Martin Buber und die Deutschen - Bernd Witte - E-Book

Martin Buber und die Deutschen E-Book

Bernd Witte

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine noch offene Geschichte

Er arbeitete für eine Erneuerung des Judentums auf der Grundlage der deutschen Sprache. Doch das Land, das ihm Heimat war, verjagte ihn. Nach Auschwitz sah er die Beziehung des Judentums mit Deutschland zerstört, und ist doch offen für ein neues Gespräch. Was hat es mit Martin Buber und den Deutschen auf sich? War er der vom »geistigen Deutschland anerkannter deutsche Jude« oder nur der »Jude für die Deutschen nach Auschwitz«? Dieser Essay begibt sich auf eine spannende Spurensuche. Er bringt das facettenreiche Bild einer ebenso spannungsvollen wie fruchtbaren Beziehung zu Tage. Die Geschichte von Martin Buber und den Deutschen, sie ist lange noch nicht zu Ende erzählt!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 397

Veröffentlichungsjahr: 2021

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bernd Witte

MARTIN BUBER UND DIE DEUTSCHEN

Martin Buber, 1949

Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas.

Ich zeige Wirklichkeit, ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen

worden ist. […]

Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.

Aus: »Antwort [an meine Kritiker]« (1963) (MBW 12. S. 471)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2021 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81 673 München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: © David Rubinger – gettyimages.com

ISBN 978-3-641-27343-9V001

www.gtvh.de

DANK

Dieses Buch ist hervorgegangen aus der langjährigen Arbeit an der »Martin Buber Werkausgabe«. Zuvörderst möchte ich meinem Mitherausgeber und Freund Paul Mendes-Flohr (Jerusalem) dafür danken, dass er mich stets an seinem profunden Wissen in Sachen Martin Buber teilhaben ließ und unser gemeinsames Projekt mit Geduld und Hingabe förderte. Ohne die engagierte Arbeit der zahlreichen Mitarbeiter an der »Arbeitsstelle Martin Buber Werkausgabe« der Heinrich Heine Universität Düsseldorf, Heike Breitenbach, Grazyna Jurewicz, Arne Taube, Andreas Losch und Simone Poepl, wäre die Ausgabe nicht im vorgesehenen Zeitrahmen fertigzustellen gewesen. Schließlich danke ich Gerd Kaiser (Düsseldorf) und Hans-Heinrich Große-Brockhoff (Düsseldorf) dafür, dass sie mich durch ihren Zuspruch unterstützt und angeregt haben, das anspruchsvolle Projekt im Rahmen der Arbeitsstelle zu übernehmen.

Düsseldorf, im Januar 2021 Bernd Witte

INHALT

Dank

BUBERS DEUTSCHE SPRACHE?

I. KULTURZIONISMUS: DIE ENTDECKUNG UND LITERARISCHE GESTALTUNG DES CHASSIDISMUS

Selbstständigkeit als Herausgeber und Autor

Chassidismus als Märchen und Mythos

Ein jüdischer »Übermensch«: der Baalschem

»Daniel« – ein literarisches Erfolgsbuch

II. JÜDISCHE IDENTITÄT – DEUTSCHE IDENTITÄT

Buber in Prag Die Neudefinition des Judentums

Deutschtum und Judentum im Krieg Martin Buber, Hermann Cohen, Gustav Landauer

Das »Erlebnis der Grenze« Auf dem Weg zu »Ich und Du«

III. LEBENDIGE SPRACHE – »EIN GEDANKENSYSTEM, FÜR DAS ICH SCHLECHTHIN UNERSETZBAR BIN«

»Ich und Du« Mystisches Erleben und dialogische Schrift

Die Verdeutschung der Bibel

Bubers »religiöser Sozialismus« Staat, Volk, Gemeinschaft

Das Jahr 1932 »Königtum Gottes« und »Zwiesprache«

IV. BRÜCHE UND ANSCHLÜSSE

Neuanfang in Palästina »Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose«?

»Moses«. Die Legende

Nach der Shoa Wiederannäherung an Deutschland

Öffentliche Ehrungen in Deutschland und in der Welt

V. MARTIN BUBER MIT UND GEGEN MARTIN HEIDEGGER

»Dialogisches Prinzip« gegen »Lichtung des Seins«

Begegnung – »Vergegnung«

»Das Wort, das gesprochen wird«

MARTIN BUBER UND DIE DEUTSCHEN HEUTE

Abkürzungen

Anmerkungen

Namenregister

»Das große Merkmal des menschlichen Miteinanderseins, die Sprache«

Martin Buber: Urdistanz und Beziehung, 1950 (MBW 10. S. 50)

BUBERS DEUTSCHE SPRACHE?

»Ich bin ja doch nicht beiläufig,

sondern faktisch ein deutscher Schriftsteller.«

Martin Buber an Hermann Gerson, 7. 9. 1934

Die deutsche Öffentlichkeit leidet bis heute unter einem kollektiven Trauma, dem einer andauernden Verdrängung der jüdischen Tradition aus dem kulturellen Gedächtnis. Den Nationalsozialisten ist es zwar nicht gelungen, alle Juden Europas zu ermorden, wie es ihr erklärtes Ziel war, wohl aber haben sie es erreicht, eines der Grundelemente eines lebendigen kulturellen Lebens in Westeuropa auszulöschen: die Teilnahme eines aufgeklärten Judentums am intellektuellen, philosophischen und literarischen Diskurs, wie sie sich seit Moses Mendelssohn in Deutschland etabliert hatte. In der allgemeinen Öffentlichkeit ist heute die Kenntnis der einstigen Vielfalt und Produktivität jüdischen Lebens und jüdischer Kultur weitgehend vergessen. Mehr noch, dieser Verlust selbst ist im öffentlichen Bewusstsein verdrängt und wird als solcher nicht mehr wahrgenommen. Der daraus resultierende Phantomschmerz ist eine der Ursachen für den untergründig weiterbestehenden und sich neuerlich wieder zu Wort meldenden Antisemitismus.

Martin Buber war seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einer der sichtbarsten und wirkmächtigsten Fürsprecher eines deutsch-jüdischen Dialogs in Mitteleuropa. Schon 1913 hat ihn sein Freund Gustav Landauer in einem Essay »Apostel des Judentums vor der Menschheit« genannt und ihn in Parallele gestellt zu Fichte, dem Verkünder des Deutschtums vor den Nationen. Zugleich aber hat Landauer die »vollkommene Sachlichkeit« seiner deutschen Prosa neben die Prosa Kleists gerückt.1 Das besagt zweierlei: Martin Buber war von Anfang an und insbesondere seit seinen Drei Reden über das Judentum von 1910/11 jemand, der sein Bild von der Gesellschaft, auch der nicht-jüdischen, von einem tiefgreifenden und neuartigen Verständnis des Judentums her formte und verkündete. Zugleich aber erwuchs ihm diese seine produktive Auffassung der eigenen Kultur auf der Grundlage der deutschen Sprache und der deutschen kulturellen Tradition. Nicht von ungefähr nennt Buber in seinen autobiographischen Fragmenten mit dem Titel Begegnung von 1960 Kant und Nietzsche als die beiden Philosophen, die sein Welt- und Menschenbild geformt haben.2

In diesem doppelten Richtungssinn hat es Buber demnach vermocht, sein eigenes Judentum zu erneuern und es gleichzeitig den Deutschen nahezubringen. Er hat ihnen gezeigt, dass ihre kulturelle Tradition spätestens seit der Aufklärung auch auf der jüdischen basiert. Das gilt es wieder in Erinnerung zu rufen und damit das Trauma aufzulösen, das die mörderische deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945 verursacht hat. Dieser unendlichen Aufgabe soll auch die Edition von Bubers Gesamtwerk dienen, durch die erstmals im deutschen Sprachraum die Weite und Radikalität seines Denkens und politischen Wirkens sichtbar wird. Aber welch ein Paradox, ja geradezu welche Provokation stellt die jetzt vorliegende Ausgabe dar: einundzwanzig Bände in deutscher Sprache, das Gesamtwerk eines Autors, der sich stets als ein Erneuerer des Judentums, wenn nicht gar als dessen »Künder«, wie er das hebräische Wort für »Prophet« übersetzte, verstanden hat und der seit 1938 Professor an der von ihm selbst mitbegründeten Hebräischen Universität in Jerusalem war. Und diese Bindung an die deutsche Sprache geschah nicht nur oberflächlich, sondern Buber übernahm mit der Sprache auch die Denkformen, die Lebensformen und die kulturellen Traditionen der Deutschen, das Jüdische vom Deutschen her bedenkend und das Deutsche vom Jüdischen her.

Warum konnte diese Gesamtausgabe der Werke eines Autors, der in den letzten beinahe dreißig Jahren seines Lebens im hebräischen Sprachraum wirkte und seit der Gründung des Staates Israel 1948 dessen Staatsbürger war, nur in deutscher Sprache erscheinen? Weil Buber selbst, wie sich anhand der Manuskripte im Martin Buber Archiv der Israelischen Nationalbibliothek belegen lässt und wie es die neue Werkausgabe dokumentiert, alle seine Werke zunächst in deutscher Sprache verfasst hat, auch die späten, die er während seines letzten Lebensabschnitts in Jerusalem geschrieben hat und die zunächst aufgrund der historischen Umstände auf Hebräisch oder Englisch erscheinen mussten. Seinem Schüler Nahum Norbert Glatzer, der ihm geschrieben hatte, dass sein chassidischer Roman Gog und Magog, 1943 auf Hebräisch und 1949 auf Deutsch erschienen, ihn erst »angesprochen« habe, als er das Werk auf Deutsch gelesen habe, bekennt der Autor in einem Brief vom Dezember 1949: »Eine Liebschaft wie die meine mit der deutschen Sprache ist eben ein objektives Faktum.« (B 3. S. 223)

Gleichzeitig erlaubt er sich in seinem Nachwort zur deutschsprachigen Erstausgabe des Romans die provokante Geste, von sich selbst zu behaupten: »Ich bin ein polnischer Jude«, (MBW 19. S. 274) womit er darauf anspielt, dass er seine höhere Bildung dem »Franz-Josephs-Gymnasium« in Lemberg verdankte, dessen »Unterrichts- und Umgangssprache […] das Polnische« war. (MBW 7. S. 279) In dieser Hauptstadt der K. u. K. Österreichisch-Ungarischen Provinz Galizien im Haus seiner Großeltern väterlicherseits ist er aufgewachsen. Dort war seine alltägliche Umgangssprache mit seinen Verwandten das Jiddische, das er in seinen Briefen an den Großvater bis an dessen Lebensende beibehielt.3 Gleichzeitig unterwies dieser, der ein großer Talmudgelehrter und Midrasch-Herausgeber war, seinen Enkel im biblischen Hebräisch. Maßgeblichen Einfluss auf seine Sprachbildung aber hatte die Großmutter Adele Buber, die als junges Mädchen sich mit Hilfe der Lektüre Schillers, Jean Pauls und anderer deutschsprachiger Klassiker das Deutsche autodidaktisch beigebracht hatte und es an den Enkel weitergab. Noch im Alter korrespondierte sie mit ihm in einer in hebräischen Lettern geschriebenen Kunstsprache,4 die aber eben deshalb als von höchster Intensität auf den jungen Studenten gewirkt haben muss. Erst als Buber im Alter von achtzehn Jahren sein Studium in Wien begann und in einer deutschsprachigen Alltagsumgebung lebte, wurde das Deutsche für ihn zu einer produktiven Sprache, in der sich fortan sein Denken, Schreiben und Handeln vollzog.

In einem seiner wichtigsten Texte der Spätzeit mit dem Titel »Hebräischer Humanismus« hat Buber betont, dass es die Sprache sei, die »einen unmittelbaren Zugang zu jenem vorbildlichen Menschentum« gewähre, um das es ihm zu tun sei: »Ja, die Sprache selber, die Besonderheit von Wortbildung, Satzgefüge, rhythmischem Fluß der Laute wird von jenem Menschenbild [des großen Menschen] geprägt. Durch die Sprache dringt der Humanismus zu jenem Menschenbild vor, und er faßt es als Vorbild.« (MBW 20. S. 149) Das Paradoxale dieser Sätze wird einem erst dann bewusst, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Buber sie im Jahr 1941 in Jerusalem in deutscher Sprache vor einer Versammlung von Menschen sprach, die eben unter Lebensgefahr aus dem deutschen Sprachbereich geflohen waren. In dem hier von ihm hervorgehobenen Sinne ist Bubers Werk maßgeblich von dem in der deutschen Sprache enthaltenen »Menschenbild« geprägt, auch und gerade da, wo er der »Renaissance des Judentums« das Wort redet. Allerdings war diese »deutsche Sprache« eher die der Weimarer Klassik und die Kunstsprache des deutschsprachigen Theaters als die Alltagssprache der Menschen. Was sich in Bubers Werk dahingehend ausgewirkt hat, dass es von altertümlichen Wendungen, ungewöhnlichen Worten und Neologismen durchsetzt ist.

Diese seine Liebe zur deutschen Sprache ist Buber in den Jahren nach 1938 bei seiner Akkulturation im jüdisch besiedelten, hebräischsprachigen Palästina durchaus hinderlich gewesen. In einem langen Brief vom 4. Februar 1938 an den »liebe[n] und verehrte[n] Herrn Buber« schreibt Hugo Bergmann, einer seiner ersten und treuesten Schüler und Anhänger, kurz vor Bubers Ankunft in Jerusalem zu dessen sechzigstem Geburtstag: »Mir scheint, daß Ihr eigentliches Werk noch vor Ihnen liegt. Es müßte damit beginnen, daß Sie der deutschen Sprache endgültig absagen.« An diesen gut gemeinten Rat schließt Bergmann eine ernüchternde Einschätzung von Bubers Einfluss auf die Geschichte der Judenheit in den vergangenen Jahrzehnten an, die zugleich ein hellsichtiger Vorverweis auf die Schwierigkeiten ist, denen Buber sich in der Folgezeit, insbesondere nach der Gründung des Staates Israel1948, gegenübersah: »Ohnehin hat der Reichtum Ihres Deutschen Sie oft verführt, wenn ich so sagen darf, und Ihrer Wirkung, zumal in dieser harten Zeit, ungeheuer geschadet.« (B 2. S. 654) Dennoch hat Buber bis an sein Lebensende in deutscher Sprache gedacht und geschrieben.

Die Geschichten des Rabbi Nachman. Ihm nacherzählt von Martin Buber, gedruckt in einer Auflage von 2000 Exemplaren von Oscar Brandstetter in Leipzig. Druckanordnung, Schmuck und Einband von E. R. Weiss, 1906

I. KULTURZIONISMUS: DIE ENTDECKUNG UND LITERARISCHE GESTALTUNG DES CHASSIDISMUS

SELBSTSTÄNDIGKEIT ALS HERAUSGEBER UND AUTOR

Bubers eigentümlicher Gebrauch der deutschen Sprache lässt sich schon an seinen ersten eigenständigen Werken, den frühen Adaptationen der ostjüdischen chassidischen Legenden ablesen. Wie kam es dazu?

Das Jahr 1904 stellt im Leben Martin Bubers eine entscheidende Wende dar, die geprägt ist von seiner Abkehr vom politischen Zionismus Theodor Herzls, den er bis dahin politisch unterstützt hatte. Unter anderem ließ er sich schon 1899 als Delegierter zum Dritten Zionistenkongress in Wien entsenden und übernahm auf Bitten Herzls im Jahr 1901 für kurze Zeit die redaktionelle Leitung des zionistischen Zentralorgans Die Welt. (B 1. S. 160–162) Bubers Auseinandersetzung mit der intellektuellen wie politischen Leitfigur des Zionismus entzündete sich an der vernichtenden Kritik von dessen Roman Alt-Neuland (1902) durch den geistigen Vater des Kulturzionismus, Achad-Haam (Ascher Ginsberg), den dieser 1903 in seiner hebräischsprachigen Zeitschrift Haschiloach veröffentlicht hatte. In ihr bedenkt er Herzls Utopie der idyllischen Zustände im von Juden besiedelten Palästina des Jahres 1923 mit beißendem Spott. Bei dieser Auseinandersetzung ging es um eine grundsätzliche Richtungsentscheidung: Sollte der Zionismus in Palästina die Errichtung eines modernen, mit allen technischen Errungenschaften ausgestatteten Nationalstaats anstreben, wie ihn Herzl in seinem Roman entworfen hatte, oder sollte die Rückkehr in die alte Heimat der Rückbesinnung auf die sprachliche und kulturelle Eigenart des biblischen Judentums dienen, wie Achad-Haam und mit ihm Buber und seine politischen Gesinnungsgenossen, Chaim Weizmann, Berthold Feiwel und Efraim Moses Lilien, forderten?1 Mit ihnen, die sich auf dem Sechsten Zionistenkongress 1903 in Basel als »demokratische Fraktion« konstituierten, versuchte Buber damals, eine »Organisation der nationaljüdischen Kulturarbeit« aufzubauen.2 So war er maßgeblich an der Gründung des Jüdischen Verlags 1902 in Berlin beteiligt, publizierte dort ebenfalls 1902 zusammen mit Chaim Weizmann eine Broschüre mit dem Grundsatzprogramm für Eine jüdische Hochschule3 und entwarf schließlich ein ambitioniertes Zeitschriftenprojekt mit dem Titel Der Jude, dessen erstes Heft im Januar 1904 erscheinen sollte, das aber wegen mangelnder finanzieller Unterstützung scheiterte und erst 1916 verwirklicht werden konnte.4 Der Misserfolg der »demokratischen Fraktion« auf dem Sechsten Zionistenkongress, den Buber in einem Brief an seine Frau Paula aus Basel als die größte »Erschütterung« seines Lebens charakterisierte, (B 1. S. 207)5 sowie die »Spaltung« der Bewegung »zwischen den Judenstaatlern und den Vertretern des historischen Zionsideals« gaben schließlich den letzten Anstoß für Bubers Rückzug aus allen Ämtern. (B 1. S. 208) An seinen Mitstreiter Chaim Weizmann schreibt er im Oktober 1903 aus Lemberg, er wolle nun die jüdische Kulturarbeit mit anderen Mitteln voranbringen; denn er sei davon »überzeugt, daß ich auf dem Gebiete einer stillen, ernsten und gesammelten literarischen Arbeit Einiges leisten könnte«. (B 1. S. 213)

Enttäuscht vom politischen Zionismus, widmete sich Buber von nun an der Erneuerung eines authentischen Judentums aus dem Geist seiner mystischen Traditionen. Er begann, sich in die Überlieferung des Chassidismus zu vertiefen, die ihm seit seinen Kinderjahren in der großväterlichen Familie vertraut war. Um sich ungestört auf die Sammlung und das Studium der reichhaltig in jiddischer und hebräischer Sprache überlieferten, aber bis dahin im Westen so gut wie unbekannten Texte und Dokumente konzentrieren zu können, siedelte er im Winter 1905/06 mit seiner Familie nach Florenz über. Dort lebte er, von seiner Großmutter finanziell unterstützt, »mit dieser Stadt, mit ihren Häusern, mit ihren Denkmälern, mit ihren einstigen Geschlechtern«.6 Die neue Epoche seines Lebens begreift er als »Abscheidung von allem, was nur scheinbar unser war« und als »das erste Werkjahr meines Lebens«.7

In der anregenden, für ihn ungewohnten Umgebung beginnt er, sein erstes Buch aus der Reihe der chassidischen Schriften, Die Geschichten des Rabbi Nachman, zu schreiben. Schon im November 1905 kann er seinem Freund Gustav Landauer den Abschluss der Arbeit am Manuskript verkünden: »Zum Arbeiten taugt Florenz sehr. Ich habe nun den Märchenband fertiggestellt; er wird Anfang 1906 bei Rütten & Loening erscheinen.« (B 1. S. 213) Im März 1906 berichtet er Hugo von Hofmannsthal, er werde ihm »demnächst einen Band« übersenden, »der jetzt in der Literarischen Anstalt gedruckt wird; er enthält einige Märchen und Legenden eines jüdischen Mystikers des 18. Jahrhunderts […], die ich aufgefunden und bearbeitet habe.« (B 1. S. 238) Im Juni desselben Jahres schickt Hofmannsthal die Korrekturbögen des nun schon gesetzten Buches an Buber zurück.8 Ende des Jahres schließlich ist das Buch erschienen – die Erstausgabe trägt das Publikationsdatum 25. Oktober 1906 – und Buber, der inzwischen nach Berlin übergesiedelt ist, kann Anfang Dezember seiner Frau Paula mitteilen, er werde ihr mit gleicher Post »einen gebundenen Nachman« für ihren gemeinsamen Sohn Rafael schicken. (B 1. S. 250)

Im Jahr 1905 beginnt Buber zudem, als Lektor für den Verlag Rütten und Loening in Frankfurt zu arbeiten, und betreut dort die Buchreihe Die Gesellschaft, mit der er sich zum Ziel gesetzt hat, »das Leben der Gesellschaft, seine Formen und Äusserungen in klarer, wissenschaftlich durchgearbeiteter und literarisch wertvoller Darstellung zur Kenntnis aller Gebildeten zu bringen«.9 Als er 1906 im selben Verlag sein erstes eigenes Buch publiziert, erscheinen dort gleichzeitig die vier Eröffnungsbände der neuen Reihe: Das Proletariat von Werner Sombart, Die Religion von Georg Simmel, Die Politik von Alexander Ular und Der Streik von Eduard Bernstein. Unter den Verfassern der bis 1912 erscheinenden vierzig Bände, die Buber durch einen umfangreichen Briefwechsel als Autoren zu gewinnen vermag, (B 1. S. 230–245) finden sich weitere bekannte Namen, etwa Fritz Mauthner, der Die Sprache, Gustav Landauer, der Die Revolution und Lou Andreas-Salomé, die Die Erotik behandelt, des Weiteren neben vielen heute Unbekannten Franz Oppenheimer, Ferdinand Tönnies, Ellen Key, Rudolf Pannwitz und Rudolf Kassner. Bubers Arbeit für den Verlag bringt ihn nicht nur in Verbindung mit zahlreichen Persönlichkeiten des damaligen literarischen Lebens, sondern sichert ihm auch zum ersten Mal eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit, so dass er sich mit seiner Familie in einer großzügigen Wohnung in Berlin etablieren kann.10

Mit seiner verlegerischen Pionierleistung gehört Buber zu den Ersten in Deutschland, die das junge wissenschaftliche Fach der Soziologie fördern. Im ersten Band der Reihe, Werner Sombarts Das Proletariat, findet sich ein umfangreicher, von Buber selbst formulierter Prospekt, in dem er das Fach kurz und bündig definiert: »Die Soziologie ist die Wissenschaft von den Formen des Zwischenmenschlichen.« Seine eigene Perspektive auf den Gegenstandsbereich, die er in der bisherigen Diskussion weitgehend für vernachlässigt hält, sieht er in dem, was er »das eigentliche psychologische Problem des Zwischenmenschlichen« nennt.11 »Soziale Formen, Gebilde und Aktionen sind der Ausdruck und der Ursprung seelischer Vorgänge und wollen in Beziehung zu diesen untersucht werden.« (MBW 11.1. S. 105) In dem von Buber offensichtlich neu geformten und gleich mehrfach verwendeten Begriff des »Zwischenmenschlichen« deutet sich schon die Bedeutung an, die das »Zwischen« in seiner späteren Philosophie des Dialogs und seiner darauf sich gründenden Anthropologie spielen wird.

CHASSIDISMUS ALS MÄRCHEN UND MYTHOS

Als Buber im Jahr 1905 mit der Arbeit an seinem Buch Die Geschichten des Rabbi Nachman beginnt, war das Interesse für den Chassidismus unter assimilierten deutschsprachigen Juden wie überhaupt in der literarischen Öffentlichkeit völlig unbekannt. Im neunzehnten Jahrhundert galt diese in Osteuropa entstandene Form des Judentums dem aufgeklärten Westjudentum als hinterwäldlerische, randständige Sekte, ihr Begründer Israel ben Elieser aus Międzybórz in Galizien, von seinen Anhängern Baal-Schem-tow, »Meister des guten Namens« genannt, wurde als unwissender und einfältiger Betrüger abgetan. Die klassische und äußerst wirkmächtige Formulierung dieses Urteils findet sich im elften und letzten Band der Geschichte der Juden von Heinrich Graetz aus dem Jahr 1870. Der Verfasser der auf Hegels Geschichtsphilosophie basierenden Weltgeschichte des Judentums verurteilt die Sekte der »Neuchaßidäer« von vornherein als »eine Tochter der Finsternis«. Vom Baal-Schem-tow weiß er zu berichten, der »Wunderglaube« habe »sein Gehirn mit Phantasiebildern« gefüllt. Er gebe sich als »Wunderdoktor« aus und heile nicht nur durch Kräuter und Pflanzen, sondern auch durch »Besprechungen und Beschwörungen«. Am meisten aber empört Graetz die ekstatische Form des chassidischen Gebets, bei dem die Frommen sich »mit Singsang und Händeklatschen, Verbeugen, Körperbewegungen, Springen, unter Lärmen und Schreien« in Verzückung versetzten. Dem Zaddik, dem »Gerechten«, der höchsten religiösen Autorität der chassidischen Gemeinde, unterstellt er, dass dieser der sexuellen »Erregung« Vorschub leisten wolle und nennt dessen Auffassung und Praxis der Religion »lästerlich«.1 Man kann förmlich sehen, wie es den preußischen Gelehrten bei der Vorstellung der ganz und gar körperlichen Intensität der chassidischen Gebetsriten vor Grauen schüttelt.

Graetz hat für seine Darstellung zahlreiche zeitgenössische Dokumente und Manuskripte in hebräischer Sprache sowie Zeugnisse von Anhängern und Gegnern ausgewertet, die er in einem eigenen Anhang zitiert.2 Unter anderem bezieht er sich auf den ausführlichen Bericht, den Salomon Maimon in seiner Autobiographie von 1792 über seinen Aufenthalt am chassidischen Hof des Bär von Mesritsch gibt.3 Aufgrund dieser soliden Quellenarbeit enthält sein Bild des Chassidismus durchaus zutreffende Züge. So berichtet er wahrheitsgemäß, dass es eine der Grundregeln des Chassidismus sei, dass »nur in heiterer Stimmung […] die Gebete an Gott gerichtet werden« dürften. Außerdem gesteht er dem Baal-Schem-tow zu, dass er nicht ganz unkundig in den talmudischen Wissenschaften gewesen sei, und rühmt an ihm, dass er aus seinen außerordentlichen Fähigkeiten kein »Geschäft« gemacht, sondern sich als Pferdehändler und Kneipenwirt seinen Lebensunterhalt verdient habe.

Was Graetz in seiner Entstehungsgeschichte des Chassidismus an dessen Gründungsvätern als »häßlichen Auswuchs des Judentums«4 kritisieren zu müssen glaubt, wenn er ihn mit den gleichzeitigen philosophischen Höhenflügen Moses Mendelssohns in Deutschland vergleicht, hat sich in der Enkelgeneration, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts an den chassidischen Höfen den Ton angab, noch deutlicher ausgeprägt, wobei die ursprünglich religiösen Intentionen häufig rein materiellen Interessen gewichen waren. So ist es nicht verwunderlich, dass die jungen jüdischen Intellektuellen, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nach Vorbildern für ihre jüdische Identität suchten und sich auf dieser Suche dem ostjüdischen Chassidismus zuwandten, bitter enttäuscht wurden.

Die früheste Schilderung eines chassidischen Stübels5 in Osteuropa durch einen westlichen Intellektuellen stammt von dem Philosophen Hugo Bergmann, der bereits als Gymnasiast ein begeisterter Zionist war. Seinen gleichaltrigen Mitschüler Franz Kafka hat er schon auf der Schule für die Sache des Judentums zu gewinnen gesucht und ist dessen »obligatem Spott« über sein politisches Engagement in einem Brief mit dem Argument entgegengetreten: »Ich möchte einmal auf unserem Boden stehen und nicht wurzellos sein.«6 Das war1903, in dem Jahr, in dem Theodor Herzl St. Petersburg und Wilna, die Hochburg der »Mignadim«, der Gegner des Chassidismus, besuchte. Im selben Jahr unternahm Bergmann eine Reise nach Galizien, weil es – wie er im Tagebuch festhält – sein »sehnlicher Wunsch schon lange« war, »einmal Juden zu sehen, mit Kaftan und Stirnlocken und echtem, rechtem Judenblut«.7 Während er die Jungen, die im Cheder Tora und Talmud lernen, bewundert, ist er von dem, was er bei den Frommen sieht, enttäuscht. Als er »das Stübel der Kozker Chassidim« besucht, findet er dort »ein Gedränge frommer Chassidim, jeder in der Hand ein Bierglas und ein Stück Fisch. Heringsgeruch erfüllt das ganze Zimmer.« Der Zaddik versenkt sich in kabbalistische Spielereien, »deutet Anfangsbuchstaben und Zahlenwerte«.8 Bergmanns Fazit dieser Begegnung: »Warum musste erst dieser furchtbar verdummende Aberglauben kommen, um das Volk zu erlösen von Buchstaben und Worten? Warum? Warum?«9

Ganz anders fünf Jahre später Martin Buber. In seiner Legende des Baalschem aus dem Jahre 1908 will er die Berufung des Begründers des Chassidismus auf der Grundlage der alten Quellen neu erzählen. In seiner Einleitung gibt er eine idealisierte Anschauung von der Atmosphäre, in der diese ostjüdische Form der Religion entstanden ist: »Es ist etwas Zartes und Ehrwürdiges, etwas Heimliches und Geheimnisvolles, etwas Ausgelassenes und Paradiesisches um die Atmosphäre des ›Stübels‹, in dem der chassidische Rabbi, der ›Zaddik‹, der ›Gerechte‹, der Heilige, der Mittler zwischen Gott und Mensch, mit weisem und lächelndem Mund das Mysterium und das Märchen austeilt.«10 Diese rhetorisch überhöhte, zu fünffacher Alliteration sich aufschwingende Beschwörung eines idealen Raumes und seiner vom Zaddik ausgehenden geistigen Ausstrahlung soll dem westlichen Leser eine ihm bis dahin unbekannte Topographie nahebringen, eine paradiesische Heimat, die in der aufgeklärten Welt der Moderne nicht mehr zu finden ist. Im Vergleich mit Bergmanns illusionsloser Schilderung der bedrückend engen Räume voller blasser, unsympathischer Menschen erweist sich Bubers Evokation eines geistlichen Zentrums in Galizien als utopischer Gegenentwurf zur »transzendentalen Obdachlosigkeit« (Georg Lukács) der aufgeklärten Öffentlichkeit seiner Zeit.

Damit ist Martin Buber der erste Westeuropäer, der in den ostjüdischen Legenden eine romantisch verklärte Gegenwelt zur gesellschaftlichen Moderne zu etablieren sucht. Sein Interesse für den Chassidismus entspringt zunächst seiner Enttäuschung über die praktische politische Organisationsarbeit für den Zionismus, die er bisher im Rahmen der »Demokratischen Fraktion« der Jungen und als zeitweiliger Mitarbeiter Theodor Herzls betrieben hatte. Im Jahr 1904 gibt er die aktive Parteiarbeit auf und beginnt, sich in die Überlieferung des Chassidismus zu vertiefen, die er, obwohl seit Kindertagen damit vertraut, jetzt bei der Lektüre des Zewaat Ribesch, einer Sammlung von Aussprüchen des Baal-Schem-tow, neu für sich entdeckt. In dem autobiographischen Text Mein Weg zum Chassidismus von 1918 hat er diese Lektüre als mystisches Erweckungserlebnis charakterisiert: »Da war es, daß ich, im Nu überwältigt, die chassidische Seele erfuhr. Urjüdisches ging mir auf, im Dunkel des Exils zu neu bewußter Äußerung aufgeblüht: Die Gottes-Ebenbildlichkeit des Menschen als Tat, als Werden, als Aufgabe gefaßt. […] Das Bild aus meiner Kindheit, die Erinnerung an den Zaddik und seine Gemeinde stieg empor und leuchtete mir: ich erkannte die Idee des vollkommenen Menschen. Und ich wurde des Berufs inne, sie der Welt zu verkünden.«11 Im Mittelpunkt dieser »ekstatischen Konfession« steht das »Nu«, die blitzartige, unvermutete Erleuchtung, die dem Mystiker zuteil wird. In ihr sucht Buber seine Berufung zum Propheten des Judentums und zum Lehrer der Menschheit in Worte zu fassen und zu begründen. Damit schreibt er sich selbst seine Lebensaufgabe zu, der er sich zunächst und vor allem als Nacherzähler der chassidischen Lehrdichtungen und Legenden für die »Welt« – und das heißt zunächst und vor allem für die deutschsprachige Welt – widmet.

Als Buber sein erstes eigenständiges Werk Die Geschichten des Rabbi Nachman publiziert und gleichzeitig zusammen mit seiner Frau Paula die Erzählungen des zweiten, Die Legende des Baalschemerarbeitet,12 ist er damit zu dem zurückgekehrt, was er schon immer als seine eigentliche Berufung angesehen hat, als Dichter sein Volk zu sich selbst zu führen und so dem Judentum die neue alte Identität zu schenken, die es in Diaspora und Assimilation verloren hat. Zugleich aber möchte er dieses neue Judentum der aufgeklärten Öffentlichkeit des Westens bekannt machen. Indem er die chassidischen Lehrreden des Enkels des Baalschem, des Rabbi Nachman von Bratzlav, neu erzählt, schafft er ein eigenständiges dichterisches Werk, das einem allgemeinen deutschsprachigen Publikum zugedacht ist. Er transformiert die ursprünglich mündlich in jiddischer Sprache überlieferten Erzählungen, die nach der Intention ihres Urhebers aggadische, das heißt, in erzählerische Form gekleidete Kommentare der lurianischen Kabbala und des Messianismus sind, in »jüdische Volksmärchen«, deren exotischer Reiz besonders auf die der ostjüdischen Tradition unkundigen westlichen Intellektuellen wirken sollte.

Den hohen Anspruch seiner Dichtung unterstreicht Buber durch die Ausstattung der Erstausgabe des Buches, deren Druckanordnung und Buchschmuck, Zierleisten und Initialen, von dem bedeutenden Buchkünstler Emil Rudolf Weiß geschaffen wurden. In flexibles dunkelgrünes Leinen gebunden und durch Kopfgoldschnitt ausgezeichnet, zeigt sie auf dem Deckel in Goldbuchstaben den Titel, unter dem eine stilisierte brennende Menora zu sehen ist. Der siebenarmige Leuchter wird in gleicher Form auf dem in Rot und Schwarz gedruckten Titelblatt wiederholt, wobei es nicht ohne Bedeutung sein dürfte, dass die Namen »Rabbi Nachman« und »Martin Buber« mit diesem Symbol messianischer Hoffnung durch die rote Farbe zusammengebunden sind.13

Schon im ersten Satz des Buches fällt die höchst subjektive Selbstidentifikation Bubers mit dem »letzten jüdischen Mystiker«, als den er Nachman apostrophiert, ins Auge: »Ich habe die Geschichten des Rabbi Nachman nicht übersetzt, sondern ihm nacherzählt, in aller Freiheit, aber aus seinem Geiste, wie er mir gegenwärtig ist.«14 Damit ist mehr gemeint als eine bloße Einfühlung in den Vorgänger. Der Erzähler, der sein Buch mit dem Wörtchen »ich« beginnt, sieht in dem Zaddik den »erste[n] und bisher einzige[n] wirkliche[n] Märchendichter unter den Juden. […] hier zum erstenmal ist Person, persönliche Intention und persönliche Gestaltung.«15 Die Märchen dieses Dichters will er fortsetzen, aber nicht im Sinne einer Schülerschaft, sondern im Geiste einer mystischen Identifikation, wie er sie als innersten Kern der kabbalistischen Lehre des Isaak Lurja von der »Metempsychose« begreift: »Ein hoher abgeschiedener Geist steigt in ganzer Lichtfülle oder in einzelnen Strahlen zu einem unfertigen hinab, um bei ihm zu wohnen und ihm zur Vollendung beizustehen.« (MBW 16. S. 65) Mit diesem Satz beschreibt Buber sein eigenes Verhältnis zu dem Vorgänger als eines der mystischen Verbundenheit mit dem ostjüdischen Zadddik. Die jüdische Auffassung von der Tradition als einer durch die Jahrhunderte mit unveränderter Intensität weiterwirkenden Kraft wird hier auf individueller Ebene erneut in ihr Recht gesetzt. Allerdings kann und will Buber sich dabei nicht mehr auf die kanonische Gesetzestradition berufen. Vielmehr evoziert er eine untergründige Volkstradition, in die er sich selbst einschreibt, indem er sie dem eigenen Leben und der eigenen Zeit anverwandelt. Wie die Brüder Grimm will er eine bis dahin weitgehend mündliche Erzähltradition für die Welt der Schrift aktualisieren.

Wie sehr ihm die Identifikation mit dem chassidischen Erzähler zur zweiten Natur geworden ist, lässt sich an der Formulierung ablesen, die er ihr in Mein Weg zum Chassidismus (1918) angedeihen lässt: »Die ›Geschichte von dem Rabbi und seinem Sohn‹ war die erste, die mir unversehens zum eignen Gedicht gedieh. In den beiden letzten erlebte ich, auch in den Stücken, die ich völlig neu einfügte, meine Einheit mit dem Geiste Nachmans. Ich hatte eine wahre Treue gefunden: zulänglicher als die unmittelbaren Jünger empfing und vollzog ich den Auftrag, ein später Sendling in fremdem Sprachbereich.« (MBW 17. S. 48 f. Kursiv B. W.) Buber sieht sich demnach selber als einen Gerechten und Weisheitslehrer des zwanzigsten Jahrhunderts, als Zaddik, der in der zeitgemäßen Gestalt eines Dichters auftritt und sich dabei der deutschen Sprache bedient.

In einem ersten Teil seines Buches hat Buber unter dem Titel »Rabbi Nachman und die jüdische Mystik« für die mit dem ostjüdischen Leben nicht vertrauten Leser einen einführenden Kommentar geliefert, der ihnen die nachfolgenden Erzählungen erst verständlich machen soll. Die Geschichte der jüdischen Mystik, wie Buber sie hier als Erster skizziert, erscheint als eine der Häresie und der Revolte gegen das orthodoxe Judentum. Sie ist für ihn zudem kein vornehmlich religiöses Phänomen, bewirkt keine Bindung des Menschen an Gott, sondern stellt sich ihm – wie er von der Lehre des Pseudomessias und großen Abtrünnigen des 17. Jahrhunderts, Sabbatai Zwi, schreibt, – als »eine Entladung der unbekannten Volkskräfte und eine Offenbarung der verborgenen Wirklichkeit der Volksseele« dar. (MBW 16. S. 65 f.)

Die Vision Bubers von einer Erneuerung und Wiederbelebung des Volksgeistes aus dem Nacherzählen der chassidischen Geschichten weist unübersehbare Parallelen zum deutschsprachigen Kulturkonservatismus des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende auf, der im Rückgriff auf die durch Blutsgemeinschaft verbürgten traditionalen Werte die aufklärerische Moderne überbieten will. Sie erhält jedoch ihre einzigartige Durchschlagskraft und Wirksamkeit dadurch, dass das »Volk« für Buber nicht – wie in den Träumen der Romantiker oder noch Richard Wagners – eine in nebelhafter Vergangenheit verschwimmende Größe ist, sondern die tagtäglich anzuschauende soziale Realität des Ostjudentums, in dem sich der Chassidismus, wenn auch verfälscht, bis in die Gegenwart lebendig erhalten hat. Dessen von dem Erzähler Buber ins Ästhetische gewandelter und zum absoluten Vorbild gesteigerter Lebensentwurf wird dem gesamten Judentum, insbesondere aber dem emanzipierten, seiner religiösen Wurzeln beraubten Westjudentum als Identitätsgrund, der deutschsprachigen Öffentlichkeit aber zugleich als Gegenbild zur herrschenden, der Rationalität und Technik verfallenen Gesellschaftsform der Moderne vorgeführt.

In diesem Sinne ist auch Bubers berühmt gewordene Definition des Chassidismus zu verstehen, die Gershom Scholem noch fünfzig Jahre später zustimmend in Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen zitiert: »Der Chassidismus ist die Ethos gewordene Kabbala. Aber das Leben, das er lehrt, ist nicht Askese, sondern Freude in Gott.« (MBW 16. S. 66)16 Das wird hier zunächst und vor allem auf den Einzelnen bezogen, der im Gebet und der freudigen Entdeckung Gottes in der Natur sich selbst findet. Mystik also als eine »höchst realistische Anleitung zur Ekstase«. (MBW 16. S. 66) Diese Bestimmung einer Selbstfindung des Subjekts, die Buber gleichzeitig in den 1909 erschienenen Ekstatischen Konfessionen in den mystischen Texten aller Zeiten und Kulturen entdecken zu können glaubt,17 fasst er als den Weg des in seiner Subjektivität vereinzelten Individuums der Moderne zur Einsamkeit und damit zur Einheit und Einzigkeit auf.

Im Kontext des Chassidismus erscheint sie jedoch paradoxerweise zugleich auf eine Gemeinschaft bezogen. Im Kreise seiner Jünger erscheint der Zaddik als »der Größte, der Reinste, der Tragischste«, (MBW 16. S. 71) der durch sein Vorbild und seine Lehre das einfache Volk zu Gott erhebt und es damit als Gemeinschaft zusammenführt. Der inhärente Widerspruch zwischen dem radikalen Individualismus des Ekstatikers und seiner Funktion als Gründer und geistiger und emotionaler Mittelpunkt einer Gemeinde wird allerdings von Buber nicht aufgehoben, sondern nur historisch als Ursache der Entartung des Chassidismus relativiert: »Der Zaddik machte die chassidische Gemeinde reicher an Gottessicherheit, aber unendlich ärmer an dem einzig Wertvollen: dem eigenen Suchen und Eifern.« (MBW 16. S. 70)

Für Rabbi Nachman waren seine Geschichten die »Kleider«, in die er seine Lehre hüllte, (MBW 16. S. 86) während Buber seine Texte im Rückblick als »eigengesetzliche Dichtung aus überlieferten Motiven« bezeichnet. (MBW 17. S. 49) Schon diese gegensätzliche Charakterisierung gibt einen ersten Hinweis auf den andersartigen Status, der die Erzählungen des mündlich vortragenden Religionslehrers von denen des Literaten der Moderne unterscheidet. Rabbi Nachman beginnt, seinen Jüngern in dem Moment Geschichten zu erzählen, als seine Hoffnung auf ein unmittelbar bevorstehendes Kommen des Messias, an dem er mitwirken könnte, sich als trügerisch erwiesen hat. Seine dreizehn Geschichten, deren erste er am 25. Juli 1806 und deren letzte er am 30. März1810, kurz vor seinem Tod, erzählt, sind für Nachman das Mittel, eine Tradition zu stiften und so bei seinen Jüngern den Glauben an den Messias über das eigene Lebensende hinaus aufrechtzuerhalten.

Seine mündlichen Erzählungen sind von einem seiner Schüler, Nathan ben Naftali von Nemirow, jeweils unmittelbar, nachdem der Meister sie vorgetragen hatte, aufgezeichnet und 1815 zum Druck befördert worden. An sie hat sich im Laufe der Zeit eine umfangreiche Kommentarliteratur aus dem Schülerkreis angehängt, die bis heute weiter gepflegt wird. 1983 haben die Bratzlawer Chassidim, die heute ihr Zentrum in Jerusalem haben, eine »offizielle«, englischsprachige Übersetzung der Geschichten herausgebracht, die in einem umfangreichen, etwa zwei Drittel jeder Seite umfassenden Kommentarteil die traditionellen, bisher nur in hebräischsprachigen Einzelpublikationen vorliegenden Deutungen für den heutigen Leser zusammenfasst und zugänglich macht.18

In der Erstausgabe der Geschichten des Rabbi Nachman von 1815 sind die Erzählungen in der Reihenfolge ihres Entstehens abgedruckt.19 Anders bei Buber. Er hat nur weniger als die Hälfte der vorliegenden Texte ausgewählt und sie in einer Weise angeordnet, dass sie ein in sich geschlossenes Werk ergeben. Er beginnt mit der »Geschichte von dem Stier und dem Widder«, die das auserwählte Volk im Exil zeigt, am Ende aber mit apokalyptischen Tiersymbolen das Verderben des gottlosen, die Juden bedrängenden Königs evoziert. Die folgende »Geschichte von dem Rabbi und seinem Sohne« lässt den Zaddik als den einzig Gerechten erscheinen, nach dem sich der Sohn des gesetzestreuen Rabbi in Sehnsucht verzehrt. Auch die nächsten beiden Geschichten stellen mit »dem Klugen und dem Einfältigen« und »dem Königssohn und dem Sohn der Magd« einem Unwürdigen den wahren Weisen und Gotterfüllten entgegen, der sich am Ende gegen die falschen Prätentionen der Welt durchsetzt. Schließlich werden in der »Geschichte vom Meister des Gebets« und in der Erzählung »von den sieben Bettlern« die Heilsbringer und ihre rettenden Taten in allegorischen Handlungen vorgeführt. Von ihnen hängt die Erlösung der Welt und damit auch die endgültige Offenbarung Gottes ab. So zeichnen die sechs Erzählungen, wie sie von Buber zusammengestellt werden, eine Heilsgeschichte nach, die, ausgehend von der Galut, dem Leser die Gestalt des »vollkommenen Menschen« vor Augen führt, dessen »Tat« es ist, in der Welt die Ankunft des Messias vorzubereiten. Die aber steht noch aus, wie die letzte Geschichte durch ihre offene Form deutlich macht, indem sie das angekündigte Kommen des siebten Bettlers nicht mehr erzählt. So transformiert Buber eine in ihrer Anordnung kontingente Sammlung von Erzählungen, die jeweils ein zufälliges, äußeres Ereignis zum Anlass des Erzählens nehmen,20 in ein in sich geschlossenes, autonomes Werk, in dem er seine anthropologische Neudeutung des Messianismus Gestalt werden lässt.

Die Literarisierung der Erzählungen bei Buber, die Umformung jeder einzelnen von ihnen zum neoromantischen Kunstmärchen geht bis ins sprachliche Detail. Dabei wird vor allem der direkte Bezug auf Gott und damit die unverhüllt religiöse Rede zugunsten einer vage existenzialistischen Poetisierung aufgegeben. Solchen Transformationen von hohem ästhetischen Reiz steht eine Unterdrückung der als hässlich empfundenen Einzelheiten und eine Systematisierung des Ganzen gegenüber. Die Wiederholungen und Widersprüche des jiddischen Originaltextes, die offensichtlich einer authentischen Wiedergabe des mündlichen Vortrags geschuldet sind, sieht Buber als durch die Überlieferung verursachte »Entstellungen« an, weshalb er sie in seinen Nacherzählungen glättet oder eliminiert. Darüber hinaus säubert der Moderne den überlieferten Text immer dort, wo Nachmans Geschichten vom Aberglauben inspiriert erscheinen. Was er vor allem in der Physiognomie der von ihm porträtierten »vollkommenen Menschen« auszumerzen sucht, sind ihre magischen Praktiken. Nun ist es aber gerade das Zusammenspiel von mystischer Erweckung und Magiertum, das die Faszination der Zaddikim für ihre Anhänger ausmacht. Israel ben Elieser war – wie Scholem zurecht betont – »ein wirklicher Baal-schem, das heißt ein Meister der praktischen Kabbala, der Magie«.21 Buber aber macht diese Magier und heiligen Männer zu reinen Geistesmenschen.

Die symbolische Bedeutungstiefe der Erzählungen im Religiösen, die Nachmans Schüler wahrgenommen haben und in ihren Kommentaren bis heute weitertradieren,22 fällt in Bubers Neuschreibung aus. Bei ihm gestaltet sich die Erzählung tatsächlich zu dem, was er fälschlicherweise schon Nachman zuschreibt: Sie »wuchs über den Zweck hinaus und trieb ihr Blütengeranke, bis sie keine Lehre mehr war, sondern ein Märchen oder eine Legende«. (MBW 16. S. 86) Mit ihrem preziösen Sprachgestus reiht sie sich so in die damals in ganz Europa verbreitete Mode des neoromantischen Kunstmärchens ein, deren bedeutendste Vertreter, Oscar Wildes A House of Pomegranates und Hugo von Hofmannsthals Das Märchen der 672. Nacht kurz zuvor erschienen waren.23

Bubers erste Publikation aus der Welt des Chassidismus ist bei den Zeitgenossen auf ein ungeteilt positives Echo gestoßen. Deshalb wird man zu Recht feststellen können, dass er ein bis dahin als hinterwäldlerischen Aberglauben verachtetes Phänomen in die mitteleuropäische Hochkultur eingeführt hat. Bekannte Autoren wie Hugo von Hofmannsthal oder Alfred Mombert teilten Buber in Briefen ihre enthusiastische Zustimmung mit. Der Philosoph Georg Simmel soll nach der Lektüre des Buches dem Autor gegenüber geäußert haben: »Wir sind doch ein sehr merkwürdiges Volk.«24 Leon Kellner, einer der engsten Mitarbeiter Theodor Herzls, veröffentlichte 1907 in der Zeitschrift Ost und West unter dem Titel »Der chassidische Ossian« eine enthusiastische Besprechung, in der er die »seelische Schönheit« der Erzählungen betont. Mit seinem Schlusssatz weist er mit einem Bild aus der Märchenwelt darauf hin, dass Buber mit seiner Neuschöpfung eine Valorisierung des bisher verachteten Chassidismus gelungen sei: Durch ihn sei »das Wunder« geschehen, dass »das Aschenbrödel der Kultur, die chassidische Mystik, sich in eine Prinzessin verwandelt«.25 Ähnlich Moritz Heimann, der Lektor des Fischer Verlags, der in seiner Rezension ebenfalls den poetischen Charakter der Erzählungen hervorhebt. Mit ihnen sei ein Anfang gemacht, »über Juden und jüdisches Wesen anders als aus Gründen und zum Zweck des Kampfes zu sprechen«.26

Aber Buber hat zudem mit seinem Buch eine ganze Generation von jungen deutschsprachigen Juden tief beeindruckt und ihre Hinwendung zum Judentum mitbestimmt, wie spätere autobiographische Äußerungen erkennen lassen. Als Beispiele seien hier nur zwei Zeugnisse zitiert, in denen bedeutende Vertreter des Zionismus ihre Sensibilisierung für die Sache des jüdischen Volkes auf die Lektüre von Bubers Buch zurückführen. Salman Schocken, der Warenhausbesitzer und spätere Verleger und Mäzen Bubers, hat als junger Mann unter Berufung auf die Geschichten des Rabbi Nachman den Kontakt zu Buber aufgenommen, woraus sich später, insbesondere nach 1933 ihre äußerst fruchtbare Zusammenarbeit im Schocken Verlag ergeben hat. Mit Datum vom 4. Februar 1914 übersendet er ihm seine zu Chanukka 1913 in der Zionistischen Ortsgruppe Chemnitz gehaltene »Makkabäer-Rede« und schreibt dazu: »Durch ihr Rabbi Nachman-Buch bin ich vor Jahren stark beeinflußt worden. Seitdem habe ich in Verehrung Ihr Schaffen verfolgt. Seitdem bin ich wieder zum lebenden Juden geworden.« Von einem ähnlich tiefgreifenden Einfluss auf die junge Generation berichtet Viktor Kellner, einer der Mitbegründer des Prager zionistischen Studentenvereins Bar Kochba: Buber »hat uns zum lebenden Judentum geführt. […] die Einsichten, die er uns vermittelt hat – ich denke da zuallererst an die wunderbare Einleitung zum Rabbi Nachman, die Bubers spätere jüdische Wesensschau in kristallklarer Form antizipiert – haben unser jüdisches Wesen und Bewußtsein entscheidend beeinflußt.«27

EIN JÜDISCHER »ÜBERMENSCH«: DER BAALSCHEM

Im Juli 1906 – der Rabbi Nachman ist noch nicht im Druck erschienen – arbeitet Buber, der sich während der Ferien mit seiner Frau Paula und den Kindern in Hall in Tirol aufhält, bereits »an dessen zweitem Bande, der ›Die Legende der Chassidim‹ betitelt ist«, und bittet den ostjüdischen Spezialisten für die Geschichte der jüdischen Mystik, Samuel Horodezky,1 um Hinweise auf weiteres Material zu den »Sitten und Gebräuchen« der Chassidim.2 Im selben Brief grenzt er seine eigene Arbeit von aller historischen Gelehrsamkeit ab und formuliert zum ersten Mal ausdrücklich seine künstlerische Wirkintention. Es gehe ihm darum, »eine neue synthetische Darstellung der jüdischen Mystik zu geben, sowie diese Schöpfungen selbst dem europäischen Publikum in einer künstlerisch möglichst reinen Form bekannt zu machen«. ( B 1. S. 244)

Gegen Ende desselben Jahres betont Buber in einem Brief an seine Frau Paula die Absicht, »die Legenden recht schnell fertig zu machen«, und nennt als Termin für die Absendung des Manuskripts an den Verlag »spätestens« den 10. Dezember 1906. Im gleichen Brief kündigt er an, er werde ihr in einigen Tagen mehrere Geschichten schicken, »deren Motive […] recht roh sind und unbedingt veredelt werden müssen«. (B 1. S. 249) Schon daraus geht hervor, dass »ein Teil der Legenden nicht von Buber, sondern von seiner Frau aus dem Rohmaterial nachgedichtet wurde«.3 Der handschriftliche Befund im Martin Buber Archiv stützt diese Aussage: Von den einundzwanzig im Buch gedruckten Legenden liegen für sechzehn Geschichten Manuskripte vor, von denen sechs in der Handschrift Bubers mit kleineren Sofortkorrekturen von seiner Hand ausgeführt sind und vier weitere allein die Handschrift Paula Bubers tragen. Zudem gibt es vier Manuskripttexte Paulas mit handschriftlichen Korrekturen von Martin Buber und zwei, die teilweise in seiner und teilweise in ihrer Handschrift vorhanden sind.4 Aus diesem Befund lässt sich allerdings nicht eindeutig erschließen, welche künstlerische Umformung der von Martin Buber aus dem chassidischen Material übersetzten Geschichten ihm und welche Paula zu verdanken ist.

Allerdings lässt sich an der letzten Geschichte »Der Hirt«, deren Schlussteil in der Handschrift Paulas vorliegt und die in der Druckfassung sich deutlich schlichter darbietet als im Manuskript, vielleicht die Tendenz ablesen, mit der Buber die von seiner Frau geformten Geschichten überarbeitet hat. In dem Abschnitt, in dem der Baalschemins Gebirge zieht, um Mosche, den Hirten, zu suchen, wird seine Wanderung folgendermaßen beschrieben: »Er achtete der Tiere nicht, die aus dem Walde traten mit traulichem Geäuge, da sie seinen Schritt vernahmen, und antwortete dem Zweige nicht, der seinen Arm liebkoste. Ganz in sich gezogen ging er durch den Stolz der Gelände hin. Seine Füsse verspürten den Weg nicht und trugen ihn wie in einem steten Anbeginn.« (MBW 16. S. 321) Dieselben Zeilen lauten in Paulas Handschrift: »Und er achtete des Gevögels und Getieres nicht, das aus dem Walde trat mit traulichem Geäuge, da es seinen Schritt vernahm, und er liebkoste mit nichten den vollen Zweig, der ihm den Arm zärtlich streichelte. Ganz in sich zurückgezogen, einem bange Träumenden gleich ging er durch die schwere, sommerüppige, stolze Pracht der Gelände hin. Seine alten Füße spürten keine Müdigkeiten und trugen ihn unentwegt.«5 Zweifaches fällt an dem Vergleich der beiden Textfassungen auf: Paulas Umformung der einfachen chassidischen Legende ist – insbesondere durch den Gebrauch zahlreicher Adjektive, aber auch durch die Verdoppelung mancher Substantive – weitaus ›poetischer‹ als die Druckfassung, die sich andererseits – so im letzten Satz – gegenüber dem alltäglichen Sprachgebrauch als innovativer erweist.

Der zweite Band von Bubers chassidischen Erzählungen, dessen »Einführung« »Ravenna. Im Herbst 1907« unterschrieben ist und dessen Erstausgabe das Publikationsdatum »20. Februar 1908« trägt, steht als »Mythos« ganz in der Nachfolge und im Geiste Nietzsches.1900, im Todesjahr Nietzsches, in dem Stefan George den Verstorbenen als künftigen Heiland der Welt apostrophiert,6 veröffentlicht Buber in einer Berliner Studentenzeitschrift seinen ersten deutschsprachigen Essay unter dem Titel »Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte«.7 Nietzsche wird darin zum »Seher« stilisiert, der in der geschäftigen und wirren Gegenwart den Menschen den Weg zu weisen vermag, indem er aus jedem Einzelnen »die verborgensten Schätze seiner Individualität« hervorlockt. Noch ganz ohne jüdische Spezifika schreibt er dabei dem Philosophen das Verdienst zu, im Niedergang der modernen Kultur »die Bildsäule des heroischen Menschen, der sich selber schafft«, errichtet zu haben. (MBW 1. S. 150) Der »Übermensch« als Aufgabe und mythisches Vorbild, das ist das Erbe, das Buber mit der Nietzsche-Begeisterung der Jahrhundertwende teilt und das er an den deutschsprachigen Kulturzionismus seiner Zeit weitergibt.8 Nietzsches »Wiedergeburt des deutschen Mythus« will Buber im Baalschem einen eigenständigen jüdischen Volksmythos an die Seite stellen.

In der Person des Begründers des Chassidismus glaubt er die Figur gefunden zu haben, die als heroisches Individuum vollkommener Ausdruck des jüdischen Volksgeistes ist. »Ich baue sein Leben aus seiner Legende auf, in der der Traum und die Sehnsucht eines Volkes sind.« (MBW 16. S. 170) Wie allen restituierenden, rückwärtsgewandten Mythologemen haftet auch Bubers Erzählung der Taten und Leiden des Baalschem etwas Gewaltsames und zugleich Gespenstisches an. Totes wird in ihr zu scheinbarem Leben erweckt. In »drei Kreisen der Weihung« (MBW 16. S. 173) versammelt sie alle Elemente einer mittelalterlichen Heiligenlegende: Krankenheilungen, Totenerweckungen und Lichterscheinungen, Rückzug in die Einsamkeit und Begegnung mit Engeln und Propheten und schließlich die Verklärung des Wundermanns. Wie schon das altertümliche Wort »Weihung«, das über dem allen steht, erkennen lässt, muss diese Erhebung des Zaddik in den Rang einer mythischen Figur zweideutig bleiben.

Als Verkünder einer individuellen »Religiosität« stellt sich Buber bewusst in die Nachfolge der ostjüdischen Mystiker – »ich sage noch einmal die alte Geschichte« (MBW 16. S. 170) – und gegen die Religion des Gesetzes, gegen Tora und Talmud. Damit vollzieht er einen radikalen Bruch mit der deutsch-jüdischen Tradition des neunzehnten Jahrhunderts, die das Judentum als Anerkennung der Einheit Gottes und der Menschheit und als Negation der Vielheit der Natur und der in ihr zum Ausdruck kommenden mythischen Götterfülle verstanden hatte. Die Reinheit des Monotheismus, die Hermann Cohen noch 1918 in seinem Buch Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums als das Auszeichnende der jüdischen Tradition herausstellt, wird so bewusst beiseitegeschoben. Für Buber ist diese seit Mendelssohn im deutschen Judentum vorherrschende Lehre, wie er in einem späteren Aufsatz schreibt, nichts anderes als »ein elender Homunkulus«, eine Ausgeburt »des Rabbinismus«.9 An ihre Stelle setzt er die chassidischen Legenden, die für ihn »Ausdruck der Daseinsfülle« der Juden sind. Pointiert weist er damit dem Judentum den Stellenwert zu, den im kulturellen Bewusstsein des Westens Griechenland als Ursprungsort mythischen Erzählens einnimmt. Ja, die Juden sind nach Buber die besseren Griechen, sind sie doch »vielleicht das einzige Volk, das nie aufgehört hat, Mythen zu erzeugen«. (MBW 16. S. 171)10

Bubers Selbstdarstellung gipfelt in dem Satz: »Meine Erzählung steht auf der Erde des jüdischen Mythos, und der Himmel des jüdischen Mythos ist über ihr.« (MBW 16. S. 171) Kants berühmter Satz von den zwei Dingen, die ihn mit »Bewunderung und Ehrfurcht« erfüllen: »der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir«,11 klingt hier an. Der maßlose Anspruch, der in Bubers Formulierung steckt, gründet auf einem doppelten Irrtum: Er überspielt die historische Distanz, die den in Florenz lebenden Jugendstilliteraten von dem durch die Gemeinde des polnischen Städtchens Międzybórz »alimentierten ›Kabbalisten‹« und Wundermann trennt.12 Zudem wendet er sich an ein deutschsprachiges Publikum, dem die ostjüdische Volksfrömmigkeit alles andere als ein allgemein präsenter Inhalt des kulturellen Gedächtnisses ist, das daher die Erzählungen aus dem chassidischen Milieu auch nur als exotische Kunstliteratur goutieren kann. Doch nirgendwo sonst kommt die ketzerische Haltung Bubers so deutlich zum Ausdruck wie in seinem von pathetischem Sendungsbewusstsein getragenen Manifest, das Die Legende des Baalschem eröffnet. In ihm schlägt er unterschiedslos die Propheten, die Essäer, den »grossen Nazarener«, die als »Volkssage« gedeutete Haggada und die Kabbala der neuen Religion zu. Ihre letzte Gestalt habe sie im Chassidismus gefunden, der den Sieg des »unterirdischen Judentums« verkörpere und als dessen Erneuerer Buber schließlich sich selbst sieht. (MBW 16. S. 172)

Martina Urban, die sich in ihrem Buch Aesthetics of Renewal ausführlich mit der Legende des Baalschem auseinandergesetzt hat,13 weist sie der Gattung der »jüdischen Anthologie« zu, wie sie gleichzeitig in den Werken Shmuel Joseph Agnons oder Samuel Horodezkys zu finden sei. Von Buber sei sie in den Dienst einer »ästhetischen Erziehung«,14 einer »Ästhetik der jüdischen Erneuerung« gestellt worden.15 Sie sei somit »eine nicht-traditionale Art der religiösen Anthologie«16 und stehe als solche in engstem Zusammenhang mit der deutschen Neoromantik und Lebensphilosophie der Zeit.17 Mit dieser Verschmelzung von »Kritik an der Moderne, ästhetischen Theorien und der Erschaffung einer unverwechselbaren jüdischen Moderne« habe Buber ein ganz eigenständiges literarisches Genre geschaffen.18

In der Tat, Bubers Buch ist im eigentlichen Wortsinn ein Kunstwerk der Moderne. Die ihm zugrunde liegende Auffassung des Religiösen widerspricht der traditionellen Bestimmung der Religion im Judentum diametral, wenn Buber schon in der »Einführung« seines Buches behauptet: »Die persönliche, ungemeinsame und unzugängliche Religiosität der Einzelseele hat ihre Geburt im Mythos, ihren Tod in der Religion.« (MBW 16. S. 171) Gegenüber dieser Individualisierung des Religiösen durch den modernen Autor bleibt festzuhalten, dass die Religion des Judentums als Bund JHWH’s mit seinem Volk begründet worden ist. Nur so, in dieser Einbindung ins »goij kaddosh«, ins »geheiligte Volk«,19 vermag der Einzelne, sich seinem Gott zu nähern. Hingegen ist Bubers Begriff von Religiosität in seinem Rückgang auf die Seele des isolierten Individuums ein durchaus christlich moderner. Nicht von ungefähr war er 1904 mit einer Arbeit Zur Geschichte des Individuationsproblemsbei Nicolaus von Cues und Jakob Böhme promoviert worden, (MBW 2.1. S. 75–101) und so kann er denn auch in der



Tausende von E-Books und Hörbücher

Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.