Material World - Ed Conway - E-Book

Material World E-Book

Ed Conway

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Beschreibung

Sand, Eisen, Salz, Öl, Kupfer und Lithium: Diese auf den ersten Blick unscheinbaren, aber magischen Materialien haben über das Schicksal und den Wohlstand von Imperien entschieden, Zivilisationen hervorgebracht und zerstört sowie unsere Gier und unseren Erfindungsreichtum über Jahrtausende hinweg genährt. Doch die Geschichte dieser unbesungenen Helden ist noch lange nicht zu Ende erzählt, der Kampf um ihre Kontrolle wird unsere Zukunft maßgeblich bestimmen. Denn diese Rohstoffe bilden das Gerüst unserer modernen Welt: Sauberes Trinkwasser, Elektrizität, lebenswichtige Impfstoffe und auch eine ökologische Wende wären ohne sie nicht vorstellbar. Ed Conway geht in diesem Buch der Geschichte und Zukunft unserer menschlichen Zivilisation auf neue Weise buchstäblich auf den Grund.

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Seitenzahl: 689

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Ed Conway

Material World

Wie sechs Rohstoffe die Geschichte der Menschheit prägen

Sachbuch

Aus dem Englischen von Sebastian Vogel

Hoffmann und Campe

Für Eliza

Inhalt

Einleitung 9

I Sand

1. Homo faber 37

2. Auf Sand gebaut 77

3. Die längste Reise 103

II Salz

4. Salzstraßen 143

5. Das Salz der Erde 163

6. Die Feuermedizin 185

Nachtrag: Viele Salze 201

III Eisen

7. Du hast kein Land 219

8. Im Innern des Vulkans 241

9. Der letzte Abstich 263

IV Kupfer

10. Das Zweitgrößte 283

11. Das Loch 299

12. Die Tiefe 327

V Öl

13. Der Elefant 347

14. Rohre 367

15. Der Alleskönner 387

Nachtrag: Peak Oil 407

VI Lithium

16. Weißes Gold 419

17. Biskuitrollen 449

18. Entproduktion 467

Fazit 481

 

Dank 503

Nach- und Hinweise 507

Bibliographie 529

Einleitung

Ich stand am Rand eines Abgrundes und blickte hinunter in das tiefste Loch, das ich in meinem Leben gesehen hatte. Unten am Boden war eine Gruppe von Menschen mit Arbeitshelmen – das jedenfalls hatte man mir gesagt. Sie waren viel zu weit entfernt, als dass ich sie mit bloßem Auge hätte erkennen können. In ihrer Nähe steckten mehrere Hundert Kilo Sprengstoff in der Erde. Die Menge, so erklärte man mir, hätte ausgereicht, um in der Stadt einen ganzen Häuserblock plattzumachen.

Vor mir hatte ich eine Metallkonsole mit zwei Knöpfen, und neben mir stand ein Mann mit einem Walkie-Talkie. Wir waren mit dem Kontrollraum verbunden, wo jemand einen Countdown herunterzählte. Man hatte mir gesagt, ich solle beide Knöpfe gleichzeitig drücken, wenn der Countdown bei null angelangt sei. Bis die Entladung des Zünders am Boden der Grube ankam, würde es einen Sekundenbruchteil dauern, und dann würde ein fußballfeldgroßes Quadrat der Erde von Nevada vor unseren Augen verdampfen.

»Zuerst spürst du die Schockwelle«, sagte der Mann mit dem Walkie-Talkie. »Dann siehst du, wie die Erde sich hebt, und dann hörst du die Explosion. In dieser Reihenfolge. Ist ein bisschen seltsam.«

Ich war nicht mitten in die Wüste gereist, um eine Bombe zu zünden, sondern wegen einer Kalkulationstabelle. Ein paar Monate zuvor hatte ich mir britische Handelsstatistiken angesehen, und dabei war mir etwas Merkwürdiges aufgefallen: Wahre Goldströme verzerrten die Zahlen und damit das Bild von der Wirtschaft unseres Landes. Gold hatte vorübergehend Autos und pharmazeutische Produkte als umsatzstärkstes Exportgut Großbritanniens überholt. Das war erstaunlich, schließlich gibt es in Großbritannien keinen Goldbergbau. Wie konnte ein Land ohne nennenswerte Goldlagerstätten zu einem der größten Goldproduzenten werden? Vermutlich lag es daran, so meine Überlegung, dass ein großer Teil des physischen Goldes auf seinem Weg rund um die Welt irgendwann einmal durch London fließt. Um der Frage auf den Grund zu gehen, reiste ich an Orte, an denen das Edelmetall tatsächlich gewonnen wird. Mit einem Filmteam wollte ich die Wege des Goldes von der Erde zur Verarbeitung verfolgen und dann den Weg der Barren oder Münzen rund um die Welt. Als wir aber mit den Filmaufnahmen begannen, wurde mir klar, dass man eine noch faszinierendere Geschichte erzählen kann, eine Geschichte, die viel über die Beziehung der Menschheit zu ihrer Welt aussagt.

Es hatte ein paar Monate gedauert, bis mein Produzent das fragliche Bergbauunternehmen Barrick Gold Corporation dazu bewegen konnte, seine Tore zu öffnen, und auch die Reise von London hatte ein paar Tage in Anspruch genommen. Die Cortez-Mine ist kein Ort, an den man sich zufällig verirrt. Zwei Flüge und eine vierstündige Autofahrt nach Westen durch die Salzebenen von Utah hatten wir hinter uns gebracht, und dann folgten noch zwei weitere Autostunden mit den Bergleuten von Barrick. Wir fuhren über eine Landstraße, die – abgesehen von gelegentlichen schweren Lastwagen – praktisch leer war, dann ging es über eine lange Wüstenstraße und schließlich über eine Schotterpiste, die sich durch ein langes, trockenes, unbewohntes Tal schlängelte. Cowboyland.

Die eigentliche Mine liegt am Abhang eines Berges namens Mount Tenabo, der für das Volk der Western Shoshone ein heiliger Ort ist. Der Abbauprozess als solcher ist relativ einfach und ähnelt den Methoden, die Goldsucher schon im 19. Jahrhundert anwandten. Hier allerdings findet er in gigantischem Maßstab statt. Das Gestein wird aus der Erde gesprengt, zerkleinert, zu feinem Staub zermahlen und mit Cyanidlösung versetzt, die dazu beiträgt, das Gold abzutrennen.

Das ist die Realität der Ressourcenausbeutung im 21. Jahrhundert: Riesige Gesteinsmengen werden zu Körnern zermahlen, und was übrig bleibt, wird chemisch verarbeitet. Es ist beeindruckend und beunruhigend zugleich. Unter anderem besteht die Gefahr, dass die verwendeten Chemikalien – Cyanid und Quecksilber – ins umgebende Ökosystem gelangen. Zwar behaupten Bergbauunternehmen wie Barrick, sie würden sich an alle von der US-Umweltbehörde EPA vorgegebenen Regeln halten, aber Umweltschützer warnen: Oft finden die Giftstoffe den Weg dennoch aus der Mine. Tatsächlich hatte die EPA erst wenige Jahre zuvor gegen Barrick und ein anderes Unternehmen in der Nähe ein Bußgeld von 618000 Dollar verhängt, weil sie die Freisetzung giftiger Chemikalien, darunter Cyanid, Blei und Quecksilber, nicht gemeldet hatten. Was mir vor allem auffiel, als ich die verschiedenen Stadien des Gewinnungsprozesses beobachtete, war, wie weit wir heutzutage gehen, um uns winzige Krümel eines glänzenden Metalls zu verschaffen.

Die Ausmaße waren einfach schwindelerregend. Als ich in die Grube hinunterblickte, konnte ich am Boden einige Lastwagen in Spielzeugformat ausmachen. Als sie oben ankamen, sah ich, dass sie so groß waren wie ein dreistöckiges Haus. Allein die Reifen waren so hoch wie ein Doppeldeckerbus. Wie viel Erde muss man abtragen, um einen Goldbarren zu produzieren? Ich fragte meine Betreuer. Sie konnten es mir nicht sagen, aber eines wussten sie: Diese Lastwagen bewegen an einem einzigen Arbeitstag Gestein mit dem Gewicht des Empire State Building. Später rechnete ich selbst nach. Für einen Standard-Goldbarren von 400 Feinunzen muss man ungefähr 5000 Tonnen Erde abbauen. Das ist fast das Gewicht von zehn voll beladenen Superjumbos vom Typ Airbus 380, des größten Passagierflugzeugs der Welt – für einen Goldbarren.

Es ist vielleicht allgemein bekannt, wie Gold heutzutage abgebaut wird: nicht indem man in der Erde gräbt, sondern indem man ganze Berge dafür abträgt. Schon weniger bekannt dürfte sein, dass Gold als Rohstoff das Produkt einer chemischen Reaktion ist, bei der einer der giftigsten Chemikaliencocktails der Welt entsteht. Vielleicht war ich naiv, aber mir selbst war das so nicht klar gewesen.

Als ich in die Tagebaugrube und zu den hausgroßen Lastwagen hinunterblickte, wo die Arbeiter wie Ameisen um die gesprengte Stelle herumliefen, fühlte ich mich ein wenig unwohl. Es lag nicht nur an dem Schauspiel, dessen Zeuge ich wurde. Es lag auch an einem Gegenstand, den ich am Finger trug.

Ein paar Monate zuvor hatte ich geheiratet. Meine Frau und ich hatten vor Angehörigen und Freunden als Zeichen unserer Liebe goldene Ringe ausgetauscht. Während in dem Walkie-Talkie neben mir der Countdown lief, betastete ich den Ring und kam ins Grübeln. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte man das Gold, das zu seiner Herstellung nötig war, mit genau diesen Methoden aus der Erde geholt. Warum hatte ich nicht gefragt, woher es kam? Ich hatte mich vergewissert, dass es sich bei den Diamanten im Verlobungsring meiner Frau nicht um Blutdiamanten handelte, aber warum hatte ich mich nicht dafür interessiert, welche Opfer die Menschen in den Goldminen erbrachten? Was der Natur angetan wurde? Später erfuhr ich, dass in früheren Zeiten vielleicht 0,3 Tonnen Erz notwendig waren, um mit traditionelleren Methoden das Gold für einen Ehering zu gewinnen. Heute braucht man dafür zwischen 4 und 20 Tonnen Gestein. Als ich dort stand, den Zünder vor mir, wurde mir jedenfalls plötzlich flau im Magen.

Dann war da noch der Berg selbst. Die Grube, in die ich blickte, war nicht irgendwo in der Nähe des Mount Tenabo. Sie war der Mount Tenabo. Man hatte die Mine buchstäblich in den Abhang des Berges gegraben. Als ich zur anderen Seite des Loches hinüberblickte, sah ich Schicht auf Schicht aus vielfarbigem Gestein, das die Innereien des Berges bildete. Zwar glaubte ich nicht an die Wassergötter der indigenen Western Shoshone, dennoch konnte ich mich nicht des Gefühls erwehren, dass es etwas – nun ja – Brutales hat, die Haut des Bodens abzuschälen und unter die Oberfläche zu blicken.

Noch immer lief der Countdown, und ich drehte mich um und blickte verzweifelt zu meiner Regisseurin hinüber. »Möchten Sie vielleicht lieber?«

Sie sah mich ungläubig an, dann nahm sie meinen Platz ein. Mit beschämtem Gesicht trat ich einen Schritt zurück und sah zu.

Der Countdown erreichte null. »Feuer Schuss eins, Cortez Hills«, sagte der Mann in sein Walkie-Talkie und zeigte auf die Knöpfe. Sie drückte beide. Eine kurze Pause trat ein – vielleicht eine Sekunde. Dann traf uns die Druckwelle – sie war nicht stark, eher wie ein Luftzug. Danach bebte die Erde. Ich blickte mehrere Hundert Meter in die Tiefe und zum Boden der Grube, wo sich die Erde verflüssigt hatte. Die Explosion lief am Fuß der Mine entlang, Staub und Rauch stiegen in die Luft. Erst jetzt hörten wir das Rumpeln. Es dröhnte und hallte gefühlt mehrere Minuten im Tal wider.

 

Der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes bezeichnete Gold einmal als »barbarisches Relikt«. Damit meinte er, dass es an einer Halskette oder in einem Sarkophag vielleicht hübsch aussieht, aber darüber hinaus keinen großen Nutzen hat.

Natürlich hat es einen Wert – warum würden wir sonst wegen ein paar Goldbarren einen ganzen Berg in die Luft jagen? Aber überlegen wir einmal, was Gold uns wirklich nützt. In Elektronik und Chemie spielt es eine gewisse Rolle, aber die ist heute für weniger als 10 Prozent der Nachfrage verantwortlich. Zu 80 Prozent wird Gold zu Schmuck verarbeitet. Nur zu einem geringen Teil (3 Prozent) dient es denjenigen, die Angst vor der nächsten Wirtschaftskrise haben, als Vermögensanlage. Ein sehr kleiner Prozentsatz wird schließlich noch zu Verzierungszwecken verwendet. Ein Teil des Goldes, dessen Abbau ich in Nevada gesehen hatte, befindet sich heute wahrscheinlich an irgendeinem Ringfinger. Es könnte aber auch wieder unter der Erde liegen, dieses Mal allerdings als Barren im Tresorraum einer Bank. Für Goldschmiede und nervöse Investoren mag es sich ketzerisch anhören, aber die Welt würde wahrscheinlich ebenso gut funktionieren und die Zivilisation würde nicht zum Stillstand kommen, wenn uns plötzlich das Gold ausgehen würde.[1]

In den Monaten nach meiner Rückkehr aus Nevada ließ mich die Frage nicht mehr los. Wenn so viel Aufwand zur Gewinnung eines Metalls betrieben wird, auf das wir ebenso gut verzichten könnten, welcher Aufwand war dann erforderlich zur Gewinnung von Rohstoffen, die wir wirklich brauchen? Und wo wir schon dabei sind: Welche Rohstoffe brauchen wir eigentlich wirklich? Welches sind die materiellen Bestandteile, ohne die unsere Zivilisation nicht funktionieren würde, und woher stammen sie?

Eine Ahnung sagte mir, dass Stahl ein solches Material sein würde. Die meisten Gebäude und Autos bestehen aus dieser Legierung aus Eisen, Kohlenstoff und einigen weiteren entscheidenden Elementen – ganz zu schweigen von den Maschinen, die ihrerseits diese Gebäude und Autos zusammenbauen. Auch ohne Beton wäre unsere moderne Lebenswelt nicht denkbar. Kupfer ist sicher lebenswichtig, bildet es doch die Grundlage für die Stromnetze, auf die wir angewiesen sind. Da wir immer noch für einen so großen Teil unserer Energieversorgung von fossilen Brennstoffen abhängig sind, vermutete ich, dass nach wie vor Öl und Kohle als lebenswichtige Materialien gelten müssten. Aber auch Lithium gehörte ganz sicher auf meine Liste, als Kernbestandteil all der Batterien, die wir in Zukunft brauchen werden. Doch wie sollen wir unsere Abhängigkeit von solchen Rohstoffen quantitativ erfassen? Und ist ihre Gewinnung zwangsläufig mit Zerstörungen in dem gleichen Ausmaß verbunden, wie ich es in der Cortez-Mine erlebt hatte?

Die Wirtschaftswissenschaft, das Fachgebiet, in das ich mich während des größten Teils meiner Berufslaufbahn vertieft habe, hat auf solche Fragen keine eindeutigen Antworten. Der Wert von etwas, so die übliche Erklärung, ist das, was jemand dafür zu bezahlen bereit ist. Ist eine Ware knapp, werden die Menschen sich einschränken, geeigneten Ersatz finden (falls es ihn gibt) und weitermachen. Ende der Geschichte.

Aber ganz so einfach ist es nicht. Nach allem, was man hört, leben wir in einer zunehmend entmaterialisierten Welt. Immer mehr Werte stecken in immateriellen Dingen, in Apps und Netzwerken und Online-Diensten. Und doch bildet die physische Welt weiterhin die Grundlage für alles andere. Betrachtet man die Bilanzen unserer Volkswirtschaften, wird das nicht ohne weiteres deutlich: Sie zeigen beispielsweise, dass vier von fünf in den Vereinigten Staaten erwirtschaftete Dollars auf den Dienstleistungssektor zurückgehen und nur ein immer weiter schrumpfender Anteil sich dem Energiesektor, dem Bergbau und dem verarbeitenden Gewerbe zuschreiben lässt. Aber praktisch alle Branchen, von sozialen Netzwerken über den Einzelhandel bis zu Finanzdienstleistungen, sind vollständig darauf angewiesen, dass sie von einer physischen Infrastruktur ermöglicht und von Energie angetrieben werden. Ohne Beton, Kupfer und Glasfaserkabel gäbe es keine Rechenzentren, keinen Strom und kein Internet. Es wäre, so wage ich zu behaupten, nicht das Ende der Welt, wenn X (früher Twitter) oder Instagram von heute auf morgen nicht mehr existieren würden. Hätten wir dagegen plötzlich keinen Stahl oder kein Erdgas mehr, sähe die Sache ganz anders aus.

Instinktiv wissen wir das. Ganz offenkundig sind solche Prinzipien in Zeiten von Krieg, Hungersnöten oder Finanzkrisen. Aber wenn es um überragend wichtige statistische Angaben wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) geht, ist ein Dollar ein Dollar, ganz gleich, ob er für Facebook oder für Lebensmittel ausgegeben wird. Das hat eine gewisse Logik und Eleganz, aber meine Fragen beantwortet es eigentlich nicht. Den Preis von etwas zu kennen, ist schön und gut, aber der Preis ist nicht gleichbedeutend mit der Wichtigkeit.

Ausgangspunkt für dieses Buch war mein Versuch, solche Fragen zu beantworten: Mir ging es weniger um den Marktwert von Substanzen als vielmehr um unsere Abhängigkeit von ihnen. Aber als ich tiefer schürfte und meine Komfortzone der herkömmlichen Wirtschaftswissenschaft verließ, wurde es zu etwas anderem: zu einer Geschichte des Staunens. Je mehr ich über diese Substanzen erfuhr – über alltägliche, langweilige und ja, oft auch billige Substanzen –, desto faszinierender erschienen sie mir.

Betrachten wir nur einmal ein Sandkorn. Abgesehen von Sauerstoff kommt in der Erdkruste kein Element häufiger vor als der Hauptbestandteil von Sand: Silizium. Wenn wir uns hinknien und den Boden untersuchen, wird uns schnell klar, dass wir in einem Universum der Komplexität versinken. Es gibt grobe, kantige Körner, die sich gut zum Bauen eignen. Meeressand liegt auf dem Ozeanboden, bis er ausgebaggert und zu neuem Land gemacht wird. Wüstensand ist manchmal so vom Wind abgeschliffen, dass er unter dem Mikroskop aussieht wie ein Haufen Murmeln: Die Kanten der Körner sind durch jahrtausendelange Erosion abgerundet. Es gibt Sand, der von vorzeitlichen Ozeanen zurückgelassen wurde und so rein ist, dass er auf der ganzen Welt gehandelt wird.

Mischt man Sand und kleine Steine mit Zement und fügt ein wenig Wasser hinzu, bekommt man Beton, der ganz buchstäblich das Fundament moderner Städte bildet. Mit Kies und Bitumen wird der Sand zu Asphalt, aus dem die meisten Straßen bestehen – das heißt, wenn sie nicht aus Beton sind. Ohne Silizium könnten wir die Computerchips, diese Stütze der modernen Welt, nicht herstellen. Schmilzt man Sand bei ausreichend hoher Temperatur und mit den richtigen Zusätzen, erhält man Glas. Das schlichte, einfache Glas ist, wie sich herausgestellt hat, eines der großen Rätsel der Materialwissenschaft. Es ist weder flüssig noch fest, und seine Atomstruktur verstehen wir bis heute nicht ganz. Und das Glas unserer Windschutzscheibe ist nur der Anfang: Zu Strängen verwoben und von Harz begleitet, wird Glas zu Fiberglas, dem Material, aus dem die Rotorblätter von Windkraftanlagen hergestellt werden. Zu Fasern gezogen wird es zu den Leitungskabeln, die das Internet zum Netz machen. Gibt man Lithium zu der Mischung, erhält man ein hartes, widerstandsfähiges Glas. Mit Bor wird es zu Borosilikatglas.

Borosilikatglas begegnet uns im Alltag unter Markennamen wie Duran, Jenaer Glas oder Pyrex. Das stabile, durchsichtige, widerstandsfähige Glas verträgt die unterschiedlichsten Temperaturen von der offenen Flamme eines Bunsenbrenners bis zur eisigen Kälte des Weltraumes. Damit gehört es zu den unbesungenen Helden unserer lebensnotwendigen Materialien. Während gewöhnliches Glas bei Einwirkung starker Chemikalien kleine Teilchen an die Flüssigkeit abgibt, bleibt Borosilikatglas chemisch unverändert. Damit ist es ein ideales Material für Reagenzgläser, Laborkolben und medizinische Phiolen. Eines haben Medikamente und Impfstoffe aller Zeiten – auch die gegen Covid-19 – gemeinsam: Sie werden in Fläschchen aus Borosilikatglas abgefüllt, gelagert und transportiert.

In der Regel schenken wir solchen Dingen erst dann Aufmerksamkeit, wenn sie knapp werden. So geschehen mit Borosilikatglas: Es stand während der Covid-Pandemie plötzlich im Mittelpunkt des Interesses, weil man sich Sorgen machte, die Verteilung der Impfstoffe werde nicht an den pharmazeutischen Produkten selbst scheitern, sondern an den Gefäßen, in denen sie ausgeliefert werden. In diesem Fall halfen Tausende von Arbeitskräften entlang einer komplexen Lieferkette, die sich von Minen über Raffinerien bis zu den Fabriken erstreckte, die Katastrophe abzuwenden. Die Herstellerfirma Corning entwickelte sogar einen ganz neuen Glastyp, der nicht mit Bor, sondern mit Aluminium, Kalzium und Magnesium hergestellt wurde, um so die Nachfrage nach Medikamentenfläschchen decken zu können.

Andere Branchen hatten weniger Glück. Während der Pandemie und danach waren Gesichtsmasken, Tupfer und Diagnosereagenzien knapp, ebenso Zement und Stahl, Bauholz und Toilettenpapier, Industriegase und Chemikalien, Fleisch, Senf, Eier und Milchprodukte. An Siliziumchips – oder Halbleitern, wie sie auch oft genannt werden – herrschte ein so großer Mangel, dass Autohersteller auf der ganzen Welt ihre Maschinen anhalten und ihre Fabriken schließen mussten. Computer- und Smartphonehersteller konnten Bestellungen nicht bedienen. Die neue Generation von Spielekonsolen war auch ein Jahr nach der Premiere nur schwer erhältlich. Erst nach rund zwei Jahren war der Versorgungsengpass überwunden.

Bemerkenswert war an diesen Lieferkettenkrisen, dass sie in jedem Einzelfall für Regierungen und Politiker auf der ganzen Welt völlig überraschend kamen. Man war überrascht, dass Halbleiter knapp waren, dass Autos so viele davon brauchen und dass die ausbleibenden Neuwagenlieferungen die Gebrauchtwagenpreise auf ein Rekordniveau anhoben.

Ähnlich verblüfft war die britische Regierung, als ihr Ende 2021 plötzlich das Kohlendioxid ausging: Sie bemerkte, dass die Lebensmittelindustrie ohne CO2 keine Sprudelgetränke mehr herstellen konnte, und ebenso wenig konnte sie Lebensmittel haltbar machen und lagern oder Schweine und Hühner vor der Schlachtung betäuben. Das alles ließ sich auf die plötzliche Schließung zweier Düngemittelfabriken in Cheshire und Teesside zurückführen. Wie sich herausstellte, stammte die CO2-Versorgung Großbritanniens zum größten Teil aus diesen beiden Werken, deren Hauptprodukt eigentlich etwas ganz anderes war: Ammoniak. Und da die Erdgaspreise hoch waren und da Ammoniak, wie wir in späteren Kapiteln noch genauer erfahren werden, aus Erdgas hergestellt wird, hatte der Anstieg des einen Preises plötzlich zur Knappheit bei einer anderen Substanz geführt, die damit nur scheinbar nichts zu tun hatte.

Aber hätte uns das alles wirklich überraschen müssen? Einen Hinweis auf die Antwort liefert ein berühmter, 1958 erschienener Aufsatz des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Leonard Read mit dem Titel »Ich, der Bleistift« (»I, Pencil«). Er beginnt mit den Worten: »Ich bin ein Bleistift – ein gewöhnlicher hölzerner Stift, wie ihn alle Jungen und Mädchen und Erwachsenen kennen, wenn sie lesen und schreiben können.« Und doch, fährt Read – oder vielmehr der Bleistift – fort, »weiß nicht eine einzige Person auf dem Boden dieser Erde, wie ich hergestellt werde«.[2]

Das Holz im Bleistift stammt von Zedern, die im Westen Amerikas wachsen. Sie werden mit Stahl zersägt, der in Hochöfen hergestellt und in Fabriken geformt wurde. Das Holz wird zu Brettchen verarbeitet, die getrocknet und gefärbt und noch einmal getrocknet werden, und dann werden die Brettchen ausgehöhlt und verklebt. Das »Blei« in der Mitte des Bleistifts ist Graphit, das in Sri Lanka abgebaut, veredelt und mit Ton aus dem Mississippi vermischt wird, außerdem kommen Chemikalien hinzu, die aus tierischem Fett und Schwefelsäure hergestellt werden. Das Holz und der Kern des Bleistifts werden mit Lack überzogen, der aus Rizinusöl erzeugt wird, und dies wiederum bezieht man aus Rizinusbohnen. Beschriftet wird er mit Harz, und am unteren Ende wird er mit Messing abgedeckt, das aus Kupfer und Zink gemacht wird, die auf der anderen Seite der Welt abgebaut werden. Der Radiergummi besteht aus Rapsöl aus Indonesien und zahlreichen weiteren Chemikalien, von Schwefelchlorid bis zu Cadmiumsulfid.

Und das alles für etwas so Einfaches wie einen Bleistift. Aber von den Herstellern, die die einzelnen Bestandteile bearbeiten, über die Spediteure, die die verschiedenen Teile transportieren, bis hin zu den Beschäftigten in den Kraftwerken, die für die verschiedenen Prozesse die Energie liefern, »haben Millionen Menschen«, so sagt Reads Bleistift, »bei meiner Erschaffung die Hand im Spiel, und jeder von ihnen weiß nur sehr wenig über die anderen«.

Aus der Geschichte können wir eine Reihe einfacher Lehren ziehen. Erstens wissen wir sehr wenig darüber, wie Alltagsprodukte eigentlich hergestellt werden. Zweitens könnte angesichts einer solchen Komplexität kein einzelner Mensch alle diese zahlreichen Prozesse ausführen oder auch nur leiten. »Ich, der Bleistift« wurde auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges geschrieben und legte aus naheliegenden Gründen das stärkste Gewicht auf die zweite Lehre. Milton Friedman, Wirtschaftswissenschaftler und Vertreter der freien Marktwirtschaft, machte am Beispiel von Reads Essay deutlich, warum seine sowjetischen Gegenspieler unrecht hatten, wenn sie versuchten, ihre Wirtschaft zentral zu planen und zu lenken.

Als ich aber über den Zusammenbruch der Lieferketten im 21. Jahrhundert nachdachte, kam mir der Gedanke, dass wir uns ebenso auch an die erste Lehre erinnern sollten. Wenn wir ein wenig mehr Zeit auf die Betrachtung der Frage verwenden würden, wie die Gegenstände, auf die wir angewiesen sind, eigentlich hergestellt werden, wären wir vielleicht nicht so verblüfft, wenn sie knapp werden. Dank Reads Text vollziehen heute Millionen von Studierenden der Wirtschaftswissenschaft die Lieferkette eines Bleistifts nach, aber wie steht es mit einem Smartphone, einem Impfstoff oder einer Batterie? Wie sieht die Lieferkette von Kohlendioxid oder Borosilikatglas aus?

Solche Netzwerke aus Menschen und Fachkenntnissen, durch die sich Rohstoffe in hoch entwickelte Produkte verwandeln, die dann an uns ausgeliefert werden, stehen neben den Substanzen als solchen ebenfalls im Mittelpunkt dieses Buches. Auf den folgenden Seiten werden wir staunend verfolgen, wie Netzwerke aus Menschen, die sich in der Regel gegenseitig nicht kennen, durch ihr Zusammenwirken unscheinbare, träge Substanzen in Wunderdinge verwandeln. Und nur wenige Lieferketten sind so wundersam wie die zur Herstellung von Siliziumchips.

Schon lange bevor die Chips knapp wurden, hatte ich den Versuch unternommen, die Geschichte eines Siliziumkörnchens zu erzählen, vom Steinbruch über die Halbleiter-Fertigungsanlage (auch Foundry genannt) bis zu dem Montagewerk, in dem es zum Teil eines Smartphones wird. Wie mir schon bald klar wurde, verhielt es sich ganz ähnlich wie mit Reads Bleistift: Kein einzelner Mensch, auch diejenigen nicht, die selbst in der Fertigungskette arbeiteten, konnte mir alle Prozesse, die sich in den einzelnen Stadien des Weges abspielen, auch nur in einfachster Form vollständig erklären. Die Arbeiter und Arbeiterinnen in den Foundrys verstanden viel von Fotolithographie und chemischer Behandlung, aber sie wussten wenig darüber, wie die hochreinen Silizium-Wafer, mit denen sie arbeiteten, eigentlich entstanden. Im Steinbruch wussten diejenigen, die Quarzit abbauten (wie sich herausstellte, beginnt das Leben eines Chips nicht als Sandkorn, sondern als faustgroßer Steinklumpen), kaum etwas über sein späteres Schicksal.

Am auffälligsten war aber, dass es ein so außerordentlich langer und spektakulärer Weg ist. Zwischen der Explosion, mit der das Siliziumkorn in einem Steinbruch herausgelöst wird, und seinem endgültigen Bestimmungsort im Smartphone hat es mehrere Male die Welt umrundet. Es wurde auf mehr als 1000 Grad erhitzt und dann abgekühlt, und das nicht nur einmal, sondern zwei- oder dreimal. Es wurde von einer unförmigen Masse zu einer der reinsten Kristallstrukturen des Universums. Es wurde mit Lasern erhitzt, die von einer unsichtbaren Form des Lichts angetrieben werden, und überlebt den Kontakt mit der Luft nicht. Dieser Prozess – die Umwandlung des Siliziums in einen kleinen Siliziumchip – war der außergewöhnlichste Weg, den ich jemals nachgezeichnet habe.

Aber das war nur der Anfang. In den folgenden Monaten sah ich immer mehr Steinbrüche. Ich stieg in die schweißtreibenden Tiefen der tiefsten Mine Europas hinab. Ich sah, woher Salz kommt und wie es sich in die Chemikalien verwandelt, ohne die wir alle nur mit Mühe überleben könnten. Ich sah, wie rotes Gestein sich in geschmolzenes Metall verwandelte und dann zu Stahl gehämmert wurde. Ich reiste zu gespenstisch grünen Teichen, aus denen wir Lithium beziehen, und folgte der Substanz, als sie verklebt und gerollt und in eine Batterie für ein Elektroauto gepresst wurde. Je mehr ich reiste, desto klarer wurde mir, dass ich während des größten Teils meines Lebens in einer völlig anderen Welt gewohnt hatte, einer Welt, die mir jetzt sonderbar »flüchtig« vorkam.

Vielleicht leben die meisten Menschen in dieser Welt. Es ist eine Welt der Ideen. In der immateriellen Welt verkaufen wir Dienstleistungen, Management und Verwaltung; wir bauen Apps und Websites; wir übertragen Geld von einer Tabellenspalte in eine andere; wir handeln vorwiegend in Gedanken und Ratschlägen, in Haarschnitten und Lebensmittellieferungen. Wenn Berge auf der anderen Seite der Welt niedergerissen werden, erscheint uns das hier in der »flüchtigen Welt« nicht besonders wichtig.

Als ich nach Nevada flog und filmen wollte, wie der Berg gesprengt wird, filmte ich in Wirklichkeit eine visuelle Metapher, in der das Physische in etwas Flüchtiges verwandelt wurde: Mein Bericht sollte dazu beitragen, eine Vorstellung wie die von Handelsströmen ein wenig besser verständlich zu machen. Als ich aber dort am Rand der Grube stand, wurde mir klar, dass meine Sicht bisher gefährlich einseitig gewesen war. Ich erkannte, dass ich in diesem Moment vom Rand der einen Welt in eine andere blickte: in die materielle Welt.

Die materielle Welt ist das Fundament unseres Alltagslebens. Ohne diese Welt würde unser Smartphone mit seinem wunderschönen Design nicht funktionieren, unser nagelneues Elektroauto hätte keine Batterie. Die materielle Welt garantiert uns nicht die Traumwohnung, aber sie garantiert, dass es überhaupt Wohnungen gibt. Sie hält uns warm und gesund, macht uns sauber und satt, ganz gleich, wie wenig Aufmerksamkeit wir ihr schenken.

In der materiellen Welt finden wir die wichtigsten Unternehmen, von denen kaum jemand spricht, Firmen wie CATL, Wacker, Codelco, Shagang, TSMC und ASML. Die Namen bedeuten den meisten Menschen nichts, aber sie sind mindestens ebenso wichtig und vielleicht sogar wichtiger als die vertrauten Marken, die jeder kennt, die Amazons, Apples, Teslas und Googles dieser Welt. Hier finden wir das am besten gehütete Geheimnis der modernen Wirtschaft: Die weltbekannten Marken sind völlig auf die unbekannten Firmen aus der materiellen Welt angewiesen, um ihre Produkte herzustellen und dafür zu sorgen, dass ihre klugen Ideen – nun ja – materialisiert werden.

Warum greifen die heutigen Weltmarken so fröhlich auf andere Unternehmen zurück, damit diese die eigentliche Arbeit verrichten? Nun, zum Teil deshalb, weil Tätigkeiten in der materiellen Welt, wo man nach Substanzen graben, sie zu Tage fördern und verarbeiten muss, oftmals schwierig, gefährlich und schmutzig sind. Auf den nachfolgenden Seiten werden wir miterleben, wie weit die Menschheit im 21. Jahrhundert für solche Materialien zu gehen bereit ist, ob es nun bedeutet, ein Loch von der Größe einer Schlucht zu graben oder den Meeresboden leer zu fegen, um Metalle in Konzentrationen zu finden, die höher sind als alles, was auf dem trockenen Land existiert.

An dieser Stelle muss ich mit einem gefährlichen Mythos aufräumen: mit der trügerischen Vorstellung, wir Menschen würden uns nach und nach von physischen Materialien unabhängig machen. Manche Wirtschaftswissenschaftler weisen auf Daten aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien hin, wonach wir für jeden Dollar oder jedes Pfund, das wir an Einkommen generieren, immer weniger Ressourcen verbrauchen. Während unsere Wirtschaftsleistung im Laufe der Menschheitsgeschichte stets eng an die Ausbeutung natürlicher Ressourcen – und im Übrigen auch an unseren Energieverbrauch – gebunden war, haben sich die beiden Kurven in den letzten Jahrzehnten getrennt: Das BIP ist immer weiter gestiegen, während unser Ressourcenverbrauch ein Plateau erreicht hat. Das, so behaupten besagte Experten, sei der knallharte Beweis, dass wir »aus weniger mehr machen«.[3]

Das ist eine reizvolle Idee, insbesondere da das Weltklima sich erwärmt und alle auf der Suche nach guten Nachrichten sind. Aber nachdem ich gerade miterlebt hatte, wie ein heiliger Berg wegen etwas zerstört wird, was wir eigentlich nicht brauchen, war ich doch ein wenig skeptisch.

Wie ich bei meinen Recherchen feststellte, geht der materielle Konsum in postindustriellen Ländern wie den Vereinigten Staaten und Großbritannien durchaus zurück. Aber auf der anderen Seite der Welt, in Ländern, aus denen die westliche Welt den größten Teil ihrer Waren importiert, steigt er in halsbrecherischem Tempo. Die Goldminen in Nevada sind nur der kleinste Teil. Noch viel größere Anstrengungen unternehmen wir, um Kupfer und Öl, Eisen und Kobalt, Mangan und Lithium aus dem Boden zu holen. Wir graben nach Sand, nach Gestein, nach Salz. Und das in erstaunlichem Umfang. Solche Tätigkeiten sind keineswegs ein Nebenschauplatz, sondern sie werden immer wichtiger. Womit wir wieder beim Klimawandel wären. Es ist eine Ironie des Schicksals: Um unsere verschiedenen Umweltziele zu erreichen, werden wir auf kurze und mittlere Sicht beträchtlich mehr Material brauchen, um die Elektroautos, Windräder und Solarzellen zu bauen, mit denen wir fossile Brennstoffe ersetzen wollen. Unterm Strich werden wir in den kommenden Jahrzehnten sicher mehr Metalle aus der Erdkruste gewinnen als je zuvor.

Das ist keine Prophetie, denn es geschieht schon jetzt. Im Jahr 2019 etwa wurde mehr Material aus der Erdkruste gegraben und gesprengt als in der gesamten Zeit seit Anbeginn der Menschheit bis 1950. Überlegen wir einmal, was das heißt. In einem einzigen Jahr haben wir mehr Ressourcen gewonnen als die Menschheit im allergrößten Teil ihrer Geschichte – von den ersten Tagen des Bergbaus bis zur industriellen Revolution, den Weltkriegen und so weiter. Und 2019 war gewiss kein Ausnahmefall. Das Gleiche könnte man über jedes Jahr seit 2012 sagen. Und unser Appetit auf Rohstoffe schwindet keineswegs, sondern wächst weiter – 2019 um 2,8 Prozent. Einen Rückgang gab es in keiner einzigen Kategorie der Bodenschätze, von Sand und Metallen bis zu Öl und Kohle.

Von alledem hören wir nicht viel, und wenn, dann vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der fossilen Brennstoffe. Verständlicherweise schenken wir den Kohlenwasserstoffen, die wir immer noch gewinnen, viel Aufmerksamkeit. Weithin bekannt ist, dass wir seit Jahrzehnten ungeheure Kohle- und Ölmengen unter der Erdoberfläche abgebaut haben. Ebenfalls bekannt ist, dass wir uns jetzt allmählich von diesen Brennstoffen abwenden – oder vielmehr verlangsamen wir nach und nach das Tempo, in dem wir sie aus der Erde holen.

Das, so könnte man annehmen, sollte bedeuten, dass unser Appetit auf Bodenschätze insgesamt nachlässt. Aber das Gegenteil ist richtig. Öl und andere fossile Brennstoffe machen seit jeher nur einen Bruchteil der gesamten Ressourcenmenge aus, die wir aus der Erde entnehmen. Auf jede Tonne fossiler Brennstoffe beuten wir sechs Tonnen anderer Materialien aus – vorwiegend Sand und Gestein, aber auch Metalle, Salze und Chemikalien. Während wir als Bewohner der immateriellen Welt unseren Verbrauch an fossilen Brennstoffen zurückfahren, haben wir unseren Verbrauch an allem anderen verdoppelt. Dennoch geben wir uns dem täuschenden Glauben hin, es sei genau umgekehrt.

Nach meinem Dafürhalten liegt das zum Teil an den Daten – oder an ihrem Fehlen. Die Dollars des BIP können wir leicht zählen, aber unsere Kenntnisse darüber, wie viele Substanzen wir dem Boden entnehmen, sind überraschend lückenhaft. In den letzten Jahren haben die Vereinten Nationen und einige nationale Behörden wie das Nationale Statistikbüro in Großbritannien damit begonnen, sogenannte Stoffstromanalysen zu erstellen. Untersucht wird dabei, wie viele Substanzen wir aus der Erde entnehmen, verbrauchen und dann wieder verwerten oder wegwerfen. Aber solche Daten sagen nur etwas über das abgebaute »Material« aus. Wir erfahren daraus nichts über Erde und Gestein mit einem Gewicht von zehn Superjumbos, die verschoben werden, um es zu gewinnen. Aus statistischer Sicht wird dieser »Abraum« – der ehemalige heilige Berg – einfach nie eingerechnet. Mit anderen Worten: Der Fußabdruck der Menschheit auf der Erde ist viel größer, als uns klar ist. Und wie ich außerdem erfahren sollte, wird der Fußabdruck des Goldabbaus durch den Abbau von Eisen und Kupfer bei weitem in den Schatten gestellt, und dieser wiederum ist winzig im Vergleich zu dem Abbau von Sand und Gestein.

Der Drang, Bodenschätze zu gewinnen, war immer eine der stärksten Triebkräfte der Menschheit. Er begann nicht und endet nicht am Mount Tenabo im angestammten Land der Shoshone. Vielmehr reicht er von den Vereinigten Staaten über China, Afrika und Europa bis in die Tiefen des Atlantischen Ozeans. Aber da sich alles zunehmend außerhalb unseres Blickfeldes abspielt und in den üblichen Wirtschaftsdaten nicht vorkommt, können wir uns leicht einreden, dass es nicht stattfindet.

So war es nicht immer. In früheren Zeiten legten Regierungen größten Wert darauf, jeden Aspekt der Rohstoffgewinnung zu kontrollieren. Dieser Kampf um Kontrolle war, wie wir noch sehen werden, ein treibender Faktor von Imperialismus, Kolonialismus und Krieg. Als die Berliner Mauer fiel, erklärten manche Wirtschaftswissenschaftler, damit habe für die globalen Ressourcen eine neue Ära begonnen – mit der Einführung eines wahrhaft globalen Handels und globaler Lieferketten sei der Wettlauf um Rohstoffe zu Ende. Die Folge war, dass viele Länder, darunter auch die Vereinigten Staaten, ihre Vorräte an lebenswichtigen Mineralien, die sie im Laufe des letzten halben Jahrhunderts aufgebaut hatten, zurückfuhren. Als die Handelsbeschränkungen fielen, entwickelte sich die Produktion zu einem wirklich globalen Unternehmen, dessen Just-in-time-Lieferketten sich um den Globus zogen.

Mittlerweile ist den Regierungen auf der ganzen Welt klar geworden, dass die Kontrolle über Materialien und Beschaffungsprozesse heute wichtiger ist als je zuvor. Nachdem Joe Biden sein Amt angetreten hatte, bestand eine seiner ersten Handlungen darin, eine Präsidentenverfügung über »Amerikas Lieferketten« zu unterzeichnen. Es sollte überprüft werden, in welchen Bereichen die Vereinigten Staaten von anderen Ländern abhängig sind.

Dieses Buch über die materielle Welt erzählt von sechs Materialien: Sand, Salz, Eisen, Kupfer, Öl und Lithium. Sie als Protagonisten in den Vordergrund zu stellen, mag ein wenig sonderbar erscheinen. Wir sind es gewohnt, die Geschichte der Menschheit aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, meist einem länderbezogenen. Warum prosperieren einige Länder, während andere scheitern? Warum fand die industrielle Revolution in England statt und nicht in Äthiopien? Eine weitverbreitete Ansicht macht dafür eine Kombination aus Geschichte, Zufällen und den richtigen Institutionen verantwortlich. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille, denn das Geheimnis des Erfolgs des Menschen liegt nicht nur in seiner DNA oder seinen politischen Institutionen. Unser Schicksal ist vielmehr seit jeher untrennbar verwoben mit den Dingen, die wir aus der Erde gewonnen und für unsere Zwecke nutzbar gemacht haben.

Mit Begriffen wie Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit bezeichnen wir Epochen, in denen die Menschen auf ganz besondere Weise von einem bestimmten Material abhängig waren. Die Materialien haben sich verändert, aber unsere Abhängigkeit ist nicht geringer geworden, vielmehr hat sie explosionsartig zugenommen. Wenn man sich ansieht, wie viel Sand und Gestein wir aus der Erde sprengen, stecken wir immer noch tief in der Steinzeit. Unser Bedarf an Stahl und Kupfer hat sich in den letzten Jahren vervielfacht. Wir leben also auch in der Eisenzeit – von einer Kupfer-, Salz-, Öl- oder Lithiumzeit gar nicht zu reden.

Die genannten sechs Materialien sind die unverzichtbaren Bestandteile unserer Welt. In Geschichten über die Menschheit und ihre Errungenschaften kommen sie nur selten vor, und wenn, dann als träge Substanzen, die von einem genialen Erfinder ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt werden. Hier soll der Ort sein, die Geschichte aus ihrer Sicht zu erzählen. Wir werden erfahren, wie das Streben nach diesen Rohstoffen die Weltgeschichte geprägt hat und in Zukunft prägen wird. Es wird davon die Rede sein, welche Folgen unser unersättlicher Hunger nach diesen Materialien für die Umwelt hat. Wir werden sehen, wie wir alle bis zu einem gewissen Grad Komplizen dieser Umweltzerstörung sind und wie wir die Nachfrage nach den Rohstoffen, die wir aus der Erde gewinnen, überhaupt erst schaffen, was vielleicht zu der Erkenntnis führt, dass es für uns alle das Beste wäre, wenn wir weniger konsumieren und mehr wiederverwerten – und das wäre ehrlich gesagt nicht das Schlechteste. Gegen Ende des Buches eröffnet sich aber auch ein faszinierender Ausblick: auf eine Welt, in der wir vielleicht zum ersten Mal seit der industriellen Revolution in der Lage sein werden, uns zu erhalten, ohne immer tiefer in die Erde zu graben und Berge zu sprengen, um damit unseren Bedarf an Rohstoffen zu decken.

In einer wirklich immateriellen Welt werden wir nie leben. Seit Menschen zum ersten Mal einen Stein aufgehoben und daraus ein Werkzeug gemacht haben, haben wir die Erde ausgebeutet und unsere Spuren hinterlassen. Aber wir können unsere Spuren verringern. Damit könnten wir dazu beitragen, den Anstieg der Treibhausgasemissionen zu dämpfen und uns dem Klimawandel entgegenzustellen.

In diesem gelobten Land sind wir nicht mehr auf fossile Brennstoffe angewiesen, vorerst aber bleiben wir hoffnungslos abhängig von ihnen. Allzu deutlich wurde das Anfang 2022, als Russland die Ukraine überfiel. Die Invasion trieb die Energiepreise in Europa auf ein Rekordniveau, und das wiederum trieb die Steigerung der Lebenshaltungskosten voran. Das Ausmaß der Zunahme überraschte die Wirtschaftswissenschaftler. Aber eine Lektion lernt man schnell, wenn man in die materielle Welt zurückgeworfen wird: In der Wirtschaft lässt sich fast alles auf Energie zurückführen – selbst die Dinge, von denen man es am wenigsten erwartet. Düngemittel und Salze, Chemikalien und Kunststoff, Lebensmittel und Getränke – sie alle sind in größerem oder geringerem Maße Produkte fossiler Brennstoffe.

Die Ereignisse in der Ukraine könnten den Übergang zu erneuerbaren Energien durchaus beschleunigen, vorausgesetzt, sie werfen die Welt nicht auf die Kohle zurück. Aber damit stellen sich neue Herausforderungen. Selbst wenn der Westen von fossilen Brennstoffen und Ölstaaten wie Russland unabhängiger wird, wächst die Abhängigkeit von einer Reihe anderer, weniger bekannter Metalle aus anderen Ländern. Nur mit ihnen können wir Maschinen bauen, die uns mit sauberer Energie versorgen. Und da erneuerbare Energie eine viel geringere Energiedichte hat als fossile Brennstoffe oder Kernenergie, müssen wir viel mehr Produktionsstätten errichten, um dieselbe Energiemenge zu erzeugen. So ist es eben in der materiellen Welt.

Warum nur sechs Materialien? Warum nur Sand, Salz, Eisen, Kupfer, Öl und Lithium? Schließlich gibt es Hunderte von Elementen, Verbindungen und Materialien, die bei der Produktion der Dinge, auf die wir angewiesen sind, und für die Dienstleistungen, die wir in der modernen Welt brauchen, eine wichtige Rolle spielen. Bor stand nie auf irgendeinem nationalen Pandemieplan, und doch hat sich seine Beschaffung als zentraler Bestandteil der Bemühungen erwiesen, einen Impfstoff gegen Covid-19 zu produzieren und auszuliefern – keine einfache Aufgabe angesichts der Tatsache, dass das Element vorwiegend an einigen wenigen Orten auf der Erde mit Vulkantätigkeit und trockenem Klima vorkommt. Fast ein Drittel der weltweiten Vorkommen liegt in der Türkei, weitere Mengen kommen aus den Wüsten Kaliforniens und dem fernen Osten Russlands.

Darüber hinaus gibt es für Borate – die Salze, in denen das Element gebunden ist – viele andere Verwendungszwecke: Sie sind ein Bestandteil von Düngemitteln, helfen bei der Saatgutentwicklung und steigern damit die Getreideerträge. Sie tragen dazu bei, Holz haltbar zu machen und vor der Zersetzung durch Insekten oder Pilze zu schützen. Setzt man dem Stahl Bor zu, verbessert es dessen Härtbarkeit. Im Wasser eines Swimmingpools vermindert Bor den Säuregehalt und beugt der Algenbildung vor.

Oder was ist mit Zinn? Es ist sowohl ein unentbehrlicher Bestandteil elektronischer Leiterplatten als auch eines der ältesten Metalle, die unsere Vorfahren zu nutzen lernten. Was ist mit dem Aluminium, dem häufigsten Metall in der Erdkruste, dessen Verarbeitung die Menschen allerdings erst vor relativ kurzer Zeit gelernt haben? Oder Platin und seine Schwestermetalle wie Palladium und Rhodium – seltene, aber wichtige Bestandteile in elektrischen Bauteilen und Abgaskatalysatoren? Was ist mit Chrom, das bei der Herstellung von Edelstahl eine unentbehrliche Rolle spielt, oder mit Kobalt oder den Seltenen Erden wie Neodym und anderen Metallen, die zu Bestandteilen von Präzisionsmagneten werden?

Die sechs Materialien, die in diesem Buch die Hauptrolle spielen, sind nicht die einzigen wichtigen Substanzen für uns Menschen, aber sie sind von derart zentraler Bedeutung, dass sie stellvertretend für andere stehen können, die hier nicht näher beschrieben werden.

Albert Einstein wurde einmal von Journalisten gebeten, seine Relativitätstheorie zu erklären. Darauf antwortete er: »Früher glaubte man, dass, wenn alle materiellen Objekte aus dem Universum verschwinden würden, Zeit und Raum übrig blieben. Gemäß der Relativitätstheorie verschwinden jedoch auch Zeit und Raum zusammen mit den Objekten. Das ist alles.« Das Gleiche könnte man auch über die materielle Welt sagen. Diese Substanzen bilden das Fundament der Zivilisation. Ohne sie würde das normale Leben, wie wir es kennen, sich auflösen.[4]

Wir beginnen mit dem Sand. Er ermöglicht uns einen Rundumblick über die materielle Welt insgesamt. Hier stoßen wir auf das älteste künstlich hergestellte Produkt der Menschen (Glas) und auch auf eines der am weitesten fortgeschrittenen Erzeugnisse (Halbleiter). Während Sand der Stoff ist, aus dem wir Dinge herstellen, ist Salz ein Material, mit dem wir Dinge umwandeln. Außerdem ist es ein unentbehrlicher Faktor für Gesundheit und Ernährung. Die Abschnitte über Eisen und Kupfer stehen in dieser Reihenfolge, weil die Geschichte des Eisens mit der Geschichte der Kohle verwoben ist, während Kupfer als Medium der Elektrizität dient. Wenn wir sie in diese Reihenfolge einordnen, behandeln wir die erste und dann die zweite große Energiewende der Neuzeit: den Gebrauch der fossilen Brennstoffe und der Elektrizität. Die dritte und vierte Energiewende werden in dem Abschnitt über Öl erörtert, der in Wirklichkeit sowohl Öl als auch Gas behandelt. Nachdem wir dann in einem großen Teil des Buches die Materialien betrachtet haben, die uns zu den industriellen Revolutionen vergangener Jahrhunderte verholfen haben, enden wir mit dem Material, das uns die nächste Revolution verspricht. Lithium steht im Mittelpunkt der kommenden Energiewende: weg von fossilen Brennstoffen, hin zu erneuerbaren Ressourcen.

Im Fortgang der Erzählung habe ich mir einige Freiheiten genommen. Puristen mögen meine Entscheidung, Öl und Gas in einem Abschnitt zusammenzufassen, ebenso infrage stellen wie die Tatsache, dass sich der Abschnitt über Salz nicht ausschließlich mit Natriumchlorid beschäftigt, sondern sich auch Abschweifungen zu einigen anderen Salzen erlaubt. Gastauftritte haben darüber hinaus Stoffe wie Kohle oder Düngemittel auf Stickstoffbasis, obwohl sie nicht ausdrücklich zu den sechs entscheidenden Materialien gezählt werden.

Mich in dieser Welt umzusehen war ungemein faszinierend und intellektuell anregend. Und es war mehr: eine unerwartete Therapie. Als ich immer tiefer grub und Recherchen über die Hauptbestandteile des modernen Lebens anstellte, fühlte ich mich immer stärker mit der materiellen Welt verbunden. Natürlich war ich noch immer nicht in der Lage, eine Autobatterie, eine Glasscheibe oder ein Smartphone herzustellen, aber diese Gegenstände waren mir kein völliges Rätsel mehr. Bisher hatte ich, wie die meisten, in der immateriellen Welt in seliger Unwissenheit dahingelebt, ohne mir Gedanken darüber zu machen, wie wir Dinge produzieren, aus welchen Materialien sie bestehen und wie wir diese beschaffen. Jetzt sah ich mich mit anderen Augen um. Ich würde mir wünschen, dass dieses Buch dazu anregt, die Welt, in der wir leben, mit anderen Augen zu betrachten, eine Welt, deren alltägliche Gegenstände und Materialien voller Wunder und Magie stecken.

Die sechs in diesem Buch beschriebenen Materialien sind vielleicht nicht knapp. Sie sehen vielleicht nicht besonders sexy aus und fühlen sich auch nicht so an. Sie sind als solche nicht sonderlich wertvoll. Und doch sind sie die Grundbausteine unserer Welt. Sie sind zur Triebkraft für das Wohlergehen großer Reiche geworden. Sie haben uns geholfen, Städte aufzubauen und niederzureißen. Sie haben das Klima verändert und könnten zu gegebener Zeit dazu beitragen, es zu retten. Diese Materialien sind die unbesungenen Helden der Neuzeit, und es ist an der Zeit, dass wir ihre Geschichte hören.

I Sand

1. Homo faber

Unsere Geschichte beginnt mit einem Knall.

Es war eine Explosion von so großen Ausmaßen, dass man sie auf zwei oder vielleicht auch drei Kontinenten hören konnte. Allerdings war da weit und breit kein Mensch, der sie hätte hören können. Sie ereignete sich nämlich vor rund 29 Millionen Jahren – lange vor der Geburt des Homo sapiens – irgendwo an der heutigen Grenze zwischen Ägypten und Libyen. Dort, im großen Sandmeer der Wüste, durchschnitt ein Meteor den Himmel und explodierte. Der Feuerball und der Lärm müssen noch die Säbelzahnkatzen und Menschenaffen durchgeschüttelt haben, die auf der anderen Seite des Mittelmeers herumstreiften.

Dieser Meteoreinschlag ist weniger bekannt als jener, der nach heutiger Kenntnis vor ca. 60 Millionen Jahren das Aus für die Dinosaurier bedeutete. Dieser hier hatte, soweit wir wissen, kein verbreitetes Aussterben zur Folge. Uneinig sind sich die Forscher allerdings in der Frage, ob der Meteor in der Luft oder bei seinem Einschlag auf dem Boden explodierte – die Suche nach einem entsprechenden Krater läuft noch. In jedem Fall hat der afrikanische Meteor aber eine besondere Bedeutung: Er liefert die überzeugendste Erklärung für eine rätselhafte Geschichte, die Archäologen und Geologen seit über einem Jahrhundert beschäftigt.

Unter den Schätzen, die man im Sarkophag des Tutanchamun entdeckte, war auch ein Amulett mit einer Darstellung des Sonnengottes Ra. Es ist ein atemberaubend schönes Schmuckstück, auf den ersten Blick zwar weniger spektakulär als die berühmte goldene Totenmaske des jungenhaften ägyptischen Herrschers, aber bei genauer Betrachtung nicht minder faszinierend. Dieses Pektoral, wie es manchmal genannt wird, ist mit kostbaren Edelsteinen und Metallen besetzt: Gold, Silber, Lapislazuli, Türkis und Karneol. In seiner Mitte befindet sich jedoch ein Käfer, der aus einem durchscheinenden, kanariengelben Stein geschnitzt ist. Alle anderen Steine sind bekannt, aber dieses gelbe Material hatte zu der Zeit im 20. Jahrhundert, als man das Grab entdeckte, noch nie jemand gesehen. Wie konnte das sein? Was für ein Material war das? Und woher stammte es? Antworten fand man erst, als Entdecker sich weit in die Wüste vorwagten.

Das Große Sandmeer erhielt seinen Namen von Gerhard Rohlfs, einem deutschen Entdecker, der 1873 eine Expedition in das »Land der Toten« leitete, wie der Westen Ägyptens zu Zeiten der Pharaonen genannt wurde. Als er die Oase Dachla verlassen und wochenlang keine Spuren menschlichen Lebens gesehen hatte, stieß er nach 160 Kilometern plötzlich auf eine Barriere.

»Sanddünen, und dahinter Sand – ein wahres Meer aus Sand«, schrieb er. Er versuchte die Dünen zu überqueren, aber es war unmöglich: Sie waren zu hoch, der Sand unter den Füßen selbst für die Kamele zu locker. Er versuchte sie zu umgehen. Auch das war unmöglich: Sie erstreckten sich nach Norden und Süden, so weit das Auge reichte. Wochenlang zog er mit seinem Tross an den Dünen entlang, aber vergeblich. Schließlich entschloss er sich umzukehren und nach Norden in Richtung von Siwa zu ziehen, der nächstgelegenen Oase. Die Expeditionsteilnehmer schrieben Briefe für den Fall, dass sie die Rückreise nicht überlebten, steckten sie in eine Flasche und bauten darüber ein Steinmännchen. Heute ist es üblich, dass Reisende, die im Großen Sandmeer an dem Hügel vorüberkommen, dort ebenfalls eine Nachricht in einer Flasche hinterlassen.

Rohlfs überlebte den Rückweg nur mit einer unwahrscheinlich großen Portion Glück. Während er durch eine der trockensten Regionen der Welt zurückreiste, in der es manchmal jahrzehntelang nicht regnet, öffnete der Himmel unerwartet seine Schleusen, und seine Leute konnten ihre Wasservorräte auffüllen. Erst Wochen nach diesem unerwarteten Naturereignis waren der erschöpfte Deutsche und seine Begleiter in Sicherheit. Ihre Berichte waren so bedrückend, dass während der nächsten fünfzig Jahre niemand die Reise erneut in Angriff nahm.

Sieht man sich heute Satellitenaufnahmen des Gebiets an, so erkennt man sofort, womit es Rohlfs zu tun hatte: Lange Dünen ziehen sich parallel von Norden nach Süden. Getrennt sind sie von flachen Korridoren, die so geradlinig verlaufen wie eine römische Straße. Diese rechtwinkligen Formationen entstehen durch die vorherrschenden Winde und werden auch als Längs- oder Longitudinaldünen bezeichnet. Manche von ihnen sind fast 150 Kilometer lang. Sie wirken statisch und symmetrisch, aber bis wir die Bilder zu sehen bekommen, sind sie bereits veraltet.

Die Dünen sind ständig in Bewegung und verschlingen alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Herodot beschrieb bereits im 5. Jahrhundert v. Chr., wie ein persischer Prinz eine Armee in diese Wüste schickte. Nicht lange nachdem sie in das Große Sandmeer vorgedrungen war, wurde sie von einem Sandsturm verschluckt, und man sah sie nie wieder. Hin und wieder präsentiert ein Archäologe angebliche Hinweise auf die verschollene Streitmacht.

Aber der Blick von oben auf die Dünen vermittelt nicht das gleiche Gefühl, als wenn man an ihrem Fuß steht. Nicht ohne Grund beschrieben die meisten frühen Entdecker diese Formationen, als wären sie Lebewesen.

»Sie wachsen«, schrieb Ralph Bagnold, ein Brite, der die Sahara in den 1930er Jahren erkundete. »Manche führen ein Eigenleben und können ihre Form behalten, während sie sich von Ort zu Ort bewegen, und sie können sich sogar paaren.«[5]

Manchmal brechen Längsdünen auch an einem Steilhang zusammen und bilden dann Sicheldünen oder Barchane, wie sie auch genannt werden. Manchmal steigt eine Längsdüne auf eine andere, und beide zusammen bilden einen »Walrücken« oder Mega-Barchan.

Die Wechselbeziehungen zwischen Sandkörnern, Wind und ihrer Umgebung scheinen rätselhaft, in Wirklichkeit sind die physikalischen Verhältnisse im Sand aber nur unglaublich komplex. Nachdem Bagnold bei seiner Wüstendurchquerung auf diese Sanddünen gestoßen war, widmete er den Rest seines Lebens dem Ziel, sie zu verstehen.

Jeder, der heute Sanddünen studiert, steht in Bagnolds langem Schatten. Der Brite gewann so großen Einfluss, dass die NASA auf seine Bücher zurückgriff, als sie Genaueres über die Dünen auf dem Mars wissen wollte. Wer die Mission des Marsfahrzeugs Curiosity verfolgt hat, erinnert sich vielleicht, dass es zwei Jahre die Bagnold-Dünen auf dem roten Planeten erforschte.

Bagnold und eine Gruppe von Forscherkollegen durchquerten Anfang der 1930er Jahre als Erste die Wüste und vollendeten damit die Reise, die Rohlfs ein halbes Jahrhundert zuvor nicht hatte abschließen können. Sie erkundeten die Längsdünen mit Motorfahrzeugen und ließen dabei die Luft aus den Reifen ihrer Fords Modell A, um besseren Halt auf dem lockeren Sand zu bekommen. Eines Tages im Dezember 1932 hörte der Ire Pat Clayton, einer von Bagnolds Begleitern, plötzlich ein knirschendes Geräusch. Er stieg aus, um sich die Sache anzusehen, und stellte fest, dass die Wüste von großen Scheiben aus gelbem Glas bedeckt war.

Erst Ende der 1990er Jahre konnten Forscher bestätigen, dass der kanariengelbe Käfer, der das Zentrum des Amuletts von Tutanchamun bildet, aus demselben Material besteht wie das Glas, über das Pat Clayton mehr als 800 Kilometer entfernt im Großen Sandmeer gefahren war. Der ägyptische Kindkönig wurde im Tal der Könige mit einem Edelstein bestattet, den man aus dem Land der Toten geholt hatte. Der leuchtend gelbe Stein war nicht wie Diamanten, Saphire und ähnliche Edelsteine über Jahrtausende durch Wärme und Druck in der Erdkruste geformt worden, sondern in einem einzigen Augenblick durch einen herabstürzenden Himmelskörper. Der Meteor hatte den Sand vor 29 Millionen Jahren in eine Art Glas verwandelt – das Libysche Wüstenglas.

Glas kommt auch in anderen Formen in der Natur vor. Obsidian, ein tiefschwarzes Gestein, das von unseren prähistorischen Vorfahren als Werkzeug verwendet wurde, ist eigentlich eine Art vulkanisches Glas. Es bildet sich, wenn Magma schnell abkühlt und zu Stein wird. Dann gibt es die Tektite, glasartige Kiesel, die entstehen, wenn Meteoriten oder Kometen auf der Erdoberfläche einschlagen, wobei ihre Bruchstücke zu glänzenden Steinen verschmelzen. Oder die Fulgurite, knorrige Röhren, die man manchmal nach einem Blitzeinschlag an einem Strand oder einer Düne findet. Dennoch war das Glas, das Clayton dort in der Wüste gefunden hatte, etwas Besonderes: Es war von vollkommener, fast unglaublicher Reinheit.

Der Hauptbestandteil von Glas ist Siliziumdioxid, auch Quarz genannt. Und da man Glas mangels einer besseren Bezeichnung als geschmolzenen Sand bezeichnen kann, ist Siliziumdioxid auch sein Hauptbestandteil. Der Gehalt an Siliziumdioxid kann dabei beträchtlich schwanken. Gläser, aus denen wir trinken, oder unsere Fensterscheiben bestehen in der Regel zu etwa 70 Prozent aus der Verbindung. Obsidian und die meisten Tektite enthalten rund 65 bis 80 Prozent. Das Libysche Wüstenglas dagegen hat einen Siliziumdioxidgehalt von erstaunlichen 98 Prozent. Damit ist es nicht nur das reinste natürlich vorkommende Glas, das man bisher entdeckt hat, sondern auch reiner als alles, was Menschen herstellen können – jedenfalls zur Zeit.[6]

 

Sand ist das große Rätsel in der materiellen Welt.

Knapp ist er nicht. Wer sich zum Gipfel einer Düne hinaufbemüht hat und das Große Sandmeer überblickt, sieht nichts als ein einziges unendliches Siliziumdioxid-Panorama. Silizium in den Körnern unter unseren Füßen, Silizium am Boden der Korridore zwischen den Streifendünen, Silizium im vorzeitlichen Sandstein des Hochplateaus von Gilf el-Kebir am Horizont. Nach dem Sauerstoff, der sich an praktisch alles andere heftet, ist Silizium mit Abstand das häufigste Element der Erdkruste.

Da Sand so allgegenwärtig ist, verwundert es nicht, dass wir so viele verschiedene Möglichkeiten gefunden haben, ihn zu verwenden. Wir graben und schlagen und sprengen mehr Sand aus der Erde als jedes andere Material. Aber Sand birgt ein wirtschaftliches Rätsel: In manchen Formen ist er sehr kostbar – so kostbar, dass die Europäische Union seine reinsten, elementarsten Formen als kritischen Rohstoff einstuft.

Die Erde besteht aus Sand, und doch hören wir häufig Berichte über eine dramatische Sandknappheit. In manchen Winkeln der Erde gibt es Sandmafias, die um die Kontrolle über die Siliziumkörner kämpfen und dafür sogar töten. Im Schutz der Nacht graben Banditenbanden die Strände und Flussbetten ab, um den Sand zu schmuggeln und auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen.

Manche Sandsorten werden wegen ihres Wertes geschätzt, manche wegen ihrer Schönheit, manche wegen der Form der Körner oder ihrer Reinheit. Auf Sardinien verhängen die Behörden mittlerweile Geldstrafen gegen Touristen, die den legendären weißen Sand von den Stränden tütenweise als Souvenir mitnehmen. Auf der Kleopatra-Insel vor der türkischen Küste ist der ungewöhnlich weiße Sand so begehrt, dass man ihn von den Füßen waschen muss, bevor man den Strand verlässt, damit niemand unabsichtlich auch nur ein einziges Korn entwendet. In Teilen Asiens sind Flussökosysteme durch übermäßiges Ausbaggern bedroht, weil Graumarkt-Sandhändler einen anscheinend unersättlichen Hunger nach Sand und Kies für Bauzwecke stillen. Menschen wurden in den Ruin getrieben und die Umwelt zerstört, alles zur Gewinnung eines Stoffes, den es eigentlich überall gibt.

Leider geht die Behauptung, Sand gebe es überall, an der Sache vorbei: Es gibt viele verschiedene Arten von Sand, und jede hat ihre eigenen, einzigartigen Merkmale. Der überwiegende Bestandteil der meisten Sandarten ist Siliziumdioxid, aber manche, insbesondere der schöne weiße Sand an tropischen Stränden, bestehen vorwiegend aus etwas anderem: aus den zermahlenen Überresten von Schalentieren und Korallen. Wer schon einmal an einem Strand in der Karibik oder auf Hawaii war, ist mit den Füßen höchstwahrscheinlich in den Exkrementen von Papageifischen versunken: Die Fische fressen Korallen, entziehen ihnen die Nährstoffe und scheiden das verbleibende Kalziumkarbonat am Meeresboden aus. Je weißer und wärmer ein Strand ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er aus dem Darm von Papageifischen stammt.

Die Frage, woraus Sand besteht, ist nicht so einfach beantwortet, wie man meinen sollte. In der Geologie kennt man die sogenannte Udden-Wentworth-Skala. Sie besagt, dass alle festen, lockeren Körner von einer bestimmten Größe (genauer gesagt zwischen 0,0625 und 2 Millimeter) eine Art Sand sind. Paradoxerweise müsste man demnach auch Zucker und Salz als Sand bezeichnen. Für unsere Zwecke wollen wir aber die Udden-Wentworth-Skala beiseite lassen und uns auf die 70 Prozent des Sandes konzentrieren, die größtenteils aus Siliziumdioxid bestehen.

Von Bedeutung ist der Siliziumdioxidgehalt des Sandes vor allem deshalb, weil er letztlich darüber bestimmt, was man damit anfangen kann. Manche Sandarten, so auch die im Großen Sandmeer, sind relativ reich an Siliziumdioxid – das ist zum Teil eine Erklärung dafür, warum das Libysche Wüstenglas so rein ist. Der meiste Sand, auf den wir treten, enthält aber zu wenig Siliziumdioxid und zu viele Verunreinigungen, sodass man ihn nicht zu klarem Glas – und übrigens auch nicht zu Siliziumchips – verarbeiten kann. Auch das ist wieder ein Aspekt, der den Sand so rätselhaft macht: Zwei Hände voll davon in freier Wildbahn sind sich nie genau gleich.

Auch das Silizium selbst ist ein Rätsel: Es ist metallisch, aber doch eigentlich kein Metall, und es leitet Elektrizität, aber nach seinen eigenen Bedingungen. Man kann es zu einem Polymer, einem Kunststoff, verarbeiten. Sand mag sich angenehm weich anfühlen, aber jedes einzelne Korn ist extrem hart. Seine erstaunliche Widerstandskraft ist ein Grund, warum es zu einem der physischen Fundamente der Welt des 21. Jahrhunderts wurde. Er ist gleichzeitig die Grundlage der ältesten und der neuesten Produkte, deren Herstellung die Menschheit erlernt hat. Er bildet damit gleichsam den Rahmen unserer Zivilisation. Die Umwandlung von Silizium in Perlen, Gefäße und Schmuck kennzeichnete den Beginn der Ära des Homo faber – des »schaffenden Menschen«. Dieselbe Substanz dient auch zur Herstellung der Smartphones und intelligenten Waffen des 21. Jahrhunderts.

Am Strand und in der Wüste finden wir also unseren ersten Protagonisten. Die frühen Alchemisten von der Antike bis ins Mittelalter wollten Blei und andere wenig spektakuläre Metalle in Gold verwandeln. Die Bemühungen scheiterten. Man kann aus wertlosen Materialien nun einmal kein kostbares Edelmetall herstellen – so lautete das Urteil in späteren Zeiten. Aber recht besehen stellen wir aus Silizium heute am laufenden Band Produkte her, die ganz buchstäblich ihr Gewicht in Gold wert sind.

Da wir also inzwischen gelernt haben, eine billige Substanz in eine kostbare zu verwandeln, sollten wir uns vielleicht nicht wundern, dass diese technischen Fähigkeiten ihrerseits so heiß begehrt sind. Wenn Handelskriege ausbrachen, stand Sand oftmals im Mittelpunkt. In Washington herrscht heutzutage oftmals die Sorge, China könnte eigene Siliziumchips herstellen, die auf dem gleichen hohen technischen Niveau sind wie solche aus Taiwan und Südkorea. Wird das Land schneller und erfolgreicher Quantencomputer entwickeln als die Vereinigten Staaten?

Nachdem Peking seine Konkurrenten in den letzten Jahren auf so vielen wirtschaftlichen Sektoren überholt hat, mag eine Vorherrschaft im Bereich des Siliziums vielleicht unvermeidlich erscheinen, aber zumindest zu der Zeit, da diese Zeilen geschrieben werden, ist eine solche noch nicht in Sicht. China mag die globale Stahl-, Baustoff-, Batterie- und Smartphoneherstellung sowie in letzter Zeit sogar die sozialen Medien dominieren, aber eine weltweit führende Halbleiterindustrie? Bisher nicht.

Warum? Unter anderem deswegen, weil der Prozess, durch den Sand zu Siliziumchips verarbeitet wird, so überaus komplex ist. Die Methoden, mit denen unter anderem so kleine Transistoren hergestellt werden, dass ihre Abmessungen sich nach der Größe von Atomen bemessen, sprengen jede Vorstellungkraft von uns Laien. Darüber hinaus werden die politisch Verantwortlichen im Westen nichts unversucht lassen, um eine chinesische Vorherrschaft in diesem Technologiebereich zu verhindern. Doch auch wenn das alles sehr nach den Problemen unserer globalisierten Zeit klingt: Sand stand immer und schon lange vor dem Zeitalter der Siliziumchips im Mittelpunkt der fortschrittlichsten Technologie.

Jahrhundertelang wetteiferten Regierungen um die Kontrolle über eine andere führende Technologie, die sich vom Sand ableitete und ihren Benutzern gewaltige Möglichkeiten eröffnete. Diese Technologie war das Glas. Während heutige Regierungen bestrebt sind, eine eigene Halbleiterindustrie und einen Elektroauto-Sektor aufzubauen, setzten ihre Vorgänger alle Hebel von der Industriepolitik bis zur Industriespionage in Bewegung, um den Handel mit Glas zu kontrollieren. Heute werden Forscherinnen und Forscher daran gehindert, ihre Geheimnisse aus dem Westen nach Asien zu schmuggeln, und ganz ähnlich erging es auch den Handwerkern von Murano, die als Erste lernten, wirklich durchsichtiges, dünnes, schönes Glas herzustellen. Wenn sie versuchten, die Insel in der Lagune von Venedig zu verlassen, drohte ihnen der Tod.

Als der englische Glasmacher George Ravenscroft mit der Hilfe von Handwerkern, die er aus Murano herausgeschmuggelt hatte, die Methode zur Herstellung schönen Kristallglases erlernt hatte, weigerten sich er und seine Arbeiter, den geheimen Bestandteil zu verraten – was zu jener Zeit aus kommerziellen Gründen sinnvoll war, aus heutiger Sicht aber verantwortungslos scheint: Bei der geheimen Zutat handelte es sich um Blei, ein giftiges Metall, das in die Getränke übergehen kann, wenn man sie in einer Kristallkaraffe stehen lässt. Während der napoleonischen Kriege war Großbritannien bestrebt, Frankreich vom Glas abzuschneiden. In der Anfangszeit der Vereinigten Staaten war es englischen Glasmachern verboten, dorthin zu emigrieren – die britische Regierung wollte die heimische Industrie mit Vorschriften und Steuern schützen. Allgemein bekannt ist, wie die ersten amerikanischen Siedler sich über die Steuern auf Tee ärgerten; viel weniger bekannt ist, dass sie sich auch über die britischen Steuern auf Glas empörten.

Der technologische Konflikt rund ums Silizium ist also nichts Neues. Kriege werden deswegen schon seit Jahrhunderten zwischen unterschiedlichen Supermächten an vielen Fronten und auf vielen Kontinenten ausgefochten. Sie haben sich an allen möglichen unerwarteten Orten abgespielt, so auch in vergessenen Winkeln stiller Länder, Hunderte von Kilometern von den offiziellen Fronten entfernt.

Glas

Wenn Wirtschaftshistoriker sich mit der Menschheitsgeschichte beschäftigen, sehen sie durch das Glas meistens einfach hindurch. Warum fand die industrielle Revolution gerade in diesem Teil der Welt und zu dieser Zeit statt – im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts? Dazu gibt es viele Theorien – betont werden die Sitten und Gebräuche der Gesellschaft, ihre politischen Institutionen, die Bildung oder die Geographie. Genannt werden auch die spektakulären Neuerungen der Zeit: die Dampfmaschine zum Beispiel oder der Hochofen. Kaum jemand wird in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass Glas eine entscheidende Rolle gespielt haben könnte, und doch ist genau das der Fall.

Linsen aus Glas versetzten die Menschen in die Lage, in den Weltraum zu blicken. Mit ihrer Hilfe konnten Galilei und andere frühe Astronomen beweisen, dass die Erde um die Sonne kreist. Sie trugen dazu bei, die wirtschaftliche Macht von Staaten zu stärken, weil sie die Menschen in die Lage versetzten, eine längere Zeit ihres Lebens zu arbeiten: Bevor die Linsen erfunden waren, mussten alle, die ihr Sehvermögen verloren, sich vorzeitig zur Ruhe setzen. Durch bikonvexe Linsen in einem Brillengestell war dies nicht mehr nötig. Die Bedeutung technischer Durchbrüche wie der Druckpresse bezweifelt niemand. Aber wie steht es mit der Tatsache, dass ihre Einführung mit einem Massenmarkt für Brillen zusammenfiel, die einem beträchtlichen Anteil der gebildeten Bevölkerung überhaupt erst das Lesen ermöglichte?