Medium Sagazeit - Ellen E. Peters - E-Book

Medium Sagazeit E-Book

Ellen E. Peters

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Beschreibung

Die sogenannten ,postklassischen' Isländersagas wurden von der Sagaforschung lange vernachlässigt und als wertlose Nachahmungen abgewertet. Die Studie, die an die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Sagaforschung anknüpft, entlarvt dies als Mythos in der Wissenschaft und zeigt auf, dass diese Erzählungen in der isländischen Allgemeinheit stets sehr populär waren, wie die klassischen Vertreter als glaubhafte Darstellungen der isländischen Sagazeit gelesen wurden und auch im kulturellen Erinnerungsprozess nicht minder bedeutsam sind. Im Spätmittelalter ist das kulturelle Erinnern jedoch unweit mehr von der sich zunehmend verbreitenden Schrift geprägt. Infolgedessen inszenieren die ,postklassischen' Vertreter die Sagazeit medial, um so bedeutende identitätsstiftende Erinnerungen der Isländer zu vergegenwärtigen und zu aktualisieren, wie die Studie anhand zahlreicher Textbeispiele aus diversen Sagas veranschaulicht.

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[1]Medium Sagazeit

[2]Beiträge zur Nordischen Philologie

Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien

Redaktion:Jürg Glauser (Basel/Zürich), Klaus Müller-Wille (Zürich), Anna Katharina Richter (Zürich), Lena Rohrbach (Basel/Zürich), Lukas Rösli (Berlin), Thomas Seiler (Bø)

Begutachtung:Die Bände der Reihe werden einem (Double blind-)Peer-Review-Verfahren unterzogen.

Ausführliche Angaben zu den Mitgliedern der Redaktion sowie zu deren Aufgaben und Funktionen und zur Manuskriptbegutachtung finden sich auf der Homepage der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien (http://www.sagw.ch/sgss).

Band 73 · 2024

Ellen E. Peters

[3]Medium Sagazeit

Eine literatursoziologische Annäherung an das ‚postklassische‘ Erzählen der Íslendingasaga im Spätmittelalter

[4]Umschlagabbildung: © Manuskript AM 489 I-II 4to, 2v. The Arni Magnusson Institute for Icelandic Studies (https://handrit.is/manuscript/view/is/AM04-0489-I-II/11?iabr=on#page/2v/mode/2up [zuletzt abgerufen am 28.02.2023]). Bárður Snæfellsás, Monument von Ragnar Kjartansson. Gemeinfreie Abbildung, Urheber TommyBee (https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:B%C3%A1r%C3%B0ur_Sn%C3%A6fells%C3%A1s?uselang=de#/media/File:Arnastapi2Ice.JPG [zuletzt abgerufen am 08.02.23]

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Ellen E. PetersUniversität BaselSeminar für NordistikNadelberg 6CH-4051 Baselhttps://orcid.org/0000-0002-2015-8169

Die vorliegende Arbeit wurde von der Historisch-Philosophischen Fakultät der Universität Basel im Herbstsemester 2019 auf Antrag der Promotionskommission, Prof. em. Dr. Jürg Glauser (hauptverantwortlicher Betreuer) und Prof. Dr. Klaus Müller-Wille, als Dissertation angenommen.

DOI https://www.doi.org/10.24053/9783381105229

© 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

Satz: typoscript GmbH, WalddorfhäslachCPI books GmbH, Leck

ISSN 1661-2086ISBN 978-3-381-10521-2 (Print)ISBN 978-3-381-10522-9 (ePDF)ISBN 978-3-381-10523-6 (ePub)

[5]Inhalt

Vorwort

Vorbemerkungen

1

Einleitung

1.1

Die

Íslendingasögur

– bedeutungsvolle Vergangenheit

1.2

Die ‚postklassische‘

Íslendingasaga

: Forschungsstand

1.3

Überlieferung, Datierung und Klassifizierung

1.4

Die spätmittelalterlichen

Íslendingasögur

im

oral-written continuum

1.5

Die

Íslendingasögur

als kulturelle Texte

1.6

Zielsetzung und Methodik

Teil I:

Íslendingasögur

und kulturelles Gedächtnis

2

Theoretische Grundlagen

2.1

Die

Íslendingasaga

als kulturelle Textgattung

2.2

Die

Íslendingasögur

im Kontext der Sagaliteratur

2.3

Die Wahrheit der

Íslendingasögur

2.4

Die isländische Ursprungszeit im Wandel

3

Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die

Íslendingasögur

im Wandel der Jahrhunderte

3.1

Die spätmittelalterliche Gedächtniszeit

3.2

Die Frühneuzeit: Aufleben der Erinnerung an die Sagazeit und neues Selbstverständnis

3.2.1

Reformation und Umschlag zu kontrapräsentischer Mythomotorik

3.2.2

Beginn lateinischer Historiographie und Aktualisierung des Ursprungsmythos

3.2.3

Wahrheit und Identifikation: Interpretation und Fortschreibung der Sagazeit

3.3

Die späte Frühneuzeit: Die

Íslendingasögur

zwischen Tradition und Neubewertung

3.3.1

Verbreitung der

Íslendingasögur

in Europa und frühe Sagakritik

3.3.2

Die Einheit der Sagazeit im kulturellen Gedächtnis

3.3.3

Aufklärung und kulturelles Gedächtnis

3.3.4

Die

Íslendingasögur

in der Wissenschaft des ausgehenden 18. Jh.s

3.3.5

Weiterführung und Kritik im kulturellen Erinnern

3.4

Die

Íslendingasögur

in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption

3.4.1

Sagaforschung im 19. Jh. und die Dichotomie von Historie und Fiktion

3.4.2

Kulturelles Gedächtnis und nationalromantische Erneuerung

3.4.3

Mythos in der Wissenschaft: Die ‚postklassische‘

Íslendingasaga

3.4.4

Distanzierung von der Dichotomie von Historie und Fiktion

3.4.5

Der

cultural turn

und die ‚postklassische‘

Íslendingasaga

3.5

Zusammenfassung und Implikation der Systemtheorie

Teil II:

Íslendingasögur

und Systemtheorie

4

Theoretischer Hintergrund

4.1

Einführende Zusammenfassung zentraler Elemente der Systemtheorie

4.1.1

Systeme, Operationen, Leitprinzipien

4.1.2

Gesellschaftsformen

4.1.3

Kommunikation und Medien

4.1.4

Schrift und Gedächtnis

4.1.5

Selbstbeobachtungen und -beschreibungen

4.2

Von Aufzeichnung zu Kommunikation: Schrift im mittelalterlichen Island

4.3

Die Medialität der Sagazeit

4.4

Bedingungen der Medialität

5

Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen

Íslendingasögur

5.1

Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation

5.1.1

Christianisierung in

Hávarðar saga

und

Finnboga saga

5.1.2

Christianisierung und vorchristliche Ursprünge in

Bárðar saga Snæfellsáss

und

Kjalnesinga saga

5.1.3

Distanzierung vom Heidentum in

Flóamanna saga

und

Harðar saga

5.2

System und Umwelt

5.2.1

Ab- und Ausgrenzungen

5.2.2

Zur Medialität der

Grettis saga

5.2.2.1

Außenseiter und Grenzgänger

5.2.2.2

Außenseiter und Märtyrer

5.3

Textlandschaften

5.3.1

Medialität und Aktualität der

Víglundar saga

5.3.1.1

Text und Land

5.3.1.2

Medium und Norm

5.3.1.3

Mythos und Selbstbild

5.3.1.4

Innovation und Tradition

5.3.2

Die

Króka-Refs saga

: Medialisierte Vergangenheit

5.3.2.1

Text und Kontext

5.3.2.2

Überbietendes Neuerzählen

5.3.2.3

Isländische Frühzeit und christlicher Fokus

5.3.2.4

Mediale Wissensvermittlung

6

Resümee und Ausblick

Abstract & Keywords

Literaturverzeichnis

Namens- und Werkregister

[9]Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Herbstsemester 2019 an der Universität Basel als Dissertation eingereicht. Für den Druck wurde sie teilweise überarbeitet und um weitere Textbeispiele ergänzt.

Ich freue mich sehr, sie nun in gedruckter Form vorlegen zu können, nachdem die Fertigstellung aufgrund einer schweren Erkrankung zwischenzeitlich doch immer wieder in Frage stand. Entsprechend spiegelt der veröffentlichte Text auch, dass ich die Arbeit daran verschiedentlich für längere Zeit unterbrechen musste und sich seine Genese über einen deutlich längeren Zeitraum hinzog, als ursprünglich geplant war. Mittlerweile finden die ‚postklassischen‘ Íslendingasögur deutlich mehr Beachtung als zu Beginn meines Forschungsvorhabens, zudem wurden manche der angerissenen Problematiken nach Fertigstellung der Arbeit ausführlicher von der Sagaforschung behandelt. Da diese jüngsten Veröffentlichungen jedoch keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn im Hinblick auf die wesentlichen Fragestellungen dieser Untersuchung versprachen, wird lediglich in Fußnoten auf diese neuen Entwicklungen der Sagaforschung verwiesen. Stattdessen habe ich mich bei Erstellung der Druckfassung darauf konzentriert, bei Abgabe der Dissertation noch nicht fertiggestellte Textanalysen zu integrieren, die meinen methodischen Zugang weiter erhellen und Neues zum Verständnis der untersuchten Texte beitragen.

Auch hinsichtlich seines Umfangs übertrifft das nun vorliegende Buch die anfänglichen Erwartungen. Die ‚postklassischen‘ Íslendingasögur und damit die spätmittelalterliche Entwicklung der Gattung in den Blick zu nehmen, erwies sich (noch) komplexer als zunächst gedacht und erforderte einen interdisziplinären Zugang, den auszuführen entsprechend Raum einnimmt. Aufgrund der Entscheidung, dabei auch die Systemtheorie Niklas Luhmanns einzubinden, die – wenngleich m.E. zu Unrecht – den Ruf hat, schwer verständlich zu sein, erschien es mir notwendig, diese zunächst im Hinblick auf mein eigenes theoretisches Modell allgemein einzuführen, um auch ohne systemtheoretische Vorkenntnisse ein umfassendes Verständnis meiner Ausführungen zu erhalten. Vor allem aber war es mir wichtig, die wenig bekannten Primärtexte auch (für sich) selbst sprechen zu lassen, so dass nicht zuletzt zahlreiche längere Sagazitate (samt Übersetzungen) wesentlich zum Umfang der vorliegenden Studie beitragen. Trotz aller Brüche während der Entstehung stellt der finale Text nun hoffentlich ein gut begehbares Gedankengebäude dar, das Zugang zu einer neuen Sichtweise auf die lange zu Unrecht vernachlässigten ‚postklassischen‘ Íslendingasögur eröffnet und deren Beitrag zum kulturellen Gedächtnis der Isländer aufzeigt.

Den Peer Reviewern danke ich für die positive Begutachtung meiner Arbeit sowie hilfreiche Hinweise, den Herausgebern der Beiträge zur Nordischen Philologie für die Aufnahme in die Reihe und der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien für die großzügige Übernahme der Druckkosten.

Gefördert wurde ich während des Doktorats durch Stipendien der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel, der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg, der Stiftung Oskar Bandle sowie der Universität Basel, die mir wahrlich eine Alma Mater war [10]und mich auch finanziell durch die Böniger-Ris-Stiftung, den Kranken- und Unfallfonds sowie den von Studierenden gestifteten Solidaritätsfonds unterstützte. Allen, die dies möglich gemacht haben, sei an dieser Stelle ebenso herzlich gedankt wie den Mitgliedern von Sozialberatung und Studiendekanat, die mir mit meinen krankheitsbedingten Einschränkungen stets überaus verständnisvoll und wohlwollend entgegenkamen und mir ermöglichten, meine Promotion trotz aller Widrigkeiten zum Abschluss zu bringen.

Zudem haben zahlreiche weitere Menschen dazu beigetragen, dass ich die vorliegende Studie tatsächlich vollenden und veröffentlichen konnte. An erster Stelle zu nennen ist mein Doktorvater Prof. em. Dr. Jürg Glauser, ohne dessen Geduld, Vertrauen und Unterstützung mir dies schwerlich gelungen wäre. Sein anhaltendes Interesse an meiner Arbeit motivierte mich stets, nicht aufzugeben, der Austausch mit ihm half mir, meine Begeisterung für die Texte trotz belastender Umstände aufrechtzuerhalten. Auch die Inspiration zu dieser Arbeit verdanke ich ihm: Er lenkte mein Augenmerk bereits im Studium auf die ‚postklassischen‘ Íslendingasögur und ermöglichte mir als Projektmitarbeiterin im von ihm geleiteten Teilprojekt des Nationalen Forschungsschwerpunkts (NFS) Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen an der Universität Zürich eine weitreichende Auseinandersetzung mit Medialität aus einer mittelalterlichen Perspektive, aus deren Zusammenhang der methodische Zugang zu dieser Arbeit erwuchs. Bei der Entwicklung von diesem ließ er mir alle Freiheiten und gab mir zugleich wertvolle Hinweise und Denkanstöße. In den Diskussionen mit ihm habe ich auch über diese Arbeit hinaus viel gelernt. Ich schätze mich glücklich, dass er die Betreuung meiner Dissertation übernahm, und danke ihm von Herzen für seine Begleitung und Förderung.

Besonderer Dank gebührt auch Prof. Dr. Klaus Müller-Wille, der nicht nur bereit war, das Zweitgutachten für diese Arbeit zu übernehmen, sondern mir ebenfalls stets mit Rat und Tat zur Seite stand und in entscheidenden Phasen wichtige Impulse für die vorliegende Arbeit gab. Danken möchte ich auch Prof. em. Dr. Heinrich Anz, der mich in der Anfangsphase mit großem Interesse und Verständnis als Zweitbetreuer begleitet und als passionierter Grenzgänger bei meinen Grenzgängen zwischen Freiburg und Basel/Zürich sowie Mittelalter und Moderne unterstützt und gefördert hat. Nicht vergessen möchte ich in einer Arbeit über Gedächtnis und Erinnerung Prof. Dr. Dr.h.c. mult. Herbert Pilch, der mir als akademischer Lehrer ein Vorbild an wissenschaftlicher Gründlichkeit, Begeisterung und Neugier war und mich in den Anfängen meines Doktorats sehr unterstützte und ermutigte, neue Wege zu gehen. Leider konnte er die Fertigstellung nicht mehr erleben, weshalb ich ihm an dieser Stelle in memoriam meinen herzlichen Dank ausspreche.

Stellvertretend für alle Beteiligten am NFS, mit denen ich spannende Fragen zur Medialität im Allgemeinen und zur mittelalterlichen im Besonderen diskutieren konnte, danke ich Prof. Dr. Kate Heslop für wertvolle Anregungen, Hinweise und Nachfragen. Auch für die Unterstützung bei der Abfassung des Abstracts sei ihr gedankt. Dank gebührt auch Prof. Dr. Urs Stäheli, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort einen Vortrag über Niklas Luhmanns Systemtheorie hielt und bereit war, sich meine anfänglichen Überlegungen zur Anwendbarkeit dieser auf die Íslendingasögur anzuhören und zu diskutieren. Dr. Katharina Seidel danke ich für die Beschaffung von Handschriftenkopien, Dr. Anna Martin für die finale Korrektur des Abstracts. Für Hilfe bei der Beschaffung von teilweise schwer zugänglicher Literatur gilt mein Dank allen hilfsbereiten Angestellten in den verschie[11]denen Bibliotheken in Basel, Freiburg und Zürich, und im Besonderen Ulrike Marx, der ich darüber hinaus herzlich dafür danke, dass sie mich in den Phasen meiner Abwesenheit nicht nur bezüglich Neuerscheinungen auf dem Laufenden hielt, mich immer wieder motivierte, mein Projekt nicht aufzugeben und mich dabei in all den Jahren in so vielfältiger Weise unterstützte. Ein herzlicher Dank geht auch an Dr. Julia Meier, die mein Manuskript korrigierte und mir die Schlussetappe von der angenommenen Dissertation zum gedruckten Buch mit nützlichen Hinweisen und stetiger Ermunterung erleichterte. Dr. Anna Katharina Richter danke ich für ihre umfassende Unterstützung bei der Erstellung der Druckfassung, Tilmann Bub, Barbara Landwehr und Sariya Sloan vom Narr Francke Attempto Verlag für ihre freundliche und kompetente Betreuung der Drucklegung.

Schließlich danke ich all denen, die mich während des Doktorats auf die eine oder andere Weise unterstützt und mir so die Konzentration auf meine Arbeit ermöglicht haben: Meinen medizinischen Helfern, dank derer mit der Textgenese auch meine Genesung voranschritt, weiteren hilfreichen Wegbegleitern und ganz besonders meinen Freunden, denen auch für ihr anhaltendes Interesse an meiner Forschung und viele anregende Diskussionen ein herzlicher Dank gebührt. Widmen möchte ich sie allen, die infolge von anhaltender Gewalt in Kindheit und Jugend mit schweren Traumafolgestörungen zu kämpfen haben, insbesondere denen, die in der eigenen Familie misshandelt und missbraucht wurden.

Ellen E. Peters

[12]Vorbemerkungen

Zu den isländischen Eigennamen

Im Alt- wie auch im Neuisländischen werden Eigennamen flektiert. In der vorliegenden Arbeit wird im deutschen Text einheitlich die Nominativform als Namensform verwendet und gegebenenfalls nach den Regeln der deutschen Sprache genitiviert. Isländischen Gepflogenheiten entsprechend, werden isländische Forschende mit Vornamen zitiert und im Literaturverzeichnis geführt.

Zu den Übersetzungen

Soweit nicht anders angegeben, stammen sämtliche Übersetzungen von der Verfasserin. Die altnordischen Zitate wurden mit größtmöglicher Nähe zum Original übertragen, so wurde insbesondere der für die Sagaprosa charakteristische Wechsel zwischen Präsens und Präteritum beibehalten. Skaldische Kenningar, die im Argumentationszusammenhang bedeutungslos sind, werden in der Übersetzung jedoch aufgelöst.

Gender-Hinweis

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit das generische Maskulinum verwendet. Soweit nicht anders kenntlich gemacht, beziehen sich Personenbezeichnungen auf alle Geschlechter.

[13]Fólk efast of mikið.Það á að trúa því sem stendur í Íslendingasögunum og í Biblíunniog því sem gamla fólkið segir.

(Viktor Arnar Ingólfsson, Flateyjargáta)1

1Einleitung

1.1Die Íslendingasögur – bedeutungsvolle Vergangenheit

Die isländische Sagaliteratur ist einzigartig unter der europäischen Literatur des Mittelalters, die Íslendingasögur (Isländersagas) sind es in ganz besonderem Maß: In der für Sagas typischen, teils mit Skaldenstrophen durchsetzten Prosa berichten sie von der Auswanderung aus Norwegen, der Besiedelung Islands, dem Aufbau eines neuen Gemeinwesens und den damit verbundenen Auseinandersetzungen um Ehre, Macht oder Liebe, aber auch von Zauber, Wiedergängern und anderen übernatürlichen Erscheinungen. Ihre nüchterne und realistische Darstellung gemahnt an den historischen Roman (dazu Harris 1986), im Unterschied zu diesem bleibt jedoch manches ungesagt, was die Zusammenhänge erhellen würde, da die Íslendingasögur im Mittelalter vor dem Hintergrund einer lebendigen mündlichen Überlieferung entstehen und rezipiert werden. Dem modernen Leser geben sie Einblick in eine archaische Welt, die vertraut und fremd zugleich erscheint: Eindrückliche Charaktere und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen bebildern die isländische Landschaft und führen dabei menschliche Schicksale vor Augen, in denen sich Universalien menschlichen Verhaltens und Erlebens zeigen, sich aber auch das fremdartige Weltbild einer vormodernen Gesellschaft spiegelt. Ebenfalls einzigartig ist die jahrhundertelange handschriftliche Transmission der Sagaliteratur, die von der Bedeutung dieser Texte auch für die nachmittelalterliche isländische Gesellschaft zeugt (dazu Glauser 2011: 92–97). Auch in dieser Hinsicht sind die Íslendingasögur extraordinär, haben sie sich doch ihre Bedeutungsträchtigkeit bis in die Gegenwart bewahrt und nehmen einen ganz besonderen Stellenwert in der isländischen Gesellschaft ein. Nicht nur in Literatur,2 Theater (Sveinn Yngvi Egilsson 2004: 114–116) und Film (Lachmann/Lange-Fuchs 1993: 102–105),3 sondern auch im isländischen Alltag sind sie sehr präsent: Die Straßennamen [14]eines Viertels in Reykjavík sind nach den Hauptfiguren der bekanntesten Íslendingasögur benannt (dazu Jón Karl Helgason 1999: 137–139), eine der beiden großen isländischen Brauereien, Ölgerðin Egill Skallagrímsson, trägt den Namen eines der größten Helden der Íslendingasögur und auf Island vertriebene Feuerwerkskörper sind nach aus den Íslendingasögur bekannten Charakteren benannt, um nur ein paar augenfällige Beispiele zu nennen. Überhaupt ist die Erinnerung an die Íslendingasögur und ihre Protagonisten in Form von Skulpturen oder Hinweisen auf geschichtsträchtige Orte geradezu in die isländische Landschaft eingeschrieben. Es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, dass sie die isländische Identität maßgeblich prägten und in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Isländer noch immer eine sehr bedeutende Rolle spielen.4 Lange Zeit als ‚heilige Schriften‘ angesehen (vgl. Jónas Kristjánsson 1994: 288) und teilweise gar mit der Bibel gleichgesetzt, waren die Íslendingasögur ein wesentlicher Faktor im Streben um die 1918/44 dann errungene nationalstaatliche Unabhängigkeit (Gísli Sigurðsson 1996a: 42–46). Auch eine Charakterisierung des modernen Island als Buchnation und „Kultur des Worts“ (Glauser 2011: 11) ist ohne sie kaum vorstellbar.5

Mit Beginn des 21. Jh.s ist diese kulturelle Bedeutung der Íslendingasögur immer mehr in den Fokus der Forschung gerückt und führt zunehmend zu einem neuartigen Verständnis, das den sinnstiftenden Charakter der Texte geltend macht, wie die Darstellungen der Gattung in der jüngsten Generation von Literaturgeschichten und -handbüchern zeigen. So betont Vésteinn Ólason (2005: 106), dass die Íslendingasögur weder die Welt repräsentieren, in der die erzählten Ereignisse angesiedelt sind, noch diejenige, in der sie niedergeschrieben wurden, sondern vielmehr Geschichte schaffen und so Teil der Textualisierung der isländischen Geschichte, sowie der Weltgeschichte im weiteren Sinne, sind. Die einzelnen Sagas versteht er dabei als Miniaturausgaben der „greater history of the nation“, hinter denen ein zentraler Mythos, „a master-narrative“, steht: „All the sagas are like fragments of one single saga of destiny“ (112). Auch Heiko Uecker (2004: 114) stellt den Aspekt der Konstruktion von Geschichte ins Zentrum seiner Darstellung der Íslendingasögur. Für ihn sind diese „zwischen Faktizität und Fiktionalität“ anzusiedelnde „Geschichtsdichtung“ und damit Konstruktion und Deutung der isländischen Geschichte aus der Perspektive des 13. Jh.s: „[E]s wird ein Erinnerungsraum gezimmert, im Akt des Erzählens wird Geschichte erst geschaffen und Vergangenheit konstruiert.“ Zu einem Schluss, der zwar nicht explizit die Konstruktion von Vergangenheit als Kern der Íslendingasögur[15]ausmacht, aber implizit doch darauf verweist, kommt auch Else Mundal (2004: 292). Sie vermerkt, dass die Íslendingasögur „gjev seg ut for å fortelje om fortida, men det dei eigentleg gjev, er 1200-talet sitt bilete af fortida“.6Sverrir Tómassons Charakterisierung als fiktionale Erzählungen von Vergangenheit, somit „interpretations“ (2006: 123), ist dieser Aspekt der Konstruktion ebenfalls inhärent. Am deutlichsten betont ihn Jürg Glauser in seiner dezidiert kulturwissenschaftlich ausgerichteten Darstellung, die die Íslendingasögur in Anlehnung an Jan Assmann als Medien des kulturellen Gedächtnisses versteht. Als ‚formative‘ Texte stehen sie in engem Zusammenhang mit der isländischen Ethnogenese und zählen zu den fundierenden Erzählungen der Isländer:

In these stories, representing with their particular fictionality new social spaces, there is recorded a self-constructed memory of the emigration, the settlement, the re-building of a society and a religious conversion which are epochmaking events for the Icelanders. (Glauser 2000a: 215)7

Implizit oder explizit bringen somit sämtliche Darstellungen der Íslendingasögur neueren Datums zum Ausdruck, dass die Konstruktion von Vergangenheit ein wesentliches Charakteristikum der Gattung darstellt. Sagaforschung im 21. Jh. ist speziell im Falle der Íslendingasögur schwer vorstellbar, ohne diesem Aspekt eine zentrale Bedeutung zuzumessen. Die kulturwissenschaftlich orientierte Sichtweise verspricht dabei neue Erkenntnisse hinsichtlich der Gattung als Ganzes, aber auch in Bereichen, die bislang nur wenig Beachtung fanden. Diese Arbeit ist einem dieser bislang eher wenig beachteten Sujets der Sagaforschung gewidmet, den sog. ‚postklassischen‘ Íslendingasögur des Spätmittelalters, die ich anknüpfend an Glausers Verständnis der Texte als Träger des kulturellen Gedächtnisses im Sinne Assmanns neu beleuchten möchte.8

1.2Die ‚postklassische‘ Íslendingasaga: Forschungsstand

Das Stichwort ‚Íslendingasaga‘ ruft zunächst einmal etwa ein knappes Dutzend Werke in das Gedächtnis – Egils saga, Eyrbyggja saga, Gísla saga, Grettis saga, Hrafnkels saga, Laxdœla saga, Njáls saga, um die berühmtesten unter ihnen zu nennen –, die auch im Zentrum der wissenschaftlichen Diskussion stehen. Insgesamt werden jedoch (je nach Zählweise) 35–40 Werke zu den Íslendingasögur gezählt, wobei sich die einzelnen Werke zum Teil beträchtlich in Umfang, Stil, Aufbau und Fokus, der auf einer Person oder Familie, einem Landstrich oder einem bestimmten Ereignis liegen kann, unterscheiden (Heusler 1941: 221–222). Häufig werden die Íslendingasögur in frühe, klassische und ‚postklassische‘ Werke unterteilt, wobei immer wieder betont wird, dass sich letztere deutlich von den übrigen abheben (siehe z.B. Mundal 2004: 290, Vésteinn Ólason 2005: 114, Sävborg [16]2012a: 53–54). Der Subgattung der ‚postklassischen‘ Íslendingasaga werden im Allgemeinen die folgenden Sagas zugerechnet:9

Bárðar saga (Bárðar saga Snæfellsáss)

Finnboga saga (Finnboga saga ramma)

Fljótsdæla saga (auch Droplaugarsona saga hin meiri)

Flóamanna saga (auch Þorgils saga Örrabeinsfóstra)

Grettis saga auch (Grettis saga Ásmundarsonar ins sterka)

Gunnars saga Keldugnúpsfífls

Harðar saga (Harðar saga Grimkelssonar, auch Harðar saga ok Hólmverja, Hólmverja saga)

Hávarðar saga (Hávarðar saga Ísfirðings)

Kjalnesinga saga (auch Búa saga Andriðasonar oder Búa saga Esjufóstra)

Króka-Refs saga

Svarfdœla saga

Þórðar saga hreðu

Þorskfirðinga saga (auch Gull-Þóris saga)

[Þorsteins saga Síðu-Hallssonar]10

Víglundar saga (Víglundar saga væna, Víglundar saga og Ketilríðar oder auch Þorgríms saga prúða)

‚Postklassisch‘ wird zumeist mit einer Entstehungszeit im späten Mittelalter, d.h. ab 1300 gleichgesetzt, allerdings beruht die Untergliederung der Gattung weniger auf einer gesicherten Datierung der Entstehung als vielmehr auf charakteristischen Merkmalen einzelner Sagas. Traditionell werden die als ‚postklassisch‘ bezeichneten Íslendingasögur tatsächlich auf das Spätmittelalter datiert, allerdings besteht eine problematische Wechselwirkung zwischen Datierung und Klassifizierung, wie Daniel Sävborg (2012: 31) feststellt: „Sagorna har i hög grad daterats utifrån de typiska dragens antagna ålder, samtidigt som de typiska dragen i hög grad daterats utifrån sagornas antagna ålder.“11 Dem Konzept der ‚postklassischen‘ Íslendingasaga liegt das traditionell von der Sagaforschung vertretene dreigliedrige Entwicklungsmodell zu Grunde, dem zufolge einer Periode des Aufstiegs eine der Blüte und schließlich eine des Niedergangs folgt (dazu Glauser 2013). Dieses Schema wurde im Laufe der Zeit verschiedentlich modifiziert. So werden mittlerweile die einzelnen Phasen nicht mehr klar voneinander abgegrenzt, sondern überlappen sich deutlich (Vésteinn Ólason 2005: 116), zudem wird das Spätmittelalter nicht mehr als Zeit des Niedergangs, sondern als Umbruchszeit verstanden. Auch die teilweise extreme Abwer[17]tung, die die ‚postklassischen‘ Íslendingasögur analog zu den Fornaldarsögur und Märchensagas als ‚Verfallsprodukte‘ erfuhren (ausführlich dazu Kap. 3.4), ist mittlerweile ad acta gelegt. Allerdings wirkt die Verfallsthese doch deutlich nach, insofern als die ‚postklassischen‘ Vertreter mit Ausnahme der Grettis saga, die in verschiedener Hinsicht eine Sonderstellung unter diesen einnimmt,12 wenig bis keine Aufmerksamkeit erhalten (vgl. Sävborg 2012: 20–22). Zwar rückt die sog. ‚postklassische‘ Literatur des Spätmittelalters seit einigen Jahrzehnten zunehmend in den Fokus, jedoch fanden bislang vornehmlich die als typisch spätmittelalterlich angesehenen Gattungen intensivere Beachtung, während die spätmittelalterliche Phase der Gattung Íslendingasaga erst allmählich in das Bewusstsein der Forschung dringt.13 Obwohl die ‚postklassischen‘ Vertreter mehr als ein Drittel aller zur Gattung gezählten Werke ausmachen, wird die Gattung mehr oder minder ausschließlich über die frühen/‚präklassischen‘ und ‚klassischen‘ Vertreter definiert, während die Subgattung der ‚postklassischen‘ Íslendingasaga als nicht-genuines Anhängsel erscheint oder größtenteils mehr oder minder ignoriert wird (vgl. Sävborg 2012a: 22–30). Als charakteristisch für ‚postklassische‘ Íslendingasaga gilt insbesondere ein starkes Interesse an übernatürlichen Wesen und Erscheinungen sowie eine deutliche Neigung zur Übertreibung, was zumeist unter dem Überbegriff des Phantastischen subsumiert wird (dazu Vésteinn Ólason 2007a).14 Thingprozessen kommt in den ‚postklassischen‘ Íslendingasögur eine eher marginale Rolle zu, im Gegensatz zu den übrigen Vertretern der Gattung, die auch auf Familien oder die Bewohner bestimmter Landstriche fokussieren, erzählen sie in der Regel biographisch. Neben Übernahmen aus älteren Werken wird zudem ihre im Vergleich mit den klassischen Vertretern in verschiedener Hinsicht stereotype Darstellungsweise betont. So werden Figurengestaltung und Handlungsentwicklung im Allgemeinen als schablonenhaft charakterisiert und auf die in den ‚postklassischen‘ Werken deutlicher hervortretenden Gattungsstereotypen verwiesen. Zudem wird den ‚postklas[18]sischen‘ Íslendingasögur vor allem in der Motivik eine deutliche Nähe zu anderen Sagagattungen attestiert, weshalb sie auch als ‚gattungshybrid‘ bezeichnet werden.15 Betont werden zumeist insbesondere die Gemeinsamkeiten mit den Fornaldarsögur und die Neigung, Volkssagen zu integrieren, darüber hinaus finden sich jedoch auch Einflüsse von übersetzten und originalen Riddarasögur, hagiographischer Literatur und der Bibel (Vésteinn Ólason 2007b: 45). Ausgehend von diesen Feststellungen wird die ‚postklassische‘ Íslendingasaga als ‚phantastisch‘ und ‚unrealistisch‘ definiert und so von den als realistisch beurteilten übrigen Vertretern der Gattung abgegrenzt.

Ein Alleinstellungsmerkmal der ‚postklassischen‘ Íslendingasögur sind unrealistische und phantastische Elemente jedoch keineswegs. So enthalten auch die meist geschätzten der klassischen Íslendingasögur nicht wenige Szenen mit übernatürlichem oder phantastischem Charakter.16 Wie Sävborg (2009) zeigt, lässt sich das Übernatürliche in den Íslendingasögur generell unterscheiden in Szenen, in denen Übernatürliches mittels Distanzmarkern als verwunderlich und fremd gekennzeichnet wird, und Szenen, in denen derartige Distanzmarker fehlen. Die ‚postklassischen‘ Íslendingasögur lassen sich allerdings anhand dieses Merkmals nicht eindeutig von den ‚klassischen‘ unterscheiden, wenngleich das Übernatürliche in ihnen in einzelnen Fällen dem in den Fornaldarsögur näher steht. Auch Übertreibung ist nicht unüblich in den frühen und klassischen Íslendingasögur, sondern wie Paul Schach (1981: 404) betont „ein ebenso wichtiges und wirkungsvolles Stil- und Erzählmittel […] wie die viel besprochene und bewunderte Untertreibung“, was er anhand zahlreicher Beispiele, darunter etlichen aus frühen oder klassischen Sagas, illustriert.17 Wie Margaret Clunies Ross (1997) aufzeigt, ist das Nebeneinander von realistischem und phantastischem Erzählen von Anbeginn charakteristisch für die Sagaliteratur. Ein klarer Gegensatz zwischen einer historisch-realistischen Erzählweise und einer unterhaltend-phantastischen Erzählweise gibt sich nicht zu erkennen, vielmehr zeigt sich eine in unterschiedlichem Ausmaß vorhandene Kombination der verschiedenen Erzählmodi in einzelnen Texten und Textgattungen. Im Spätmittelalter kommt dem Phantastischen dann generell eine größere Bedeutung zu.

[19]The so-called ‚post-classical‘ literature of Iceland, as the rest of late medieval Europe, takes off from the mixed modality of earlier vernacular writing to develop the fantastic dimension of the fictional imagination to a greater degree than its predecessors […]. (Clunies Ross 2002: 453)

Für die Íslendingasögur konstatiert Vésteinn Ólason (2007a: 18) eine quantitative, keine qualitative Zunahme der phantastischen Elemente im Laufe der Gattungsentwicklung,18 die im Allgemeinen als Entfernung vom berühmten ‚Sagarealismus‘ beschrieben wird.19Mundal betont dabei vor allem die zunehmende Loslösung von mündlicher Überlieferung und Geschichte:

Medan islendingesogene på 1200-talet er fast forankra i den islandske historia og realismen, og gjev seg ut for å fortelje om historiske hendingar som fann stad ein gong for lenge sidan, taper dei yngste sogene fotfeste i historia. Nokre av dei unge sogene kan byggje på tradisjon, andre kan vere reine forfattarprodukt. (Mundal 2004: 290)

Während die isländischen Sagas im 13. Jh. fest in der isländischen Geschichte und im Realismus verwurzelt sind und den Eindruck erwecken, von historischen Ereignissen zu erzählen, die sich vor langer Zeit zutrugen, verlieren die jüngsten Sagas den Halt in der Geschichte. Manche der jungen Sagas können auf Tradition beruhen, andere sind reine Verfasserprodukte.

Die auf dem Gegensatz von ‚realistisch‘ und ‚fiktiv‘ erfolgende Abgrenzung der ‚postklassischen‘ Íslendingasögur hat eine lange Tradition in der Sagaforschung und spielt vor allem in Fragen der Datierung noch immer eine bedeutende Rolle (Glauser 2013), was aus der Perspektive moderner Literaturtheorie „rather absurd“ erscheint, wie Glauser (2013: 25) anmerkt. Nicht unproblematisch ist auch die Abgrenzung, die Vésteinn Ólason formuliert, der auf die sich verändernde Rolle der Verfasser und der Texte selber fokussiert:

As the Íslendingasögur proliferated and their form established itself, the freedom which authors felt able to exercise in reworking old narrative material must have increased, as must the ability and inclination of authors to make their sagas engage with general ideas […]. More clearly than ever before, the sagas are now [= in the fourteenth century] works of entertainment. (Vésteinn Ólason 2005: 114)

Nach Ansicht von Clunies Ross (2002: 446) vermischt er dabei zwei verschiedene Sachverhalte, die Rolle des Autors einerseits und Charakter und Ausmaß literarischer Phantasie in einzelnen Werken andererseits. Clunies Ross (2002: 449) weist zudem darauf hin, dass Phantastik und Realität nicht unbedingt gegensätzlich sind: „A saga writer who treats a subject in fantastic mode may be as engaged with ‚reality‘ as he perceives it, as when he writes objectively and creates an impression of realism.“ Weitere Probleme, die mit der aktuellen Definition der ‚postklassischen‘ Íslendingasaga auf der Unterscheidung von realistisch/phantastisch verbunden sind, machen jüngere Auseinandersetzungen mit verschiedenen Aspekten der Subgattung und Detailanalysen einzelner Werke deutlich. So spielt phantastisches Erzählen auch vor dem Spätmittelalter eine weit größere Rolle als die Sagaforschung lange Zeit bereit war einzugestehen (Clunies Ross 1997: 449). Wie Sävborg zeigt, sind etliche als typisch ‚postklassisch‘ geltende phantastischen Elemente bereits im [20]13. Jh. nachweislich mit den Protagonisten einzelner ‚postklassischer‘ Sagas verknüpft (Sävborg 2012a: 33–35). Auch für die Annahme, dass es sich bei diesen Werken um ursprünglich realistische Sagas handelte, die im späten Mittelalter gravierend umgearbeitet wurden und erst dann ihren phantastischen Anstrich erhielten, finden sich keine Belege. Entgegen der verbreiteten Annahme, die ‚postklassischen‘ Íslendingasögur seien unter dem Einfluss der Fornaldarsögur entstanden oder umgearbeitet worden, legt Sävborg (2012a: 41, 2012b) zudem dar, dass etliche der als typisch ‚postklassisch‘ eingestuften Elemente Teil älterer mündlicher Überlieferung sind und dass die ältesten ‚postklassischen‘ Íslendingasögur vermutlich vor den ersten Fornaldarsögur entstanden. Er kommt infolgedessen zum Schluss, dass die chronologische Erklärung für die ‚postklassische‘ Íslendingasaga versagt und die Gleichsetzung von spätmittelalterlich und ‚postklassisch‘ zwar in vielen Fällen, jedoch nicht immer adäquat ist (Sävborg 2012a: 51–52). Darüber hinaus weist er darauf hin, dass sich der typische ‚klassische‘ Stil der Íslendingasögur erst im 14. Jh. herausbildet, was im Widerspruch zu einem zeitgleichen Niedergang der Gattung steht und den entstehungsgeschichtlichen Kontext der spätmittelalterlichen Werke in einem anderen Licht erscheinen lässt (Sävborg 2012a: 32).

So wenig das Phantastische und Unrealistische typisch spätmittelalterlich ist, so wenig ist die ‚postklassische‘ Íslendingasaga typisch phantastisch oder unrealistisch. Die Þórðar saga hreðu enthält keinerlei phantastischen Elemente,20 die Fljótsdæla saga lässt sich abgesehen von einem Märchenmotiv zu Beginn ebenfalls nicht von den als realistisch angesehenen Íslendingasögur unterscheiden und auch die Finnboga saga, die zu Beginn etliche märchenhafte und teils phantastische Motive enthält, ist ansonsten eher mit diesen zu vergleichen (Vésteinn Ólason 2007a: 11). Teilweise kommt die Forschung darüberhinaus zu höchst unterschiedlichen Beurteilungen des phantastischen Gehalts eines einzelnen Werkes. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die Þorskfirðinga saga, deren Protagonist Gull-Þórir zu Beginn der Erzählung eine utanferð (Reise von Island weg) unternimmt, auf der er einen Schatz von einem Drachen erbeutet und von dem abschließend berichtet wird, dass er sich nach Meinung der Leute selbst in einen seinen Schatz bewachenden Drachen verwandelt habe. Für Vésteinn Ólason (2007a: 11, vgl. auch 16–17) zählt sie zu den Íslendingasögur, in denen dem Übernatürlichen eine wesentliche Bedeutung in der Gesamtstruktur zukommt. Phil Cardew (2004: 22) dagegen kommt zum Schluss, dass die an eine Fornaldarsaga gemahnenden phantastischen Elemente spärlich über die Saga verteilt sind und sich auf die am Anfang der Saga erzählte utanferð und einige wenige Hinweise innerhalb der übrigen Erzählung beschränken, wobei erstere zudem nicht nur phantastisch geprägt ist: „In fact, if we remove the narrative of the strange events from the beginning of the saga, then its story proceeds in an entirely orthodox manner.“

Zudem wird die Unterscheidung von realistisch und unrealistisch/phantastisch von einigen Vertretern der Subgattung in verschiedener Hinsicht ad absurdum geführt. Der Króka-Refs saga schreibt Frederic Amory (1988: 22) „an illusion of realistic sobriety and [21]verisimilitude“ zu und bezeichnet sie als „a pearl of plausible fiction“, Kendra Willson (2006: 1065) charakterisiert sie als „realistic portrayal of the unrealistic“. Für die Bárðar saga zeigt Ármann Jakobsson (1998: 56–58), dass sie trotz ihres teilweise nicht-menschlichen Protagonisten und all ihrer übernatürlichen Phänomene, die ein moderner Leser als unrealistisch empfindet, zur Zeit ihrer Entstehung durchaus als seriöses Geschichtswerk zu verstehen war, wie insbesondere die zum Großteil der Landnámabók entstammenden umfangreichen historischen Informationen und das Interesse der Saga für Toponyme deutlich machen. Als „history of the trolls“ ist die Bárðar saga ebenso Bestandteil der isländischen Frühgeschichte wie die für einen modernen Leser realistisch(er) anmutenden älteren Íslendingasögur, wenngleich sie den modernen Anforderungen an ein geschichtliches Werk nicht gerecht wird (Ármann Jakobsson 1998: 53–55), und erfüllt als Ursprungsmythos, der die Existenz hilfreicher, in der Natur lebender Wesen erklärt, eine wichtige Funktion in der Definition isländischer Identität (Lindow 2009). Gleiches gilt für die Víglundar saga, die ihren romantischen und exempelhaften Inhalt ebenfalls in einem extrem realistischen Gewand präsentiert und dementsprechend im 17. Jh. auch für Erweiterungen der Landnámabók herangezogen wurde (Peters 2018: 296–305).

Ein weiterer bislang nicht zufriedenstellend untersuchter Bereich innerhalb des Komplexes ‚postklassische‘ Íslendingasaga eröffnet sich schließlich, wenn man sich der Frage nach einer Erklärung für die Andersartigkeit der ‚postklassischen‘ Íslendingasögur zuwendet. Sävborg (2012a: 25–27) macht diesbezüglich zwei verschiedene Ansätze aus, die literarisch-generische sowie die mentalitätshistorische Erklärung, die sich nicht gegenseitig ausschließen. Im 20. Jh. wurde mit ersterer vornehmlich der Einfluss von Fornaldarsögur und Märchensagas assoziiert, mit letzterer die durch den Verlust der isländischen Unabhängigkeit 1262/64 ausgelösten Veränderungen. Die aktuellen Gesamtdarstellungen der Gattung stellen die Situation etwas differenzierter dar, sofern sie explizit auf die ‚postklassischen‘ Íslendingasögur eingehen. Als Ursachen für das sich verändernde Erzählen der Íslendingasaga im Spätmittelalter führen sie das allmähliche Versiegen mündlicher Überlieferungen (realistischer Natur oder ganz allgemein) an, sowie die sich verändernden Bedingungen der Sagaschreibung infolge der Etablierung der Íslendingasögur und anderer sich verbreitender Sagagattungen. Eine bedeutende Rolle wird auch der zunehmenden Distanz zur in den Íslendingasögur dargestellten Gesellschaft zugeschrieben, da sich die Erlebniswelt der spätmittelalterlichen Isländer aufgrund der sich mehr und mehr durchsetzenden christlichen Ideale gravierend von der frühen isländischen Gesellschaft unterscheidet (Vésteinn Ólason 2007a: 19–20).

Eingehender und unter Bezugnahme auf verschiedene Werke hat sich mit der Frage nach den Hintergründen der Entstehung der ‚postklassischen‘ Íslendingasögur bislang nur eine einzige Studie auseinandergesetzt, The post-classical Icelandic family saga von Martin Arnold. Arnold (2003: 49–106) legt die nationalromantischen Hintergründe, die zur Kanonisierung der klassischen Íslendingasögur geführt haben, ausführlich dar, seine Ausführungen geben jedoch zu erkennen, dass er selbst noch deutlich der nationalromantischen Sichtweise verhaftet ist, wenngleich die Verfallsthese in seinen Ausführungen etwas moderater gewandet ist. So geht er von einem umfassenden gesellschaftlichen Verfall als Folge des Verlusts der Unabhängigkeit aus, der das späte Mittelalter prägt und schließlich im 17. und 18. Jh. seinen Tiefpunkt erreicht (59). Den politischen Wandel durch die Eingliederung in das norwegische Reich sieht er als Bruch mit weitreichenden Folgen für [22]die traditionelle isländische Bauerngesellschaft, der in den ‚postklassischen‘ Íslendingasögur literarisch zum Ausdruck gebracht wird (55). Die drohende Integration Islands in den norwegischen Machtbereich schärfte das Bewusstsein der Isländer für die eigene Identität, woraus die Entstehung der klassischen Íslendingasögur resultiert. Diese definieren dementsprechend mittelalterliche „Icelandicness“ und bringen „a consciousness akin to National Romanticism“ zum Ausdruck (47).21 Während die klassische Saga versuche, Lösungen „for Icelandic problems in Icelandic terms“ zu finden, ist nach Arnold (231) charakteristisch für die ‚postklassische‘ Saga, dass sie die Möglichkeit solcher Lösungen verneine und stattdessen „a principle of threat that tends toward the destabilisation of the hero and of the community“ etabliere. Das Postulat einer gesellschaftlichen Destabilisierung infolge des Verlusts der Unabhängigkeit steht jedoch nicht in Einklang mit jüngeren Ergebnissen der Geschichtswissenschaften, nach denen dieser politische Wandel nicht, wie lange angenommen, gravierende soziale Veränderungen mit sich brachte, sondern die gesellschaftlichen Strukturen nur geringfügig veränderte (dazu Glauser 1983: 5–7, 36–60).22 Die jüngere Sagaforschung versteht die Auswirkungen des Verlusts der isländischen Unabhängigkeit auf die Sagaliteratur zudem weniger destruktiv, als vielmehr konstruktiv. So betont Glauser (2000: 211–212), dass sich die Íslendingasögur erst infolge des mit dem Verlust der isländischen Unabhängigkeit einhergehenden Bruchs als Medien des kulturellen Gedächtnisses etablieren, um eben diesen Bruch zu überwinden.

Darüber hinaus ist festzuhalten, dass eine Destabilisierung von Held und Gesellschaft und die Negierung einer möglichen Lösung gesellschaftlicher Probleme keineswegs in sämtlichen ‚postklassischen‘ Íslendingasögur erkennbar ist, so dass die Subgattung damit mitnichten zufriedenstellend charakterisiert ist. Mit seiner Feststellung, die von ihm untersuchten Texte „offer hyperbole, parody, unresolved tensions and the divided worlds of the human and the non-human, the inner community and the outer community“, zeigt Arnold (2003: 230) einen bedeutenden Aspekt im ‚postklassischen‘ Erzählen der Íslendingasaga auf. Dieses ist jedoch weit vielschichtiger als in den von ihm behandelten Texten zum Ausdruck kommt, wobei einige der üblicherweise als ‚postklassisch‘ bezeichneten Werke auch in deutlichem Kontrast zu Arnolds Variante der Verfallsthese stehen.23 Die Víglundar saga beispielsweise schildert zwar durchaus eine Bedrohung des Helden (und seines zentralen Anliegens, der Liebe zu seiner Auserwählten), doch gerade die Überwindung dieser steht im Zentrum der Erzählung. Die Saga führt konkrete Lösungen für die dargestellten Schwierigkeiten vor, hat eine positive Grundstimmung und einen glücklichen Ausgang, wobei der Protagonist deutlichen Vorbildcharakter hat (Peters 2018: 305–316). Búi, der Protagonist der Kjalnesinga saga, ist zwar ein gesellschaftlicher [23]Außenseiter, den auch eine deutliche Nähe zum Übernatürlichen charakterisiert, doch obwohl er zum Schluss von seinem eigenen Sohn, den er mit einer nicht-menschlichen Frau gezeugt hat, getötet wird, ist er mitnichten Auslöser oder Element gesellschaftlicher Destabilisierung: Wie Robert Cook (1994) überzeugend darlegt, symbolisiert er vielmehr die Integration des irischen Elements in die isländische Gesellschaft. Auch eine „skemmtisaga“ (Unterhaltungsgeschichte) wie die Þórðar saga hreðu (Jón Torfason 1990: 128), deren Protagonist integriertes und anerkanntes Mitglied der Gesellschaft ist, bis er im hohen Alter stirbt, passt nicht in Arnolds Bild.24 Schließlich ist die von Arnold für die ‚postklassische‘ Íslendingasaga postulierte gesellschaftliche Destabilisierung und Anderweltlichkeit des Protagonisten auch in den von ihm ausführlich behandelten Werken keineswegs so eindeutig wie seine Darstellung nahelegt. So erringt der Protagonist der Króka-Refs saga seine Erfolge durchaus „extra-societally through ruthlessness and ingenuity“ (Willson 2006: 1069), dennoch endet er als anerkanntes und geachtetes Gesellschaftsmitglied, das in einem Mönchskloster begraben wird und sich durch angesehene Nachkommen, darunter ein Bischof, auszeichnet. Dass Króka-Refr (Listen-Fuchs) schlussendlich vom König den Namen Sigtryggr (Siegessicherer) verliehen bekommt, markiert, wie Willson mutmaßt, „Refr’s transition from extra-societal fox to member of human society.“

Dass die spätmittelalterlichen Íslendingasögur ein deutliches Interesse an Außenseitern zeigen, wurde auch anderorts verschiedentlich festgestellt.25 Es ist Arnolds Verdienst, Aspekte dieses Außenseitertums aufzuzeigen und herauszuarbeiten, im Kontext anderer Lesarten sowie anderer ‚postklassischer‘ Íslendingasögur, die er außer Betracht lässt, wirkt seine Schlussfolgerung, dass die Íslendingasögur im Spätmittelalter einen gesellschaftlichen Verfall widerspiegeln, jedoch nicht überzeugend. Auch in modifizierter Form liefert die Verfallstheorie kein schlüssiges Deutungsmuster, in das sämtliche zur Subgattung gezählten Werke passen, nicht zuletzt, da sie einen weiteren zentralen Aspekt der ‚postklassischen‘ Íslendingasögur außer Acht lässt: Diese zeigen eine klare Tendenz, die [24]isländischen Ursprünge zu ‚christianisieren‘ (vgl. z.B. Cook 2004, Grønlie 2017, Peters 2018), was schwerlich mit der Verfallslogik in Einklang zu bringen ist und unbedingt hinreichend Beachtung finden muss, will man das Erzählen der Íslendingasaga umfassender begreifen. Eine zufriedenstellende Erklärung für die ‚postklassische‘ Íslendingasaga steht somit noch immer aus (vgl. Sävborg 2012a: 53–54). Dass die Klassifizierung als ‚postklassisch‘ nicht zwangsläufig mit im Spätmittelalter entstanden gleichzusetzen ist und die Subgattung sich wie dargelegt nicht als spätmittelalterliche phantastische, unrealistische Abweichung einer zuvor etablierten realistischen Gattung verstehen lässt, deutet darauf hin, dass mit der Verfallsthese auch das eng mit dieser verknüpfte triadische Modell zu verabschieden ist. Aktuell erscheint die Subgattung der ‚postklassischen‘ Íslendingasaga mehr als eine Art Sammelbecken für diejenigen Werke, die nicht der allgemein verbreiteten Vorstellung von einer Íslendingasaga entsprechen, denn als brauchbare Deutung der spätmittelalterlichen Entwicklung der Gattung. Die Unterscheidung von realistisch und unrealistisch/phantastisch ist bei genauerer Betrachtung eine Gegenüberstellung von höchst unterschiedlichen Aspekten, die angeblich eindeutige Andersartigkeit der ‚postklassischen‘ Íslendingasögur hält einer kritischen Auseinandersetzung nicht stand, sondern entpuppt sich als uneindeutig und schwer greifbar. Viele diesbezügliche Einschätzungen sind äußerst subjektiv und in Ermangelung einer klaren Argumentation schwer nachvollziehbar (vgl. Sävborg 2012a: 36–37), zum Teil widersprechen sich die Zuschreibungen deutlich.26 Die Feststellung, „we tend to make a distinction between narratives characterized by fantasy and those supposed to be a ‚true‘ imitation of the ‚real‘ world“, die den Ausgangspunkt von Vésteinn Ólasons Auseinandersetzung mit den spätmittelalterlichen Íslendingasögur markiert (2007a: 7), mutet zugleich an wie eine pointierte Zusammenfassung der Diskussion um die ‚postklassische‘ Íslendingasaga generell. Es scheint an der Zeit, das Konzept der ‚postklassischen‘ Íslendingasaga und damit zwangsläufig auch das Konzept der gesamten Gattung kritisch zu hinterfragen und das Erzählen der Íslendingasaga im Spätmittelalter vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen der Sagaforschung neu zu beleuchten. Materielle Philologie und das Konzept des ‚unfesten‘ Textes und die mit dem Fokus auf die tatsächliche Überlieferung verbundene neue Sichtweise auf Fragen der Datierung und somit auch Klassifizierung, die jüngere Oralitätsforschung sowie nicht zuletzt kulturwissenschaftlich ausgerichtete Untersuchungen in anderen Bereichen der Sagaliteratur haben die Sagaforschung in den vergangenen Jahrzehnten in vielerlei Hinsicht vorangebracht, wurden bislang jedoch kaum explizit in Zusammenhang mit dem Phänomen der ‚postklassischen‘ Íslendingasaga gebracht.

[25]1.3Überlieferung, Datierung und Klassifizierung

Während die Handlungszeit der Íslendingasögur relativ eindeutig festzumachen ist (grundlegend dazu Guðbrandur Vigfússon 1856), ist die genaue Entstehungszeit der Gattung sowie einzelner Werke vielfach debattiert. Bekanntlich sind die Íslendingasögur nur in Abschriften bewahrt, unter denen die jüngeren Papierhandschriften (17.–19. Jh.) gegenüber den mittelalterlichen Pergamenten bei weitem in der Überzahl sind. Ausgehend von der Überlieferung müsste, wie Örnólfur Thorsson schon 1990 (36) betonte, das Spätmittelalter als die eigentliche Blütezeit der Íslendingasögur gelten: So existieren aus dem 13. Jh., das gemeinhin als die Hochzeit der Gattung gilt, lediglich mehr oder minder umfangreiche Bruchstücke von sechs Íslendingasögur, während vollständige Werke erst aus dem 14. Jh. und 15. Jh. überliefert sind. Etliche der Íslendingasögur sind gar erst in nachmittelalterlichen Handschriften vollständig bewahrt, von einigen existiert nicht einmal mehr ein mittelalterliches Fragment.27 Zudem unterliegen die Texte im Laufe ihrer Transmission deutlichen Veränderungen, so dass die überlieferten Textträger allenfalls mehr oder minder spekulative Rückschlüsse auf die Gestalt ihrer Vorläufer erlauben. In ihrem Bestreben, Entstehung und Entwicklung der Gattung Íslendingasaga nachvollziehen zu können, umschiffte die Sagaforschung diese Problemlage, indem sie andere Datierungskriterien in den Vordergrund rückte, mit Hilfe derer das Gerüst einiger weniger mit relativer Sicherheit zu bestimmenden Werke aufgefüllt wurde.28 Abhängigkeiten von anderen Werken, Virtuosität und Stil wurden so zentral für die Altersbestimmung einer Saga, während die handschriftliche Überlieferung im 19. und überwiegend auch im 20. Jh. keine oder nur eine unwesentliche Rolle spielt, wie Glauser (2013) anhand der Datierung der Íslendingasögur in den relevanten Literaturgeschichten der letzten 200 Jahre aufzeigt. Erst seit dem ausgehenden 20. Jh. gerät die tatsächliche Überlieferung allmählich mehr in den Fokus (Glauser 2013: 24). Traditionell ist die Datierung der Íslendingasögur in erster Linie geprägt von der Vorstellung, wie die Gattung entstand und sich entwickelte: „In short, the concept of literature defines its dating“ (25). Von zentraler Bedeutung ist dabei sowohl im 19. als auch im 20. Jh. das im vorigen Kapitel angesprochene triadische Modell (dazu Glauser 2013: 13–28). Insbesondere die in verschiedenen Varianten überlieferten Sagas machen deutlich, dass den auf der Basis von derartigen Überlegungen gewonnenen Datierungen ein hohes Maß an Subjektivität innewohnt.29 Bei zahlreichen ‚postklassi[26]schen‘ Vertretern kommt erschwerend hinzu, dass sie keiner intensiveren Betrachtung für wert erachtet wurden und dementsprechend die Datierung auch nicht auf einer eingehenden Analyse von Text und Überlieferung beruht (vgl. Jónas Kristjánsson 1994: 224). Auch in jüngerer Zeit finden sich noch erschreckend substanzlose Aussagen zur Altersbestimmung einzelner Werke, die lediglich im Hinblick auf die Persistenz der Verfallsthese und der damit verbundenen negativen Konnotation der spätmittelalterlichen Literatur aufschlussreich sind.30 Wie problematisch eine auf der Basis subjektiver Überlegungen gewonnene Datierung einer Saga sein kann, wenn sie die tatsächliche Überlieferung außer Acht lässt, wird am Beispiel der nur in einer Handschrift aus dem 17. Jh. sowie in auf diese zurückgehenden Abschriften überlieferten Fljótsdæla saga besonders deutlich. Mit Kristian Kålund kam die Meinung auf, es handle sich bei ihr um ein Mitte des 16. Jh.s mit deutlichem Abstand zu den übrigen Vertretern der Gattung entstandenes Imitat, das aus antiquarischem Interesse angefertigt wurde oder den Versuch einer Wiederbelebung der Gattung darstellt (dazu Jón Jóhannesson 1950: XCII–C). Diese Datierung prägte das Verständnis der modernen Sagaforschung von der Fljótsdæla saga und erweist sich als recht zählebig, obwohl Stefán Karlsson bereits 1994 nach einer detaillierten codikologischen, paläographischen und linguistischen Analyse des einzigen Überlieferungsträgers zum Schluss kam, dass der auf uns gekommene Text auf eine Vorlage zurück gehen muss, die auf das 14. Jh. zu datieren ist: Einen vermeintlichen Anachronismus, der als schlagendes Argument für die Spätdatierung galt, entlarvt er als Fehldeutung, und zuvor besonders jung eingestufte Wortformen sind tatsächlich bereits im 14. Jh. belegt.31 Da die Fljótsdæla saga keine unrealistische Saga ist, die die postulierten spätmittelalterlichen Verfallserscheinungen zu erkennen gibt, zugleich aufgrund fehlender Hinweise auf ein hohes Alter jedoch auch nicht auf das 13. Jh. datiert werden kann, ist die Kålundsche Schlussfolgerung vor dem Hintergrund des triadischen Modells nachvollziehbar, zeigt darüber hinaus jedoch vor allem auch, wie konstruiert dieses ist.

[27]Auch im Falle der Grettis saga hat die intensivere Auseinandersetzung mit der handschriftlichen Überlieferung dazu geführt, dass die lange Zeit nicht hinterfragte Datierung auf 1310/20 revidiert wurde. Wie Örnólfur Thorsson (1994: 918–919) sowie Hubert Seelow (2005: 202–206) jeweils überzeugend argumentieren, ist eine spätere Entstehung weitaus wahrscheinlicher. Dafür sprechen nicht nur die überlieferten Textträger, sondern auch Verbindungen zu anderen literarischen Werken und außertextuelle Merkmale wie beispielsweise die enorme Zunahme der Verbreitung des Namens Grettir, die um 1500 zu beobachten ist. Als eine der fünf großen, d.h. umfangreichsten und durch die Jahrhunderte beliebtesten Íslendingasögur stellt die Grettis saga unzweifelhaft einen Höhepunkt der Gattung dar, weshalb mit ihrer Spätdatierung auch das Spätmittelalter in der Gattungsentwicklung ungleich mehr Gewicht erhält. Die Grettis saga, die man wohl treffend als ‚postklassischen Klassiker‘ bezeichnen kann, macht damit endgültig deutlich, dass die Gattung nicht nur als Phänomen des 13. und allenfalls beginnenden 14. Jh.s angesehen werden kann, sondern bis Anfang oder gar Mitte des 15. Jh.s höchst produktiv war. Auch ist es durchaus möglich, dass als früh oder klassisch klassifizierte Íslendingasögur erst im 14. Jh. entstanden sind. Zwar betont Einar Ól. Sveinsson in Dating the Icelandic sagas (1958: 127), dass die Grundlage jeder Datierung die handschriftliche Überlieferung sein müsse. In der Praxis wurde und wird diese allerdings nicht selten den sekundären Datierungskriterien untergeordnet, wobei ein positives Werturteil zumeist mit einer Zuordnung in das ‚klassische‘ 13. Jh., ein negatives mit einer Datierung nach 1300 korreliert. Wird die handschriftliche Überlieferung stärker gewichtet als subjektive Überlegungen, erscheint manche traditionelle Datierung nicht überzeugend.32 Die zuneh[28]mende Hinwendung zu den handschriftlichen Überlieferungen zeigt somit die problematischen Zusammenhänge zwischen Überlieferung und traditioneller Datierung auf, vor allem aber hat sie in den vergangenen Jahrzehnten dazu geführt, eingefahrene Wege zu hinterfragen und auch zu verlassen.

Während die Sagaforschung in der Überlieferungslage ihres Untersuchungsgegenstandes lange vornehmlich ein Hindernis bei der Rekonstruktion der verlorenen Originale sah (Örnólfur Thorsson 1990),33 erscheint sie aus der Perspektive der New Philology in einem neuen Licht. Dieser zufolge ist die Varianz, die in der Sagaüberlieferung zum Ausdruck kommt, ein wesentliches Charakteristikum vormoderner Texte.34 Im Gegensatz zu modernen Texten, die geschlossen, fest und stabil sind, also in einer verbindlichen (gedruckten) Form vorliegen, zeichnet sich die handschriftliche Überlieferung des Mittelalters durch ihre Offenheit aus.35 Mittelalterliche Texte sind demnach unfeste und variable Texte, Veränderung ist für sie keine Störung, sondern liegt in ihrer Natur. Die Überlieferung einer Saga ist, wie Glauser (2013: 28) betont, dementsprechend als ein „fluid continuum“ zu begreifen, ein einzelner Textträger stellt dabei lediglich eine Art Standbild in der fließenden Transmissionsgeschichte eines Textes dar. Mit Sicherheit datiert werden kann somit allenfalls die einzelne, in ihrem ganz spezifischen Kontext entstandene Ausprägung eines Textes. Sorgfältige Untersuchungen wie von Stefán Karlsson (1994) am Beispiel der Fljótsdæla saga exerziert, können darüber hinaus Aufschluss über ein mögliches Alter einer eventuellen Vorlage geben, sind jedoch nur sehr eingeschränkt aussagekräftig im Bezug auf deren tatsächliche Gestalt. Das triadische Modell und damit auch die Dreiteilung der Gattung in frühe, klassische und postklassische Werke scheint zu unflexibel und statisch, um diesem dynamischen Textverständnis gerecht zu werden (Glauser 2013: 27–28). Das darauf beruhende Konzept der ‚postklassischen‘ Íslendingasaga ist nicht nur, wie im vorherigen Abschnitt gezeigt, in sich nicht stimmig und aus diversen Gründen nicht haltbar, sondern findet darüber hinaus auch keinen Halt in der tatsächlichen Überlieferung der Texte. Diese zeigt keinerlei Hinweis darauf, dass die ‚postklassischen‘ Íslendingasögur von den übrigen Vertretern unterschieden wurden. So ist die [29]Finnboga saga in der aus der Mitte des 14. Jh.s stammenden Möðruvallabók im Kontext von ansonsten ‚realistischen‘ Íslendingasögur überliefert, wobei die Anordnung der einzelnen Sagas genealogisch und geographisch motiviert ist (Müller 2001). Auch zwei weitere bekannte spätmittelalterliche Codices, die beim Brand in Kopenhagen zerstörte Vatnshyrna (zu dieser Stefán Karlsson 1970) sowie die nur in Fragmenten erhaltene sog. Pseudo-Vatnshyrna (zu dieser McKinnell 1970), enthielten ebenfalls klassische und ‚postklassische‘ Íslendingasögur nebeneinander.36

Während ein dem modernen Gattungsverständnis ähnliches Bewusstsein über eine Zusammengehörigkeit der Texte also im Laufe ihres Transmissionsprozesses durchaus zum Ausdruck kommt, spiegelt die handschriftliche Überlieferung keine eindeutige Andersartigkeit der ‚postklassischen‘ Íslendingasögur im Spätmittelalter wider. Vielmehr handelt es sich bei der ‚postklassischen‘ Íslendingasaga um ein editorisches Konstrukt: In der Reihe Íslenzk fornrit wird der Großteil der aktuell derart klassifizierten Werke in zwei Bänden versammelt,37 die im Gegensatz zu den übrigen Bänden nicht nach geographischen Kriterien zusammengestellt sind und überdies anstatt des in der ansonsten verwendeten normalisierten altisländischen Schreibung üblichen ǫ bzw. œ ö bzw. æ verwenden wie im Neuisländischen.38 Als forschungsgeschichtliches Konstrukt ist die ‚postklassische‘ Íslendingasaga somit klar zu unterscheiden vom Erzählen der Íslendingasaga im Spätmittelalter und wie dargelegt auch kaum mit den handschriftlichen Realitäten in Einklang zu bringen. Die Klassifizierung der Íslendingasögur ist weniger das Resultat ihrer Datierung als vielmehr die Basis dieser, Datierung und Überlieferung stehen nur in Einzelfällen in engerer Beziehung zueinander, zwischen Überlieferung und Klassifizierung besteht de facto kein erkennbarer Zusammenhang. Ein Blick auf die handschriftliche Überlieferung und die Zusammenhänge zwischen Überlieferung und Datierung entlarvt die ‚postklassische‘ Íslendingasaga somit endgültig als höchst problematisches Konstrukt der Forschung, das den Blick auf die Gattung Íslendingasaga im Allgemeinen sowie ihre spätmittelalterliche Entwicklung eher verstellt, denn erhellt. Zwar sind die ‚postklassischen‘ Íslendingasögur überwiegend tatsächlich im 14. Jh. entstanden, weisen sie doch die typischen sprachlichen Merkmale des Spätmittelalters auf und ermangeln zudem andere Hinweise auf ein höheres Alter. Das spätmittelalterliche Erzählen der Íslendingasaga umfasst jedoch mehr als als nur die Entstehung dieser Werke, wie nicht zuletzt die Ausbildung des ‚klassischen‘ Sagastils im 14. Jh. zeigt.

[30]1.4Die spätmittelalterlichen Íslendingasögur im oral-written continuum

Die Debatte, ob es sich bei den Íslendingasögur um Freiprosa, also ursprünglich mündliche Überlieferung, oder um Buchprosa, d.h. in der Schriftlichkeit entstandene Werke, handelt, und mit ihr die extreme Dichotomie von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Sagaforschung ist mittlerweile Geschichte.39 Längst wird der Übergang von Oralität zu Literalität als ein komplexer Prozess begriffen, der nicht auf entweder/oder reduziert werden kann. So wird das skandinavische Mittelalter als „a culture between the oral and the written“ (Mundal 2010: 181) verstanden und in Anlehnung an Ruth Finnigan auch als „oral-written continuum“ bezeichnet (Ranković 2010). Charakteristisch für dieses ist, dass die Schriftkultur die mündliche Kultur nicht ablöst, sondern erweitert und die orale Inszenierung von Texten ebenso wesentlich ist wie die Bedeutung des Körpers als Trägermedium (dazu Glauser 2010). Texte entstehen und verbreiten sich entsprechend „zwischen Körper und Schrift“, um eine treffende Formulierung für vormoderne Texte von Christian Kiening (2003) aufzugreifen. Auf Island bringt die sich im Zuge der Christianisierung etablierende Schrift aufgrund einer starken mündlichen Erzähltradition eine spezifische Textkultur hervor, die auf den Voraussetzungen für mündliches Erzählen basiert und mündliche Traditionen integriert.40 Die von der Schriftkultur aufgenommenen mündlichen Traditionen erlangen so eine zentrale Bedeutung für das kulturelle und soziale Leben und entwickelten sich im Medium der Schrift weiter (Hermann 2000: 103).

The stimuli of these two phenomena, the meeting of orality with literacy and the meeting of indigenous Icelandic with foreign textual traditions, go some way to explaining the incredible richness and diversity of Icelandic literature produced between about 1190 and 1350[,]

wie Clunies Ross (1998: 55) feststellt. Schriftlichkeit ist dabei ein wesentlicher Faktor, denn erst die Schrift ermöglicht derart umfassende und umfangreiche Vergangenheitskonstruktionen, wie sie die Sagaliteratur hervorbringt, und die für die Íslendingasögur und angrenzende Gattungen spezifische Poetik der Intertextualität (Glauser 2000a: 213). Eingebunden in einen Geschichtsverlauf konstruieren die Íslendingasögur mit literarischen Mitteln eine historische Frühzeit der Isländer, wobei sie immer auch ein von Slavica Ranković (2013a) als „traditional referentiality“ bezeichnetes semantisches Feld aufrufen, das in der Mündlichkeit mit bestimmten Namen oder Begriffen verknüpft ist. Wenngleich die Íslendingasögur im späten Mittelalter fest als schriftliche Textgattung etabliert sind, nimmt mündliche Überlieferung weiter eine bedeutende Rolle ein, nicht nur in Form von Volkssagen, die vor allem die Grettis saga oder die Bárðar saga in großer Zahl aufgenommen haben (zu diesen Guðni Jónsson 1936: XLII–LX bzw. Þórhallur Vilmundarson 1991: LXXIX–XCVIII). So lässt die in einer Version der Þórðar saga hreðu enthaltene Genealogie sehr wahrscheinlich erscheinen, dass genealogisches Wissen des 10. Jh.s im [31]späten 14. Jh. noch kursierte und auch für authentisch angesehen wurde (Gísli Sigurðsson 2004: 165–166). Die unterschiedliche Darstellung derselben Ereignisse in Vatnsdœla saga und Finnboga saga zeigt, wie Gísli Sigurðsson (1994) ausführt, alle Merkmale einer lebendigen oralen Überlieferung. In seiner richtungsweisenden Studie The medieval Icelandic saga and oral tradition legt er dar, dass in zahlreichen Íslendingasögur eine reichhaltige mündliche Überlieferung, die hinter den Texten steht, weit wahrscheinlicher ist als die literarischen Abhängigkeiten, welche die in der Tradition der Buchprosa stehende Forschung, wie sie insbesondere in den Vorworten der Íslenzk fornrit-Ausgaben zum Ausdruck kommt, über zahlreiche postulierte Vorformen konstruiert (Gísli Sigurðsson 2004: 185–190, 201–245). So beruht auch die Fljótsdæla saga, wie er überzeugend argumentiert, in weiten Teilen eher auf mündlicher Überlieferung als auf schriftlichen Quellen. Sie wirkt wohl auch deshalb so modern, da sie allem Anschein nach für ein Publikum konzipiert wurde, das mit der dahinterliegenden regionalen mündlichen Überlieferung unvertraut war, weshalb wesentlich mehr Zusammenhänge erläutert und Hintergrundinformationen gegeben werden (249). Auch die genealogischen Angaben in der oft als rein fiktiv bezeichneten Króka-Refs saga zeigen im Vergleich mit denen des in Landnámabók und Harðar saga erwähnten Refr inn gamli Gemeinsamkeiten und Unterschiede, wie sie nach Gísli Sigurðsson charakteristisch für eine lebendige mündliche Überlieferung sind (Pálmi Pálmason 1883: XXXII, siehe dazu auch Kap. 5.3). So wenig wie sich die Íslendingasögur in frühe realistische und späte phantastische Werke unterscheiden lassen, ist somit eine klare Abgrenzung der ‚postklassischen‘ Vertreter als schriftliche Werke von älteren, der mündlichen Überlieferung nahestehenden möglich.

Im oral-written continuum bilden sämtliche Íslendingasögur eine Einheit, insofern als sie in besonderem intertextuellen Bezug zueinander sowie zur Landnámabók stehen und mit den isländischen Ursprüngen dasselbe semantische Feld in der Mündlichkeit aufrufen. Vom frühen 13. Jh., als die ersten Íslendingasögur entstehen, bis in das 14. und 15. Jh., das die ‚postklassischen‘ Vertreter hervorbringt, wandelt sich das oral-written continuum allerdings deutlich: Die Textualisierung der isländischen Gesellschaft schreitet weiter voran und dem geschriebenen Wort kommt eine wachsende gesellschaftliche Bedeutung zu (dazu Bruhn 1999: 153–223, insbesondere 202–205 sowie Melve 2010). Die Sturlunga saga und andere zeitgenössische Quellen des ausgehenden 13. Jh.s reflektieren den Medienwandel infolge zunehmender Schriftlichkeit und den damit verbundenen Mentalitätswandel in verschiedenen Zusammenhängen (Rohrbach 2018). Die Zeit um 1300 markiert in verschiedener Hinsicht einen erkennbaren Umbruch: Mit der Einführung der Járnsíða, des ersten Gesetzesbuchs nach Eingliederung in das norwegische Reich, wird 1271 auch das Amt des Gesetzessprechers niedergelegt, was die Schrift zum zentralen Medium des Rechts macht (dazu Ebel 1989: 77–97), zudem etabliert sich die Schrift als Medium volkssprachlicher Prosaerzählungen, was zu einer quantitativen und qualitativen Expansion von Schriftwerken führt.41 Eine enorme Zunahme von Handschriften generell lässt sich ebenso beobachten wie eine immer größere Vielfalt an Schriftwerken: Die im 13. Jh. aufkommenden Fornaldarsögur erleben ihre Hochzeit im 14. Jh., in dem sich auf Island mit den ab dem 13. Jh. aus Norwegen importierten und als Riddarasögur (Ritter[32]sagas) in Sagaform transformierten höfischen Erzählungen sowie den durch diese inspirierten isländischen Neuschöpfungen, die als originale Riddarasögur oder Märchensagas bezeichnet werden, auch neue Sagagattungen etablieren. In ihren Prologen zeigen diese deutlich ein zuvor so nicht zu beobachtendes Schriftbewusstsein (Glauser 2010). Die einheimischen Gattungen Konungasaga (Königssaga), Samtíðarsaga (Gegenwartssaga) und Biskupasaga (Bischofssaga) sind nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt produktiv, gehen jedoch erkennbar in eine Phase der Bearbeitung und damit verbunden auch Kommentierung der vorliegenden Werke in neuen schriftlichen Zusammenhängen über. Mit den rímur, umfangreichen Erzählungen in Reimform, ähnlich den hoch- und spätmittelalterlichen kontinentaleuropäischen Versromanzen, entsteht im Spätmittelalter zudem eine neue Erzählgattung, die Stoffe der Sagas aufgreift und sich zunehmender Popularität erfreut (zu diesen Vesteinn Ólason 2006: 55–59). Die rímur werden vornehmlich mündlich weitergegeben, machen als auf schriftlichen Vorlagen beruhende und erkennbar schriftlich komponierte Werke jedoch ebenfalls die Bedeutungszunahme von Schriftlichkeit im oral-written continuum des Spätmittelalters deutlich.

Ein wesentliches Charakteristikum des Textualisierungsprozesses einer Gesellschaft ist die nachhaltige Veränderung ihres Erinnerungsverhaltens (Fried 2004: 313–329). Auch mündliche Gesellschaften verfügen über Erinnerungen an eine Ursprungszeit sowie die jüngere, drei bis vier Generationen zurückreichende Vergangenheit, also ein kulturelles und ein kommunikatives Gedächtnis (dazu Assmann 1992: 48–66), die Entstehung von Geschichtsschreibung jedoch markiert einen entscheidenden Fortschritt der Erinnerungskultur in einer durch Schrift ausgelösten gesellschaftlichen Evolution (Fried 2004: 316). Menschliche Erinnerung ist aufgrund ihrer neurologischen Gegebenheiten und ihrer Funktion in ständigem Fluss. Sie ist kein Speicher, der einfach abgerufen wird, vielmehr wird Gespeichertes mit jeder Erinnerung neu kontextualisiert und damit aktualisiert und moduliert, wobei diese Prozesse größtenteils unbewusst ablaufen (123–146). Auch das auf individuellen Gedächtnissen beruhende kollektive Gedächtnis einer Gruppe, das ihren Zusammenhalt definiert und sichert, ist den Verformungskräften menschlichen Erinnerns ausgeliefert und bedarf deshalb einer Stabilisierung, um im Fluss der Erinnerung kulturelle Kontinuität zu ermöglichen (dazu 83–86, 227–232). Mündliche Gesellschaften stabilisieren ihr kollektives Gedächtnis rituell im Modus der Wiederholung. Mit der Einführung von Schrift beginnt die Überführung der kollektiven Erinnerung in die Schrift und damit ein allmählicher Übergang von ritueller zu textueller Kohärenz.42 In frühen Schriftkulturen entsteht zunächst ein Traditionsstrom, „ein Vorrat von Texten normativen und formativen Anspruchs, die nicht als Vertextung mündlicher Überlieferung, sondern aus dem Geist der Schrift heraus entstehen“ (Assmann 1992: 92). Diesen Traditionsstrom, der die zum Wiedergebrauch bestimmten Texte überliefert, charakterisiert Assmann als „lebendigen Fluss“: „Texte geraten in Vergessenheit, andere kommen hinzu, sie werden erweitert, abgekürzt, umgeschrieben, anthologisiert in wechselnden Zusammenstellungen.“ Dabei bilden sich Klassiker aus, die für die nachfolgenden Texte zum Vorbild werden. Der endgültige Umschlag von ritueller zu textueller Kohärenz erfolgt nach Assmann (93) jedoch nicht durch die Verwendung von Schrift, sondern erst mit der kanonisierenden [33]Stillegung des Traditionsstroms, nach der die Texte nicht mehr fortgeschrieben, sondern ausgelegt werden.

Die isländische Situation unterscheidet sich von den von Assmann behandelten frühen Hochkulturen insofern, als mit den Runen in Nordeuropa bereits Schriftlichkeit verbreitet ist, wenngleich die frühen Runeninschriften bis in das 9. Jh. im Wesentlichen als Produkte einer mündlichen Kultur zu verstehen sind (dazu Brink 2005). Vor allem aber wird mit der Christianisierung wie angesprochen eine ausgebildete Schriftkultur importiert, die im Zusammenspiel mit der einheimischen mündlichen Tradition zur Etablierung einer eigenen Textkultur führt. Der Entstehung volkssprachlicher Texte geht so eine Schulung an klassischen als auch mittelalterlichen lateinischen Texten voraus. Dementsprechend zeigt auch die volkssprachliche Überlieferung Islands von Anbeginn ein Bewusstsein darüber, dass Wahrheit immer nur annäherungsweise zu haben ist, was nach Assmann (1992: 280–292) charakteristisch für den hypoleptischen Diskurs der okzidentalen Schriftkultur ist. Aris Anmerkung „En hvatki es missagt es í frœðum þessum, þá es skylt at hafa þat heldr, er sannara reynisk“43 im Prolog der Íslendingabók (ÍF I: 3) bringt dies klar zum Ausdruck. Elaboriert wird dieser Diskurs ab 1200 insbesondere in den Konungasögur und herausragend von Snorri Sturluson (dazu Beck 1999, Starý 2013) geführt. Im 14. Jh. entstehen keine neuen Konungasögur mehr, stattdessen werden die älteren Werke gedeutet und in neue Zusammenhänge gebracht, womit die Sagaliteratur nun eindeutige Anzeichen textueller Kohärenz zeigt. Für 1300 deshalb einen Umbruch von ritueller zu textueller Kohärenz anzusetzen, wird den isländischen Gegebenheiten jedoch nicht gerecht, da bereits die ältesten isländischen Werke kulturelle Kontinuität mittels einer Bezugnahme auf Texte der Vergangenheit in Form einer kontrollierten Variation herstellen. Dabei werden zunächst zu diesem Zweck verschriftlichte mündliche Überlieferungen als Vorgängertexte behandelt, ab dem 13. Jh. dann zunehmend auch Schriftwerke. Auch der Gattung Íslendingasaga ist von Anbeginn an die Anknüpfung an ältere Überlieferung und deren Auslegung inhärent, wie das für die Form der Saga charakteristische Prosimetrum zeigt (dazu Harris 1997) und insbesondere die dabei teilweise zu beobachtenden Diskrepanzen zwischen den Inhalten der von einer Saga zitierten vísa (Strophe) und ihrer Deutung im Rahmen der Prosaerzählung verdeutlichen (dazu s. v. „lausavísur“ in RGA 18: 142). Während die Konungasaga um 1300 offenkundig in eine neuartige Phase der Auslegung übergeht, geben die Íslendingasögur einen anhaltenden Strom der Tradition zu erkennen: Es entstehen neue Texte, während ältere vergessen bzw. umgeschrieben, gekürzt oder erweitert werden. Im lebendigen Fluss des Traditionsstroms werden die im 13. Jh. entstandenen Íslendingasögur dabei im Sinne Assmanns zu Klassikern, da sie zu Vorbildern werden und die nachfolgenden an sie anknüpfen und sie imitieren, sie sind jedoch nicht kanonisch, d.h. unveränderbar und lediglich kommentierbar. Zugleich zeigen die anknüpfenden Íslendingasögur des Spätmittelalters Merkmale eines impliziten hypoleptischen Diskurses, wenn sie der Heroik älterer Werke eine anti-heroische Haltung gegenüberstellen (zu dieser O’Connor 2000: 72–74).

Auf die Íslendingasögur im Spätmittelalter trifft zu, was nach Fried (2004: 277–278) charakteristisch für die Überlieferung des europäischen Mittelalters generell ist: Sie [34]befinden sich in einem endlosen Fließen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, wobei auch Neuschöpfungen entstehen, „ohne einen Hauch alter Erinnerung, aber artikuliert nach traditionellen Deutungs- und Erzählmustern“, die weder hinsichtlich ihrer Erzählweise noch ihrer Vergangenheitskonzeption als ‚unecht‘ von ‚echten‘ Überlieferungen zu unterscheiden sind. Das Beispiel der Króka-Refs saga zeigt, dass zumindest ein Hauch alter Erinnerung auch unter den ‚postklassischen‘ Íslendingasögur verbreiteter sein kann, als in der Regel angenommen wird. Zugleich ist ‚unechte‘ Überlieferung nicht auf die ‚postklassischen‘ Vertreter beschränkt, wie das Beispiel der den Klassikern zugerechneten Bandamanna saga verdeutlicht (zu dieser Gropper 2000). Im Übrigen zeigen bereits die zahlreichen Skaldenstrophen, die aufgrund sprachlicher Merkmale kaum älter als die sie beinhaltenden Sagas sein können, diese Gleichstellung von ‚echter‘ Überlieferung, die der Sagaliteratur voraus geht, und ‚unechter‘, die im Zusammenhang mit dieser erst neu geschaffen wird.44Fried (2004: 237) erklärt diese spezifische Überlieferungssituation des Mittelalters damit, dass „Gesellschaften im Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit […] die Attitüden der Mündlichkeit und mit ihnen das Ausgeliefertsein an die Modulationswillkür des Gedächtnisses nicht plötzlich ab[legen], sondern […] sie trotz Schriftkenntnis noch lange [bewahren]“. Schrift fungiert so als „modulationsbereiter Stabilisator der Erinnerung“, der der Variation Vorschub leistet (313). Die Unfestigkeit der Texte ist entsprechend zugleich ein Reflex fließender Erinnerung.

Auf Island kursieren im 14. Jh. weiter lebendige mündliche Erinnerungen an die isländischen Ursprünge. Mit Beginn der Verschriftlichung ist jedoch immer auch mit einer Entschriftung und damit Reoralisierung der verschrifteten Sagastoffe zu rechnen, die spätestens im 17. Jh. belegt ist (dazu Glauser 1996), was früh zu einem Wechselspiel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit führt. Nach der Entstehung einer volkssprachlichen Geschichtsschreibung im frühen 12. Jh. kommt es um 1300 dann zum nächsten schriftbedingten Fortschritt der Erinnerungskultur.45 Wie die Íslendingasögur zu erkennen geben, geht mit dem 13. Jh. auch die Tradition prominenter Gewährspersonen, die der Überlieferung von Landnahme und Besiedelung Autorität verleihen,46 zu Ende: Mit Aris Ziehvater Teitr Ísleifsson beginnt eine nahtlose Reihe namentlich genannter leibhaftiger Autoritäten für die isländischen Ursprünge, die im ausgehenden 13. Jh. mit Sturla Þórðarson und anderen Persönlichkeiten des 13. Jh.s endet.47 Damit ist Schrift nicht mehr wie zuvor abhängig von der sozialen Autorität, die dahintersteht (Bruhn 1999: 159), [35]sondern bürgt fortan allein für den Wahrheitsgehalt der Ursprungserinnerungen. Zudem weist die neuartige Formel intratextueller Bezüge sem fyrr segir (wie [es] vorher sagt], die sich ab dem 14. Jh. in den Íslendingasögur und anderen Sagagattungen verbreitet und älteres sem fyrr var ritat