektrische Straßenbeleuchtung ersetzte an den Boulevards die Gaslaternen, die doch gerade erst der letzte Schrei gewesen waren. 1888 wurde Unter den Linden elektrisiert, 1891, das Jahr, in dem Twain nach Berlin kam, erhob sich Otto Lilienthal, der »Vater der Luftfahrt«, vor den Toren Berlins als erster Mensch mit einem Gleiter erfolgreich in die Luft.

Damals trieb die Industrialisierung Hunderttausende von Arbeitsuchenden nach Berlin, viele aus den Provinzen Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen. Auf dem Reißbrett wurden vollständig neue Bezirke auf den Feldern rund um Berlin geplant. Tausende von Mietskasernen säumten die von Twain so bewunderten schnurgeraden Straßen, rasch hochgezogen, oft genug eng und ohne Sonnenlicht. Die Bevölkerung Berlins verdreifachte sich, von einer halben Million Menschen 1860 auf anderthalb Millionen 1890. 1921, nach der Eingemeindung des Umlandes, hatte Berlin vier Millionen Einwohner und war die drittgrößte Stadt der Welt nach London und New York.

Clara, Olivia, Jean, Mark Twain und Susy; 1886.

Keine Frage, Twain übertrieb, als er die Modernität Berlins beschrieb – aber nur ein bisschen. Denn neben dieser brandneuen Stadt wirkte selbst Chicago altehrwürdig. In dieser neuen Metropole sollte Twain einen interessanten Abschnitt seines Lebens verbringen, der jedoch weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Von seinem Aufenthalt in Berlin berichten nur wenige Quellen: Ein paar Dutzend Briefe, die handgeschriebenen Tagebücher von Twain und seinen Töchtern Clara und Jean, einige Artikel aus New Yorker, Chicagoer und natürlich Berliner Blättern und ein halbes Dutzend Augenzeugen, einige mehr, andere weniger vertrauenswürdig. Die meisten Geschichten, die Twain selbst über Berlin geschrieben hat, sind bis heute nicht veröffentlicht worden. Und so blättert dieses Buch ein unbekanntes Kapitel aus Twains Leben auf.

Die bemerkenswerte Karriere des Samuel Langhorne Clemens begann 1853, als er mit nur achtzehn Jahren das ärmliche Haus der Familie in Hannibal, Missouri, am Ufer des Mississippi verließ (später sollte er seine Kindheitserinnerungen für seinen berühmtesten Roman Die Abenteuer des Tom Sawyer verwenden). Er arbeitete als Drucker in St. Louis und als Setzer in New York und Philadelphia. Mit zwanzig wurde er Lotse auf einem Flussdampfer auf dem Mississippi, ein Beruf, der ihm besser gefiel als der eines Königs. Möglicherweise kämpfte er im Bürgerkrieg sehr kurz auf Seiten der Konföderierten. Wahr ist wohl, dass er sich nach nur vierzehn Tagen nach Salt Lake City absetzte, um bald darauf sein Glück als Goldgräber in Nevada zu versuchen. Er schrieb für die Zeitung Territorial Enterprise und nahm den Autorennamen Mark Twain an, ein Lotsen-Ausdruck vom Mississippi, der so viel wie zwölf Fuß Wasser bedeutet. Schließlich ließ er sich in San Francisco nieder. Dort begann er, sich einen Namen als Journalist und Reiseschriftsteller zu machen. Seine Karriere sollte ihn in vierzig Länder rund um den Globus führen, und über die meisten von ihnen sollte er schreiben.

Seine erste Überseereise (finanziert von einer Zeitung in San Francisco) brachte ihn 1867 ans Mittelmeer, nach Frankreich und Palästina. Er schrieb The Innocents Abroad (»Die Arglosen im Ausland«), das Buch wurde ein Riesenerfolg. Elf Jahre später begab er sich auf seine erste Reise nach Deutschland, danach erschien der Fortsetzungsband A Tramp Abroad (»Bummel durch Europa«), der den Essay »Die schreckliche deutsche Sprache« enthielt. Inzwischen war Twain zweiunddreißig Jahre alt, und er reiste gemeinsam mit Olivia, seiner geliebten Frau, die er »liebste Livy« zu nennen pflegte. Sie kam aus einer fortschrittlichen Familie von Methodisten, die die Sklaverei ablehnte; er hingegen war ein liberaler Atheist. Zu dieser Zeit hatte das Paar bereits zwei Töchter, die ebenfalls mit an Bord waren: Die fünfjährige Susy und die dreijährige Clara. Sie fuhren auf der Holsatia, einem Dampfer der Hamburg-Amerika-Linie. Am 11. April 1878 legte die Holsatia an den West Side Piers in New York City ab. Vor ihr lagen zwei sehr stürmische Wochen auf dem Atlantik.

Die Gascogne, das Schiff, das die Familie Clemens nach Berlin brachte.

Die Szenerie an den Piers in Manhattan erinnerte an ein Straßenfest. Reisende kamen in Begleitung von Freunden, die Abschied nahmen, während das Gepäck verladen wurde. Die Stimmung wurde nur durch den Nieselregen getrübt, der »aus dem grauen Himmel tröpfelte«, wie die New York Times berichtete. Unter den Passagieren war Bayard Taylor, ein berühmter Dichter und Übersetzer seiner Zeit, der zum »Außerordentlichen und Bevollmächtigten Gesandten der USA« in Berlin ernannt worden war. Er war Amerikas kultureller Botschafter bei Bismarck. Taylor wurde von seinem »farbigen Diener« begleitet, wie die Times schrieb, während bei Familie Clemens ein Kindermädchen mitreiste. Twain und Taylor diskutierten darüber, was sie in der vergangenen Woche getrunken hatten – offensichtlich eine Menge, wenn man dem lauschenden Reporter glauben darf. Twain, der eine kleine schwarze Seidenkappe trug, gestand dem Reporter, wie sehr er den älteren Schriftsteller Bayard darum beneidete, dass der die deutsche Sprache so gut beherrschte. Taylor hat immerhin das deutsche Drama »Faust« übersetzt. »Taylor hatte ein großes Talent für Sprachen und ein Gedächtnis, das einen immer wieder in Erstaunen versetzte«, schrieb Albert Bigelow Paine, der Autor von Twains 1912 erschienener offizieller Biografie. »Er trug deutsche Volkslieder vor, darunter die Lorelei« (traurigerweise verstarb Bayard Taylor einige Monate später in Berlin). Ebenfalls an Bord war die Familie von Murat Halstead, einem Kriegskorrespondenten, dem auch eine Zeitung gehörte.

Bayard Taylor, der als der U.S. Envoy Extraordinary and Minister Plenipotentiary der Gesandte der USA in Berlin war.

Twain erzählte dem Times-Reporter, dass er aus gesundheitlichen Gründen nach Deutschland reise – er litt an Rheumatismus –, aber dass er auch plane, in aller Ruhe zu schreiben. »Ich werde in die abgelegenste Gegend gehen, die ich in Deutschland finden kann, sagte er. »Fünfzig Meilen entfernt von jeder Eisenbahn, wo ich die Hälfte meiner Zeit verschlafen kann.« Die Familie sollte Heidelberg besuchen, Mannheim, Baden-Baden und den Schwarzwald, dazu die Schweiz und Norditalien. Die Reise sollte zwei Jahre dauern, aber sie behielten ihr Haus in Hartford, Connecticut.

Erst die zweite Deutschland-Reise führte die Familie Clemens nach Berlin, sie begann im Sommer 1891. Wieder wurde der Autor nicht nur von Olivia begleitet, diesmal kamen seine inzwischen drei Töchter mit, Susy, gerade neunzehn, Clara, siebzehn, und Jean, die Jüngste, mit elf Jahren. Ebenfalls an Bord waren Susan Crane, die ältere Adoptivschwester seiner Frau und eines ihrer Hausmädchen, Katie Leary, die jedoch nicht in Berlin bleiben sollte. Aber diese Reise war von Beginn an vollkommen anders als dreizehn Jahre zuvor die auf der Holsatia.

Die Familie ging an Bord der Gascogne, eines Dampfers der französischen Schifffahrtsgesellschaft Compagnie Générale Transatlantique mit Kurs von New York nach Le Havre. Dieses Mal warteten keine Reporter an den West Side Piers, und die Reise war mehr eine Flucht als ein Urlaub. Twain, einer der bestverdienenden Autoren seiner Zeit, war nahezu pleite und verzweifelt bemüht, seine beträchtlichen Ausgaben zu reduzieren. Er hatte all seine Ersparnisse in eine neue, revolutionäre Druckmaschine investiert, die Paige Setzmaschine. Er hatte gehofft, diese neue Technik würde ihn zum Millionär machen, aber der Erfinder, James Paige, bekam die komplizierte Konstruktion nicht in den Griff. Twain hatte bereits 300 000 Dollar verloren, nach heutigen Maßstäben um die sechs Millionen Dollar oder knapp viereinhalb Millionen Euro. Und Twains eigener Verlag, Charles Webster & Co., 1884 gegründet, steckte ebenfalls in ernsten finanziellen Schwierigkeiten. Mit den Memoiren von US-Präsident Ulysses S. Grant, dem Oberbefehlshaber der Armee des Nordens im Bürgerkrieg, hatte die Firma einen Anfangserfolg, das Buch wurde 350 000 Mal verkauft. Auch hielt der Verlag die Rechte an Huckleberry Finn, ebenfalls ein Bestseller. Aber Twain verlor mit Websters nächstem Unternehmen, den Erinnerungen von Papst Leo VIII., viel Geld. Das Buch fand nur zweihundert Käufer.

Twain verließ Hartford endgültig, da er fürchtete, sich den teuren Haushalt mit seinen sieben Angestellten nicht mehr länger leisten zu können. Nun plante er, im preiswerteren Europa Geld zu sparen. Außerdem waren alle seine Reisebücher internationale Bestseller geworden, er konnte also hoffen, den Erfolg zu wiederholen. Überdies hatte er einen Vertrag mit dem McClure Syndicate. Samuel Sidney McClures Agentur belieferte Dutzende von Zeitungen in den USA, einschließlich der New York Sun und der Chicago Daily Tribune. Für die Reise hatte er den Auftrag, sechs längere sogenannte »Reisebriefe« zu schreiben, einen davon aus Berlin. Jeder dieser Briefe sollte ihm tausend Dollar einbringen, so viel wie 20 000 Dollar heute, damals wie heute eine fürstliche Summe für einen Korrespondenten. Deshalb bestieg Familie Clemens die Gascogne zwar mit einigen Sorgen, aber auch mit großen Hoffnungen.

Doch Twain reiste nicht nur aus finanziellen Gründen nach Europa, sondern auch wegen seiner angegriffenen Gesundheit. Der Fünfundfünfzigjährige hatte so schweres Rheuma, dass er den Schreibarm kaum bewegen konnte, eine Katastrophe für einen Schriftsteller. Und seine Frau litt seit ihrer Kindheit unter einer Herzschwäche. Das Paar plante, während der ersten, wärmeren Monate mehrere Kurorte aufzusuchen, darunter Aix-Les-Bains in Frankreich und Marienbad, heute in Tschechien, damals im österreichisch-ungarischen Habsburgerreich gelegen. Und wenn die Kursaison im Herbst enden würde, wollten sie den Winter in Berlin verbringen, der Hauptstadt des gerade vereinten deutschen Kaiserreichs. Der Winter in Berlin kann allerdings sehr unangenehm sein. Erst kommen die nebligen November- und Dezembertage, gefolgt von den langen frostigen Eismonaten Januar und Februar. Die Sonne lässt sich kaum je blicken, erst recht damals, als der Qualm aus Hunderttausenden von Kohleöfen den grauen Winterhimmel verdunkelte.

Der Pariser Platz mit dem Brandenburger Tor. Im Januar 1892 zog die Familie Clemens von einer Mietwohnung in das Hotel Royal (untere linke Ecke).

Doch Twain fand Trost im Kachelofen seiner Wohnung. »Der Berliner Ofen ist der beste, den ich je gesehen habe«, schrieb er 1897, als er und seine Familie längst nach Wien weitergezogen waren. »Als wir vor einigen Wintern in Berlin lebten, beluden wir dieses Wohnzimmermonument morgens um sieben mit neun Litern billiger Briketts aus gepresstem Kohlenstaub, ließen das Feuer eine halbe Stunde brennen, schlossen den Ofen und kümmerten uns vierundzwanzig Stunden nicht mehr darum. Den ganzen Tag über und bis weit nach Mitternacht war der Raum wunderbar behaglich.«

Unter den Linden, vom Pariser Platz kommend.

Nach ihrer Ankunft im Oktober 1891 bezog die Familie Clemens eine Mietwohnung nahe der Potsdamer Straße, die Twain so beschrieb: »Von beiden Seiten durch Bürgersteige begrenzt, die allein schon breiter sind als die historischen Hauptverkehrsstraßen alter europäischer Hauptstädte.« Das war eindeutig eine Straße des »neuen Berlins«, von dem er so begeistert war. Der preußische Chronist und Romancier Theodor Fontane lebte hinter einer dieser großbürgerlichen Fassaden, die damals die Potsdamer Straße säumten – Twain allerdings sollte Fontane nach allem, was wir wissen, nie treffen.

Pohlstraße, Ecke Körnerstraße im Bezirk Tiergarten. Die Familie Clemens lebte für drei Monate in der Körnerstraße 7. Das Haus gibt es nicht mehr, aber es sah vermutlich genauso aus wie diese hier in der Pohlstraße gegenüber.

Die Potsdamer Straße war während der Goldenen Zwanziger berühmt für ihre Kunsthandlungen, Antiquitätenhändler und Verlagshäuser wie Rowohlt und Fischer. Aber nach dem Krieg und mit dem Bau der Berliner Mauer, als sie zur Sackgasse mutierte, verkam sie zum Rotlicht-Viertel mit neon-erleuchteten Spielhallen, Currywurstbuden und leer stehenden Häusern, die besetzt wurden. Heute wandelt sie sich wieder in die »nächste große Kunst-Location«, wie die New York Times 2011 schrieb, mit dem Künstlercafé Joseph Roth Diele, dem Wintergarten-Varieté, einem halben Dutzend Kunstgalerien und dem Avantgarde-Modehaus von Andreas Murkudis. Das liegt in der ehemaligen Druckerei des Tagesspiegels, gleich neben der Stadtvilla, in der 1874 der Maler Anton von Werner sein Atelier hatte. Hinter dem Hof dieses Ensembles verläuft die Körnerstraße, und Familie Clemens bezog eine Wohnung im Haus Nummer 7.

Leider existiert das Haus nicht mehr und es gibt auch keine Fotos der Körnerstraße aus dieser Zeit. Aber die Bauakte ist auffindbar, sie enthält Zeichnungen von Grundriss und Fassade, sodass man sich eine Vorstellung von der Wohnung und dem Haus machen kann. Es war ein vierstöckiges, vierundzwanzig Jahre altes Mietshaus, also keineswegs »letzte Woche« errichtet, wie Twain in seinem Reisebrief nach Chicago schreibt, aber neben den mittelalterlichen Städtchen, die der Reisende aus Deutschland kannte, vergleichsweise neu. Wahrscheinlich sah das Haus ähnlich aus wie die Häuser, die heute noch an der Pohlstraße stehen, gleich gegenüber. Auf dem Hof des Twainschen Hauses befanden sich ein Taubenschlag und ein Hühnerstall, beide aus Stein, nicht ungewöhnlich damals. Die Familie wohnte im ersten Stock, ihre Wohnung verfügte über fünf Zimmer und ein Wannenbad mit Abwasseranschluss, was damals nicht selbstverständlich war. Der Kaiser ließ sich in sein Potsdamer Schloss gerade erst ein Bad einbauen. Elektrizität hatte das Haus offensichtlich nicht. Jeden Abend um zehn Uhr löschte der Portier das Gaslicht im Treppenhaus. Die Wohnung war möbliert, »bis hinab zum letzten Topfe in der Küche und der Serviette im Schranke«, wie die National-Zeitung wenig später berichtete, gleichwohl Olivia nachhaken musste, damit auch das Tafelsilber noch geliefert wurde. Und das wurde sogar extra berechnet. Twain beschwerte sich wiederholt über die Qualität der Matratzen, die er für viel zu hart hielt. Mehr als einmal brachte er den Hausbesitzer dazu, ihnen neue zur Verfügung zu stellen, aber das war nur der Wechsel von »Kalkstein zu Granit und von Granit zu Splitt«, wie er beklagte. Weil er oft im Bett schrieb, war ihm eine komfortable Matratze sehr wichtig.

Die Fassade, wie sie 1865 bei der Baupolizei zur Genehmigung eingereicht wurde.

Grundriss der Hochparterre-Wohnung Körnerstraße 7, wo die Clemensens lebten.

Twain machte sich in der Körnerstraße sofort an die Arbeit. Er blieb in ständigem Kontakt mit seinem New Yorker Verlag Charles Webster & Co., per Brief oder auch per Telegramm. Charles Webster war mit Twains Nichte verheiratet, und der Autor hatte ihn auserkoren, seine Verlagsgeschäfte zu führen.

Jedoch war Twain nicht besonders zufrieden mit ihm und zu allem Überfluss wurde Webster, der erst siebenunddreißig Jahre alt war, schwer krank. Deshalb hatte Twain 1888 Websters jungen Assistenten, Frederick Hall, mit der Verlagsleitung beauftragt, und Hall gab sein Bestes, Twains vielfältigen Wünschen zu entsprechen. Twain verbrachte seinem Biografen Paine zufolge in Berlin »viel Zeit damit, sich Gedanken über neue Veröffentlichungen zu machen, vor allem kam er immer wieder mit Plänen für verschiedene Billigausgaben seiner Bücher, Aufsätze und ähnlichem, um sie für ein paar Cents zu verkaufen. Diese Projekte scheinen aber nie realisiert worden zu sein, sehr wahrscheinlich fürchtete Hall, dass eine Flut billiger Ausgaben das wichtige Kerngeschäft stören würde.«

Leider konnte der kränkelnde Autor nicht so viel arbeiten, wie er sich vorgenommen hatte. Am 16. Oktober schrieb Twain seinen ersten Brief an Hall. Darin klagte er, dass er »neulich zum ersten Mal wieder einen Stift gehalten habe, ich werde ein oder zwei Zeilen schreiben, auch wenn der Arzt mir das untersagt hat«. Er denke über eine »Jungs-Geschichte« nach, die er McClure anbieten könne. »Aber mir fällt nichts Rechtes ein.« Er schrieb Hall auch, dass er der einzige Clemens in der Körnerstraße sei, »und möglicherweise auch in der ganzen Stadt«. Also dürfte es für den Briefträger kein Problem sein, ihn zu finden. (Hierin übrigens irrte Twain: Das Berliner Adressbuch von 1892 nennt achtundvierzig Haushaltsvorstände mit dem Namen Clemens.) Er beendete den Brief: »Ich muss aufhören, mein Arm jault.«

Am selben Tag schrieb er noch einen Brief an Franklin Whitmore, den er bat, James Paige aufzusuchen und »ihn an mich zu erinnern«. Whitmore beaufsichtigte in Twains Auftrag die Konstruktion von Paiges Setzmaschine, die dem Autor schon so viel Verdruss bereitet hatte. Vier Tage später drängte Twain Hall, einen Zeitplan für die Veröffentlichung seines gerade fertig gestellten satirischen Romans The American Claimant vorzulegen. Das Buch spielt in England und war laut Twain »der erste Roman, der kein Wort über das Wetter verliert«. Den größten Teil des Manuskriptes hatte er einem neuartigen Phonographen diktiert, einem sehr frühen Vorläufer des Plattenspielers. Das Gerät war damals noch recht unüblich, aber wegen des Rheumas probierte Twain es aus.

Ebenfalls im Oktober hielt er einige Beschwerden über das Alltagsleben in Berlin in seinem Tagebuch fest. »So viele Annehmlichkeiten fehlen hier einfach: Füllfederhalter, gute Schreibmaschinen, Gummisohlen.« Er fragte bei seinem britischen Verleger Chatto & Windus nach, ob sie ihm nicht einen neuen Füller von Paul E. Wirt senden könnten, »mittel, nicht zu steif, nicht zu weich«, da er seinen verloren habe, und ohne fühle er sich hilflos. Außerdem fragte er nach einer Ausgabe von The Table, einem Kochbuch, das Webster & Co. in New York herausgebracht hatten.