Matrix-Liebe - Traian Suttles - E-Book

Matrix-Liebe E-Book

Traian Suttles

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Beschreibung

Meilensteine der Filmgeschichte - eine Analyse der Matrix-Trilogie Kaum dass im Feuilleton und in Filmzeitschriften an die 20 Jahre zurückliegende Premiere von The Matrix erinnert wurde, sorgte die gänzlich unerwartete Ankündigung eines neuen Matrix-Spielfilms für Aufregung in der Kinowelt. Aus diesem Anlass widmet sich Traian Suttles, der mit Drogenrausch und Deduktion (2017) eine maßgebliche Untersuchung zum Thema Sherlock Holmes vorlegte, diesmal den labyrinthischen Abgründen der Matrix-Trilogie. Zahlreiche neue, systematisch geordnete Einblicke in die Dramaturgie und Ideenwelt von The Matrix, Matrix Reloaded und Matrix Revolutions anbietend, ergibt sich die im deutschen Sprachraum detaillierteste Analyse zu diesen Meilensteinen der Filmgeschichte.

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Traian Suttles

Matrix-Liebe

Zur Rückkehr eines Kino-Mythos

Der Autor

Traian Suttles, geboren in Hamburg, zunächst britischer, dann deutscher Staatsbürger. Biowissenschaftliches Studium mit Promotion in Frankfurt am Main, danach interdisziplinäre Arbeit im Übergangsbereich zu Geschichtsforschung und Kulturwissenschaften. Sachbuchdebüt war die Sherlock Holmes-Studie Drogenrausch und Deduktion (2017). Matrix-Liebe ist sein erster Beitrag zum Themenkomplex Kino und Film.

eISBN 978-3-947612-76-5

Copyright © 2020 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung und -motiv: Lukas Hüttner

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere Bücher:www.mainbook.de

Inhalt:

Vorwort

Einleitung

Teil 1: The Matrix (1999)

Anruf aus der Matrix

Heart o’ the City-Hotel

Zimmer 101: Neos Mansarde

Follow the white rabbit: Neo und Trinity

Metacortex

Verhör und Verwanzung

Entkommen und Entwanzung

Rote oder blaue Pille?

Zerfließender Spiegel und zerreißender Kokon: Neos Abkoppelung

Auf der Nebukadnezar

Im Konstrukt

Deep Image – Wahrheit via Monitor

Morpheus und Neo

Mr. Regans Karriereplanung

Steak versus Frühstück

Besuch beim Orakel

Cyphers Verrat

Agent Smith und Morpheus

Neos Entscheidung

Morpheus’ Rettung

Helikopter-Crash

Die Telefonzelle an Gleis 3

Balbo Street Brawl

Doppelangriff der Maschinen

Zimmer 303: Neos Transformation

Neos „Weckruf“

Zwischenbetrachtung I

Teil 2: Matrix Reloaded (2003)

Neos Alptraum

Squiddies en masse – Angriff der Maschinen

»Hm – Upgrades!«

Zion Control

Morpheus und Lock

One night in Ziopolis

Präzedenzfall Bane: überschriebene wetware

Neo und Senator Hamann

Begegnung(en) mit Seraph

Hintertüren zum Orakel

Burly Brawl – Neo gegen die „Legion“

Die Senatssitzung: Niobes „Entscheidung“

Das Le Vrai: Vorposten des Merowingers

Persephones Kuss

»Get the Keymaker!«: Neo gegen die Dämonen

Freeway 101

Instruktionen des Schlüsselmachers

Smith(s) im Backdoorflur

An der Quelle: Neo beim Architekten

Trinitys Rettung

Neo und die Wächter: (k)ein Fall von Psychokinese

Zwischenbetrachtung II

Teil 3: Matrix Revolutions (2003)

Morpheus’ Verdacht

Orakel reloaded

Mobil Ave: die indische Familie

Hel Club, oder: Kausalität versus Glaube

Neos Rettung

Neo beim Orakel

Smith(s) beim Orakel

Evakuierung

Neos Vision und Re-Vision

Drei Kapitäne, ein Schiff

Anflug auf die Felder, Angriff der Wächter und Trinitys Tod

Neos Angebot und der „Urschmerz“ der KIs

»Es ist vollbracht«: Neos Tod und Reboot der Matrix

Neuer Sonnenaufgang

Schlussbetrachtung

Nachwort

Literatur

Für

K. M. W.

Wann hört sie auf, des wilden Glühens Plage,

Bezauberin gefallener Seraphim?

Lass ruhn den Zauber längst vergangener Tage.

Blick deiner Augen setzte Mannes Herz in Flammen.

Sage,

Lebt anderes als dein Wille noch in ihm?

Wann hört sie auf, des wilden Glühens Plage?

(James Joyce, 1916)

Vorwort

Unter Freunden der Matrix-Trilogie ist folgendes Muster weit verbreitet: The Matrix wird heiß geliebt, Matrix Reloaded – trotz zahlreicher Höhepunkte – weniger, Matrix Revolutions noch weniger. Trennt man nicht auf diese Weise und betrachtet das Matrix-Projekt als Ganzheit, können Reloaded und Revolutions jedoch Boden gutmachen. Die vorliegende Untersuchung ist in diesem Geist verfasst, unbeirrt von der Tatsache, dass die (allgemein als sehr überraschend empfundene) Realisierung eines vierten Matrix-Filmes mit Keanu Reeves und Carrie-Anne Moss im Gange ist.

Erwartungsgemäß liegt aus dem angloamerikanischen Raum viel umfangreichere Sekundärliteratur vor als im deutschsprachigen. Dort etablierte Begriffe wie Matricians und Zionites wurden als Vorlage für Eindeutschungen verwendet (also »Matrizianer« und »Zioniten«), während anderes wie Redpiller und Bluepiller im Text unverändert bleibt. Auch bei Filmzitaten ist nicht konsequent das englische Original wiedergegeben; es wird davon ausgegangen, dass der neugierige Leser seine DVDs oder sonstigen Wiedergabesysteme „in Reichweite“ hat und den Vergleich selbst vornehmen kann. Generell folgt der Kapitelaufbau recht genau dem Ablauf der drei Filmhandlungen, wobei zahlreiche inhaltliche Vorgriffe oder Rückblenden argumentativ unvermeidlich waren.

Eine große Bürde für ein Buchprojekt wie dieses besteht in den unüberblickbaren Internetquellen, vor allem den intensiv betriebenen Diskussionsseiten der „ersten Stunde“, welche mittlerweile aus dem Net verschwunden beziehungsweise nur noch über wayback-Funktionen zugänglich sind. Es wurde darauf verzichtet diesen schwer zugänglichen Quellen im Einzelnen nachzuspüren; folglich ist nicht auszuschließen, dass viele der hier als „neu“ dargestellten Gedanken in irgendwelchen längst verschütteten Forumsdiskussionen vor sich hin schlummern. Für die Gesamtheit der vorgelegten Untersuchung jedoch hofft der Verfasser, gewisse Originalität für sich beanspruchen zu können.

T. S., März 2020

Einleitung

Wenn Peter Bogdanovich in seinem 1968 gedrehten Debüt Targets die Klage ausstößt, alle guten Filme seien bereits gemacht worden, wirkt dies ausgesprochen vergnüglich: jedenfalls dann, wenn man bedenkt, dass im selben Jahr Stanley Kubrick mit 2001 ein Vorstoß in neue cineastische Dimensionen gelang. Gut drei Jahrzehnte später glückte Larry und Andy Wachowski ein solcher Wurf mit The Matrix; der Film gilt als unbestrittener Meilenstein der Filmgeschichte. Nicht wenige Kinofreunde sind der Ansicht, dass den Wachowskis mit The Matrix der Film des Jahrhunderts gelang (kurz vor Ultimo, sozusagen: Premiere war am 31.3.1999). Und den überzeugtesten Anhängern dürfte es kaum schwerfallen, The Matrix (wenn nicht gar die gesamte Trilogie, vollendet 2003 mit Matrix Reloaded und Matrix Revolutions) in der Welt des Spielfilms dort anzusiedeln, wo man in der Belletristik Ulysses verortet.1

Gegenstimmen und Euphoriekiller freilich lassen sich ebenso benennen. Seeßlen (2003, S.112) erinnert wie folgt an zeitgenössische „Expertenmeinungen“:

»Die etablierte amerikanische Filmkritik wurde von THE MATRIX definitiv auf dem falschen Fuß erwischt (aber steht sie nicht ohnehin seit geraumer Zeit selten auf dem richtigen?). Sowohl in Time wie in Newsweek fanden sich eher gelangweilte Rezensionen (…). Der Hollywood Reporter sprach davon, dass die Story in THE MATRIX den Spezialeffekten eins zu zehn unterlegen sei. Wenige Wochen später mussten die Blätter andere Schreiber daran setzen, den überraschenden Erfolg und das soziale Phänomen MATRIX zu erklären.«

Dass mit der Erklärung des »sozialen Phänomens« noch lange kein Lob verbunden sein muss, zeigt exemplarisch Hurka (2004, S.240):

»Matrix ist ein Gewalt- und Dämonisierungsfilm, der wie die Masse filmischen Outputs auf einer dualistischen Gut-Böse-Struktur basiert. Ein zum kämpfenden Helden codierter Opferselektor ist auf angebliche Mächte des Bösen angesetzt und vernichtet in einer Showdown-Sequenz (s)einen Widersacher, den Träger des Bösen. (…) Indessen handelt es sich, weil der Ausgang dieses immergleichen Kampfes in den Filmen von vornherein feststeht, um einen Scheinkampf, der von der Story zum anregenden Katz- und Mausspiel ausgespannt wird. (…) Ist aber, was das Publikum immer schon weiß, die Überlegenheit des guten Kontrahenten prästabilisiert, dann ist der Tod der Negativfigur nicht das Resultat eines Kampfes, sondern einer Hinrichtung.«

Berücksichtigt man nur The Matrix, also Teil 1 der Trilogie, so wäre gegen diese Betrachtungsweise wenig einzuwenden (Brin 2003 formuliert für den Auftaktfilm ähnliche Vorbehalte und spricht ebd. S.168 ebenfalls vom »Drang, einen dämonisierten Feind zu vernichten«). Doch schon vor dem Hintergrund aller drei Filme erhält sie Risse, und denjenigen, die The Matrix als Beginn eines multimedialen Projektes der Wachowskis kennen, fällt Widerspruch sehr leicht. Noch 2003, im Jahr der Fertigstellung der Trilogie, wurde allen Interessierten Zusatzmaterial in Form der sechs »Animatrix«-Kurzfilme sowie des Videospieles Enter the Matrix angeboten. Die Animatrix-Episode The Second Renaissance Part I & II liefert einen detaillierten Rückblick auf die Vorgeschichte des Krieges Menschen gegen Künstliche Intelligenzen (KIs), bei dem uns die von Hurka evozierte »Hinrichtung« in ganz konkreter Form begegnet, aber hinsichtlich des Gut/Böse-Schemas mit peinlich vertauschten Rollen. B-166ER hieß der mit KI-Bewusstsein ausgestattete Arbeitsroboter, welcher als erster einen Menschen tötete, weil er seiner Verschrottung, seiner verächtlichen Behandlung als bloßes „Ding“, entgehen wollte. Man könnte Notwehr geltend machen, doch die Reaktion der menschlichen Hersteller überrascht wenig: nicht nur B-166ER, sondern seine gesamte Baureihe soll aus dem Verkehr gezogen werden. Zwar schließen sich demonstrierende Menschen und KI-Roboter gegen diesen Akt der Kollektivbestrafung zusammen, aber es nützt nichts: Die Vernichtungsaktion wird durchgeführt; eines der Exekutionsbilder erinnert Seeßlen (2003, S.152f.) an die bekannte öffentliche Erschießung aus dem Saigon des Vietnam-Krieges.

Doch es kommt noch schlimmer: in der »Wiege der Menschheit«, im afrikanischen Raum, gründen andere KIs ihre eigene Stadt Zero-One. An Produktivität bald den Menschen überlegen, werden ihre Aktivitäten zum Ärgernis für die Weltwirtschaft. Lawrence (2004, S.199) weist uns an, die Seriennummer B-166ER, mit der die ganze Entwicklung begann, als BIGGER zu lesen, und damit ist das Dilemma der Menschen benannt: sollen sie zusehen, wie die KIs ungestört „bigger“ werden und irgendwann ihre Schöpfer waffentechnisch dominieren können? Ist der präventive Erstschlag nicht erzwungen?

Die KIs scheinen die Katastrophe vorauszuahnen, als sie zwei Botschafter Richtung UN entsenden und um Aufnahme von Zero-One in die Vereinten Nationen bitten. Ihr Ersuchen wird abgelehnt, und bald schon haben die Militärs das Wort: ein gewaltiger Bombenabwurf soll Zero-One von der Landkarte streichen. Als Antwort rücken rings um ihre zerstörte Heimat die Kampfeinheiten der KIs vor: der globale Krieg Menschen gegen Maschinen beginnt (und wer ihn de facto begonnen hat, ist keine Frage – in The Matrix darf Morpheus die Menschheit noch damit entschuldigen, dass man es mittlerweile nicht mehr wisse!). Unverändert arrogant, unterschätzen die Menschen den Erfindungsreichtum der zahlenmäßig unterlegenen Gegner, und schließlich wird ihre Lage so kritisch, dass sie den Feind mit der Operation Dark Storm, der Verdunkelung des Himmels, von seiner Solarenergiequelle trennen wollen (besagte Verfinsterung scheint nach dem Einschlag jenes 10km-Asteroiden konzipiert, dem das Massenaussterben am Ende der Kreidezeit folgte – die Menschen ersetzen den Asteroiden einfach durch ihre Atomwaffenarsenale2). Das Resultat ist eine ökologische Katastrophe, die die Erde unbewohnbar macht – für Pflanzen, Tiere und Menschen, aber nicht, wie angestrebt, für KIs. Die Menschheit hat den Krieg verloren, ein Teil von ihnen flieht ins Erdinnere, um den mittlerweile überlegenen gegnerischen Kampfmaschinen zu entrinnen. Der Rest jedoch wird von den neuen KI-Herrschern in eine Art künstliches Koma versetzt, um die Bioelektrizität und Körperwärme dieser massenhaft vor sich hin „schlafenden“ Menschen als Ersatz für die ausgefallene Solarenergie zu nutzen.

So ist also auch The Second Renaissance Part I & II, diese wichtigste Ergänzung des Matrix-Plots, ein »Gewalt- und Dämonisierungsfilm«, aber einer, der uns in eine nicht gerade erwünschte Vertauschung und sogar Vermischung der Rollen hineinzieht. Wer Story und Inszenierung von The Matrix genossen hat, wer keinen Kriegsfilm, sondern einen inhaltlich enorm aufgeladenen edge of the construct-Thriller sah, in dem das kanadische Duo Keanu Reeves und Carrie-Anne Moss zusammen mit US-Kollege Laurence Fishburne die Darbietungen ihres Lebens ablieferten,3 wird von den Regisseuren höchstselbst mit einer Dekonstruktion reflexhafter Lesarten versorgt: und die Wachowskis erledigen diesen Job besser, als mancher Kritiker es könnte.

Für Anerkennung ihrer innovativen KI-Reflexion sollte jedenfalls mehr Grund bestehen als zur Ablehnung, und die unvergleichlich umfangreiche Interpretationsmaschinerie, wie sie mit der Trilogie und ihren Nebenprojekten ins Rollen kam, spricht ohnehin für sich. Was die philosophische und sonstige akademische Ausdeutung betrifft, wurden z.T. die Fortsetzungen nicht einmal abgewartet (etwa Irwin 2002, Haber 2003, Yeffeth 2003). Und wer sich heute, zwanzig Jahre nach der Premiere von The Matrix, aus filmhistorischen oder rein nostalgischen Motiven mit dem Matrix-Projekt beschäftigt, ist erneut „zu früh“ dran, denn Matrix 4 wird kommen. Der oben genannten Erscheinungsfolge von The Matrix und The Second Renaissance Part I & II eingedenk folgt man dem Rezeptionsrisiko, das der Auftaktfilm einging, jedoch gerne: manchmal kann es richtig sein, zu früh zurückzuschauen.

1 Eleganter hebt Clover (2004) den Film auf diese Ebene, indem er für das Motto seiner Untersuchung Joyce adaptiert: »History, Neo said, is a nightmare from which I am trying to awake…«

2 So Watson (2003, S.133), der von einer »extremen Überhöhung der Logik des Vietnamkrieges« spricht: »Um das Dorf zu retten, mussten wir es zerstören.«

3 Nicht nur mit seinem Äußeren, sondern vor allem mit seinem darstellerischen Minimalismus wurde Keanu Reeves, kanadischer Staatsbürger multiethnischer Abstammung, zum Glücksgriff für die Hauptrolle. In den Worten von Clover (2004, S.19): »Reeves’s style (…) is famously lacking in effect.«

Teil 1: The Matrix (1999)

Vom Himmel regnen die Buchstaben der biblischen Verse: »Es kam einer in des Himmels Wolken wie eines Menschen Sohn…« Ich lese die Worte senkrecht, wie chinesische Schriftzeichen, so sinken sie herab (…).

Ka-Tzetnik 135633: Shivitti – eine Vision

Anruf aus der Matrix

Bereits vor Anfang des eigentlichen Filmes scheint die „Matrix“ ihre Allmacht zu demonstrieren, indem wir erst das Warner-Logo und dann jenes von Village Roadshow Pictures grünlich eingefärbt vor einem düsterwolkigen respektive schwarzen Hintergrund sehen. Ein in verschiedenen Grüntönen mit dieser Hintergrundschwärze kontrastierender, in vertikalen Bahnen herabfließender Zeichenstrom liefert im Anschluss daran die ersten Bilder der Handlung; fünf Buchstaben, die den Filmtitel bilden, gehen aus dem Code hervor. Von jetzt an, die gesamte Trilogie hindurch, werden wir diese vertikalen Ströme aus teils bekannten, teils fremdartigen Zeichen mit der Matrix assoziieren (womit auch schon die erste Bedeutung des Titels gegeben ist, denn in der Mathematik steht eine „Zahlenmatrix“ für ein entsprechend arrangiertes Ordnungsschema).

Faller (2004, S.15) verweist auf den technisch-kulturellen Bezug der hiermit etablierten Matrix-Optik, indem er von den ältesten Computern (CRTs) mit ihren monochromatischen Bildschirmen berichtet. Damals, so Faller, wurden grünliche Schriftzeichen vor schwarzem Hintergrund als angenehm lesbar empfunden (ebd.):

»So it was all green on black. The big bang of the computer revolution and evolution cast a soft, green glow. The particular shade of green lies somewhere between familiar and eerie. It lodges in our brains somewhere between nostalgic and unnatural.

This careful sensibility and sensitivity guided every choice behind the look and feel of the Matrix movies.«

Faller spielt darauf an, dass die in der Matrixwelt situierten Szenen mit speziellen Grünfiltern aufgenommen wurden, während man für die reale Welt, wie sie den Gegensatz zur Matrix bildet, Blaufilter bevorzugte. Der erste zoom, durch ein dynamisches Zahlengitter hindurch, führt uns bezeichnenderweise in eine Lichtquelle: diese erweist sich als die Taschenlampe eines Polizisten, der zusammen mit dem Rest seiner Einheit an das Hotelzimmer 303 heranschleicht, um Protagonistin Trinity zu verhaften.

Die Ziffern, die wir vor dem Erscheinen dieser ersten „realen“ (wie man später lernt: virtuellen) Objekte sehen, sind in derselben grünlichen Farbe gehalten wie der Matrix-Code. Trinity ruft Cypher an; sie befindet sich in der Matrix (und dort wiederum in dem virtuellen Hotelzimmer mit der Nummer 303), er dagegen auf einem realen Hovercraft Namens Nebukadnezar. Der Zuschauer weiß von alledem nichts, sieht auch keine Personen, nur Dunkelheit und einen blinkenden Cursor – er muss sich fühlen wie der Mithörer eines geheimen Telefonats. Tatsächlich wird gleich nach der Einblendung von Datum und Uhrzeit – es ist der 19.2.1998 – ein Tracerprogramm aktiviert, welches die Nummer des Telefonanschlusses ermitteln soll: das Gespräch zwischen Trinity und Cypher wird abgehört. Dynamische Zahlenkolonnen beginnen zu arbeiten, und eine ermittelte Nummer nach der anderen wird oberhalb der Kolonnen festgehalten. Es handelt sich wohl um das erste cineastische Zitat, welches der Film anzubieten hat (und auch weiterhin in enormer Fülle4 offerieren wird): man fühlt sich an den Computer W.O.P.R. aus Wargames (1983) erinnert, wie er beim Finale dieses Achtziger-Jahre-Klassikers versucht, die Abschusscodes von Atomraketen zu knacken und dabei aus einem hochdynamischen Zeichengeflirre ein Passwordelement nach dem anderen herausfiltert.

Trinity und Cypher unterhalten sich über eine Person, die offenbar unter ihrer Beobachtung steht. Selbst gerade abgehört, sind sie also ihrerseits observierend tätig. Die von ihnen verfolgte Person wird für den »Auserwählten« gehalten, aber – so wie es das Telefonat impliziert – weniger von Trinity und Cypher als von einer dritten Person Namens Morpheus. Zumindest Cypher teilt diese Sicht nicht: er meint sogar, dass man letztendlich für den Tod des Beobachteten verantwortlich sein wird (»wir werden ihn umbringen, kapiert?«) und scheint Trinity auf seine Seite ziehen zu wollen. Dann aber merkt Trinity, dass die Leitung »unsauber« sein könnte, und beeilt sich, das Gespräch zu beenden. Tatsächlich ist das Tracerprogramm dabei, die Rufnummer zu komplettieren. Die Kamera fährt an die ermittelten Zahlen heran, bis schließlich bildschirmfüllend links eine 5 und rechts eine 6 zu erkennen ist. Dann bildet sich im Leerraum zwischen diesen Ziffern eine Null – die Verbindung ist ermittelt, es kommt zum zoom durch die Null hindurch in die Taschenlampe des Polizisten, wie oben schon beschrieben.

Das Gespräch zwischen Trinity und Cypher war kurz, und inhaltlich für Unwissende nur bruchstückhaft nachvollziehbar. Noch weniger erkennbar ist – außer kinogeschichtlichen Anspielungen wie eben der Verweis auf Wargames – die Zahlensymbolik, die bereits mit dieser Eröffnungssequenz transportiert wird: man vermag sie erst als solche zu erkennen, wenn man mit Matrix Reloaded den zweiten Teil der Trilogie gesehen hat. Mit dem Wissen um das dortige Gespräch zwischen Neo und dem Architekten kann man die Zahlen 5 und 6, zwischen denen sich die Kamera hindurchbewegt, als inhaltlich aufgeladene Zeichen verstehen: sie verweisen auf die fünf Vorgänger, die „der Auserwählte“ Neo bereits hatte, und damit auf die bevorstehende Herankunft des sechsten Erlösers – eben Neo.

4 »Für die Cinephilen (…) gibt es einige Eckdaten: 60 Filme, so heißt es, werden „ernsthaft“ zitiert, 40 weitere erhalten die Ehre, immerhin parodistisch gestreift zu werden.« (Seeßlen 2003, S.113)

Heart o’ the City-Hotel

Die nächtlichen Außenaufnahmen vom Heart o’ the City-Hotel lassen zunächst nicht klar erkennen, ob es überhaupt noch in Betrieb ist. Der Flur mit dem Zimmer, von dem aus Trinity soeben telefonierte, ist eindeutig stillgelegt, doch die großen Neonbuchstaben an der Fassade leuchten, und nicht nur der Eingangsbereich, sondern auch die untersten Stockwerke sind erhellt. Zudem funktioniert der Lift, mit dem einer der mittlerweile hinzugekommenen „Agenten“ (drei Anzugträger mit Sonnenbrillen und Ohrempfängern, die wohl nicht umsonst an die FBI-Agenten in Wargames erinnern) sowie weitere Polizisten in den dritten Stock vordringen, um der Gesuchten habhaft zu werden. Die Kamerafahrt entlang der Leuchtreklame endete an dem unbeleuchteten Schild hourly rates, welches man erst am Ende des Filmes noch einmal deutlich lesen kann: es handelt sich um ein Stundenetablissiment.

Das „reduzierte“ Hotel gleicht einer Fassade, hinter der ein Teil des eigentlichen Inhaltes entfernt wurde, um es auf einen neuen Zweck auszurichten. Diesem aussagekräftigen Bild begegnet man bald wieder: bei der ersten Szene in Neos Bude, als er Jean Baudrillards Essaysammlung Simulacra and Simulation hervorholt – auch diese ist letztendlich nur eine Hülle (natürlich mit einem grünen Einband, wie auch das Heart o’ the City-Leuchten grün ist). Dem Zuschauer, der The Matrix zum ersten Mal sieht, sind solche Hinweise auf Zweckentfremdung und Virtualität nicht verständlich, er muss die angebotenen Bilder für „die Realität“ halten. Dies ändert sich freilich mit Trinitys versuchter Verhaftung: innerhalb weniger Sekunden schaltet sie alle vier Polizisten aus, welche – unvorsichtigerweise – noch vor dem Eintreffen der Verstärkung in das Zimmer vorgedrungen waren. Hier wird zum ersten Mal das tricktechnische Mittel der bullet time angewandt, in der das normale menschliche Zeitmoment – gleichsam jenes der Polizisten – eingefroren ist,5 während Trinity in zeitlupenhafter Bewegung zu einem ersten, vernichtenden Kick ansetzt. Der paradoxen Trennung von Zeitebenen geht ein zweites filmisches Mittel einher, das bei der Premiere für Furore sorgte, nämlich die kreisende Kamera, wie sie einmal um Trinity und ihr erstes Opfer herumfährt, bevor sie den Tritt ausführt. Clover (2004, S.25) zeigt sich begeistert von dem damals neuen6 cineastischen Mittel und zieht Parallelen zu anderen künstlerischen Revolutionen: er sieht »something like Cubism, pictorially revealing all perspectives of a still life on a two-dimensional surface.« Der Kubismus-Vergleich ist schon deshalb witzig, da Trinity nach Ausknocken ihrer ersten beiden Gegner in einer Art Vertikalbipedie7 die Wand des Hotelzimmers hochläuft, scharf wendend seitlich an den Zimmerwänden weitersprintet und den nächsten Kontrahenten attackiert, während die Kugeln des vierten Polizisten ihr Ziel verfehlen. Die Sehgewohnheiten des Zuschauers werden also durch gleich drei Novitäten verwirrt: bullet time, kreisende Kamera und die „unmögliche“ Laufbewegung entlang der Hotelzimmerwände. Zeitliche Sukzession und räumliche Perspektiven erscheinen wie artifiziell getrennt und in neuer Form zusammengesetzt.

Trinitys „Wandläufer“-Attacke läuft wieder in Realzeit ab, ebenso wie die Ausschaltung ihrer letzten beiden, chancenlosen Gegner. Ihr finaler Kick über die eigene Schulter geschieht so blitzschnell, dass er für den Zuschauer kaum zu erkennen ist: dieser kann erst mit Verzögerung begreifen, was für eine unglaubliche Bewegung die »titanisch« (Hurka 2004) kämpfende Frau gerade ausgeführt hat.

Lutzka (2006, S.116ff.) sieht in dem kurzen, aber um so spektakuläreren Kampf in Zimmer 303 die typische Herangehensweise der Matrix-Regisseure vorgeführt: es werden – als angeblich postmodernes Standardverfahren – »high art codes« und »popular codes« miteinander verwoben (womit die unbekannten und bekannten Zeichen des Matrix-Codes symbolisch für die Filmkunst der Wachowskis stünden!). Die religiöse Konnotation des Hackernamens Trinity sowie die hierauf zu beziehende Zimmernummer 303 repräsentieren ersteres,8 während die Kampfszene den Anschluss an populäres Actionkino und Computerspiele herstellt (ebd. S.117):

»Trinitys virtual model is obviously Lara Croft. The film’s cultural references to contemporary computer games and to contemporary action movies resorting to kung fu aesthetics have contributed to the vast box-office success of The Matrix (…).«

Dem wäre hinzuzufügen, dass sich Leser von William Gibsons Vorbildtext Neuromancer an die kampftechnisch versierte, hochgefährliche Molly erinnert haben dürften, nachdem sie Trinity in diesen ersten Szenen des Films erstmals in Aktion erlebten. Gibsons (Trash)Romanfigur wird über Videospiel-Sehgewohnheiten auf die Kinoleinwand projiziert, und insbesondere die bullet time, der Clover (2004, S.25f.) die entscheidende, den Zuschauer „einsaugende“ Wirkung zuschreibt, macht die Mixtur der so verschiedenen Medien komplett:

»However, if the scene is frozen but the hero can move through it – if all the power and agency is vested in a singular figure with which we have identified – the circumstances resemble those of a videogame as extensively as a movie can, and still be a movie. For the duration, we have the masterful relation to time already enjoyed by every videogamer. Inevitably, then, the featured bullet-time sequences of The Matrix echo the most popular combat formats of videogames: martial arts and the shooter.«

Im Vorgriff auf das Ende des Filmes ist festzustellen, dass das Zimmer 303 jenes ist, in dem Neos Transformation zum Auserwählten stattfinden wird (genauer gesagt im Flur direkt vor dieser Zimmertür). Dadurch ist bereits angedeutet, dass Trinity die für diesen Transformationsprozess entscheidende Figur darstellt. Vorerst jedoch erlebt sie der irritierte Zuschauer als Kämpferin, die eben noch übermenschlich schnell und tödlich agierte, nur um gleich darauf voller Angst zu fliehen, als ein Agent und weitere Polizisten aus dem Lift aussteigen und auf sie zu laufen. Die anschließende Verfolgungsjagd über Hausdächer – inszeniert als unübersehbare Hommage an Hitchcocks Vertigo (1958) – sorgt für weitere Überraschungen: Trinity zeigt einen gewaltigen Sprung von einem Dach auf das nächste, doch der Agent lässt sich nicht abschütteln, er zieht nach. Die Polizisten hingegen bleiben konsterniert stehen angesichts der „unmöglichen“ Aktionen, die sie gerade mit ansehen mussten. Ihre „Wirklichkeit“ scheint also die der Zuschauer zu sein, während Trinity und der Agent die Regeln der Alltagsrealität brechen können.

Das Ende der Verfolgungsjagd setzt allen gezeigten Unmöglichkeiten die Krone auf, denn Trinity flüchtet in eine anrufbare Telefonzelle, in der es gerade klingelt. Agent Smith – unübersehbar der Chef jener drei Agenten, die kurz nach der Polizei am Heart o’ the City-Hotel eintrafen – überrollt dieses „nutzlose“ Versteck mit einem Truck, doch Trinity, die zuvor noch den Hörer abnehmen und ans Ohr halten konnte, ist verschwunden. All diese Abläufe wird der ahnungslose Zuschauer erst einordnen können, sobald er im weiteren Handlungsverlauf über die Trennung von Matrixwelt und Realität dazulernt. Im Falle der Telefone bedeutet dies: Die Rebellen bevorzugen solche in lost places, wie z.B. in alten Hotels oder in einem aufgegebenen Laden für Fernsehreparaturen. Ob es wirklich vergessene, nicht abgemeldete Anschlüsse sind, wird nicht gesagt, wahrscheinlicher ist wohl, dass zumindest einige der genutzten Apparate nachträglich an diesen vor Beobachtung gut geschützten Orten installiert wurden. Im Katz und Maus-Spiel mit den Agenten sind solche „besonderen“ Leitungen, die z.B. durch die Sendefelder von Handys nicht ersetzbar sind, der größte Trumpf der Rebellen (zur genaueren Ausdeutung Festnetz versus Handy siehe das Kapitel Zwischenbetrachtung I weiter unten). Allerdings nutzen sie auch weniger verborgene Anschlüsse, wie eben öffentliche Telefonzellen – so wie Trinity am Ende der ersten Verfolgungssequenz des Filmes. Warum Trinity aufgespürt wurde und fliehen musste, wird erst später klar: Es war ihr eigener Mitkämpfer Cypher, der sie an die Agenten verriet, um sich bei diesen für weitere Aufgaben zu empfehlen.

5 Die eigentlich namensgebenden bullet time-Szenen, also solche, in denen sich in abgefeuerter Munition das verlangsamte Zeitmoment manifestiert, kommen später. Genial fortgesetzt wird das Motiv, wenn in der letzten von ihnen – nämlich bei Neos Transformation – die Bewegungen der durch den Matrixraum ziehenden Kugeln gänzlich zum Stillstand kommen.

6 Um genau zu sein, ist nicht die kreisende Kamera neu zu nennen, sondern ihr hohes Tempo – man vergleiche die gemächlich ihre Bahn ziehende Vorgängerin in der Kuss-Szene aus Vertigo (1958). Zu Beginn von The Matrix finden sich mehrere Verweise auf diesen (spät etablierten!) Kritikerliebling; es ist, als ob sich zwei Jahrhundertfilme die Hand reichen würden.

7 Ein im anderen Sinne vom Verhaltensforscher Adriaan Kortlandt (1918-2009) eingeführter Begriff.

8 Wobei man der 303 noch andere Bedeutungen hinzufügen kann, etwa die in der Eingangsszene stattfindende Kommunikation von Trinity=3 mit Cypher=0 (Yeffeth 2003, S.243). Wie später klar wird, handelte es sich um ein Gespräch zwischen Gut und Böse, zwischen einem „Engel“ und einem „Teufel“.

Zimmer 101: Neos Mansarde

Nach Trinitys gelungener Flucht zoomt die Kamera in einen Telefonhörer hinein und gleich im Anschluss aus einem Monitor heraus: es ist ein Computer in Neos Mansardenwohnung. Der Bildschirm ist eingeschaltet; über ihn scrollen Nachrichtenseiten in verschiedenen Sprachen. Berichtet wird von der Jagd auf einen gewissen Morpheus, der auch auf einem Foto zu sehen ist: ein kahlköpfiger, bullig wirkender Mann mit Sonnenbrille.

Wieder hat man es mit subtilen Anspielungen zu tun, die erst dann verständlich werden, wenn man den ganzen Film (beziehungsweise die Trilogie) kennt. Das Telefonat zwischen Trinity und Cypher verband Matrix und reale Welt (= das Operatordeck der Nebukadnezar). Später ermöglichte eine solche Festnetzleitung (= die Telefonzelle) Trinitys Flucht aus der Matrix. Die Leitung aus dem Hotel konnte Trinity hierfür nicht mehr benutzen, da diese von den Agenten schon durchtrennt worden war. Nur funktionale Festnetzleitungen bieten also einen Fluchtweg aus dem Matrix-Gefängnis. Da der oben genannte in-zoom in einen zerstörten Telefonhörer ging, kann der out-zoom nicht in die Realität führen. Folglich befinden wir uns beim out-zoom in Neos Zimmer hinein immer noch in der Matrix-Virtualität.

Wir sind aber bei einem ganz besonderen Matrizianer gelandet. Der out-zoom aus Neos Computerbildschirm erfolgte durch das Wort »search« hindurch, genauer gesagt durch die Schleife des Buchstabens »a«. Man kann dies als das Gegenstück zum zoom durch die Null verstehen, mit dem wir die illusionäre Matrixwelt gleichsam das erste Mal betraten. 0 und a sind wie Omega und Alpha. Von einem „Ende“ aus also wird ein neuer „Anfang“ gesucht. Darauf hatten uns, wie im obigen »Anruf aus der Matrix«-Kapitel beschrieben, auch schon die Zahlen 5 und 6 hingewiesen: Neo wird prüfend beobachtet, er soll der neue »Auserwählte« sein, der die Menschen aus ihrer Gefangenschaft im Matrix-System hinausführen könnte. Dummerweise wird er nicht nur von Personen gesucht, die auf ihn hoffen, sondern mittlerweile auch von den Agenten des Systems. Hier aber gibt es einen folgenreichen Unterschied: für Morpheus und seine Leute ist Neo der potenzielle Erlöser, für die Agenten hingegen ist er momentan nur eine von mehreren »Zielpersonen«. Die Agenten des Systems haben noch nicht verstanden, wie gefährlich Neo ihnen werden könnte, und im weiteren Verlauf der Trilogie lernt man sogar, dass sie von regelmäßig wiederkehrenden Matrix-Erlösern nichts wissen: diese brisante Information ist höchst wenigen Eingeweihten vorbehalten.

Tatsächlich wirkt Neo nicht gerade furchteinflößend. Er ist ein ganz normaler, junger Mann von unauffälligem Äußeren, der offenbar kein Bestreben verspürt, seinem angenehmen Erscheinungsbild durch Maßnahmen wie Tattoos oder Piercings eine „besondere“ Note zu verleihen. Ihn scheint weniger sein Körper (im Sinne des rein Äußerlichen) zu beschäftigen als vielmehr seine Existenz. Seeßlen (2003) breitet diese Sichtweise in beinahe obsessiver Manier aus: die des jungen Mannes, der noch nicht in der „Welt“ angekommen ist, weil er gute Gründe besitzt, das Ankommen zu verweigern.

Der sechsundzwanzig Jahre alte Neo (zur Altersangabe siehe Kapitel »Verhör und Verwanzung«) arbeitet als Programmierer in einer Softwarefirma, bürgerlich heißt er Thomas A. Anderson. Seine eigentliche, in Nächten und an Feiertagen gelebte Berufung jedoch ist die eines Hackers – „Neo“ ist sein Hackername. Unter diesem Alias geht er den Fragen nach, die ihn beschäftigen, genauer gesagt seit langem schon bedrängen: seinem „Unbehagen in der Kultur“ des späten 20. Jahrhunderts. Er ist im Berufsleben unglücklich und spürt, dass nicht nur in seinem Dasein, sondern in der gesamten Umwelt, wie sie ihn bisher geprägt hat oder zu prägen versuchte, etwas nicht stimmt. Dass er auf einem meisterlichen Hackerlevel steht, kann man daran ersehen, dass er bereits einige hochinteressante Hinweise aufgespürt hat. Doch seine Attitüde ist alles andere als selbstverliebt; ganz im Gegenteil spürt er nagende Unzufriedenheit mit sich und seinem bisherigen Kenntnisstand, so dass er seine Wahrheitssuche mit unverminderter Intensität vorantreibt.

Als Folge dieser Anstrengungen ist Neo, musikhörend vor seiner Bildschirmfront sitzend, eingeschlafen (und bemerkt jenen »Morpheus« auf den Nachrichtenseiten nicht, dessen Name passenderweise dem Ovidschen Gott des Schlafes und der Träume entspricht). Auf seinem Kopfhörer läuft »Dissolved Girl« von Massive Attack:9 wenn man so will, ein Verweis auf die im Cyberraum (wie auch in Neos Sehnsüchten?) verteilte Trinity, die sich soeben anschickt, auf Neos Rechner „auszukristallisieren“ – und ihm etwas später, beim Aufeinandertreffen im Underground-Club, erstmals von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen wird (sofern man dies bei virtuellen Körpern sagen darf).

Neos Hauptbildschirm, über den die Nachrichtenseiten flimmerten, wird plötzlich schwarz. Sein Unterbewusstsein scheint auf diese Änderung in seinem Zimmer sofort zu reagieren, wie auf ein ungewohntes Geräusch – er blinzelt und erwacht. Passend dazu liest er die Worte »Wake up, Neo…« auf dem Monitor, gefolgt von »The Matrix has you…«. Wie sich später zeigen wird, ist Neo das Reizwort »Matrix« nicht unbekannt; es ist zu einem geheimnisumwitterten Schlüsselbegriff seiner nächtlichen Cyberraumreisen geworden.10 Wohl deshalb muss die ganze Szene etwas höchst Irreales für ihn haben, und der nächste Satz liest sich vollends kryptisch: »Follow the white rabbit…«. Instinktiv bedient der soeben Erwachte die Tastatur und versucht die Kontrolle über seinen Rechner zurückzuerlangen, doch dann koinzidiert die vierte auf dem Schirm erscheinende Botschaft »Knock, knock, Neo« mit einem Klopfen an seiner Zimmertür. Ein kurzer Blick Neos in diese Richtung und seine Frage, wer da sei (es ist sein Freund Choi und dessen Clique), genügt – als er wieder auf den Bildschirm schaut, zeigt dieser völlige Schwärze. – War alles nur ein Traum, oder eine Folge von Aufwachbildern?11

Der Begriff »Matrix« erscheint in dieser Szene zum ersten Mal – natürlich in grüner Schrift vor schwarzem Hintergrund –; er ist vielfach aufgeladen und für Neo bisher unentschlüsselbar. Eine der Auslegungen, wie die Interpreten des Filmes sie später dem Publikum präsentierten, dürfte aber recht nahe an den Bedeutungskomplex heranreichen, dem Neo bei seinen Elukubrationen auf der Spur ist (Faller 2004, S.1):

»(…) the idea of the Matrix closely parallels our internet, a worldwide network of computers. This network we call the World Wide Web depends on the interconnectivity of each computer to create the fabric of the virtual community. On one level the Matrix is a symbol for the internet and its intersection with pop culture. (…) Maybe the Matrix is first and foremost a cyber-symbol – a symbol of the way computers are changing our culture, and of what we hope and fear our culture might become.«

Als Neo die Zimmertür öffnet, erkennt der Zuschauer auf dieser die Nummer 101. Seeßlen (2003, S.70) verweist auf das entsprechende Zimmer der Ängste in Orwells 1984; dem obigen Zitat Fallers entsprechend scheint das Internet Neo in einen wahren Abgrund hineingezogen zu haben. Wie bald deutlich wird, haben diese Einblicke mit Morpheus zu tun; er ist derjenige, der Neo auf eine alptraumhafte Wirklichkeit vorbereitet – einen Alptraum, der über alles hinausgeht, was der junge Hacker sich vorstellen kann.

9 Witzig ist, dass die Wachowskis auch hier wieder (d.h. wie im Vorspann) ein Spiel mit den Zahlen 5 und 6 treiben: Bei einer kurzen – sicherlich nicht unabsichtlichen! – Kamerafahrt entlang Neos CD-Player sieht man, dass dieser gerade den Track Nr.5 spielt. Auf dem Mezzanine-Album von 1998, mit dem »Dissolved Girl« auf den Markt kam, ist dies aber Track Nr.6.

10 Entlehnt aus der im Vorkapitel schon erwähnten Trashvorlage Neuromancer von William Gibson (1984). Der erste Satz, in dem das Wort auftaucht, lautet in deutscher Fassung (Gibson 1987, S.12): »Alles Speed, das er nahm, alle Streifzüge in die Gassen und Winkel von Night City halfen nichts; immer noch sah er im Schlaf die Matrix, helle Gitter der Logik, die sich über der farblosen Leere entfalteten…«

11 Also eine Abfolge sogenannter hypnopomper Bilder, im Gegensatz zu hypnagogen Bildern (= Einschlafbilder).

Follow the white rabbit: Neo und Trinity

Aber auch seine bisherigen Realitäten außerhalb des www sind für Neo ein ziemliches Grauen. Im Job auf der untersten Stufe der Karriereleiter stehend verdient er so wenig Geld, dass er sich keine bessere Wohnung als seine winzige Mansardenbude leisten kann. Um über die Runden kommen beziehungsweise technisches Equipment kaufen zu können, vertickt er Hackerhilfen für Gleichgesinnte – wie eben für seinen Kumpel Choi, der gerade mit seinen ausgehbereiten Jungs und Mädels vor der Tür steht. Neo nimmt 2000 Dollar in bar entgegen; dann sucht er aus einem Versteck den gewünschten Datenträger heraus: dieser verbirgt sich in dem weiter oben schon erwähnten, zum Behältnis umfunktionierten Buch Simulacra and Simulation,12 das somit selbst nur ein Simulakrum ist.

Die betreffende Szene wurde vielfach ausgedeutet, etwa, da der Buchumschlag von Neos Exemplar keinen Autorennamen zeigt, es deutlich voluminöser wirkt als die bekannten Auflagen – vielleicht eine Reverenz an die »green box« in Still of the Night (1982) – oder das Schlusskapitel »markant in die Mitte gerückt ist« (Watson 2003, S.131). Als Neo den Band öffnet, um den Datenträger (eine Minidisk) hervorzuholen, kann man auf den links befindlichen Seiten den Anfang des Schlussaufsatzes »On Nihilism« erkennen. Aus den Seiten rechts davon ist der Text in Form einer rechteckigen Aussparung sauber herausgeschnitten worden; der bis auf den Einband reichende Leerraum enthält mehrere versteckte Datenträger. Clover (2004, S.29, S.31f.) deutet dies anhand eines Slavoj Žižek-Zitats, demzufolge die Lügenwelt, in der Neo sich bewegt, nicht – wie er und viele Gleichgesinnte annehmen – sprachlich gesteuert ist: simpler Computercode, »passing and non-passing of the electrical signal«, hat die sprachlichen Manipulationen der Vergangenheit abgelöst (wobei – angesichts der ungeheuren Simulationsleistung der Matrix – wohl eher ein Quantencomputer anzunehmen ist, also kein klassischer binärer Code mehr). Nicht nur das Buch, sondern alle Gegenstände in Neos Welt sind täuschende Hüllen, in denen sich in Wirklichkeit Computercode verbirgt. Von dieser Wahrheit ist Neo trotz größter Anstrengungen jedoch sehr weit entfernt; das einzige, was er hat, ist der geheimnisvolle Begriff »Matrix« (also – da unausgedeutet – ebenfalls eine leere Hülle!). Neo fragt sich schon seit geraumer Zeit, was genau hiermit bezeichnet sein könnte, und ahnt nicht, dass er mit seinem Datenträger-Versteck regelmäßig ein perfektes Sinnbild in der Hand hält.

Sein Kumpel Choi, der die Minidisk hoch erfreut annimmt, bemerkt, wie überanstrengt Neo aussieht. Im kurzen Dialog zwischen Neo und Choi steckt jede Menge hintergründiger Humor; Chois Bemerkungen »You are my saviour – my own personal jesus«, »This never happended. You don’t exist« sowie »Hey, it just sounds to me like you need to unplug, man« verweisen allesamt auf das Verhältnis Matrix-Realität sowie auf die speziellen Folgen, die sich für Neo hieraus ergeben werden.

Der Deal an der Zimmertür ist jedenfalls nicht, was Neo gerade beschäftigt – er ist immer noch verwirrt über das halluzinatorisch anmutende Erlebnis, das ihn soeben am Rechner überkam. Was dies betrifft, ist nicht nur der Name seines Besuchers Choi, sondern auch der seiner neben ihm stehenden Freundin Dujour (der deutschen Synchro offenbar nicht zugänglich) aussagekräftig. Ersteres ist Französisch „Die Wahl“, letzteres „des Tages“ (etwa Lawrence 2004, S.200, S.201). Neo ahnt noch nicht, dass der Wendepunkt für ihn gekommen ist und seine erste persönliche Begegnung mit Trinity bevorsteht. Überrascht erblickt er das weiße Kaninchen, das Dujours Schulter ziert (er kann es erst sehen, als Dujour sich an ihren Freund lehnt), und entscheidet spontan, Chois Truppe in den Club zu begleiten, obwohl er morgen arbeiten muss und sich eigentlich keine Feierei erlauben darf. Er leistet der Aufforderung follow the white rabbit Folge; eine von mehreren Anspielungen auf Alice’s Adventures in Wonderland (wie z.B. die Verspätung Chois, über die Neo sich beschwerte und an der „das verspätete Kaninchen“ Dujour Schuld gewesen sein soll).

Am Ort des Vergnügens angekommen, ist es endlich so weit – der missmutig vor sich hingrübelnde Neo wird von Trinity angesprochen, die nach den ersten, gleichsam einleitenden Worten so nahe an ihn herankommt, dass ein Außenstehender an einen langen, intensiven Kuss denken könnte. In Wirklichkeit flüstert sie ihm einige Worte zu, unter anderem, dass sie dieselbe Suche wie Neo bereits hinter sich habe, dass sie ihrerseits gefunden worden sei (nämlich von Morpheus) und so auch erfuhr, was sich hinter dem Reizwort Matrix verbirgt.

Diese „frühe Nähe“ zwischen Neo und Trinity, die zudem eine gewisse Ähnlichkeit13 haben, lädt durchaus zur Interpretation ein, nämlich zum Vergleich mit dem altägyptischen Osiris-Mythos. Diesen wollen wir jedoch erst später vornehmen, und zwar – passenderweise – anlässlich des ersten echten Kusses von männlicher und weiblicher Heldenfigur (siehe das Kapitel zu Neos Transformation). Zum einleitenden Austausch als auch dem geflüsterten, „brisanten“ Teil seien folgende Anmerkungen gegeben, die weniger Richtung altes Ägypten als vielmehr zu den Religionen der Nachbarregionen führen. Trinity ist ein bekannter Name in der Hackerszene (dank Eindringen die IRS d-base, also der Datenbank der US-Steuerbehörde), und Neo begreift schnell, dass sie es gewesen sein muss, die an diesem Abend ihre Botschaften auf seinen Monitor brachte. Doppelbödig wird der Austausch, als Neo zugibt, stets einen männlichen Trinity imaginiert zu haben: »Ich dachte, du wärst n’ Kerl.« Trinitys kühle Antwort lautet: »Denken alle Kerle.« Lawrence (2004) sieht hierin den ganz normalen Sexismus der 1999er-Welt zum Ausdruck gebracht und stellt diesem die Zion-Szenen aus Reloaded/Revolutions als nicht-sexistische Gesellschaft gegenüber. Auch wenn der Dialog ohne jeden Zweifel auf Alltagssexismus verweist (und spezieller vielleicht auf Machismen der Hacker-Szene), geht er weit über die 1999er-Realitäten hinaus: wie Schuchardt (2003, S.6) bemerkt, wird zusätzlich die Wahl des Hacker-Alias »Trinity« beleuchtet, da das hebräische Wort für den Heiligen Geist, ruach, ein Femininum ist (vgl. Emig 2006, S.200, sowie unten das Nebukadnezar-Kapitel).

Auf der rein erzählerischen Ebene mag es erstaunlich wirken, dass Neo mit dem Begriff der »Matrix« bereits in Berührung gekommen ist. Wie auch immer es dazu kam, klar wirkt, dass dieser Schlüsselbegriff auf direkte oder indirekte Weise mit jenem geheimnisvollen Morpheus zu tun haben muss, der auf den Nachrichtenseiten auf Neos Bildschirm zu sehen war. Morpheus, so lernen wir später im Verhörraum von Agent Smith, wird als Terrorist gesucht, ja, er gilt als »der gefährlichste Mensch der Welt«. Neo hingegen bewegt sich bei seinen Hackeraktivitäten in einem geistigen Umfeld, das diese offizielle beziehungsweise staatliche Sicht der Dinge anzweifelt. Abgesehen von der Lust an Verschwörungstheorien, die man jedem Zweifler an gewissen Mehrheitsmeinungen schnell anhängen kann, sind hierfür wahrscheinlich aufmerksame Zeugen verantwortlich, die anderes beobachtet haben als das, was später in Polizeiberichten und Medien erschien. Wo Morpheus auftaucht, da verschwinden Menschen (sehr junge vor allem!) und werden Angehörige der Staatsgewalt angegriffen und getötet14 – so weit wirkt es verständlich, dass ihm der Ruf eines Schwerverbrechers vorauseilt. Aber gleichzeitig ist Morpheus auch ein Hacker, und als solcher ist er in der Lage, anderen Hackern über geschützte Kommunikationswege seine Sicht der Dinge mitzuteilen: etwa, dass die verschwundenen Kinder und Jugendlichen keineswegs von ihm umgebracht wurden, sondern dass sie noch am Leben sind – und zwar nur deshalb, weil er derjenige war, der sie vor Liquidierung Seitens der Staatsgewalt bewahrte. Dieser aberwitzige Perspektivenwechsel darf im „freien“, öffentlichen Diskurs nicht auftauchen; in den Chaträumen der Hacker hingegen werden unabhängige Beweise – also etwa Zeugenberichte und Bildmaterial – präsentiert, die Morpheus’ Darstellung bestätigen. Alles in allem ist Neo längst zu dem Schluss gekommen, dass Morpheus in der Öffentlichkeit falsch dargestellt wird,15 aber ihm bleibt unerklärlich, warum Morpheus so handelt, wie er handelt. Die einzige sich im Verwirrspiel abzeichnende Spur besteht darin, dass jene im Zusammenhang mit Morpheus’ Aktivitäten verschwundenen Menschen etwas mit dem Reizwort Matrix zu tun haben müssen, dessen genaue Bedeutung und mögliche Schlüsselfunktion von niemandem durchschaut werden kann.

12 Das demonstrative Zeigen des Baudrillard-Textes beeinflusste die Interpretation von The Matrix erheblich, umso mehr als kolportiert wurde, dass die Wachowskis ihrem Hauptdarsteller Keanu Reeves das Buch zur Rollenvorbereitung „auferlegten“ (neben Introducing Evolutionary Psychology von Dylan Evans und Out of Control von Kevin Kelly, vgl. Stratton 2006, S.31). Dagegen halten z.B. Gordon (2003) oder Lutzka (2006) eine Interpretation von The Matrix am Baudrillardschen Leitfaden für gänzlich irreführend, und auch Baudrillard selbst soll sich ablehnend geäußert haben (vgl. Watson 2003 S.135, Yeffeth 2003, S.245).

13 Genauer gesagt, soll dem leicht gynandrischen Reeves gezielt die „androgyne“ Moss zur Seite gestellt worden sein. Hierzu Clover (2004, S.22): »Reeve’s capacity to occupy the camera’s gaze as a sort of passive object – a talent traditionally marked as feminine – suggests an androgyny so often marked next-gen, futuristic. This is underscored by Carrie-Anne Moss, who seems to have been styled (if not indeed cast) for her resemblance to him (…).«

14 Wobei diese nicht allesamt Opfer von Morpheus und seinen Leuten werden – man denke nur an die Polizisten, die bei der Verfolgung von Trinity den „unmöglichen“ Sprung des Agenten von einem Hausdach zum anderen sahen. Diese Beobachtung dürfte ihr Todesurteil bedeuten, da kein Matrizianer an den Punkt kommen darf, die Scheinrealität zu durchschauen: das System muss solche Individuen sofort liquidieren, um nicht instabil zu werden. Die Alternative hierzu wäre ein gezielt verabreichtes Vergessen, wie Cypher es später für sich verlangen wird, aber Cyphers Fall kann nur bedingt mit den erwähnten Polizisten verglichen werden.

15 Neos Bild von Morpheus hat sich so weit von der öffentlichen Wahrnehmung entfernt, dass er ihn später im Hotel Lafayette, also bei der ersten persönlichen Begegnung, mit den Worten »Es ist mir eine Ehre, Sir« anreden wird.

Metacortex

Neo wird von einem misstönend schrillenden Radiowecker aus dem Schlaf gerissen. Ob er bis tief in die Nacht „gefeiert“ hat ist fraglich, viel eher dürfte ihn die Begegnung mit Trinity in quälende Unruhe versetzt haben, so dass er auch nach der Rückkehr in sein Zimmer noch lange wach lag. All zu viele Fragen stellten sich ihm: sein offensichtlich von Trinity gehackter Rechner, und dann ihre Andeutung, dass sie von Morpheus erfahren habe, was die »Matrix« sei. Die warnenden Formulierungen Trinitys (»sie suchen dich«) verschlimmern die Wirkung, die dieser Abend auf Neos ohnehin schon untergrabene Psyche hatte.

In seiner Verwirrung vergaß er, für den kommenden Morgen die richtige Weckzeit einzustellen: als Neo um 9:18 unsanft erwacht, weiß er, dass er zu spät zur Arbeit kommen wird. Da die Wachowskis kaum eine Gelegenheit ungenutzt lassen, auch mit Ziffern Gedanken und Bilder auszudrücken, muss man sich sogleich fragen, ob die (natürlich in schönstem Matrix-Giftgrün) angezeigte 9:18-Weckzeit eine Zahlensymbolik transportiert. Dies ist durchaus möglich, denn die Szene zeigt ja ein erschrockenes Zu-Sich-Kommen in einer als unerträglich empfundenen Gegenwart. Diese Gegenwart könnte das simulierte Jahr 1999 sein, die Weckzeit wäre dann als 9 und 1+8 zu lesen, sprich, 9 und 9. Nicht vergessen darf man aber, dass für Trinitys Anruf zu Beginn des Filmes der Februar 1998 angezeigt wurde. Wenn man die Annahme vermeiden will, dass seit Trinitys damaliger Flucht aus der Matrix mehr als zehn Monate vergangen sind (etwa, da die Rebellen sich über ihre Ortung wunderten und die geplante Befreiung Neos verschoben), so spielt die Wecker-Szene wohl ebenfalls noch 1998. Sie könnte aber darauf verweisen, dass Neo gut ein Jahr später von Morpheus lernen wird, wo in der Zeit er sich wirklich einzuordnen hat (sein „wahres“ Erwachen also, insofern Erwachen aus einem Traum mit raumzeitlicher Neuorientierung einhergeht).16

Dass Neo sein „Normalleben“ als unerträglich empfindet und sich aus genau diesem Grunde seit Jahren auf nächtlicher Sinnsuche befindet, unterstreichen die folgenden Szenen. Gezeigt wird das Hochhausgebäude, in dem sein Arbeitgeber Metacortex situiert ist. Der Firmenname bezieht sich auf die Hirnrinde, den Cortex, in dem die absolute Mehrheit der informationsverarbeitenden Neuronen ihren Platz hat (diese Zellen werden übrigens als „kortikale Säulen“ bezeichnet; sie sind, wenn man so will, „turmförmig“). Meta-Cortex lässt sich demnach als „über der Hirnrinde“ lesen, was doppelsinnig ist: einmal verweist es auf das technokratische Streben nach Rechnern und Programmen, die spezielle menschliche Leistungen imitieren oder übertreffen können – mit dem erhofften Klimax einer KI –, zum anderen darauf, dass diese Entwicklung schon längst stattgefunden hat und sämtliche Gehirne der Matrizianer einem Kontrollsystem untergeordnet sind, welches ihre Hirnrinde ununterbrochen mit einer täuschenden Realitätssimulation überflutet (interessant ist, dass man im Inneren des Gebäudes einen modifizierten Namen liest: »MetaCorTechs«, mit offensichtlichem Anklang an core – die Bedeutungsverschiebung von „Rinde“ zu „Kern“ wirkt intendiert).

Nachdem der hoch aufragende Metacortex-Tower aus „Passantenperspektive“ gezeigt wurde, geht in der nächsten Einstellung der Kamerablick durch eines seiner Fenster. Ermöglicht wird er in gleichsam demonstrativer Manier, da gerade Fensterputzer am Werk sind: Die Reinigungswerkzeuge und das ablaufende Spülwasser geben den Blick des Zuschauers durch das blitzblanke Glas frei, und von innen schaut der vor dem Schreibtisch seines Chefs stehende Neo auf den Betrachter zurück. Diese Fensterputzidee ist von eigentümlichem Reiz; Clover (2004, S.60 f.) erkennt in ihr einen Neo, der sieht und gleichzeitig nicht sieht17 – was, in aller Kürze zusammengefasst, das Dilemma seines bisherigen Lebens und die Quelle seiner Leiden ist. Interpretatorisch noch einen Schritt weiter – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes – geht Di Filippo (2003, S.66). Er deutet die Szene als (wenn so intendiert, dann genial zu nennende) Verbildlichung von William Blakes berühmtem Aphorismus »if the doors of perception were cleansed, everything would appear to man as it is: infinite«. Di Filippos Vorschlag hat einiges für sich, da er darauf verweisen kann, dass Neo nur kurze Zeit später eines der Hochhausfenster als „Tür“ benutzen wird, um die Begegnung mit der Tiefe zu wagen. Wie aus einer Anmerkung bei Schuchardt (2003, S.7) ableitbar ist, dürfte diese cineastische Umsetzung des Blake-Zitates schon an Neos Zimmertür (sic!) vorbereitet worden sein, nämlich, als sein Kumpel Choi von Meskalin schwärmte: Aldous Huxleys einflussreicher Bericht über dessen Meskalinerfahrungen hieß The Doors of Perception (und inspirierte wiederum Jim Morrison zum Bandnamen The Doors). Es wirkt nur konsequent, wenn wir von Felluga (2003, S.82f.) erfahren, dass die Wachowskis all dies mit einem Cameo-Einsatz als Fensterputzer krönen wollten – was leider an Sicherheitsauflagen scheiterte.

Doch zurück zu Neo, der sich nicht zum ersten Mal verspätet hat. Offenbar kommt er mit seinem Job nicht zurecht, ist gleichzeitig unterfordert und überlastet, da unangepasst an die Arbeitszeiten. Sein Chef, Mr. Rhineheart,18 macht ihm klar, dass dies seine letzte Chance sei: entweder Neo findet sich ab sofort pünktlich an seinem Arbeitsplatz ein, oder er wird entlassen. Schaut man sich den Film zum wiederholten Male an, wohnt der eigentlich frostigen, mit „kühlem“ Farbfilter aufgenommenen Szene ein schönes ironisches Leuchten inne, und zwar in Rhinehearts zurechtweisenden Worten: »Sie haben ein Problem mit Autorität. Sie halten sich für etwas Besonderes; jemanden, für den keine Regeln gelten. Aber da liegen sie definitiv falsch.«19 Der Kontrast zu Neos Transformation am Ende des Filmes könnte kaum größer sein, und fast wünscht man, dass Neo seinem Chef – um der alten Zeiten willen – noch einmal einen Besuch als „der Auserwählte“ abstatten wird.

An diesem Morgen aber ist Neo so weit von seinem wahren Selbst entfernt wie nur irgendwie denkbar. Er ist wieder Thomas A. Anderson, eine unfreie und unglückliche Existenz, die er als trauriges Gegenteil seines Hacker-Ichs Neo empfinden muss. Neo ist ein Anagramm für One, doch noch weiß er nichts davon, dass (beziehungsweise in welchem Sinne) er einmal The One sein wird. Die Wachowskis bieten uns mittels seines bürgerlichen Namens eine Vorgeschichte zur Alias-Entstehung an. Zunächst einmal steht der Aliasname für das neue Dasein, von dem Neo träumt – er sehnt sich danach, seine Lohnsklaven-Existenz hinter sich lassen und seinen wahren Talenten nachgehen zu können. Gelänge ihm dies, würde er aus seinem alten Ich aussteigen: sein eigentliches Innerstes, seine Essenz sozusagen, käme ans Licht. Dieses essenzielle Ich, das Neo realisieren will, verbirgt sich in seinem Nachnamen Anderso