Mehr als Freundschaft - Katharina B. Gross - E-Book

Mehr als Freundschaft E-Book

Katharina B. Gross

4,0

Beschreibung

Marco und Nils sind beste Freunde, sie gibt es nur im Doppelpack. Das ist etwas, das jeder weiß. Was jedoch nicht jeder weiß: Eigentlich sind die beiden ein Paar. Kein Problem für sie – oder vielleicht doch? Wie lange können sie dieses Geheimnis für sich behalten? Wie lange sind beide mit diesem Versteckspiel glücklich? Und was passiert, wenn der eigene Freundeskreis plötzlich versucht, Marco an die Frau zu bringen?

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Katharina B. Gross

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2018

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© VladOrlov – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-179-6

ISBN 978-3-96089-180-2 (epub)

Inhalt:

Marco und Nils sind beste Freunde, sie gibt es nur im Doppelpack. Das ist etwas, das jeder weiß. Was jedoch nicht jeder weiß: Eigentlich sind die beiden ein Paar. Kein Problem für sie – oder vielleicht doch? Wie lange können sie dieses Geheimnis für sich behalten? Wie lange sind beide mit diesem Versteckspiel glücklich? Und was passiert, wenn der eigene Freundeskreis plötzlich versucht, Marco an die Frau zu bringen?

Kapitel 1

-Marco-

»Das sieht ziemlich schwul aus, Jungs. So, wie ihr immer aneinanderklebt, könnte man beinahe auf die Idee kommen, ihr hättet was miteinander. Ihr seid ja schlimmer als Anna-Lena und ich!«, witzelt Tom. Nils taucht prustend aus dem Wasser auf und klammert sich an meinen Rücken. Er lacht auf, dann drückt er mich mit seinem Gewicht unter Wasser. Ich habe Mühe, mich mit ihm an der Oberfläche zu halten, ohne Wasser zu schlucken. Vorsorglich halte ich für einen Moment die Luft an, als mir Wasser ins Gesicht schwappt.

»Quatsch, Mann!«, meint Nils lässig und lässt mich wieder los. Sofort fehlen mir seine Nähe und die Wärme seines Körpers, die einen perfekten Kontrast zum angenehm kühlen Wasser gebildet hat.

»Wir sind bloß gute Freunde«, verteidige nun auch ich meinen Kumpel, auch wenn mir die Aussage einen Stich in meinem Herzen versetzt. Wir schwimmen zu Tom, der auf dem Holzsteg am Ufer steht. Die Hände auf den Knien abgestützt, beugt er sich leicht zu uns vor. Seine grünen Badeshorts kleben an seinen Oberschenkeln und das strohblonde Haar hängt ihm nass ins Gesicht.

»Gute Freunde halten aber nicht Händchen«, sagt er mit einem riesigen Grinsen im Gesicht. Wir haben uns tatsächlich an den Händen gehalten, als wir gemeinsam vom Steg in den See gesprungen sind. Was ist denn schon dabei? So etwas sieht man andauernd im Fernsehen und irgendwie wollte ich das einmal ausprobieren.

»Dann sind wir eben eine Ausnahme«, entgegnet Nils ernst. Dann zeigt sich ein spitzbübisches Lächeln auf seinem Gesicht. Er greift nach Toms Fußgelenk und zieht mit einem kräftigen Ruck an ihm, sodass unser Kumpel Probleme mit dem Gleichgewicht bekommt. Mit diesem Angriff hat Tom wohl nicht gerechnet, denn er gibt einen spitzen, nicht gerade männlichen Schrei von sich, rudert wild mit den Armen und landet im Wasser. Es spritzt in alle Richtungen. Nils und ich lachen, als Tom prustend wieder auftaucht.

»Na warte! Das schreit nach Rache«, droht er und schwimmt auf uns zu, denn wir haben bereits einige Meter zwischen uns gebracht. Tom erreicht Nils und klammert sich an ihn. Beide rangeln miteinander, bis Tom schließlich die Oberhand gewinnt und Nils für einen Moment unter Wasser drückt. Ich sehe zu, dass ich von den beiden fortkomme, um nicht zwischen die Fronten zu geraten. Neugierig mustere ich die beiden aus einiger Entfernung. Dabei heftet sich mein Blick auf Nils, wie er lachend um die Oberhand kämpft und Tom unter Wasser taucht. Die Wassertropfen glitzern in seinem blonden Haar, das er sich aus dem Gesicht streicht. Er sieht verdammt gut aus, besonders, wenn er mich so anlächelt wie gerade. Ein wenig wehmütig lächle ich zurück. Toms Worte klingen noch in meinen Ohren nach.

Natürlich ist Nils nicht schwul, genauso wenig wie ich. Das ist zumindest die offizielle Version. Schließlich geht es niemanden etwas an, was wir gemeinsam im Schlafzimmer machen. Mein Puls beschleunigt sich automatisch, sobald ich an Nils’ Küsse denke. Ich schüttele den Kopf und tauche dann ebenfalls kurz unter Wasser, um mich abzukühlen und diese Gedanken zu vertreiben. Anschließend schwimme ich zurück zum Steg, an dem sich Tom ebenfalls aus dem Wasser hochzieht.

»Schatz, lass uns gehen. Ich habe Hunger. Wollt ihr mit, Jungs? Wir fahren noch bei Burger King vorbei.« Anna-Lena erhebt sich von ihrem Handtuch und greift nach ihrem Sommerkleid, das auf den Holzbrettern liegt, ehe sie Tom ein Handtuch reicht.

»Nein. Ich denke, wir werden noch eine Runde schwimmen und uns dann Händchen haltend den Sonnenuntergang ansehen. Vielleicht bekomme ich sogar einen Abschiedskuss von meinem Süßen, wenn ich ihn nach Hause begleite«, scherzt Nils und legt seinen Arm so um meine Schultern, dass ich erneut unter Wasser gedrückt werde.

Prustend tauche ich wieder auf und spucke das Wasser, das ich unfreiwillig geschluckt habe, wieder aus. »Du Arsch«, brumme ich.

»Ihr beide seid zum Brüllen komisch. Kein Mensch würde glauben, dass unser Marco sich auf so einen Kerl wie dich einlassen würde. Vor allem auf einen Kerl.«

Ich strecke Tom die Zunge heraus, befreie mich aus Nils’ Umarmung und bringe etwas Abstand zwischen uns, damit er mein Zittern nicht bemerkt. Äußerlich gebe ich mich gelassen, doch in meinem Inneren zieht sich mein Herz zusammen, wenn ich solche Sprüche höre. Unsere Freunde wissen nicht, wie nahe ihre blöden Kommentare an der Wahrheit sind.

Tom und Anna-Lena verabschieden sich von uns. Ich sehe ihnen nach, wie sie über die Wiese zum Auto gehen. Einen Moment ist es still um uns herum, nur das immer leiser werdende Brummen von Toms Motor und das Plätschern des Wassers sind zu hören. Als wir endlich alleine sind, spüre ich Nils’ Atem in meinem Nacken. Er beschert mir eine Gänsehaut. Meine Nackenhärchen richten sich auf und ich versuche, mich so gut es geht über Wasser zu halten, als er meine Schultern mit hauchzarten Küssen bedeckt.

»Sorry, Schatz«, murmelt er leise.

»Nenn mich nicht so«, entgegne ich halbherzig, neige den Kopf ein wenig nach rechts, damit er besser an meinen Hals herankommen kann. Augenblicklich küsst er mich dort, seine Zunge gleitet über meine Haut und jagt Blitze durch meinen Körper. Die Stelle kribbelt angenehm und sofort sehne ich mich nach mehr. Nils legt seine Hände an meine Taille, hält mich fest. Zum Glück ist er ein guter Schwimmer.

»Wir sollten besser aus dem Wasser raus, ehe wir noch absaufen«, schlage ich vor und drehe mich vorsichtig in seinen Armen um. Seine blauen Augen durchdringen mich. Ich bin gefangen, wie hypnotisiert von seinem Blick. Ich liebe dieses intensive Blau. Es ist wie der See, tief und unergründlich. Irgendwie liebe ich alles an diesem Kerl.

»Bist du sicher?«, fragt er und ein Lächeln umspielt seine Lippen. Langsam schüttele ich den Kopf. Nein, verdammt! Mir ist ganz gleich, ob wir hier im See sind oder sonst wo. Hauptsache, er ist bei mir. Die Liebe in seinem Blick fegt alle Gedanken aus meinem Kopf.

»Dachte ich’s mir doch.« Ein leises Lachen, dann beugt er sich leicht vor und küsst mich. Die Berührung lässt mich erschaudern. Ich kralle meine Hände in seine Schultern, presse mich dichter an ihn und strampele mit den Beinen, um nicht doch noch unterzugehen. Seine Zunge gleitet in meinen Mund und löst damit eine Flut von Gefühlen in mir aus. Ich kann kaum noch klar denken, spüre nur seine Lippen auf meinen und versinke in dem Kuss, der immer leidenschaftlicher wird. Nils hält mich fest, sorgt dafür, dass wir über Wasser bleiben, während unsere Zungen sich einen wilden Kampf liefern.

Erst nach einer ganzen Weile lösen wir uns schwer atmend voneinander. Mit wild klopfendem Herzen schaue ich in sein Gesicht, betrachte seine vom Küssen geröteten Lippen und finde ihn einfach wunderschön. Sein blondes Haar fällt ihm in nassen Strähnen in die Stirn; das Licht der Abendsonne lässt die Wassertropfen auf seiner Haut glitzern.

»Wir sollten wirklich zurück ans Ufer«, meint er nun und betrachtet mich mit besorgtem Blick. »Du zitterst. Wir müssen aus dem kalten Wasser raus, ehe du dich noch erkältest.«

»Mir geht’s gut«, protestiere ich. Ich will seine Nähe noch etwas länger genießen. Überrascht stelle ich jedoch fest, dass eine Gänsehaut meine Arme, die immer noch locker um seinen Hals liegen, überzieht. Mir ist überhaupt nicht aufgefallen, dass ich tatsächlich friere, so sehr hat mich sein Kuss aus der Spur gebracht. Nils löst sich von mir und schwimmt die letzten Meter bis zum Holzsteg, an dem er sich hochzieht. Dann reicht er mir die Hand und hilft mir ebenfalls nach oben.

Ich setzte mich neben ihn, betrachte schweigend meinen Freund, der auf dem Rücken liegt, die Augen geschlossen und die Arme seitlich von sich gestreckt. Sein Gesicht sieht entspannt aus. Seine Brust hebt und senkt sich leicht unter seinen ruhigen Atemzügen. Ich kann einfach nicht anders, als meine Hand nach ihm auszustrecken und ihn zu berühren. Sanft streicheln meine Finger über seine Wange, das glattrasierte Kinn, weiter hinab über seinen Hals, bis meine Hand an der Stelle liegen bleibt, wo sein Herz holprig gegen seinen Brustkorb hämmert. Nils seufzt unter meinen Berührungen. Diese leisen Laute durchfahren mich, lassen meinen Bauch wie wild kribbeln und erhöhen sogleich meinen Herzschlag. Vage nehme ich den klopfenden Rhythmus seines Herzens unter meinen Fingerspitzen wahr. Mein Freund öffnet langsam seine Augen und sieht zu mir hoch. Dann legt er seine Hand auf meine, die immer noch reglos auf derselben Stelle ruht. Er schweigt, aber ich erkenne die stumme Sehnsucht in seinem Blick, die genauso stark ist wie meine eigene.

Mir wird das Herz schwer. Ich liebe diesen Mann, auch wenn ich es früher nicht einmal für möglich gehalten habe, jemals solche Gefühle zu entwickeln. In seiner Nähe bin ich unglaublich glücklich. Und doch schmerzt mich dieses Versteckspiel, mit dem wir unseren Freunden und den Menschen in unserem Umfeld schon so lange etwas vormachen. Für sie sind wir nur Freunde, mehr nicht. Zwei Männer, die sich gut verstehen. Er wollte es so und ich habe ihm zuliebe zugestimmt. Um ihm dadurch meine Gefühle zu zeigen, aber auch aus Angst, weil das alles zu dem Zeitpunkt für mich noch so neu und ungewohnt war. Ich war nicht schwul. Zumindest wusste ich es da noch nicht. Damals hätte ich wohl allem zugestimmt, um in seiner Nähe sein zu können.

Wir haben uns vor gut einem Jahr kennengelernt. Ich war gerade im dritten Semester meines BWL Studiums und eigentlich ziemlich zufrieden mit meinem Leben. An unser erstes Treffen kann ich mich noch ganz genau erinnern, auch wenn es wirklich Zufall war. Und auch kein besonders angenehmer. Es war ein warmer Abend im August und ich bin mit meinen Freunden hier am See gewesen, so wie heute …

***

»Willst du auch noch ein Bier?«, fragte Tom und schickte sich an, von der Decke aufzustehen.

»Ach lass, ich hole welches«, entgegnete ich und erhob mich ebenfalls, um mir die Beine zu vertreten. Dann ging ich die paar Schritte zu Toms Auto, das er in der Nähe vom Zeltplatz geparkt hatte, um uns zwei Flaschen aus dem Kasten im Kofferraum zu holen. Genau wie viele andere Studenten saßen wir in Grüppchen auf Decken über die Wiese verteilt, tranken Bier, hörten Musik und unterhielten uns. Auf dem Zeltplatz nebenan gab es ein Beachvolleyballfeld, auf dem einige Mädchen spielten, die ich schon einige Male in meiner VWL Vorlesung gesehen hatte. Ich setzte mich wieder neben Tom und wir sahen ihnen beim Spielen zu. Mein Kumpel konnte seine Augen nicht von Anna-Lena abwenden, mit der er noch nicht allzu lange zusammen war.

»Wollen wir vielleicht eine der Fackeln herbringen? Ich habe welche drüben beim Volleyballfeld gesehen.« Anna-Lena kam zu uns rüber und setzte sich neben Tom auf die Decke. »Es wird langsam dunkel. Spielen wollen wir auch nicht mehr. Mia und Saskia werfen sich noch ein paar Bälle zu, aber sonst haben sich die anderen zurückgezogen. Es wäre vielleicht besser, wenn wir hier mehr Licht hätten.« Sie schmiegte sich an ihren Freund und ich merkte, dass sie mit ihm einen Moment alleine sein wollte. Tom wollte aufstehen, doch ich hielt ihn zurück.

»Ich hole eine Fackel, ihr könnt solange hier warten«, bot ich an. Anna-Lena schenkte mir ein strahlendes Lächeln.

»Das ist wirklich lieb von dir, Marco.«

»Danke, Mann.«

»Ach was, ist doch kein Akt«, winkte ich ab und nahm mir mein Handtuch, denn die Fackeltöpfe, die einige von uns am Volleyballfeld aufgestellt hatten, waren verdammt heiß. Ungeschützt sollte man die Dinger lieber nicht anfassen, wenn sie brennen. Ich verließ meine Freunde. Sie waren frisch verliebt und irgendwie war es mir unangenehm, den beiden beim Knutschen zuzusehen, obwohl ich Anna-Lena wirklich gut leiden konnte. Vielleicht lag es auch daran, dass ich ein wenig neidisch auf Tom war. Nicht wegen Anna-Lena, obwohl sie ein tolles Mädchen war. Eher generell, weil mein Kumpel verliebt war und ich nicht. Meine letzte Freundin hatte ich während des Abiturs, was schon ewig her war. Es hatte nicht sonderlich lange gehalten. Als sich Melanie von mir getrennt hatte, war ich nicht einmal besonders traurig darüber gewesen.

Nach ein paar Minuten erreichte ich das Volleyballfeld und nahm einen der Fackeltöpfe aus der Halterung am Volleyballnetz. Einige der Mädchen warfen mir eindeutige Blicke zu und winkten. Ich lächelte zurück, ging jedoch nicht weiter darauf ein. Auch wenn ich gerne eine Beziehung hätte, so interessierte ich mich doch keines der Mädchen aus meinen Vorlesungen. Die richtige Frau war mir einfach noch nicht über den Weg gelaufen. Mit dem Handtuch umwickelte ich die Fackel und machte mich auf den Rückweg zu meinen Freunden. Es war tatsächlich schon recht dunkel, kein Wunder also, dass Anna-Lena nach der Fackel gefragt hatte. Wir hätten mit unseren Sachen auch auf den Zeltplatz umsiedeln können, der schwach von Laternen erleuchtet wurde. Aber direkt am Ufer des Sees war es einfach viel schöner.

»Marco! Pass auf!«, rief mir plötzlich jemand zu. Ich drehte den Kopf in die Richtung der Stimme. Ein Volleyball flog direkt auf mich zu und ich sprang zur Seite, um ihm auszuweichen. Krampfhaft versuchte ich, mein Gleichgewicht zu halten und nicht zu stolpern. Der Fackeltopf in meinen Händen kippte langsam. Heißes Wachs floss heraus, direkt über meinen Handrücken, ehe der Topf mit einem dumpfen Laut ins Gras zu meinen Füßen fiel. Die Flamme erstickte, das Handtuch hielt ich mit der andren Hand immer noch umklammert. Ich gab einen erschrockenen Schrei von mir und starrte entsetzt auf meine rechte Hand, die sich binnen Sekunden rot färbte und wie Feuer brannte. Zitternd umfasste ich mit meiner unversehrten Hand mein Handgelenk und blickte mich panisch um.

Einem plötzlichen Impuls folgend, drehte ich mich um und rannte zu den öffentlichen Toiletten am Rande des Zeltplatzes. Meine Hand brannte immer schlimmer, Bläschen bildeten sich auf der Haut und der Schmerz strahlte durch meinen ganzen Körper. Ich stürzte in das Toilettenhäuschen und riss den Wasserhahn auf. Das kalte Wasser traf auf meine glühend heiße Haut. Der erste Schock über den Unfall wich und mir wurde kotzübel, als ich sah, wie sich meine Haut ablöste.

»Hey, alles okay mit dir?«, fragte jemand hinter mir. Es kam mir vor, als würde derjenige aus weiter Ferne zu mir sprechen, obwohl er nur wenige Schritte von mir entfernt an den Kabinen stand. Mein Blick trübte sich, wurde aber lange genug wieder klar, um einen Mann mit blondem Haar und besorgtem Gesichtsausdruck im Spiegel zu erkennen. Er stand hinter mir und kam langsam auf mich zu. Das Blut rauschte in meinen Ohren, ich krallte die Hände ins Waschbecken. Dann verschwamm meine Sicht wieder und alles um mich herum drehte sich.

»Oh scheiße!« Der Fremde klang erschrocken. Ein Hund bellte irgendwo. Dann waren da hastige Schritte hinter mir. Ich spürte nichts weiter als den pulsierenden Schmerz und den Schwindel. Alles drehte sich und für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen. Stimmen redeten durcheinander.

»Oh Gott, Marco!«, kreischte Anna-Lena.

»Geht mal zur Seite. Ich habe eine Ersthelferausbildung gemacht« Die Stimme des fremden Mannes war nah an meinem Ohr. Ich wurde herumgedreht, als wäre ich eine Puppe. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Meine Umgebung nahm ich wie durch einen Schleier wahr. Reglos lag ich auf dem kalten Steinboden und konnte meine Augen kaum offenhalten.

»Ich rufe einen Krankenwagen«, meinte Tom panisch.

Kurz nachdem das Sirenengeheul zu hören war, wurde es noch hektischer um mich Irgendjemand packte mich und hievte mich auf eine Trage. Mein Kopf wurde schwer und ich driftete in eine schwarze Leere ab.

Als ich später zu mir kam, lag ich in einem Krankenhausbett. Irgendwann wurde die Tür aufgeschoben und eine Krankenschwester ließ meine Freunde herein. Sofort stürzten sie auf mein Bett zu. Anna-Lenas Augen waren rot gerändert, die Schminke verlaufen und Tränen zeichneten sich deutlich auf ihren Wangen ab. Tom sah nicht weniger fertig aus. Wie ich hierhergekommen war, mussten sie mir in Ruhe erklären.

»Gott, ich dachte wirklich, das war’s mit dir, Kumpel. Als ich dich dort am Boden habe liegen sehen, in den Armen dieses Mannes, der auf dich eingeredet hat …«

»Zum Glück hat er dir geholfen. Wir haben gleich einen Krankenwagen gerufen, als wir dich gefunden haben«, ergänzte Anna-Lena und zog schniefend die Nase hoch. Meine Hand war dick einbandagiert, ich spürte kaum noch etwas von dem Schmerz und konnte meine Finger nur wenig bewegen. Na großartig, das war’s dann wohl mit der Prüfung nächste Woche.

»Der Arzt sagte vorhin, dass du morgen früh gehen könntest, sobald du dich dazu in der Lage fühlst und es dein Kreislauf zulässt. Eine Nacht wollen sie dich aber zur Beobachtung hierbehalten. Mann, du bist tatsächlich in Ohnmacht gefallen.« Tom grinste schief, doch die Sorge verschwand nicht aus seinem Blick. Anna-Lena kramte in ihrer Handtasche herum, bis sie einen zerknüllten Zettel herausholte und mir hinhielt. Mit meiner gesunden Hand nahm ich ihn entgegen. Es war eine Handynummer, mit holpriger Handschrift auf einen Papierschnipsel gekritzelt.

»Von dem Typen«, erklärte sie, als sie meinen fragenden Blick bemerkte. »Er hat darauf bestanden, dass ich dir seine Nummer gebe, als du mit dem Krankenwagen weggebracht wurdest. War echt nett und hat sich wirklich Sorgen um dich gemacht. Es kann ja nicht schaden, wenn du dich bei ihm für seine Hilfe bedankst.« Sie zwinkerte mir zu. Stumm starrte ich auf die Zahlen, die vor meinen Augen hüpften. Und irgendwie bildete ich mir ein, die Wärme seines Körpers und den Druck seiner Hände wieder auf mir zu spüren.

Es dauerte eine ganze Woche, bis ich mich dazu durchrang, den Mann tatsächlich anzurufen. Meine Hand heilte langsam. Die Erinnerung an den Mann und seine Hilfe an diesem Abend war wie ein blinder Fleck in meinem Kopf. Ich wusste nichts über meinen Retter, konnte mich nicht einmal an sein Gesicht erinnern. Nur der besorgte Blick aus tiefblauen Augen hatte sich in meinen Verstand gebrannt. Anna-Lena meinte, er sähe gut aus, aber das half mir reichlich wenig. Keine Ahnung, was passiert wäre, wenn er nicht zufällig ebenfalls auf der Toilette gewesen wäre, um erste Hilfe zu leisten. Also fasste ich mir endlich ein Herz und wählte seine Nummer. Als ich seine tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung hörte, schlug mein Herz schneller vor Aufregung. Ich hatte ihn angerufen … und es nicht bereut!

Kapitel 2

-Nils-

»Danke Schatz. Ich weiß gar nicht, was ich ohne deine Hilfe machen würde.« Vanessa gibt mir einen Kuss auf die Wange, während sie mir die Hundeleine aus der Hand nimmt. Schwanzwedelnd springt Lucy an ihren Beinen hoch und bellt freudig. Vanessa lacht, streicht ihrem Dackel über den Kopf und löst dann die Leine vom Halsband. Sofort flitzt Lucy durch den Flur ins Wohnzimmer, wo sie sich vermutlich wieder hinterm Sofa verstecken wird. Ihr Lieblingsplatz. Meine Schwester flucht jedes Mal, wenn sie beim Saugen Lucys Kauknochen von dort herausholen muss. Lucy versteckt ihre Kauknochen gerne an all ihren Lieblingsplätzen – dort, wo Vanessa kaum herankommt.

»Komm, ich mache dir einen Kaffee«, sagt sie und geht voran in die Küche. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen und folge ihr. Fröhliches Kinderlachen begrüßt mich, als ich den Raum betrete. Meine Nichte Leni klatscht vergnügt in ihre klebrigen Händchen, als sie mich sieht, und verteilt dabei noch mehr Frischkäse auf dem pinken Schlafanzug. Sie hat sich die Creme übers halbe Gesicht geschmiert. Anscheinend hat sie Spaß daran, den Frischkäse vom Brot zu lecken, statt es zu essen. Vanessa verdreht die Augen, als ich die Kleine aus ihrem Hochstuhl heraushebe und an mich drücke. Sofort landet ein feuchter Kuss auf meiner Wange und Leni lacht noch mehr. Dass ich nun ebenfalls Frischkäse auf meinem Shirt habe, stört mich nicht. Ich liebe Leni wie meine eigene Tochter. Vor allem, weil ich weiß, dass ich nie ein eigenes Kind haben werde. Neben meiner Schwester war ich der erste Mensch, der Leni nach ihrer Geburt auf dem Arm gehalten hat. Ich war es auch, den Vanessa damals mitten in der Nacht angerufen hat, nachdem ihre Fruchtblase plötzlich geplatzt war

»Du siehst müde aus«, bemerke ich und setze mich an den Küchentisch, Leni immer noch auf meinem Arm haltend. Die Kleine schmiegt sich an mich und brabbelt fröhlich vor sich hin. Wenn sie gut drauf ist, kann sie sogar schon meinen Namen sagen. Okay, es hört sich eher wie Nis an, aber das üben wir noch.

»Bin ich auch. Der kleine Quälgeist schläft einfach nicht, wann sie soll. Sobald ich nicht hinsehe, krabbelt sie weg oder wirft etwas um. In den letzten Tagen ist an Mittagsschlaf ist gar nicht mehr zu denken. Oh, guck, jetzt hat sie dich vollgesabbert.«

Ich schaue auf meine Nichte hinab, die mir ihrerseits ein strahlendes Lächeln schenkt. Der Sabber rinnt ihr aus den Mundwinkeln übers Kinn. Meine Schwester reicht mir ein Taschentuch und ich putze Leni den Mund damit ab.

»Nicht schlimm. Ich habe heute eh nichts mehr vor und das Shirt muss sowieso in die Wäsche«, meine ich locker. Vanessa stellt einen großen Becher Kaffee vor mir auf den Tisch, ehe sie mir das Kind abnimmt.

»Mein Angebot, dir mit Leni zu helfen, steht immer noch«, erinnere ich sie und nehme einen Schluck Kaffee. Sie winkt ab und setzt ihre Tochter zurück in den Stuhl.

»Es reicht schon, dass du regelmäßig mit Lucy Gassi gehst. Ist für dich ja auch nicht gerade um die Ecke.«

»Das ist wirklich keine große Sache«, antworte ich und meine es auch so. Es macht mir nichts aus, herzufahren und mit dem Hund rauszugehen. Für meine Schwester und ihr Kind würde ich noch viel mehr tun, das weiß Vanessa genau. Ich glaube, das ist der Grund, warum sie mein Angebot nicht annehmen will. Sie will von niemandem abhängig sein. Von dem Kerl, der Lenis Vater ist, kann sie keine Hilfe erwarten. Er hatte meine Schwester bereits verlassen, bevor sie ihm auch nur von der Schwangerschaft erzählen konnte. Ohne ihn ist meine Schwester sowieso viel besser dran. Ich mochte ihn nicht besonders, weil er sie viel zu oft zum Weinen gebracht hat. Ich bin schon froh, wenn ich Vanessa wenigstens eine kleine Last abnehmen und ab und an mit dem Hund spazieren gehen kann. Wäre ich mit Lucy an dem Abend vor gut einem Jahr nicht rausgegangen, hätte ich Marco nie kennengelernt …

***

So nervös war ich schon lange nicht mehr. Ich hatte der Freundin des fremden Mannes meine Handynummer hinterlassen, weil ich irgendwie gehofft hatte, ihn noch einmal wiederzusehen. Der Kerl hatte in diesem kurzen Augenblick, in dem ich ihn im Arm gehalten und ihm erste Hilfe geleistet habe, ziemliches Herzklopfen bei mir verursacht.

Vom Zeitpunkt unseres Aufeinandertreffens bis er mich anrief, verging eine Woche. Ich hatte mich bereits mit dem Gedanken abgefunden, dass ich wohl nichts mehr von ihm hören würde. Umso mehr freute ich mich, als eine unbekannte Nummer auf dem Display meines Smartphones erschien. Das konnte nur er sein, ich hatte meine Nummer in letzter Zeit sonst niemandem gegeben.

»Hallo, hier ist Marco. Keine Ahnung, ob du dich noch an mich erinnerst, aber du hast mir vor ein paar Tagen geholfen. Die Sache mit meiner Hand …«, kam es unsicher von ihm. Mein Herz schlug schneller und ich presste mir das Handy fester an mein Ohr. Natürlich erinnerte ich mich noch an ihn! Verdammt gut sogar. Seit unserem Treffen hatte ich kaum geschlafen, weil er ununterbrochen in meinem Kopf herumgeisterte.

»Also … Ich wollte mich eigentlich nur bei dir bedanken und …«

»Hast du morgen Abend schon etwas vor?«, unterbrach ich ihn. »Vielleicht könnten wir uns treffen und ein bisschen reden?« Ich war mir nicht sicher, ob es klug war, ihn sofort nach einem Treffen zu fragen, immerhin hatten wir uns nur ein einziges Mal gesehen. Zu meiner Überraschung sagte Marco jedoch sofort zu.

Als ich am nächsten Tag vor dem Café stand, in dem wir uns treffen wollten, war ich ziemlich nervös. Viel zu lange hatte ich vor dem Spiegel gestanden, um einigermaßen passabel auszusehen. Immerhin wollte ich Marco gefallen. Denn wenn nur eine kleine Möglichkeit bestand, ein wenig Eindruck auf ihn zu machen, wollte ich sie nutzen. Schon seltsam, wie sehr mein Herz beim bloßen Gedanken an ihn raste, obwohl unsere Begegnung nur flüchtig gewesen war. Als er nach einer Weile, die ich nun schon vor dem Café wartete, noch nicht aufgetaucht war, sah ich panisch auf meine Armbanduhr, um festzustellen, dass ich mich in der Uhrzeit geirrt hatte. Gott, so nervös war ich schon lange nicht mehr, dass ich viel zu früh zu einem Treffen kam! In meinen sechsundzwanzig Jahren war das ganz sicher nicht mein erstes Date, doch irgendwie fühlte es sich so an. Ich hatte einige flüchtige Verabredungen, genauso wie unverbindlichen Sex. Doch seit der einen Sache damals mit meinem Kollegen hatte ich keinen Mann mehr getroffen, der meine Gefühle so durcheinanderbrachte, wie Marco es tat.

»Hey«, grüßte mich Marco mit einem Lächeln, »Wartest du schon lange? Sorry, ich habe meine Bahn verpasst und musste auf die nächste warten.« Er hatte mich tatsächlich wiedererkannt.

»Bin eben erst gekommen«, sagte ich kopfschüttelnd, obwohl ich schon einige Zeit hier vor dem Café auf und ab gegangen war. Marco konnte schließlich nichts dafür, dass ich mich vor Aufregung in der Zeit geirrt hatte.

»Dann lass uns mal reingehen«, sagte ich betont lässig, auch wenn mein Herz in meiner Brust raste, als wollte es einen 100-Meter-Sprint gewinnen. Wir setzten uns an einen kleinen Tisch am Fenster. Er bestellte sich einen schwarzen Kaffee, genau wie ich. Diese Tatsache machte ihn mir gleich noch sympathischer.

»Wie geht’s deiner Hand?«, fragte ich, nachdem wir uns eine Weile schweigend gegenüber gesessen hatten.

»Wird besser«, murmelte er mit einem Blick auf seinen Verband. »Die Schmerzen lassen sich aushalten. Danke, dass du mir geholfen hast.«

»Ach was, habe ja nicht viel gemacht«, winkte ich ab, »dein Glück, dass an dem Abend meine Blase gedrückt hat, als ich mit dem Hund draußen war.« Ich grinste ihn an, um meine Verlegenheit zu überspielen. Okay, das war jetzt nicht wirklich romantisch, aber wenigstens die Wahrheit. Hätte ich daheim kein Bier getrunken, wäre ich wohl nach der kleinen Runde mit Lucy, statt ins Toilettenhäuschen, direkt nach Hause gegangen. Dann wäre ich Marco nie begegnet.

»Trotzdem. Hättest du mich nicht aufgefangen, hätte ich mir bei dem Sturz vermutlich noch eine dicke Beule oder sogar eine Gehirnerschütterung zugezogen.« Er lachte und es klang verdammt schön. Doch dann trat plötzlich ein entsetzter Ausdruck in sein hübsches Gesicht.

»Alles okay?«, fragte ich alarmiert und blickte mich nach allen Seiten um, um die Quelle für seinen Schrecken auszumachen.

»Ich … scheiße … ich habe ja noch nicht mal nach deinem Namen gefragt!«, meinte er, während seine Wangen sich rosa färbten. Erst war ich irritiert, doch dann konnte ich mir ein Lachen kaum noch verkneifen.

»Ich heiße Nils«, stellte ich mich vor und streckte ihm meine Hand entgegen, bis mir einfiel, dass er sie nicht wirklich schütteln konnte. Seine rechte Hand war bandagiert. Also berührte ich bloß sacht seinen Verband.

Es wurde ein netter Abend. Wir verstanden uns gut, lachten viel und Marco gefiel mir mit jeder Minute besser. Er war ein interessanter und wirklich sehr attraktiver, junger Mann, der sich mit seiner liebenswerten Art sofort in mein Herz schlich. Nach dem Kaffee zogen wir noch weiter in eine Bar, wo wir uns erst Bier und später am Abend noch einige Cocktails genehmigten. Der Alkohol machte mich mutig und so zog ich ihn beim Abschied in meine Arme, als ich sicher sein konnte, dass uns niemand Beachtung schenkte. Doch ehe ich ihn küssen konnte, schob Marco mich von sich. Seine Augen weiteten sich erschrocken.

»Oh! Sorry. Ich dachte nicht, dass du … na ja … du weißt schon …«, stammelte er und sah verlegen auf seine Schuhe. Jegliche Farbe wich aus meinem Gesicht.

»Dass ich schwul sein könnte? Tja, hatte ich anscheinend vergessen zu erwähnen. Ich gehe damit nicht so hausieren, weißt du.« Es klang schärfer, als beabsichtigt. Marco wich einen Schritt zurück. Meine Homosexualität war meine Achillesferse. Meine Familie wusste davon, doch meinen Mitmenschen gegenüber zeigte ich es nur ungern. Meine Mutter wusste Bescheid, auch wenn sie es bloß tolerierte, während meine Schwester wirklich zu mir stand. Auf Vanessa konnte ich mich immer verlassen. Viel zu oft war ich aufgrund meiner Sexualität angefeindet worden. Nach meinem Umzug hierher, nach Essen, hatte ich mir vorgenommen, meine Sexualität nicht mehr an die große Glocke zu hängen, sondern Stillschweigen zu bewahren, um gut mit meinen Mitmenschen auszukommen.

Scheiße, hatte ich die Zeichen bei Marco etwa so falsch gedeutet? Ich hätte mich ihm nicht offenbart, wenn ich nicht sicher gewesen wäre, sein Interesse ebenfalls geweckt zu haben. Wie er mich angesehen hatte. Dieses süße, schüchterne Lächeln. Die kurzen Berührungen, als wir nebeneinander die Straße entlanggegangen waren. Normalerweise erkannte ich bei meinem Gegenüber, ob Interesse bestand. Und Marco war interessiert – so war es mir zumindest vorgekommen. Er sah immer noch zu Boden, rang mit den Händen und wusste anscheinend nicht, was er jetzt sagen sollte. Ich griff nach seinem Arm, sodass er mich erneut ansah. Der Blick seiner tiefblauen Augen traf mich unvorbereitet. Er wirkte verlegen und hektisch, als wäre ihm meine Nähe plötzlich unangenehm.

»Bist du etwa einer von diesen Kerlen, die sofort die Straßenseite wechseln, wenn sie jemanden im Regenbogenshirt herumlaufen sehen?«, fuhr ich ihn an. Heftig schüttelte er den Kopf.

»Nein, Quatsch! Ich habe nichts gegen Homosexuelle, ehrlich. Und du bist auch total nett. Aber … ich bin nicht schwul. Sorry.« Er schenkte mir ein unsicheres Lächeln. Ich ließ seinen Arm los, versuchte krampfhaft, die Enttäuschung, die sich in mir ausbreitete, zu verbergen.

»Also dann. Es war ein sehr schöner Abend mit dir, Nils. Aber ich sollte langsam … also … nach Hause …« Er drehte sich um und eilte davon. Wie vom Blitz getroffen blieb ich stehen und sah ihm nach, bis er an der nächsten Straßenecke aus meinem Blickfeld verschwand. Scheiße! Hatte ich mich jetzt tatsächlich in eine Hete verknallt?

Zu meiner Überraschung rief Marco mich zwei Tage später noch einmal an und wir trafen uns im Kino. Es wurde nicht unser letztes Date …

***

»Schläft sie?«, frage ich leise.

»Ja. Endlich!« Vanessa lässt sich erschöpft neben mir aufs Sofa fallen. »Und ich hoffe, das bleibt für die nächsten drei Stunden so.«

»Das hat deine Tochter wohl von dir«, meine ich zwinkernd, »schließlich bist du früher auch jedes Wochenende bis in die frühen Morgenstunden um die Häuser gezogen. Am Frühstückstisch hast du dann wie ein Stehaufmännchen gesessen. Von Müdigkeit keine Spur.«

Vanessa knufft mich in die Seite. »Das kam dir nur so vor, weil du früher so ein Langweiler gewesen bist, Bruderherz.«

»Die jüngeren Geschwister sind nun mal immer die Schlimmsten. Das ist erwiesen«, verteidige ich mich.

»Ach was. So schlimm war ich doch gar nicht«, protestiert meine Schwester lachend. Sie ist knapp drei Jahre jünger als ich und war in ihrer Jugend wirklich kein Engel. Es hat unsere Mutter nicht wirklich überrascht, als sie von Vanessas Schwangerschaft erfahren hat. Sie hatte prophezeit, dass Vanessa irgendwann so etwas passieren würde, wenn sie nicht endlich Vernunft annähme. Doch nachdem Leni zur Welt gekommen war, hat Vanessa sich verändert. Ihre High Heels und die Miniröcke verschwanden im Schrank, die Partyzeiten waren vorbei. Stattdessen standen Windeln und Babybrei an der Tagesordnung. Für ihr kleines Mädchen würde meine Schwester alles tun.

»Wie geht’s Mama?«, frage ich sie. Ich habe nicht viel Kontakt zu unserer Mutter, was wohl an der Tatsache liegt, dass sie einen schwulen Sohn nicht akzeptieren kann.

»Gut. Sie fragt nach dir. Vielleicht solltest du sie mal anrufen.«

Ich zucke mit den Schultern. Es ist eher unwahrscheinlich, dass sie nach mir gefragt hat. Sie spricht nicht gerne mit mir. Wir haben vor ein paar Wochen miteinander telefoniert, doch das Gespräch ist ziemlich einseitig verlaufen. Sie hat sich, wie jeden Monat, nur obligatorisch nach meinem Wohlergehen erkundigt. Das war’s. Nachdem sie von meiner Homosexualität erfahren hat, hat sich unser Verhältnis deutlich abgekühlt. Meine Mutter versucht, den Umstand, dass ich mit Männern ins Bett gehe, unter den Teppich zu kehren.

»Als ob es sie wirklich interessieren würde«, schnaube ich. Zwar hat sie den Kontakt zu mir nicht abgebrochen und mich damals auch nicht aus dem Haus gejagt, trotzdem habe ich ihre Ablehnung deutlich gespürt. Damit musste ich mich abfinden. Genau aus diesem Grund vermeide ich es, meinen Mitmenschen etwas von meiner Homosexualität zu erzählen. Für Freunde und Arbeitskollegen bin ich einfach nur ein Kerl, der keine Lust auf eine Beziehung hat. Frauen sind mir zu anstrengend, behaupte ich jedes Mal, wenn jemand eine Andeutung in diese Richtung macht. Von meiner Beziehung zu Marco weiß nur meine Schwester. Sie will ihn auch unbedingt kennenlernen, aber bisher hat sich keine Gelegenheit dazu ergeben. Irgendwann stelle ich ihn Vanessa auf jeden Fall vor.

»Hast du es ihr eigentlich gesagt?«, will sie neugierig wissen.

»Wem was gesagt?«, frage ich verständnislos. Sie zwinkert mir zu.

»Mama. Weiß sie, dass du einen neuen Freund hast?«