Marxismus und Frauenunterdrückung - Lise Vogel - E-Book

Marxismus und Frauenunterdrückung E-Book

Lise Vogel

0,0
17,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Dieses Buch ist – und das sollte betont werden – ein theoretisches Unterfangen. Es möchte die Problematik der Frauenunterdrückung in einem theoretischen Kontext verorten. Manch einem mag dieses Paket an Konzepten und Analyserahmen […] ziemlich abstrakt vorkommen. Aber so ist es eben. Leben in die Abstraktion kommt erst in der Analyse einer aktuellen Situation, denn es ist die Geschichte, die das Fleisch auf die kargen Knochen der Theorie bringt.« – Lise Vogel Was kann sozialistische Theorie zum Verständnis und vor allem zur Aufhebung der Frauenunterdrückung beitragen? Was haben Marx, Engels und andere Größen der sozialistischen Theoriebildung zur Unterdrückung der Frauen gesagt? Was davon hat nach wie vor Bestand – und wo sind die (zumeist männlichen) Autoren damals zu kurz gesprungen? Inspiriert durch die Zweite Frauenbewegung unternimmt Lise Vogel Anfang der 1980er Jahre den Versuch, eine Theorie der Frauenunterdrückung zu erarbeiten. Sie will die vielfältigen, in verschiedene Richtungen strebenden und sich verzettelnden Diskussionen der sozialistischen Frauen auf ein gemeinsames marxistisch begründetes Ziel hin orientieren. Doch Vogels kritisches Studium früher marxscher Texte sowie ihre – bis heute aktuelle – Analyse der folgenreichen Übernahme von Thesen, die Lewis Morgan 1877 in die Welt gestellt hatte, ergibt eine ernüchternde Bilanz: Fast überall wurde das Thema der Frauenarbeit bzw. der Teilhabe von Frauen am kapitalistischen Reproduktionsprozess vergessen, verschwiegen, ignoriert ... Ergänzt wird Vogels Text aus dem Jahr 1983 durch ihren fast zwanzig Jahre später erschienenen "Nachtrag: Hausarbeit neu gedacht", in dem sie ihre Theorisierung der Reproduktionsarbeit erweitert und überarbeitet. Frigga Haug, die Grande Dame des marxistischen Feminismus in Deutschland, stellt in ihrer Einleitung die Bedeutung des Buches für den deutschen Kontext heraus und nimmt dabei insbesondere Vogels Unvereinbarkeit mit einer eigenständigen ›sozialen Reproduktionstheorie‹ in den Blick. Als Anhang enthält "Marxismus und Frauenunterdrückung" auch die Einführung in die englische Taschenbuchausgabe von Susan Ferguson und David McNally aus dem Jahr 2013.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



In liebender Erinnerung an meine Mutter Ethel Morell Vogel,meine Tante Anna Vogel Collomsund meinen Vater Sidney Vogel M.D.

Lise Vogel, Vorkämpferin der Frauen- und Bürgerrechtsbewegung in den USA, ist emeritierte Professorin der Soziologie an der Rider University in New Jersey und Autorin zahlreicher Bücher und Artikel.

Lise Vogel

Marxismus und Frauenunterdrückung

Auf dem Weg zu einer umfassenden Theorie

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Lise Vogel: Marxismus und Frauenunterdrückung

1. Auflage, Oktober 2019

eBook UNRAST Verlag, August 2020

ISBN 978-3-95405-063-5

© UNRAST Verlag, Münster

[email protected] – www.unrast-verlag.de

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Copyright der Originalausgabe:

Lise Vogel: Marxism and the Oppression of Women.

Toward a Unitary Theory

© Lise Vogel 1983

Copyright der Einführung von Susan Ferguson and David McNally:

© 2013 Koninklijke Brill NV

Copyright des Nachtrags von Lise Vogel: Domestic Labor Revisited

© 2000 Science & Society, S&S Quarterly

Aus dem Englischen übersetzt von

Rhonda Koch, Johannes Liess und Jasper Stange

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: kv, Berlin

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Frigga Haug: Einleitung

Vorwort

Danksagung

Kapitel 1: Einleitung

Teil 1: Sozialistischer Feminismus

Kapitel 2: Ein debattenreiches Jahrzehnt

Kapitel 3: Sozialistischer Feminismus und die ›Frauenfrage‹

Teil 2: Marx und Engels

Kapitel 4: Frühe Positionen

Kapitel 5: Marx: die reifen Jahre

Kapitel 6: Engels: Ein mangelhafter Ansatz

Teil 3: Die sozialistische Bewegung

Kapitel 7: Die Zweite Internationale

Kapitel 8: Auf dem Weg zur Revolution

Teil 4: Von der ›Frauenfrage‹ zur Frauenbefreiung

Kapitel 9: Ein doppeltes Vermächtnis

Kapitel 10: Die Reproduktion der Arbeitskraft

Kapitel 11: Über die Hausarbeit hinaus

Nachtrag: Hausarbeit neu gedacht

Anhang

Susan Ferguson and David McNally:Kapital, Arbeitskraft und GeschlechterverhältnisseEinführung in die Historical Materialism-Ausgabe von Marxismus und Frauenunterdrückung

Anmerkung zu bereits veröffentlichtem Material

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Marxismus und FrauenunterdrückungEinleitung von Frigga Haug

Seit den späten 1960er Jahren kam eine fast utopisch anmutende Bewegung in den weiblichen Teil der Menschheit – zumindest in den meisten Ländern der kapitalistisch-industriellen Welt. Die Umbrüche in den Arbeitsprozessen verunsicherten die Arbeiterbewegung und provozierten Reaktionen, am Alten festzuhalten und das unerwartete Auftauchen der Frauenbewegung als Bedrohung abzuwehren. In allen beteiligten Ländern ging es um einen sozialistischen Standpunkt, um Arbeit und den Ort der Frauen in marxistischer Theorie und den Praxen beider Bewegungen. Um den richtigen Weg zur Frauenbefreiung wurde gestritten über Entfernungen von tausenden von Kilometern, und es schien für mehr als eine Dekade möglich, trotz aller Gegensätze das bis dahin so wenig öffentlich hörbare weibliche Geschlecht zusammenzuschließen für den Kampf um eine andere Gesellschaft. Das meiste der damals geschriebenen und dokumentierten Überlegungen schlummert noch in den Archiven. Einiges wird in den Vielfach-Krisen des globalisierten Hightech-Kapitalismus wieder ausgegraben und zur neuerlichen Prüfung vorgelegt. Dazu gehört der vorliegende Band von Lise Vogel, erstmals veröffentlicht in den USA 1983.

Vogels Projekt ist die Erarbeitung einer Theorie der Frauenunterdrückung, die die vielfältigen, in verschiedene Richtungen strebenden und sich verzettelnden Diskussionen der sozialistischen Frauen auf ein gemeinsames marxistisch begründetes Ziel orientieren kann. Sie kritisiert die Debatten der Frauenbewegung, die mit der Infragestellung der Familie begann, statt sie als Form gesellschaftlicher Reproduktion zu begreifen, sich in der Folge in der Hausarbeitsdebatte ziellos verlor, in der Frage des Sexuellen nicht voran kam und bei all diesen Diskussionen bei der Auffassung landete, dass es die Männer seien, welche die Unterdrückung der Frauen in der Gesellschaft verursachten. Vogel berichtet über dieses Jahrzehnt als Begründung für ihre eigene notwendige Weiterarbeit an Theorie und Praxis einer eigenständigen Befreiungspolitik mit einem sorgfältigen kritischen Studium von Marx. Ihre erste Einmischung erschien in dem auch in Deutschland bekannt gewordenen Buch über die Unglückliche Ehe von Marxismus und Feminismus[1].

Was ist das Besondere an Lise Vogels Buch, das die Mühen einer Übersetzung und erneuten Veröffentlichung lohnt, in einer Gesellschaft und zu einem Zeitpunkt, an dem die Arbeiterbewegung unter vielfältigem Druck eines globalisierten Kapitalismus mit entsprechend entwickelten Produktivkräften steht, die weniger und anders qualifizierte Arbeitskraft erfordern, und bei gleichzeitigem Rechtsruck um ihre politische Existenz ringt und von Frauenbewegung kaum mehr die Rede ist?

So gestellt erweitert sich diese Frage zugleich zu einer nach dem Sinn unserer eigenen Arbeit als linke, als marxistische, als feministische Intellektuelle heute und rückt uns unabweisbar nahe.

Wir können das Buch studieren als Aufforderung, auch unsere eigene Geschichte als marxistische Feministinnen in den vielfältigen Kämpfen und Zweifeln zu erinnern und ebenfalls zu dokumentieren. Es eignet sich als Prüfstein, als Kritik und als Ermutigung für die Erarbeitung der Fundamente einer Zusammenfügung der Beiträge der Intellektuellen, die aus der internationalen Frauenbewegung noch aktiv sind.

Lise Vogel arbeitet in den achtziger Jahren unerschrocken als Marxistin, also auf Grundlage der marxschen Theorie, die ihr das Werkzeug zum Begreifen kapitalistischer Produktionsverhältnisse in die Hand gibt. Sie sucht die Zersplitterung und auch Enttäuschungen der sozialistischen Feministinnen, die Marx zu studieren begonnen haben, ihre Fragen nicht beantwortet zu finden, so zu bündeln, dass sie den Ort, an dem das weibliche Geschlecht in den kapitalistischen Produktionsprozess eingeschlossen ist, als Unort, als großes Vergessen in der Kritik der politischen Ökonomie aufspürt. Dafür liest sie sorgfältig politisch-ökonomische Frühschriften von Marx und verfolgt die Fortschritte in der Begriffsbildung. Sie studiert die Zusammenarbeit mit Engels und die Entstehungsbedingungen seines für die sozialistische und die Frauenbewegung einflussreichen Werkes über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats als eine einzige Hetze zwischen den vielen politischen Aufträgen als Kopf der Internationale und der Herausgabe des Kapitals und darin eingeschlossen die Lektüre der ethnologischen Exzerpt-Hefte von Marx, was beide zu einer unkritischen folgenreichen Übernahme der Morganschen Untersuchungen brachte. Dies betrifft u.a. die Entwicklungsgesetze, die Frage des Fortschritts, die Folge der Formationen, die Rolle der Frauen. Ihre anschließende Morgankritik bleibt für marxistische Arbeit so dringlich und aktuell wie ihr sorgfältiges Verfahren der Überprüfung der jeweiligen Entstehungen der einzelnen Texte und ihrer oft tagespolitischen Bedingungen.

Sie liest schließlich das Kapital Satz für Satz und stellt jeweils die allen verständlichen Fragen, wie Bertolt Brecht sie in Weiterführung von Rosa Luxemburg aufwirft, ob Alexander der Große etwa, der die vielen Länder sich unterwarf, nicht wenigstens einen Koch bei sich hatte. Diese sorgfältige Lektüre, die zugleich theoriekritische Fragen formuliert und didaktisch ganz einfach verfährt, ist als Verfahren zur Nachahmung unbedingt aufhebenswert.

Vogel folgt Marx, indem sie vom Standpunkt der gesellschaftlichen Reproduktion ausgehend prüft, ob der Kapitalismus zu seiner eigenen Reproduktion die Frauenunterdrückung braucht. Die marx-kritische Lektüre führt nicht allein zu einer Bejahung dieser Frage, sondern kann zugleich damit die Debatte um die Hausarbeit, also die Fragen um »wertschaffende« und »produktive« vs. »unproduktive Arbeit« mit der überraschenden Auskunft beenden, dass Hausarbeit in kapitalistischen Gesellschaften beides ist, sowohl produktiv als auch konsumtiv, sowohl wertschaffend als auch nicht – je nach historischen Umständen. Die Behauptung und Begründung des Ernährerlohns, der für die Reproduktion der Arbeiterklasse als Ganze die Politik und Ideologie auch der Arbeiterbewegung bestimmte, habe aber vielmehr dazu geführt, dass sämtliche gesellschaftlichen Arbeitstätigkeiten der Frauen als Nebentätigkeit, als Zuverdienst, als mitschaffend im Familienbetrieb, also als vorübergehend statt als Teilhabe an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit verstanden und gewertet wurden. Während dieser Zusammenhang das kulturelle Klima bestimmte, in dem die Geringschätzung der Frauenarbeit gedeihen konnte, gilt Vogels Hauptargumentation der Herausarbeitung eines spezifischen Widerspruchs in der kapitalistischen Produktionsweise, der aktuell bleibt. Die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit ist darauf gerichtet, Arbeit einzusparen, wie Marx ausführlich zeigt. Das betrifft die Verbilligung der Lebensmittel zur Erhaltung der Arbeitskräfte ebenso wie die Reduktion der Arbeitszeiten. Vogel folgt dieser Entwicklung in Bezug auf die häuslichen Tätigkeiten, die so weit als möglich eingespart werden durch Auslagerung und Industrialisierung der Nahrung selbst, nicht nur in Restaurants und in Fastfoodketten, sondern auch in der Rationalisierung von Einkäufen in Supermärkten usw., eine Entwicklung, die alle erfahren haben. Kurz, die Entwicklung im Nahrungsmittelsektor, von Haushaltsmaschinen zur Zeiteinsparung sucht die häuslichen Arbeiten möglichst einzuschränken, nicht zuletzt, um die freiwerdende weibliche Arbeitskraft in die Lohnarbeit zu verpflichten, in die sie ohnehin streben muss, da niemals eine Arbeiterfamilie von nur einem Lohn leben konnte. Gleichzeitig braucht das Kapital die Arbeitskraft täglich ausgeruht, gesund und arbeitsfähig, kurz, es ist auch interessiert an einer guten familiären Versorgung. So kommt es zu dem Widerspruch, dass das Kapital zu seiner Reproduktion die Hausfrauen zu Hause ebenso braucht wie dieselben als Lohnarbeiterinnen mit eigenem Lohn. Das erlaubt es zugleich, den Lohn der männlichen Arbeiter herabzudrücken, kurz, das Kapital kauft lieber zwei Arbeitskräfte für das gleiche Geld. Vogel erinnert, dass die Arbeiterklasse ja nicht nur aus erwachsenen Arbeitenden besteht, sondern hinzu kommt, dass diejenigen, die noch nicht oder nicht mehr im gesellschaftlichen Produktionsprozess sind oder aus Krankheitsgründen oder Behinderung nicht in die gesamtgesellschaftliche Arbeit eingeschlossen sind, dennoch als Teil der arbeitenden Klasse reproduziert werden müssen. Die gleichberechtigte Vergesellschaftung aller Tätigkeiten findet ihre Grenze an der Gebärfähigkeit der Frauen und den dazugehörigen Grenzen der vollen Ausnutzung ihrer Arbeitskraft auf Kosten der Reproduktion der Arbeiterschaft als Ganze; als Perspektive bleibt die gleiche Verteilung der häuslichen Arbeiten als ein Ergebnis von Kämpfen sowohl der Klasse als auch der Geschlechter. Solche Verteilung sollte auf jeden Fall Element der Frauenbewegungspolitik sein. Indem sie durch den Doppelcharakter der häuslichen Arbeit im weitesten Sinn, also aller fürsorgenden Arbeiten bestimmt sind, finden sich Frauen an strategischer Stelle in den Widersprüchen des Kapitals, das unaufhörlich den Boden unterwühlt, auf dem es gedeiht. So ebnet Vogel dem internationalen marxistischen Feminismus auch aktuell den Weg, sich als transformative Kraft zu erkennen und die Widersprüche seiner eigenen Lage als Triebkraft zu nutzen.

Der Zeitpunkt für diese Veröffentlichung in deutscher Sprache ist günstig. Einerseits ist die Dominanz des anglophonen feministischen Marxismus ein Hindernis für den internationalen Zusammenschluss der marxistischen Feministinnen, der im Jahr 2015 mit einer Konferenz in Berlin begonnen wurde, zu der mehr als 600 Frauen aus 16 unterschiedlichen Ländern kamen. Diese Organisierung konnte fortgesetzt werden in Wien 2016 mit mehr Frauen aus dem globalen Süden und wieder zwei Jahre später in Lund in Schweden 2018; in Vorbereitung ist die vierte Konferenz in Bilbao in Spanien 2020. Immer aber gibt es Protest gegen die anglophone kulturelle Bevormundung, die an Kolonialismus gemahnt; zugleich ist Englisch die einzige Sprache, in der sich alle zur Not verständigen können und daher müssen. In dieser Lage hilft jede Übersetzung aus dem Englischen in eine andere Sprache, vor allem die in die Sprache von Marx und seiner Begriffe, den Boden für die gemeinsame Bearbeitung fruchtbar zu machen. Für die deutschsprachigen marxistischen Feministinnen bedeutet dies, dass die gemeinsame theoretische Grundlage immer wieder geprüft und kritisch weiterentwickelt werden muss, sie also verantwortlich herausgefordert sind.

Dafür ist das Buch von Lise Vogel wegen seiner Vorgehensweise, die dialektische Methode auf Marx selbst kritisch zu nutzen, hervorragend geeignet. Ihr Ausgangspunkt sind die Widersprüche in der wirklichen Entwicklung ebenso wie in ihrer theoretischen Erkenntnis als Triebkraft der Veränderung. Daher bietet die Übersetzung in die deutsche Sprache vielen, die des Englischen noch nicht so mächtig sind, dass sie einer theoretischen Diskussion ohne weiteres folgen und an ihr teilnehmen könnten, die Möglichkeit, sich einzumischen und den gemeinsamen feministischen Marxismus zu stärken.

Genau an dieser Stelle aber beginnt eine Tragödie, die zu einer folgenreichen Verwirrung sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache geführt hat: die Ausrufung einer »neuen sozialen Reproduktionstheorie«, die sich auf Lise Vogel als ihre Begründerin beruft und es längst in die sozialen Medien, in Wikipedia und Google geschafft hat, große Konferenzen durchzieht, mit dem Effekt, keineswegs einen lebendigen Marxismus zu stärken und feministisch weiterzuentwickeln, sondern der Gefahr, ihn zu spalten.[2] Solches geschah ohne ihr Zutun mit Lise Vogels Buch, ausgelöst durch die Übersetzung/Nicht-Übersetzung des Kernpunkts ihrer Arbeit und seiner Vorstellung durch sie selbst auch in Konferenzen und Kongressen mit der knappen Zuspitzung, dass der Gegenstand ihrer Marxlektüre auf der Suche danach, wo Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie im Kapital bei der Bestimmung, wie die Reproduktion der Arbeitskraft gesellschaftlich (»social reproduction«) organisiert sei, den Anteil der Frauen vergessen und verschwiegen hat.

Übersetzen ist eine große Kunst, braucht es doch eine Kenntnis der Kultur, in der die Sprache zu Hause ist, wie ebenso derjenigen, in die sie übersetzt wird, und die Kreativität, eine Sprache zu finden, welche die Ungleichheiten der Kulturen nicht einebnet, sondern selbst zur Sprache bringt. Gerade diese Notwendigkeit und dieser Zusammenhang ist durch die Dominanz der anglophonen Kultur und der Bedeutung des Englischen als Sprache für alle ins Zwielicht einer massenhaften Veränderung der Sprachgewohnheiten zumindest im Deutschen geworden. Das heißt: Man übersetzt ganz viele Begriffe gar nicht mehr, sondern übernimmt sie einfach – entweder, indem die deutsche Sprache mit lauter englischen Worten gespickt wird und sich als stets ›up to date‹ auszeichnet, wer seine Reden auch im Alltag Englisch durchsetzt, oder sei es, dass Begriffe, die sich auch, allerdings mit erheblich anderer Bedeutung, im Deutschen finden, einfach nur wörtlich übernommen, aber nicht wirklich ›übersetzt‹ werden.

Die schwerwiegenden Folgen, die eine fahrlässige Übernahme von gleichklingenden Worten in eine andere historisch gewachsene Sprachkultur hat, treten angesichts des Auftauchens einer »neuen sozialen Reproduktionstheorie«, die sich auf Lise Vogels Buch beruft und von daher ihre Autorität nimmt, deutlich zutage. Die Flüchtigkeit in Engels Schriften, der Vogel ebenso folgenreiche Behauptungen zu Entwicklung und Fortschritt in der Menschheitsentwicklung zuschreibt, hat auch ihr Buch eingeholt.

Dies jedoch wurde mir erst klar, nachdem der Verlag mich gebeten hatte, eine Einleitung beizusteuern, die Vogels Buch in den deutschsprachigen Kontext einordnet.

Als ich sah, dass in einer ersten Fassung der Übersetzung der englische Begriff social[3] immer dann mit »sozial« übersetzt worden war, wenn es um die Reproduktion der Lohnarbeiter ging, bezichtigte ich die Übersetzer, auf diese Weise einen Mythos zu schaffen, eine neue Legende, die den Kern von Vogels Anliegen und Buch betrifft. Dabei gab es in der Wirklichkeit längst diesen Mythos, diese Legende, es handele sich um eine »neue soziale Reproduktionstheorie«, er war zu einem ›Hype‹ geworden, was in der neoliberal aufgewühlten Theorie-Landschaft zum Erfolg führt und zur schnellen Verbreitung, gerade wenn es unter dem Etikett »neu« läuft.

Statt mich bloß darauf zu verlassen, dass ich Marx, das Buch von Vogel und die Autorin selbst gut genug kenne, hätte ein Blick in Google oder Wikipedia genügt, um zu sehen, dass diese Geschichte seit 2015 läuft und spätestens 2017 an Fahrt gewonnen hat. Und erst jetzt erkannte ich die Ironie der Geschichte, dass wir selbst, die Verantwortlichen für den ersten internationalen marxistisch-feministischen Kongress in Berlin, auf dem Lise Vogel dieses Buch in ihrem Vortrag vorstellte, durch die von Argument verantwortete Übersetzung der Kongressmaterialien und ihre Publikation in dem Doppelheft 314, 2015 erschienenen »Wege des Marxismus-Feminismus« die Tore für die Botschaft einer neuen »sozialen Reproduktionstheorie« geöffnet hatten, die bald Anhänger fand. Sie wurde in diesem Sinn auf der Tagung von historical materialism in London 2017[4] begrüßt, für die die Einleitung von McNally und Ferguson längst das Gesamtbuch als »social reproduction theory« annonciert hatte und den Weg geebnet für einen social reproduction feminism, der an die Stelle eines marxistischen Feminismus rücken konnte. Vogels Buch erhielt 2018 heftige Kritik der trotzkistischen Marxistinnen, die aber wiederum die verheerende Wirkung, die dies unter den deutschen Marxistinnen und offenbar auch unter anglophonen hat, nicht berührt, sondern die Begründung der Doppelstellung der Frauen im kapitalistischen Produktionsprozess mit der Gebärfähigkeit der Frauen für die Reproduktion der Lohnarbeiter kritisiert.[5]

Es führt nämlich, zusammenfassend gesprochen, die ganz und gar unbegründete Behauptung einer neuen »sozialen Reproduktionstheorie« (wegen des häufigen Gebrauchs jetzt abgekürzt allgemein SRT geheißen) notwendigerweise dazu, ein Geheimnis, eben einen neuen Mythos unter dem Namensschild Vogel zu schaffen, der die Spuren zu Marx ebenso verdeckt und verschüttet wie den wirklichen Beitrag Vogels zum feministischen Marxismus. Politisch droht dadurch eine Spaltung unter den feministischen Marxistinnen selbst, mit SRT-Vertreterinnen auf der einen Seite und solchen, die mit meinem Namen (Haug) verknüpft, die Auffassung vertreten, dass Geschlechterverhältnisse Produktionsverhältnisse sind und von dort weiterarbeiten. Die Folge wäre sogar eine doppelte Spaltung: die unter den nicht sehr zahlreichen deutschsprachigen Marxistinnen und die zwischen Lise Vogel, meiner Mitstreiterin in den internationalen feministisch-marxistischen Kongressen, und mir, sodass wir am Ende allesamt in Gegnerinnen verwandelt würden.

Nach diesen Einsichten, die mich durch einige Krisen trieben, und unendlich viel Arbeit, in deren Verlauf ich mehrfach versucht war, das Projekt der Einleitung in dieses Buch aufzugeben, tat ich das Nächstliegende am Ende, ich schrieb nämlich an Lise Vogel das ganze Dilemma mit der Übersetzung und schilderte ihr die Folgen des Mythos von der neuen Theorie. Sie antwortete sogleich: Das Buch handele von der »gesellschaftlichen Reproduktion der Arbeitskraft im gesamt-kapitalistischen Akkumulationsprozess«, außerdem habe sie »social reproduction« niemals für sich alleine gebraucht, sondern stets mit dem Präfix »capitalist« oder »overall« oder »total«. Und keineswegs habe sie etwas »Neues« erfinden wollen, auch keine Theorie, sondern innerhalb des Rahmens marxscher Kritik der politischen Ökonomie die feministischen Fragen verorten.[6]

Überlegungen zur Übersetzung der Kategorie sozial im Deutschen

Wenn man das englische social (wobei ich nicht weiß bzw. kein Gefühl dafür habe, welche Reichweite dieses Wort im Englischen und Amerikanischen hat), wenn man es also im Deutschen mit sozial übersetzt, setzt man an strategische Stelle nicht einen Begriff, in dem Sinn, dass es etwas Begriffenes ist, sondern man nimmt eine Kategorie (Kategorie im marxschen Gebrauch), die mindestens in drei ganz verschiedene Zusammenhänge weist.

Zunächst stößt man darauf, dass es für das englische social im Deutschen zwei mögliche Übersetzungen gibt: sozial und gesellschaftlich je nach Kontext. Jetzt kommt es darauf an, den Kontext zu begreifen und das jeweils passende Wort zu wählen. Dies aber ändert selbst seine Bedeutung im historischen Prozess. Gedankenarbeit und Geschichtskunde sowie ein Gespür für kulturelle Gewohnheiten sind gefragt. Die Bedeutung von gesellschaftlich bezieht sich auf die gesamte Gesellschaft, sie ist nicht so flatterhaft wie die von sozial. Meist ist das Wort sozial wertend gemeint. Es verweist auf einen Mangel, etwas, das durch Reformen, durch Gesetze, durch Verbesserungen auch institutioneller Art geändert werden muss und kann. Es ist ein Auftrag an die Politik, für Reformen zu sorgen. Es soll keine Dauer haben. In dieser Weise sind die Berichte von Engels zum Beispiel zur Sozialen Lage der Arbeiterklasse, die auch in Marx’ Kapital eingingen, solche, die Verhältnisse innerhalb des Kapitalismus dokumentierten, die zur Veränderung durch Reformen, durch Gesetzesänderungen aufriefen. Im Kampf um diese Reformen gründete sich die sozialdemokratische Partei, die eben auch die Partei von Marx und Engels und Luxemburg war, die in diesem Zusammenhang von den »sozialen Garantien des Lebens« sprach. Es bezieht sich auf die sozialen Bedingungen, ein Dach über dem Kopf, genügend zu essen, Gesundheitsversorgung, Arbeitsplatz und dergleichen. Reichweite und Größe sind ständiges Ziel der Kämpfe in der Arbeiterbewegung. Das Resultat bezeichnet Marx als »historisch moralisches Niveau«, ein Ausdruck, der zugleich das Umkämpfte, wie die Veränderbarkeit, wie den Bezug zu Arbeiterkämpfen fassen kann. Die Verwendung verengt sich schon in der Arbeiterbewegung auf Reformen, sprengt diesen Rahmen bei den Klassikern und Luxemburg in Richtung auf gesamtgesellschaftlichen Umsturz, auf notwendigen Bruch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Kurz, auch die Bedeutungen der Kategorien ändern sich mit den Verhältnissen, den historischen Kämpfen und ihrem Begreifen. Die heutige sozialdemokratische Partei in Deutschland steht für soziale Reformen und bestimmt damit das Verständnis der Kategorie, ebenso wie die Partei Die Linke.

Aktuelle Beispiele sind zahlreich: In der Stadt ist ein sozialer Brennpunkt ein Viertel, in dem Arme und Obdachlose, Migranten ohne Asyl hausen und bei Nacht niemand durchgehen mag, am Tage Rauschgift gehandelt wird, die Schulen schlecht sind, die Kinder ohne notwendige fürsorgliche Aufsicht, die Lehrer überfordert usw. Sozialhilfe bekommen die ganz Armen, wenn die Arbeitslosenversicherung nicht ausreicht. Sozialarbeit, das ist ein eigener Beruf, sind Reparaturarbeiten an Menschen, die irgendwo durchs Netz der Sicherungen des Normalen gefallen sind; allerdings kämpfen die Sozialarbeiterinnen auch darum, diese Arbeit selbst perspektivisch in Richtung Emanzipation auszuweiten, wie auch die meisten sozialen Fragen schnell an die Grenzen stoßen, die, von Reformverlangen ausgehend, ausgreifen müssen auf übergeordnete Strukturen und Zwänge, die sie wiederum ins Gesamtgesellschaftliche stoßen, das zur Reform ansteht, die so nicht mehr genannt werden kann – man scheut das Wort Revolution, aber Umsturz oder radikale Reformpolitik oder revolutionäre Realpolitik, wie wiederum Rosa Luxemburg vorschlägt, sind angemessen. Die meisten Kämpfe in der Welt heute sind Kämpfe um soziale Rechte als Menschenrechte.

Dies ist die Hauptrichtung. Sozial ist in dieser Weise kein Perspektivbegriff wie gesellschaftlich, bei dem man marxistisch die volle Vergesellschaftung anzielt und mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel beginnt, sondern etwas hoffentlich Reparierbares, das nicht in die jetzige kapitalistische Gesellschaft und schon gar nicht in eine zukünftige Gesellschaft gehört. Und doch …

Denn die zweite, ebenfalls übliche und jetzt positive Konnotation oder Verknüpfung liegt auf der Gegenseite des Gewünschten in der vorhandenen kapitalistischen Gesellschaft, nämlich dass man sich dort so verhält als Individuum, dass man die anderen nicht schädigt, sondern im Gegenteil die Beziehungen zwischen den Menschen angenehm gestaltet. Diese Verwendung gehört hauptsächlich in die Pädagogik, also in die Erziehung zu gutem Sozialverhalten. Das Gegenteil, unsoziales Verhalten zeugt von egoistischem, schlechtem Charakter. Als Erziehungsziel ist dies verflacht zu einem Dressurakt und berührt die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse nicht. So hat es mit dem marxschen gesellschaftlich wenig zu tun und doch sind auch hier die Übergänge fließend, denn eine sozialistische oder gar kommunistische Gesellschaft ist in Perspektive als eine gedacht, in der die sozialen Beziehungen unter den Menschen freundschaftlich, liebevoll, fürsorglich erhofft werden. Der Weg von den alten Menschen in den brutalen Konkurrenzverhältnissen des Kapitalismus zu diesen neuen Menschen ist ein Feld voller Widersprüche, die Perspektive bleibt als Vision von einem anderen Leben. Auch diese Kategorie ist in Bewegung.

Die dritte Verwendung gehört insbesondere in die Gesetzgebung und die entsprechenden Institutionen: Die Sozialgesetzgebung regelt, wer Unterstützung bekommen soll und wie viel, was mit Kranken geschieht, mit Behinderten usw., kontrolliert, ob die Kinder nicht verwahrlost werden durch Fürsorge-Institutionen und durchs Jugendamt usw. (Zum Beispiel bekamen meine drei Geschwister und ich als Kriegsweisen während des Studiums Zugang zum Sozialessen, das schlecht, aber umsonst war.) Die soziale Frage, die Bekämpfung der Armut bleibt seit Jahrhunderten politisches Programm ohne nachhaltige Lösung in einem reichen Land unter kapitalistischen Verhältnissen.

Die Aufzählung ist gewiss unvollständig, wird auch immer wieder von mir ergänzt und umgeschrieben. Es fehlen die Verbindungen aus dem akademischen Feminismus von der »sozialen Konstruktion der Personen« usw. usw., aber der Eindruck ist doch vermittelbar, dass die Wortbedeutung von sozial nicht nur vielfältig ist, sondern selber Gegenstand von Klassenkämpfen, von Staatshandeln und von Parteien, von bürgerlichen und marxistischen Theorien, von individuellem Ringen und ihrer Veränderung.

Alle diese Bedeutungen mischen sich ein, wenn man ernsthaft eine Theorie sozialer Reproduktion entwickeln wollte, was Lise Vogel ja gar nicht vorhat. Aber in den Diskussionen etwa auf der Konferenz von historical materialism 2017 meldeten sich schon die Verkünder eines social reproduction feminism und verschiedene Vertreter für soziales Handeln aus alternativer Pädagogik, Psychologie und Politik und hielten die entsprechenden Vorträge, die nun allesamt genutzt werden können, dieser neuen Theorie ein Fundament historischen Gewordenseins zu bauen, während die trotzkistische Kritik an Vogels Buch noch zweifelt an der biologischen Grundannahme, dass die Gebärfähigkeit der Frauen für die Reproduktion der Lohnarbeiterklasse und damit für die marxsche Analyse derselben elementar und wichtig sei. So wird das Chaos um den Gegenstand überhaupt der Diskussion und der Kritik größer. Ein Grund mehr, sich das Buch selbst anzueignen und einer sorgfältigeren Übersetzung marxscher Begrifflichkeit zu folgen.

Zur Auftreffstruktur und der besonderen Geschichte des Marxismus in der BRD[7]

Als das Buch von Lise Vogel 1983 in den USA erschien, waren die deutschen marxistischen Feministinnen in der ungleich anderen Lage, dass der Marxismus von den Universitäten durch Berufsverbote längst vertrieben war, man als Marxistin gar keinen Lehrstuhl und also auch keine Möglichkeit der Lehre hatte. Das Land war geteilt, im sowjetisch kontrollierten Teil gab es den Marxismus-Leninismus (ML), der in dogmatischer Rigidität alles Leben aus dem Marxismus gestrichen hatte, vor allem die Philosophie der Praxis von Antonio Labriola, der noch als Zeitgenosse und Korrespondent von Engels als notwendige marxistische Philosophie, die Philosophie der Praxis für den Marxismus begründet und gefordert hat. Er geriet ebenso in die Ecke des strategischen Verschweigens wie später Rosa Luxemburg. Die Kommunisten und Sozialdemokraten waren in den Lagern des Faschismus umgekommen, einige emigriert, so die Vertreter der Kritischen Theorie in Frankfurt. Nach Gründung der BRD wurde die kommunistische Partei verboten; eine mit dem Grundgesetz der neuen BRD vereinbare, also nicht auf Umsturz sinnende andere Kommunistische Partei, die DKP wurde unter sowjetischem Protektorat neu installiert, um eben dem ML auch in Westdeutschland eine Existenz zu ermöglichen. Die Partei war zugelassen, ihre Wahlergebnisse lagen zwischen ein und zwei Prozent, außer in einigen Kommunen und auch Universitäten, wo die Beschäftigung mit Marx nach Gründung der BRD selbst begann – wie etwa in Marburg/Lahn, wo Wolfgang Abendroth die Geschichte der Arbeiterbewegung mit großem Einfluss auf die Studierenden schulbildend lehrte, in Frankfurt, in das Adorno und Horkheimer zurückkehrten und in einigen anderen Städten wie etwa wenig später am Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaften in Berlin. Zwei große Erschütterungen des kalten Klimas in der BRD waren die 68er-Bewegung – die hier etwa 1965 begann – und der Eurokommunismus. Zur 68er-Bewegung wurde viel veröffentlicht, da sie im vorigen Jahr 50jähriges Jubiläum hatte; interessant ist hier für die Frage der Lage des Marxismus in der BRD, dass in der Folge des Protestes der Jugend gegen die Wiedereinsetzung der Professoren und Lehre aus dem Faschismus, die gesamten bürgerlichen Wissenschaften unter Verdacht gerieten und neu begründet werden mussten. Hierfür brauchte es marxsches Denken und Erkenntnisse. Überall entstanden Kapitalkurse – vor allem an den schon genannten Universitäten. Wolfgang Fritz Haug etwa begann an der Freien Universität mit Kapitalkursen 1971, die bis 2001 anhielten und in denen unter 150 Tutoren etwa 5.000 Studierende aus den deutschsprachigen Ländern, also auch aus Österreich und der Schweiz, das Kapital studierten. In bürgerlicher Natürlichkeit wurde diese Lehre nicht mit den nötigen Mitteln ausgestattet; das gilt für alle Kapitalkurse an allen Universitäten, die selbstorganisiert von unten sich wie Graswurzeln verbreiteten. An der FU Berlin wurde die Psychologie in zwei Institute gespalten, um die studentische Unruhe zu befrieden. Im linken Institut begann Klaus Holzkamp mit Studierenden, einschließlich des Verwaltungspersonals, eine neue marxistische Subjektwissenschaft zu begründen, in der wir (ich eingeschlossen) unsere jeweiligen Spezialbereiche marxistisch, also historisch-kritisch lehrend und forschend neu aufbauten. Das gesamte Institut war in großartiger Neuarbeit. Ich selbst gründete mit einigen engagierten Studierenden das Projekt Automation und Qualifikation, das über zehn Jahre lang erfolgreich, also nachhaltig die Folge der Computerisierung der Arbeitswelt theoretisch und empirisch erforschte. Man kann diesen Prozess in einigen Veröffentlichungen nachvollziehen. Allen Initiativen und Aneignungen marxscher Theorie war gemein, dass sie gegen die alten Autoritäten gerichtet waren, gegen die bürgerlichen Wissenschaften und für Selbstbestimmung stritten.

Unter dieser Prämisse leitete der Eurokommunismus, der in den achtziger Jahren die europäischen kommunistischen Parteien und ihre Denkapparate erschütterte, die Absage ein gegen den ML, gegen das Konzept der Diktatur des Proletariats, gegen das Avantgarde-Denken. In diesem Gefolge entwickelte sich die westdeutsche Frauenbewegung. Die internationalen feministischen Diskussionen wurden mangels eigener Schriften aufgeregt studiert, die gleichen Debatten geführt, mit denen Lise Vogel ihre Diskussion um Theorie und Politik der Frauenbewegung begann. Die feministisch-marxistischen Veröffentlichungen, insbesondere aus den USA, aus England, aus Frankreich, aus Italien, wurden von uns gleich nach Erscheinen begierig aufgenommen. Eine erste zusammenfassende Aneignung der umfangreichen Literatur, die begrifflich scharf gefasst und bis heute lehrreich zu lesen ist, findet sich schon 1984 in dem Buch Geschlechterverhältnisse und Frauenpolitik, herausgegeben von Projekt sozialistischer Feminismus, in der auch Lise Vogels erster Text aufgenommen ist.

Aber durch die bedeutende Rolle der italienischen kommunistischen Partei mit Antonio Gramscis Gefängnisheften[8] und dem Studium seiner dort verfassten Vorschläge zur Erneuerung des erstarrten ML und seiner Politik, kam eine Ernte aus dem Marxstudium weniger über Althusser wie in den anglophonen Ländern, sondern durch Gramsci als »kulturtheoretische Wende«. Kultur begriffen als das Gesamt der Arbeits- und Lebensweise und die Produktionsverhältnisse auch als Produktionsstätten von Subjekten als Mitgliedern der Gesellschaft. Eine Politik des Kulturellen wurde entwickelt, die bis heute die Fragen von Hegemonie, Macht und Herrschaft durch Besetzung und Durchquerung großer Bereiche mitbestimmt oder unterwühlt.

Im Argument gründete sich eine autonome Frauenredaktion, die anfangs 28 Redakteurinnen hatte und alle Bereiche der Wissenschaften feministisch aufzuarbeiten sich anschickte; sie besetzte den Büchermarkt durch Eröffnung einer feministischen Krimireihe (Ariadne), die anfangs die Normen des Heterosexuellen und der entsprechenden Frauenbilder zersetzte und bis heute mit großem Echo das Politische in den Ländern der Welt mit neuartigen Methoden und Forschungen durchquert.

Diskussionen um marxsche Theorie selbst wurden geführt in der Zeitschrift Das Argument und der Schwesterzeitschrift New Left Review, ab 1980 durch die ›Bielefelderinnen‹ in eigener Zeitschrift[9] und 1985 mit gleichzeitigem Auszug aus dem universitären Umfeld von Christel Neusüß mit ihre Buch Die Kopfgeburten der Arbeiterbewegung oder Die Genossin Luxemburg bringt alles durcheinander.

Aus dem Argument wurde das Berliner Institut für Kritische Theorie – mit Nähe und mit durch Marx, Gramsci und Labriola grundierte Distanz zum Frankfurter Institut für Kritische Theorie –, in dem vor 35 Jahren, ohne Parteinähe und unter keinem außerwissenschaftlichen Diktat das große Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus begann, von dem bislang 11 Bände erschienen sind.[10] In der Wörterbuchwerkstatt und den jährlichen internationalen Tagungen gibt es eine feministische Sektion, die schwierig daran arbeitet, die historisch-kritischen und also mit männlichen Vorteilen oder Schweigen durchsetzten relevanten Stichworte zu erarbeiten oder mit neuen wie Frauenbewegung, Abtreibung, Hausfrauisierung zu ergänzen. In diesem Kontext begannen wir mit den internationalen marxistisch-feministischen Kongressen und Konferenzen, zu denen auch Lise Vogel stieß. In diesem Kontext auch kam ich bei der Erarbeitung der Stichworte um gesellschaftlich notwendige Arbeit und um Mehrarbeit darauf, genau wie Lise Vogel im vorliegenden Buch, dass in diesem Verhältnis Frauenpolitik eine begründbare kritische feministische Politik neu entwickeln muss und dies ihre transformative Kraft ausmacht. Ich trug dies auf der Tagung 2018 in Lund vor, abgedruckt im Tagungsband als ZED-book und im HKWM Band 9.

Diese Verbindung kann der produktiven Aufnahme der Arbeit von Lise Vogel in ihrem Buch nützen, die durch die gramscianische Wende zu einem marxistischen Denken von Widerstand und zu den Subjekten, mit der weitverbreiteten Erinnerungsarbeit als Ergebnis der Arbeit mit den Feuerbachthesen von Marx sonst nicht leicht wäre. Aber der Hype um die »soziale Reproduktionstheorie« wird alle Beteiligten neugierig machen auf das Buch selbst. So ist es eine weitere Ironie der Geschichte, dass gerade diese Verfehlung ihres Buches in der Andersartigkeit des westdeutschen Marxismus die Aufnahme und Lektüre des Buches von Vogel fördern und also dazu führen wird, ihre wirklichen Erkenntnisse zu rezipieren und ihre genaue philologische Arbeit mit Marx als Ansporn zu nehmen, Marx genauer kritisch zu studieren, mit ihm weiterzuarbeiten und ihn dabei seinem eigenen Zweifel auszusetzen, mit Widersprüchen zu beginnen und Wege zur Transformation zu suchen.

 

Frigga Haug Los Quemados, August 2019

Vorwort

Dieses Projekt begann vor mehr als zehn Jahren. Wie bei vielen anderen Frauen in den späten 1960er Jahren fiel mein Engagement für die aufkommende Frauenbewegung mit meiner Entdeckung der marxistischen Theorie zusammen. Zunächst dachten viele von uns, man brauche die marxistische Theorie einfach nur zu erweitern, um sie für unsere Anliegen als Frauenbewegung nutzbar zu machen. Schnell merkten wir jedoch, dass dieser Ansatz viel zu mechanisch war und vieles unbeantwortet ließ. Die marxistische Theorie, die wir vorfanden, und auch das sozialistische Vermächtnis an Werken zur Unterdrückung der Frauen bedurften einer grundlegenden Umgestaltung. Einige wandten sich aufgrund dieser Erkenntnis vollständig vom Marxismus ab. Andere blieben bei dem Versuch, von der marxistischen Theorie Gebrauch zu machen. Sie verfolgten nun das Ziel, die Unzulänglichkeiten der sozialistischen Tradition durch eine ›sozialistisch-feministische‹ Synthese zu überwinden. Obwohl ich mit diesem Ansatz sympathisierte, verfolgte ich weiterhin das ursprüngliche Vorhaben, die marxistische Theorie zu erweitern. Dafür war es jedoch notwendig zu untersuchen, was marxistische Theorie überhaupt ist. Überdies machte mir eine gründliche Lektüre der wichtigsten Texte des 19. Jahrhunderts zur sogenannten ›Frauenfrage‹ klar, dass die theoretische Tradition äußerst widersprüchlich ist. In den vergangenen Jahren habe ich mich mit diesen und damit verbundenen Problemen auseinandergesetzt. Dieses Buch ist das Ergebnis. Es überrascht daher nicht, dass seine Struktur die Entwicklung meiner eigenen Gedanken widerspiegelt. So beginnt das Buch mit einer Auswertung der sozialistisch-feministischen Theorie, der eine kritische Lektüre der Schriften des 19. Jahrhunderts folgt. Es endet mit einer theoretischen Einordnung der Unterdrückung der Frauen in den Kontext der Gesamtreproduktion der Gesellschaft. Mein Respekt gegenüber sozialistisch-feministischen Vorstößen, die Frauenunterdrückung zu thematisieren, ist im Zuge meiner Arbeit an diesem Buch gewachsen. Dennoch bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass nicht sozialistisch-feministische Synthesen, sondern einer Wiederbelebung der marxistischen Theorie in den bevorstehenden Kämpfen für die Befreiung der Frauen als theoretische Orientierung am besten dient.

Als ich damit begann, zur Problematik der Unterdrückung der Frauen zu arbeiten, wurde ich auf einen Text von Marx aufmerksam. Darin erläutert er das Verhältnis von religiöser Ideologie und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Als Beispiel dient ihm die heilige Familie des Christentums: »Nachdem die irdische Familie als das Geheimnis der heiligen Familie entdeckt ist, muss nun erstere selbst theoretisch kritisiert und praktisch umgewälzt werden.«[11] Mir kam es vor, als habe Marx mit diesen Worten auch den Kern eines historisch-materialistischen Verständnisses der Familie erfasst. In der Tat haben Sozialisten mehr als ein Jahrhundert lang versucht, die ›irdische Familie‹ zu kritisieren und zu revolutionieren, wenn auch mit geringem Erfolg. Meiner Meinung nach haben erst die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die gegenwärtige Frauenbewegung hervorgebracht haben, die Möglichkeit für eine angemessenere Kritik und eine wirkliche Revolution eröffnet. Aber Möglichkeiten sind niemals Gewissheiten. Schon 1971 hat Juliet Mitchell den Zustand der Frauenbewegung im Hinblick auf eine mögliche Auseinandersetzung zwischen Anhängerinnen einer sozialistischen Theorie der Frauenbefreiung und linken Feministinnen untersucht. Mitchells damaliger Vorschlag für einen Ausweg aus diesem Zustand ist, wie ich finde, auch heute noch gültig:

 

»Wir müssen unser feministisches Bewusstsein in vollem Umfang weiterentwickeln und es gleichzeitig verändern, indem wir eine wissenschaftlich-sozialistische Analyse unserer Unterdrückung vornehmen. Diese beiden Prozesse müssen Hand in Hand miteinander gehen – feministisches Bewusstsein wird nicht, und sollte es auch nicht, ›automatisch‹ im Sozialismus münden: Die beiden Prozesse überlappen sich und müssen gemeinsam vorangetrieben werden. Wenn wir nur ein feministische Bewusstsein entwickeln … erreichen wir kein politisches Bewusstsein, sondern das Äquivalent zum nationalen Chauvinismus in den Ländern der Dritten Welt oder zum Ökonomismus innerhalb der Organisationen der Arbeiterklasse; lediglich eine selbstbezogene Perspektive, die sich nur auf die inneren Angelegenheiten eines einzelnen Bereiches konzentriert; nur dessen Eigeninteresse sieht. Politisches Bewusstsein hingegen reagiert auf alle Formen der Unterdrückung.«[12]

 

Genau diese Notwendigkeit, auf alle Formen der Unterdrückung zu antworten und zugleich den spezifischen Charakter der Unterdrückung der Frauen zu entschlüsseln, hat mich in meiner Arbeit angetrieben. Auf die sogenannte ›Frauenfrage‹ gebe ich daher eine eindeutige Antwort. In den Worten von Lillian Robinson’s Gedicht:

 

Frauen?

Ja.[13]

 

Auf einige Artikel bin ich zu spät gestoßen, als dass ich sie in diesen Text hätte integrieren können. Sie sind aber wichtig für meine Argumentation in Bezug auf die Grenzen des Patriarchatkonzepts und auf die Problematik, die der Gleichsetzung von Geschlecht, Race[14] und Klasse als vergleichbare Formen der Unterdrückung innewohnt. Jüngste Arbeiten zur Sozialgeschichte weisen ausdrücklich darauf hin, dass das Konzept des Patriarchats die komplexen Verbindungen zwischen der Unterdrückung der Frauen, der familiären Erfahrung und der gesellschaftlichen Reproduktion nicht ausreichend erklären kann. Zwei Studien – zum Ernährerlohn sowie zum geschlechtsspezifischen Arbeitsmarkt – sind hier besonders interessant: May 1982 und Baron 1982. Die Gleichsetzung verschiedener Formen der Unterdrückung wurde in mehreren Studien problematisiert, die die Geschichte von women of colour dokumentieren und die spezifischen Auswirkungen rassistischer und nationaler Unterdrückung für Frauen analysieren. Jacqueline Jones[15] zum Beispiel zeigt, dass die Familien der Sklaven auf amerikanischen Plantagen zwar Stätten der Unterstützung, Autonomie und des Widerstandes für sie waren, zugleich aber den Grundstein für spätere patriarchale Familienverhältnisse legten. Bonnie Thornton Dill[16] untersucht, wie in der Geschichte unterdrückter Gruppen Hürden auf dem Weg zur gesellschaftlichen Teilhabe errichtet wurden, die Frauen dieser Gruppen noch heute im Wege stehen. Solche Studien helfen zu verstehen, warum schwarze Frauen der gegenwärtigen Frauenbewegung im Allgemeinen misstrauisch gegenüberstehen, zumal die feministische Betonung der Analogie zwischen rassistischer Unterdrückung und Frauenunterdrückung sowie der Schwesternschaft dazu neigt, den spezifischen Charakter rassistischer und nationaler Unterdrückung zu verleugnen. Indem Jones, Thornton Dill und andere dem simplen Gleichsetzen von Geschlecht, Race und Klasse als vergleichbare Quellen der Unterdrückung widersprechen, schaffen sie die Grundlage für eine strategische Ausrichtung, die die besonderen Anliegen von women of colour aufgreift. Feministinnen und Sozialistinnen müssen, in den Worten von Thornton Dill, über »das Konzept von Schwesternschaft als globales Konstrukt, das auf nicht überprüften Annahmen über vermeintliche Gemeinsamkeiten [von Frauen] basiert«[17], hinausgehen, wenn sie Strategien für einen gesellschaftlichen Wandel entwickeln wollen, die in der Lage sind, Frauen auf einer fundierteren Grundlage zusammenzubringen.

Danksagungen

Ich kann hier nicht alle Freunde und Unterstützer nennen, die mich während der Jahre, in denen ich an diesem Projekt gearbeitet habe, immer wieder ermutigten und konstruktiv kritisierten. Für ihre freundliche Unterstützung bin ich zutiefst dankbar. Da ich schon früh eine erste Version des Manuskripts erarbeitet hatte, konnte ich viele der Kritikpunkte aufnehmen. Insbesondere gilt mein Dank Lee Austin, Egon Bittner, Ron Blackwell, Ralph Miliband, Molly Nolan und Charlotte Weissberg für ihre kluge Durchsicht und ihre detaillierten Kommentare zu dieser frühen Version. Danken möchte ich auch Jeanne Butterfield, Marlene Fried, Sheila Morfield, Susan Okin, Tim Patterson, Rayna Rapp, Carol Robb und den Mitgliedern verschiedener Arbeitsgruppen. Während der Vorbereitung des Manuskripts für die Veröffentlichung haben einige Menschen lange Abschnitte des Textes gelesen, manchmal sogar mehrmals: Jill Benderly, Ira Gerstein, Nancy Holmstrom, Beth Lyons und Susan Reverby. Für ihre nachdenklichen Kommentare und Vorschläge, insbesondere zu den theoretischen Argumenten und politischen Konsequenzen, wie auch für ihre großartige Bereitschaft, kurzfristig zur Verfügung zu stehen, möchte ich mich besonders bedanken.

Mein Dank gilt außerdem den Mitarbeitern der Rutgers University Press, vor allem meiner Lektorin Marlie Wasserman für ihre tatkräftige Unterstützung dieses Projekts sowie meiner Ko-Lektorin Barbara Westergaard für ihre hohen Ansprüche und ihr gutes Gespür.

Abschließend möchte ich allen Frauen auf dieser Welt danken, deren praktisches Engagement in den Bewegungen für Freiheit diesem theoretischen Projekt erst Sinn verleiht. Ohne sie gäbe es dieses Buch nicht.

Kapitel 1: Einleitung

In den 1960er Jahren entstanden in nahezu allen kapitalistischen Ländern Bewegungen für die Befreiung der Frauen – ein Phänomen, das seit fast einem halben Jahrhundert von der Bildfläche verschwunden war. Ausgehend von Nordamerika weitete sich die zweite Welle des kämpferischen Feminismus sehr schnell aus. Großbritannien und die europäischen Länder reagierten als erste auf den nordamerikanischen Anstoß. Auch in Ländern wie Japan, Indien, dem Iran und in Lateinamerika zeigte sich ein neues feministisches Bewusstsein. Obwohl vieles an frühere feministische Bewegungen erinnerte, entwickelte die Frauenbewegung der 1960er und 1970er Jahre spezifische Antworten auf die neuen gesellschaftlichen Bedingungen. Eine der Besonderheiten innerhalb dieser Bewegung war eine Strömung, die als sozialistischer Feminismus oder marxistischer Feminismus bekannt ist und die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die beiden Traditionen miteinander zu verbinden. Der sozialistische Feminismus, so argumentierten seine Vertreterinnen, stehe für »eine einzigartige Politik, die an der Verzahnung von Patriarchat und Kapitalismus ansetzt, um Sexismus, Klassenkonflikt und Rassismus gleichermaßen anzugehen.«[18]

Die Herausbildung einer sozialistisch-feministischen Strömung in den späten 1960er Jahren war eine äußerst wichtige Entwicklung. Der sozialistische Feminismus zeigte sich solidarisch mit antiimperialistischen und progressiven Kämpfen im In- und Ausland. Gleichzeitig stand er in Opposition zu einer wachsenden linksfeministischen Tendenz, die männliche Vorherrschaft als die Wurzel aller menschlichen Unterdrückung und somit zugleich als größtes Hindernis für die Befreiung der Frau zu verstehen. Mitte der Siebziger Jahre verlor die sozialistisch-feministische Bewegung jedoch an Dynamik und Tragweite, als anti-imperialistische Aktionen nachließen und viele Marxistinnen sich aus den sozialistisch-feministischen Organisationen, wenn nicht gar aus der Frauenbewegung insgesamt, zurückzogen. Die theoretischen und organisatorischen Perspektiven des linken Feminismus schienen sozialistischen Feministinnen infolgedessen hilfreicher als zuvor, insbesondere in Bezug auf ausschlaggebende Fragen wie denen nach Sexualität, zwischenmenschlichen Beziehungen, Ideologie und dem Fortbestehen männlicher Vorherrschaft.

Zugleich schienen auch die Erfahrungen von Frauen in revolutionären Bewegungen und sozialistischen Ländern für die unmittelbaren Belange des sozialistischen Feminismus nicht mehr besonders interessant zu sein. In Bezug auf die Errungenschaften existierender sozialistischer Bewegungen sowie die Perspektiven gegenwärtiger revolutionärer Initiativen insgesamt entwickelte sich ein gewisser Pessimismus. In dieser Atmosphäre gelangten manche sozialistische Feministinnen schließlich zu der Überzeugung, der Marxismus könne durch die Anwendung feministischer Erkenntnisse nicht verändert oder weiterentwickelt werden. Überdies argumentierten sie, dass ein derartiges Ziel nicht nur unmöglich sei, sondern darüber hinaus die Befreiung der Frau zugunsten sozialistischer Forderungen preisgegeben würde. Lag der Ursprung des sozialistischen Feminismus gerade in der Überzeugung, die Befreiung der Frau und die sozialistische Revolution könnten gleichzeitig errungen werden, drohte diese doppelte Verpflichtung nun auseinanderzubrechen.

Dieses Buch argumentiert für die Kraft des Marxismus, die Herausforderungen analysieren zu können, mit denen Frauen in ihrem Kampf um Befreiung heute konfrontiert sind. Trotzdem widerspricht es der Annahme vieler Sozialistinnen, die klassische marxistische Tradition habe uns eine mehr oder weniger vollständige Analyse der Frauenunterdrückung vermacht. In diesem Sinne könnte man das Buch als eine sozialistisch-feministische Arbeit verstehen, wenngleich sie weder die Skepsis sozialistischer Feministinnen in Bezug auf die Brauchbarkeit marxistischer Theorie teilt, noch ihre großen Hoffnungen in linksfeministische Perspektiven. Stattdessen argumentiert dieser Text, dass die sozialistische Tradition zwar zutiefst fehlerbehaftet ist und die Frage der Frauen niemals angemessen behandelt hat, der Marxismus aber dennoch genutzt werden kann, um einen theoretischen Rahmen zu erarbeiten, innerhalb dessen die Probleme der Frauenunterdrückung sowie ihrer Befreiung verortet werden können.

Die Kraft und der Charakter des feministischen Aufschwungs der 1960er und 1970er Jahre sowie deren sozialistisch-feministische Komponente verdanken viel den spezifischen Bedingungen der Nachkriegszeit. Dem Zweiten Weltkrieg folgten gravierende Veränderungen in der kapitalistischen Herrschaft, als die Machtstrukturen begannen, sowohl innerhalb der jeweiligen Nationen als auch international, tiefgreifende Verschiebungen zu durchlaufen. Unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit waren Frauen mit stark veränderten Aufgaben, Erwartungen und Widersprüchen konfrontiert.

Während des Zweiten Weltkrieges hatte die Mobilisierung für den Kriegsdienst (an der ›Heimatfont‹) Frauen in eine bis dahin beispiellose Vielzahl neuer Rollen geworfen, von denen viele traditionellerweise Männern vorbehalten waren. Mit dem Ende des Krieges und der Rückkehr der Soldaten veränderte sich die Lage dramatisch. Die Männer strömten zurück ins Erwerbsleben und drängten Frauen entweder vollständig vom Arbeitsmarkt oder in niedrigere Stellungen.

De facto erreichte der Anteil weiblicher Arbeitskräfte am Arbeitsmarkt nie wieder sein Vorkriegsniveau. Innerhalb weniger Jahre enthüllten Statistiken zudem ein neues Phänomen. War die typische Arbeiterin vor dem Krieg jung, unverheiratet und nur für begrenzte Zeit Teil der Erwerbsbevölkerung gewesen, wurde bis zum Jahr 1950 eine große Anzahl älterer, verheirateter Frauen, häufig mit Kindern im Schulalter, zu einem halbwegs konstanten Bestandteil des Arbeitsmarktes. Dieser Trend sollte sich, in offenkundigem Widerspruch zum Ideal der traditionellen Kernfamilie, ungebrochen fortsetzen.

Die Verschärfung der Ideologie, nach der der angestammte Platz für Frauen das Zuhause sei, schwächte die gesellschaftliche Wirkung der weiblichen Teilhabe am Arbeitsmarkt ab. In den späten 1940er Jahren bewirkte eine neue Betonung der Häuslichkeit das Bild der glücklichen Hausfrau, die sich in isolierten Kernfamilien ausschließlich der Konsumtion von Gütern und Dienstleistungen sowie der Erziehung der Kinder hingibt. Frauen und insbesondere Ehefrauen waren zunehmend erwerbstätig, sollten aber glauben, ihre wahre Identität liege in ihrer Rolle in der Familie. Im Privaten begünstigte der Mythos der Kernfamilie hierarchische, unterdrückerische und isolierte zwischenmenschliche Beziehungen und trug so auf psychologischer Ebene zum Wiederaufbau der Stabilität in der Nachkriegszeit bei.

Besonders stark waren die Spannungen zwischen der Norm der Kernfamilien und der tatsächlichen Lebenswelt der Frauen vor allem in den USA. In den späten 1950er Jahren stießen sie an ihre Belastungsgrenze, als immer mehr Frauen in Widerspruch zu dem gerieten, was Betty Friedan bald den »Weiblichkeitswahn« nannte. Die frühen 1960er Jahre erlebten die Anfänge einer Kritik, die eine Vielzahl politischer, ideologischer und organisatorischer Formen annahm. Viele dieser Kritiken konvergierten mit der Gründung der National Organization for Women (NOW) durch eine Gruppe militanter Feministinnen aus der Mittelklasse zusammen. Im Jahre 1966 gegründet, verkündete die NOW, ihr Vorhaben sei es »jetzt für die volle Teilhabe von Frauen an der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft und die Inanspruchnahme aller Privilegien und Verantwortungen in gleichgestellter Partnerschaft mit den Männern aktiv [zu] werden«.[19]

Die neue Bewegung schien eine authentische Wiederbelebung des traditionellen liberalen Feminismus zu sein, da sie sich für die Gleichstellung der Frauen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft einsetzte. Zwei Charakteristika unterschieden sie jedoch von älteren Formen des liberalen Feminismus. Erstens erweiterten die Feministinnen der 1960er Jahre das Konzept von Gleichheit über die formale Gleichstellung innerhalb der bürgerlichen und politischen Sphäre hinaus. So lag der Fokus von NOW anfangs zwar auf der Einflussnahme auf die Rechtsprechung, doch schnell rückten auch jene Bereiche weiblicher Erfahrung in ihr Interesse, die bislang als privat galten und von den traditionellen feministischen Programmen unberührt geblieben waren. Sie forderten Kinderbetreuungseinrichtungen und die Anerkennung der Kontrolle über das eigene reproduktive Leben als Grundrecht für alle Frauen. Implizit, wenn nicht gar explizit wurden innerhalb der Diskussion um solche Rechte Sexualität und geschlechtliche Arbeitsteilung im Haushalt thematisiert. Außerdem unterschieden die Feministinnen der Kennedy-Johnson-Jahre Frauen bisweilen nach ihrem ökonomischen Status. So setzte sich NOW für das Recht armer Frauen auf Berufsausbildung, Unterkunft und Familienunterstützung ein. Diese Unterscheidung markierte, ob beabsichtigt oder nicht, einen Bruch mit denen, die strikt auf die formelle Gleichstellung pochten, die für viele Ausformungen des Feminismus im 19. Jahrhundert kennzeichnend gewesen war. Mit ihrer ausgeprägten Sensibilität gegenüber subtilen Aspekten von Ungleichheit und den gelegentlichen Exkursen in Gebiete der Sexualität, der geschlechtlichen Arbeitsteilung im Haushalt und der unterschiedlichen Ausprägung der Unterdrückung von Frauen je nach ihrer ökonomischen Lage trieben diese Bewegung den liberalen Feminismus an seine Grenzen.

Das zweite Charakteristikum, das den modernen Feminismus von seinem Vorgänger des 19. Jahrhunderts unterschied, war die politische Atmosphäre, aus der er hervorging. Auf der Welle der voranschreitenden kapitalistischen Weltordnung reitend hatte die Frauenbewegung des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts im Kern gefordert, das von der triumphierenden Bourgeoisie vor sich hergetragene Versprechen von Gleichheit auch für Frauen geltend zu machen. Auch wenn einzelne Feministinnen forderten, dass Frauen mehr als gleiche Rechte bräuchten und die bürgerliche Gesellschaft selbst verändert werden müsse, blieb ihre Kritik eine visionäre Strömung, ein Randphänomen im Verhältnis zum Mainstream der damaligen Frauenbewegung. Der moderne Feminismus hingegen schöpfte seine Kraft aus der Kritik am Kapitalismus, die nach dem Ende des Krieges aufblühte. Der Kapitalismus war international in Bedrängnis geraten, als große Teile der Weltbevölkerung sich von direkter imperialistischer Herrschaft befreiten und sich nicht selten dem Sozialismus zuwandten. Mehrere Länder begannen, Strategien zur Erringung menschlicher Freiheit in sozialistischen Gesellschaften zu entwickeln, die sich stark von der Politik der Sowjetunion unterschieden. Gleichzeitig intensivierten nationale Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt ihre Kämpfe für Unabhängigkeit.

Diese Entwicklungen auf internationaler Ebene brachten ein tieferes Bewusstsein für die Frage nach Freiheit, Gleichheit und persönlicher Befreiung mit sich. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich in den 1950er Jahren eine neue kämpferische Bewegung für Bürgerrechte in den USA, die wiederum eine wichtige Inspirationsquelle für die feministische Bewegung in den frühen 1960er Jahren war. Beide Bewegungen traten zwar für Gleichheit innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ein, trieben aber die Vorstellung gleicher Rechte bis an die Schwelle einer Vision von Befreiung.

Doch erst Mitte der 1960er Jahre überschritt eine große Anzahl von Menschen tatsächlich diese Schwelle. In den USA fiel der Aufschwung der Schwarzen Befreiungsbewegung, die äußerst sensibel für internationale Entwicklungen war, mit der Zuspitzung des Vietnamkriegs zusammen. Regelmäßige Aufstände in großen Städten, eine energische Antikriegsbewegung und der Widerstand innerhalb des Militärs gegen den Krieg erschütterten das Land. Zur gleichen Zeit wurde Europa von einem gewaltigen Wiederaufflammen linker Aktionen infolge der Ereignisse des Mai 1968 in Frankreich überrollt. Und überall inspirierte die Kulturrevolution in China eine neue Generation von Aktivistinnen, die alle Versuche ablehnten, Missstände innerhalb der Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft zu überwinden. Es schien, als stehe eine grundlegende gesellschaftliche Umwälzung ganz oben auf der Tagesordnung. In dieser Atmosphäre entstand in den USA eine ›Frauenbefreiungsbewegung‹, deren Gründungsmitglieder Erfahrungen als (weiße) Aktivistinnen der Bürgerrechtsbewegung, des Community Organizing und der Antikriegsbewegung gesammelt hatten. Scheinbar unabhängig von allen bisherigen feministischen Bestrebungen, einschließlich des liberalen Feminismus der frühen 1960er Jahre, verschrieb sich die neue Bewegung – zunächst in Form von Kleingruppen – der Bewusstseinsentwicklung, lokaler Organisierung und gelegentlich auch der direkten Aktion. Im Unterschied zu dem eher besonnenen Feminismus von Organisationen wie NOW erwies sich die Frauenbefreiungsbewegung als erfolgreich darin, an die Unzufriedenheit, die den Widersprüchen der Lebenswelt von Frauen entsprang, anzuknüpfen und sie zu mobilisieren. »Sisterhood is powerful«, war der Wahlspruch der Frauenbefreiungsbewegung, die sich in den USA, Kanada, Europa und darüber hinaus rasant verbreitete. Kein Erfahrungsbereich konnte sich ihrer Aufmerksamkeit entziehen. Diese Feministinnen setzten ihre Theorien in die Praxis um, da sie erkannt hatten, dass das »Persönliche politisch ist«. Die Bewegung rückte die Idee von der Befreiung der Frau in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs ins öffentliche Bewusstsein und legte so die Basis für eine Massenbewegung von Frauen.

Von Anfang an waren sich die Aktivistinnen innerhalb der Frauenbefreiungsbewegung uneinig über die Rolle, die das Anliegen von Frauen innerhalb des Prozesses der gesellschaftlichen Veränderung spielt, und entwickelten unterschiedliche strategische Orientierungen. Einige von ihnen verstanden den Kampf gegen Frauenunterdrückung als Teil eines größeren Kampfes für den Sozialismus. Für diese Frauen bestand die Herausforderung darin, sich der traditionellen sozialistischen Neigung zu erwehren, feministische Anliegen dem Kampf für Sozialismus unterzuordnen. Andere bestanden darauf, dass das Thema der Unterdrückung von Frauen durch Männer für jeden Prozess gesellschaftlicher Veränderung grundlegend sei, einen stark autonomen Charakter habe und einer anderen Art von Kampf bedürfe. Hier bestand die Herausforderung darin, diese Position von der der militantesten Aktivistinnen des liberalen Feminismus abzugrenzen. Weitere Diskussionen und politische Aktionen führten bald zu einem Bruch innerhalb der Frauenbefreiungsbewegung. Linke Feministinnen pochten zunehmend auf die vorrangige Beachtung der Geschlechterantagonismen in der gesellschaftlichen Entwicklung und die ausschlaggebende Rolle, die Sexualität und sexuelle Orientierung darin spielt, außerdem wiesen sie immer wieder auf die unüberwindbaren Schwächen der sozialistischen Arbeiten über Frauen hin. Eine andere Strömung innerhalb der Bewegung hoffte dagegen, die Stärken des linken Feminismus könnten, vermittelt durch sozialistische Analysen, zu einer neuen Strategie führen. Diese Strömung, die schon bald als marxistischer Feminismus oder sozialistischer Feminismus bezeichnet wurde, hatte sich bis Anfang der 1970er Jahre nicht nur zu einer wichtigen Kraft innerhalb der Frauenbewegung entwickelt, sondern auch der gesellschaftlichen Linken.[20]

Sozialistische Feministinnen teilen eine allgemeine strategische und organisatorische Perspektive. Für sie ist die Teilhabe von Frauen, die sich ihrer eigenen Unterdrückung als Gruppe bewusst sind, für den Erfolg jedes revolutionären Kampfes unabdingbar. Sie gehen davon aus, dass die zentralen Unterdrückungsformen entlang von Geschlecht, Klasse und Race miteinander in Zusammenhang stehen und die Kämpfe gegen sie dementsprechend koordiniert sein müssen – wenn auch die genaue Ausgestaltung dieser Koordination nicht näher spezifiziert wird. In jedem Fall sind sich sozialistische Feministinnen darin einig, dass es während des revolutionären Prozesses eine unabhängige Bewegung von Frauen aller Gesellschaftsbereiche geben muss: erwerbstätigen Frauen, Hausfrauen, alleinstehenden Frauen, Lesben, schwarzen, ›braunen‹ und weißen Frauen, Arbeiterinnen, Angestellten und so weiter. Nur eine solche autonome Frauenbewegung kann für sozialistische Feministinnen eine sozialistische Verpflichtung zur Befreiung der Frau garantieren, insbesondere auf ideologischer und zwischenmenschlicher Ebene sowie im häuslichen Bereich. Autonomie, so behaupten sie, ist sowohl ein politisches als auch ein taktisches Prinzip. Darüber hinaus weisen sozialistisch-feministische Theoretikerinnen darauf hin, dass sie mit dem Großteil der Neuen Linken »die ganzheitliche Perspektive auf gesellschaftliche Veränderung, die Betonung des subjektiven Faktors innerhalb revolutionärer Prozesse sowie die Ablehnung einer mechanistischen Stufentheorie«[21] teilen. Für die meisten Aktivistinnen liegt die Essenz und Stärke der sozialistisch-feministischen Bewegung jedoch nicht in ihrem Bezug auf den Sozialismus, sondern in dem hartnäckigen Festhalten an und der besonderen Interpretation der feministischen Erkenntnis, dass Schwesternschaft mächtig und das Persönliche politisch ist.

Theorie spielte in den ersten Entwicklungsschritten der Frauenbefreiungsbewegung keine große Rolle. Tatsächlich zeugt die Fähigkeit, auch ohne eine ausgearbeitete theoretische oder organisatorische Orientierung zu bestehen und zu wachsen, von der Stärke der Bewegung als realer gesellschaftlicher Kraft. In den frühen 1970er Jahren begann die Bewegung jedoch, ihre Praxis zu überdenken und den theoretischen Rahmen, der diese implizit leitete, herauszuarbeiten. Indem sie sich verstärkt der theoretischen Arbeit widmeten, befassten sich Vertreterinnen der Frauenbefreiungsbewegung auch mit praktischen Fragen, die sich aus ihrer politischen Erfahrung ergaben. Nirgends war diese neue Hingabe zur Theorie stärker ausgeprägt als unter den sozialistischen Feministinnen. Ihr Interesse an Theorie resultierte zu einem Großteil aus der Erkenntnis, dass die bis dato entwickelte sozialistisch-feministische Strategie einer stärker ausgearbeiteten Grundlage bedurfte.

Natürlich wandten sich die sozialistischen Feministinnen auf der Suche nach einem theoretischen Ausgangspunkt der sozialistischen Tradition zu. Als Untersuchungsgegenstand von Sozialistinnen hat die Frage der Frauenunterdrückung eine lange und recht außergewöhnliche Geschichte. In der Praxis waren sozialistische Bewegungen bestrebt – so gut sie konnten und häufig begleitet von Fehlern, Schwächen und Abweichungen –, Frauen als Gleichberechtigte in den Prozess gesellschaftlicher Veränderung einzubinden. Auf theoretischer Ebene haben Sozialisten die Problematik der Frauenunterdrückung üblicherweise als ›die Frauenfrage‹ konzeptualisiert.

Wie sozialistische Feministinnen bald feststellten, war die sozialistische Theorietradition jedoch unfähig, zufriedenstellende Antworten auf diese ›Frauenfrage‹ zu geben. Infolge dieser bitteren Erkenntnis werfen sozialistische Feministinnen eine Reihe schwieriger Fragenkomplexe auf, deren Lösung noch aussteht. Die Probleme betreffen drei zusammenhängende Bereiche: