Mehr Mut! - Sigmar Gabriel - E-Book

Mehr Mut! E-Book

Sigmar Gabriel

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Beschreibung

Was passiert um uns herum? In welcher Welt werden unsere Kinder und Enkel leben? Was können wir tun, damit sie frei und selbstbestimmt aufwachsen können? Sigmar Gabriel sieht als langjähriger sozialdemokratischer Spitzenpolitiker, vor allem aber als Vater von zwei kleinen Töchtern, mit Sorge, dass es für viele Menschen von Seiten der Politik und Wirtschaft keine glaubwürdigen Versprechen mehr gibt. Mit zunehmender Globalisierung, Digitalisierung und dem Erstarken des Nationalismus wächst auch ihre Zukunfts- und Abstiegsangst. In seinem bislang persönlichsten Buch beschreibt er die großen Herausforderungen für die Gesellschaft und für seine Partei und entwirft eine Vision für eine bessere Zukunft. Die großen Errungenschaften und Vorzüge des letzten Jahrhunderts scheinen immer weniger gesichert: das stabile Gesellschaftsmodell, das auf wirtschaftlichen Wettbewerb und ökonomischen Erfolg ebenso setzt wie auf sozialen Ausgleich und damit Wohlstand für alle versprach – die soziale Marktwirtschaft, die Vorteile eines freien Welthandels, die weltweiten Erfolge deutscher Industrie, die europäische Einigung, das Schutzschild der NATO und ihrer Führungsmacht USA. Gabriel stellt die Frage, wie Deutschland und Europa in zehn oder gar 15 Jahren aussehen werden. In diesem großen Transformationsprozess sieht er den Anfang dieses Jahrzehnts als Wendepunkt, der "über vieles entscheiden [wird]: über die Rolle und Entwicklung Deutschlands und Europas in der Welt, über die Grundlagen unseres Wohlstands, über Erfolg oder Misserfolg im Kampf gegen den Klimawandel, über die geopolitische Machtverteilung und leider auch über Krieg und Frieden in den aktuellen Krisengebieten der Welt." Der erfahrene Politiker stellt fundiert dar, wie Europa, Deutschland und seine demokratischen Kräfte mit der sich vollziehenden politischen Neuordnung der Welt umgehen sollten. Ebenso zeigt er auf, wie die inzwischen unübersehbaren ökonomischen Gewichtsverschiebungen sowie die rasanten gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozesse begleitet werden sollten, immer mit dem Ziel, dass sich Europa und die Bundesrepublik Deutschland auch zukünftig in der internationalen Politik behaupten können. Als Sozialdemokrat durch und durch wirft er außerdem einen kritischen Blick auf die SPD und sucht nach Antworten für eine erneuerte Sozialdemokratie und ihren eigentlichen Kern: eine Partei der Freiheit und der Emanzipationsfähigkeit zu sein. "Wir haben in Deutschland und in Europa im gerade begonnenen neuen Jahrzehnt im Frühjahr 2020 die Wahl: zwischen mehr Mut mit positiver Emotion und einem ambitionierten Maßnahmen-Programm, um die Voraussetzungen für mehr Wachstum und mehr Wohlstand für möglichst alle zu schaffen – und dem gleichmütigen Driften des Weiter-so im Auto-Pilot-Modus, der sich eher mit ordentlichem Regierungshandwerk zufrieden gibt, aber die Menschen unsicher und unzufrieden macht und dem Unmut überlässt. Es liegt jetzt an uns, sich zu entscheiden. Aber es liegt vor allem an den politischen Kräften im Land, mehr Mut zu zeigen und etwas zu wagen. Zu verlieren haben die großen Parteien nicht mehr viel. Sie sollten es wagen!"

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Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Der Abschnitt »Eine sozialdemokratische Vision: Die freundliche

Gesellschaft« (in Kap. V) wurde schon einmal publiziert in: Sigmar Gabriel, Neuvermessungen: Was da alles auf uns zukommt und worauf es jetzt ankommt, Köln 2017.

Umschlagkonzeption: Verlag Herder

Umschlagmotiv: ©picture alliance / Michael Kappe

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN E-Book: 978-3-451-81679-6

ISBN: 978-3-451-38536-0

Inhalt

Einführung: Die Wende der 20er-Jahre

I. Die Große Transformation: Ein neues Zeitalter hat begonnen

1. Die internationale Ordnung und ihre Bedrohung – Können wir sie sichern?

2. Der große Sprung in Wirtschaft und Technologie – Bleiben wir auf der Strecke?

3. Gesellschaftliche und kulturelle Globalisierung – Erhalten wir den gesellschaftlichen Frieden?

II. Das Schicksalsthema: Wie bewältigen wir den Klimawandel?

Welches Wachstum wollen wir?

Die Qualität des Lebens

Wir brauchen einen Systemwechsel: Der sozial-ökologische New Deal

Das magische Dreieck: Klimaschutz, die soziale Frage und wirtschaftlicher Erfolg

Klimaschutz und globale Gerechtigkeit

Klimawandel und internationale Zusammenarbeit

Die Anpassung an den Klimawandel nicht zum Tabu machen

Megawattstunden arbeitslos machen – nicht Menschen

Deutschlands Klimapolitik ist besser als ihr Ruf

Das deutsche Erfolgsmodell droht zurückzufallen

Wie man aus Klima-Mathematik Klima-Politik machen kann

Klimapolitik mit der sozialen Frage verbinden

III. Europa in der großen Transformation: Innere und äußere Herausforderungen

Europa unter Druck

Auf der Suche nach einer neuen Rolle in der »Weltordnung 3.0«

Deutschlands Bereitschaft zur europäischen Solidarität

Verständnis für unterschiedliche Sichtweisen in Europa

Russland nicht verlieren!

Europas Aufgaben im Innern

Europas Aufgaben nach außen

Der einzige Weg: zusammenstehen

Europas sensationelle Erzählung in die Zukunft verlängern

Europa braucht den Willen seiner Mitgliedsstaaten zur Einigung

IV. Deutschland hat die Wahl: Lethargie oder Aufbruch?

Deutschland wird zur Panda-Aufzuchtstation

Organisierte Verantwortungslosigkeit

Ein perfekter Sturm braut sich zusammen

Deutschland muss die Ärmel hochkrempeln

Mut zum Staat

Deutschland 2030: digitaler, grüner und gerechter

Frieden als Ziel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik

Die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft

V. Vor allem anderen: Warum ich Sozialdemokrat bin!

Ein einzigartiges historisches Vermächtnis

Mein Weg in und mit der SPD – nie Juso, immer Falke

Die eigenen Fehler

Individualisierung versus Volkspartei

Verlust der Wählernähe

Kollektives Führungsversagen

Vom Umgang mit der Macht

Gezeitenwechsel: Ein politischer Zyklus ist zu Ende gegangen

Die SPD-Ära seit 1998: Aufstieg, Entfremdung und Niedergang

Von der sozialen Bewegung zum Teil des Staates

Die Verachtung der eigenen Wähler

Äußere Liberalität versus innere Liberalität

Identität und »Identitäre«

Der anhaltende Anpassungsdruck auf die europäische Linke: Antworten und Auswege

Nach der Öffnung der Grenzen – die Grenzen der Öffnung?

Die Gerechtigkeitsfalle und die SPD als Vertreterin materieller Interessen

Hilfe zur Emanzipation statt Sozialhilfe

Die Lage der SPD heute und der Blick in die Zukunft

Die neue Trennlinie: Sozialliberale Offenheit versus konservativ-grüner Rückzug

Aufbruch durch Klarheit!

Eine sozialdemokratische Vision: Die freundliche Gesellschaft

VI. Weniger Weiter-so, mehr Mut – Ausblick

Dank

Über den Autor

Einführung: Die Wende der 20er-Jahre

Warum dieses Buch? Und warum schreibt man als Politiker überhaupt Bücher? Im vorliegenden Fall jedenfalls nicht mit dem Ziel, sich für das nächste angestrebte Amt in Position zu bringen oder als Teil einer umfassenden Marketingkampagne für die Vorbereitung des nächsten Wahlkampfes. Zugegeben: Das habe ich wie viele andere Politikerinnen und Politiker auch schon gemacht. Nun bin ich aber am Ende meiner politischen Laufbahn angekommen. Nicht ganz freiwillig, wie ich zugebe, aber so ist es nun einmal.

Aber auch außerhalb politischer Ämter hört ja das Nachdenken über das Politische nicht auf. Schreiben ist bei mir eine Methode, die mich zum Nachdenken zwingt. Beim Schreiben ordnen sich meine Gedanken, merke ich, wenn das Geschriebene Lücken und Fragen hinterlässt oder schlicht keiner nachvollziehbaren Logik folgt. Schreiben ist so etwas wie eine Selbstvergewisserung für mich.

Während meiner politischen Karriere haben sich immer wieder politische »Gefährten« und Journalisten lustig darüber gemacht, dass ich selbst schreibe. »Gabriel arbeitet mal wieder selbst am Computer«, lautete dann die ironische Kommentierung. So, als ob Spitzenpolitiker immer ihre Mitarbeiter bitten müssten, für sie zu denken und zu schreiben. Gewiss war nicht alles richtig oder auch nur klug, was ich so im Laufe von 30 Jahren beruflicher Tätigkeit in der Politik zu Papier gebracht habe. Aber es hat mir immer geholfen, meine Gedanken zu ordnen. Politiker sollen gewiss auch über das »nachdenken«, was ihnen ihre engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgeschrieben haben, Sie sollen aber vor allen Dingen vordenken, was an Herausforderungen auf unser Land und seine Menschen zukommt.

Und damit wären wir bei dem eigentlichen Grund für dieses Buch: Es sind meine drei Töchter Saskia (31), Marie (8) und Thea (3). Ich frage mich seit Längerem, wie meine drei Töchter wohl leben werden, wenn sie so alt sind wie ich heute. Werden sie die gleiche Chance haben wie ich, aus ihrem Leben etwas zu machen? Werden sie selbstbewusst und selbstständig in einem demokratischen und friedlichen Land und in einem einigen und souveränen Europa leben? Denn wenig scheint in der großen Transformation, in der wir uns wirtschaftlich, technologisch, geopolitisch, kulturell und sozial befinden, noch sicher und vorhersehbar. Das war für mich noch ganz anders.

Ich selbst gehöre zu einer goldenen Generation: Wir sind im Frieden geboren und werden wohl auch im Frieden sterben. Wir konnten erleben, wie sich dieses Land Deutschland von Jahr zu Jahr besser, sozialer, liberaler und weltoffener entwickelte.

In den letzten 50 Jahren liberalisierte sich in Deutschland die ganze Gesellschaft. Freiheit nicht nur von Not und Unterdrückung, sondern vor allem zu einem selbstbestimmten Leben, so könnte man wohl die Idee der damaligen sozialliberalen Politik zusammenfassen. Der Lebensweg eines jeden sollte offen sein und nicht geprägt von Einkommen, Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, Religion oder Beziehungen. Ein gelungenes Leben muss jeder Mensch selbst führen, denn das kann kein Staat und keine Partei stellvertretend übernehmen oder gar garantieren. Aber Bedingungen schaffen, unter denen jedes Leben gelingen KANN, dass das Leben nicht abhängig sein sollte vom Einkommen der Eltern, vom Geschlecht, der Hautfarbe oder Religion: das war der emanzipatorische Kern des Sozialstaatsgedankens der 1960er- und 1970er-Jahre.

Leider ist diese emanzipatorische Idee heute weitgehend verschüttet und häufig genug zum Sozial-Hilfe-Staat degeneriert. Nicht zufällig trug eines der populären Bücher Willy Brandts den Titel »links und frei« und nicht etwa »links und sozial gerecht«. Soziale Gerechtigkeit und die soziale Verfasstheit des Gemeinwesens waren gedacht als das Unterpfand der Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben. Sie waren Instrument, aber nicht Ziel sozialdemokratischer und sozialliberaler Politik. Eine auf Emanzipation ausgerichtete Politik wollte die Menschen aus den Zufälligkeiten und Bedingungen – manchmal auch aus den Unfreiheiten – des Lebens befreien, in das sie hineingeboren wurden.

Emanzipatorische Politik wollte nicht den allumfassenden Versorgungsstaat, keinen gesellschaftlichen »Club Méditerranée«, in dem alles »all inclusive« geliefert wird. Sondern sie wollte Chancen eröffnen, durchaus auch mehrfach im Leben jedes Einzelnen. Und viele in meiner Generation nutzten diese Chancen.

Nicht alles wurde gut in Deutschland und schon gar nicht perfekt. Und doch kann man wohl trotz aller Ungleichheit und weiterhin existierender Ungerechtigkeiten und Unzulänglichkeiten sagen, dass über die Jahrzehnte hinweg bis heute das beste Deutschland entstand, das es jemals gab.

Die mich bewegende Frage ist: Werden meine Kinder ähnlich über ihr eigenes Leben und über ihr Land sprechen können, wenn sie einmal so alt sind, wie ich es jetzt geworden bin?

Meine Generation konnte selbst erfahren, dass die Mahnungen unserer Eltern berechtigt waren, obwohl wir sie manchmal nicht mehr hören konnten: »Streng dich an, dann wird was aus dir« und »Du sollst es mal besser haben als wir«. Und genauso war es: Es wurde für viele von uns jedes Jahr ein bisschen besser. Keine paradiesischen Zustände, aber eben doch Schritt für Schritt besser. Und die Politik, vor allem die sozialdemokratische, machte den Weg für uns frei.

Die Familien- und Eherechtsreform der Regierung des ersten SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt Anfang der 1970er-Jahre und die allgemeine Liberalisierung unserer Gesellschaft halfen meiner Mutter, sich von der Gewalt meines Vaters zu lösen und meine Schwester und mich aus einer außerordentlich schwierigen Familiensituation zu befreien. Die Bildungsreformen der Sozialdemokratie ermöglichten es mir und vielen meiner Generation zum ersten Mal, höhere Bildungsabschlüsse zu machen und sogar zu studieren. In meinem Jahrgang und in dem Stadtviertel, in dem ich aufwuchs, war es noch üblich, dass nach der »Volksschule« oder spätestens nach der »Mittelschule« die Berufsausbildung folgte, damit »Geld ins Haus« kam. Ganze zehn Prozent unseres Jahrgangs gingen nach der Grundschule ans Gymnasium. Auch ich wurde in die »Mittelschule für Knaben« eingeschult, aber die Oberstufenreform der SPD in Niedersachsen ermöglichte es mir und anderen, anschließend weiter zur Schule zu gehen.

So war ich der Erste in unserer Familie, der nach der Mittleren Reife noch zum Gymnasium gehen und Abitur machen konnte. Und dann zur Universität. Und auch wenn das wirklich nicht sehr hohe Gehalt einer alleinerziehenden Krankenschwester damals immer noch nicht für den Bezug von BAföG ausreichte und ich parallel zur Schulzeit am Gymnasium und später an der Uni immer auch arbeiten musste, erlebte ich den berühmten »Aufstieg durch Bildung«, wie ihn die ganze sozialdemokratische Idee damals verkörperte.

Die Arbeit am Hochofen einer Glasfabrik, am Fließband, im Labor, als Ausfahrer für Waschmaschinen und Kühlschränke bei Quelle, als »Bierkutscher« bei der Einbecker Brauerei, als Nachtportier in einem Göttinger Hotel oder in der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung hat mir übrigens den Respekt vor körperlicher Arbeit und vor Menschen beigebracht, die mit ihrer Hände Arbeit die Steuern erarbeiteten, die mir den Besuch einer Universität ermöglichten. Es war wohl diese Demut vor denen, die ein härteres Leben als ich zu bewältigen hatten, die mich immer davor bewahrt hat, hochmütig auf den Teil unserer Gesellschaft herabzublicken, der nicht so liberal, weltoffen, klimabewusst und multikulturell denkt und lebt, wie es sich die Tugendwächter unseres Landes oft vorstellen. Schlicht, weil sie im Alltag durch Niedriglohnkonkurrenz, teure Mieten und zu große Klassen für ihre Kinder verletzbarer sind als die liberalen Eliten unseres Landes, zu denen heute auch die Sozialdemokratie zählt.

Vielleicht liegt es an meinem Alter, dass diese Frage nach der Zukunft meiner Kinder zunehmend bei mir auftaucht. Ich habe gerade mein sechstes Lebensjahrzehnt beendet. Spätestens im Alter von 60 bemerkt man, dass die eigene Lebensspanne begrenzt ist und dass das eigene Lebensende nicht mehr so unendlich weit entfernt liegt, wie das noch vor einigen Jahren der Fall war. Ich weiß nicht, wie andere mit der Endlichkeit ihres Lebens umgehen, aber bei mir werden die Fragen, die ich mir stelle, existenzieller. Mir scheint, dass ich mit der verbleibenden Lebenszeit – wie groß oder klein sie auch sein mag – achtsamer umgehen muss als mit der bereits vergangenen.

Manchmal kommt man sogar erst wieder zum wirklichen Nachdenken über das wahrhaft Politische, wenn der tägliche Druck im Kampf um mediale und öffentliche Aufmerksamkeit und die Jagd von Termin zu Termin vorbei ist. Zuvor – und so erlebte ich es auch allzu häufig – ging es allzu oft eher um das Wie und nicht um das Was und das Wozu. Kommunikation und Selbstdarstellung gehörten und gehören im politischen Alltag immer dazu. Die rasende Geschwindigkeit sich abwechselnder Themen und die sich ständig verändernde Aufmerksamkeitsspirale führt heute allzu schnell dazu, dass es nur noch um die Pose geht und gar nicht mehr um die Substanz. Auch das eine Falle, in die ich selbst oft genug getappt bin.

Wir stehen mit dem Jahr 2020 ja am Beginn eines neuen Jahrzehnts. Wie schon vor 100 Jahren sind es wieder die 20er-Jahre, die viel Bewegung in die Welt bringen. Rückblickend sprechen wir über die aufregenden »Roaring Twenties« und die angeblich »Goldenen 20er« des vergangenen Jahrhunderts. Mit Jazz, Glamour und einem zumindest in Berlin schillernden und verruchten Nachtleben wollte man die Entbehrungen des Weltkriegs hinter sich lassen. Aber es gab natürlich auch eine andere Seite dieser 1920er-Jahre: Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und soziales Elend. Diese Seite steht für den Aufstieg der politischen Extreme, für Gewalt und dem Ende der ersten deutschen Demokratie. Das Ergebnis ist bekannt: Faschismus, Völkermord und Krieg. Der »Gang vor die Hunde«, wie es Erich Kästner als Zeitzeuge nannte, hatte bereits begonnen.

Pünktlich zum Jahreswechsel 2019/2020 gab es in den Feuilletons auch manchen Vergleich zwischen den 20er-Jahren damals und heute zu lesen. Wiederholt sich am Ende die Geschichte?, lautete die bange Frage. Solche Vergleiche waren natürlich nur das Lockangebot, sich in eine journalistische Geisterbahn zu setzen, wo uns ein wohliger Grusel überkommen sollte. So einfach wiederholt sich Geschichte Gott sei Dank nicht.

Denn weder die politische und mentale noch die soziale und wirtschaftliche Situation der Deutschen damals und heute lassen sich auch nur annähernd vergleichen:

Statt Massenarbeitslosigkeit haben wir in vielen Branchen und Regionen Vollbeschäftigung.Statt auf traumatische Front-Erlebnisse blicken wir auf 75 Jahre Frieden zurück. Statt von misstrauischen ehemaligen Kriegsgegnern sind wir von politischen Freunden und Partnern umgeben.Statt in einer instabilen Republik leben wir in einer gefestigten Demokratie.

Profitiert hat unser Land und haben wir von den Vorteilen eines freien Welthandels, von den weltweiten Erfolgen unserer Industrie, von einem stabilen Gesellschaftsmodell, das auf wirtschaftlichen Wettbewerb und ökonomischen Erfolg ebenso setzte wie auf sozialen Ausgleich – der sozialen Marktwirtschaft. Aber auch und vor allem die europäische Einigung und das Schutzschild der NATO und ihrer Führungsmacht USA schafften die Sicherheit und die Möglichkeit, uns auf diesen wirtschaftlichen und sozialen Erfolg zu konzentrieren.

Das Problem ist: Wenig davon scheint heute noch gesichert zu sein. Ein amerikanischer Präsident, der das Bündnis mit Europa wenig wertzuschätzen scheint, das Ausscheiden der Briten aus der Europäischen Union, China auf dem Sprung, unsere eigenen Volksparteien in der Krise und der Vormarsch von Rechtspopulisten und Anti-Europäern in unsere Parlamente schaffen täglich neue Unsicherheiten. Im Chinesischen gibt es eine Redensart, die lautet: »Mögest Du in interessanten Zeiten leben!« Was sich für uns wie ein freundlicher Neujahrswunsch anhört, ist als Fluch gemeint.

Aber ob es uns gefällt oder nicht, das kommende Jahrzehnt wird interessant. Es wird über vieles entscheiden: über die Rolle und Entwicklung Deutschlands und Europas in der Welt, über die Grundlagen unseres Wohlstands, über Erfolg oder Misserfolg im Kampf gegen den Klimawandel, über die geopolitische Machtverteilung und leider auch über Krieg und Frieden in den aktuellen Krisengebieten der Welt.

Nein, wir haben nicht die Probleme unserer Urgroßeltern der 1920er-Jahre. Aber das heißt nicht, dass wir in »unseren« 2020er-Jahren nicht auch vor enormen Herausforderungen stehen – vor Jahr­zehnt-­Herausforderungen.

Allerdings sind die Herausforderungen des letzten Jahrzehnts nicht bewältigt, sondern ragen hinein in die nun beginnende neue Dekade: islamistischer und neuerdings in Deutschland auch rechter Terrorismus, die Schulden der Finanzkrise, endlose Gewalt und Kriege im Nahen und Mittleren Osten, vor denen Hunderttausende versuchen, sich nach Europa zu flüchten, sowie der neue Kampf um die Vorherrschaft in der Welt zwischen China und den Vereinigten Staaten. In dieser Zeit weltweiten Umbruchs wird Europa aufgrund des Austritts der Briten aus der EU schwächer und ringt um seine Rolle und seine innere Balance.

Was also wird aus uns? Wie werden Deutschland und Europa in zehn oder gar 15 Jahren aussehen? Denn wir stehen am Anfang eines Jahrzehnts, das über die danach kommende Zeit und das Leben in unserem Land und auf unserem Kontinent entscheiden wird. 2020 kann als Wendejahr in die Geschichte der Welt eingehen. Ich will einige Gründe dafür hier nur anreißen, die ich in den folgenden Kapiteln des Buches ausführlich behandeln werde:

Die Weltwirtschaft schwächt sich ab, nachdem sie aus der großen Rezession von 2008 mit dem längsten Aufschwung der Nachkriegszeit hervorgegangen war. Ökonomen erwarten in den kommenden Jahren eher weltweite wirtschaftliche Stagnation und Rückgang der Wachstumszahlen. Zugleich aber tritt die Welt in eine geopolitische Rezession ein, mit einem Mangel an globaler Führung als Folge wachsender amerikanischer Unberechenbarkeit, einem im Niedergang begriffenen Russland, das die Stabilität und den Zusammenhalt sowohl der USA als auch ihrer Verbündeten untergraben will, und einem zunehmend mächtigen China, das eine wettbewerbsfähige autoritäre Alternative zur liberalen Weltordnung global zu verankern sucht. Wenn wirtschaftliche Schwäche und geopolitische Krisen und Unsicherheiten zusammentreffen und sich wechselseitig verschärfen, droht tatsächlich eine große globale Krise.Auch aus europäischer Sicht sind die US-Präsidentschaftswahlen im November das wichtigste politische Ereignis und sogar das größte weltpolitische Risiko. Nicht so sehr, weil Donald Trump wiedergewählt werden könnte, sondern weil die Wahlen und der vorangehende Wahlkampf das Potenzial in sich tragen, die Spaltung des Landes weiter zu vertiefen. Ein knapper Wahlausgang birgt zudem die Gefahr, dass das unterlegene Lager wegen der Widersprüchlichkeiten des amerikanischen Wahlsystems die Legitimität des Wahlausgangs infrage stellt – insbesondere dann, wenn der derzeitige amerikanische Präsident der Verlierer sein sollte. Ein Amerika aber, das sich im tiefen innenpolitischen Streit mit sich selbst beschäftigt und bei dem die außenpolitischen Handlungen tagesabhängig von der aktuellen innenpolitischen Krisenlage sind, wäre eine echte Gefahr für die weltweite Stabilität und die geopolitische Anziehungskraft des Westens insgesamt. Die Auseinandersetzung um die globale Technologieführerschaft zwischen den USA und China dürfte das zweitgrößte internationale Risiko der kommenden Jahre sein. Hier geht es nicht um Wettbewerb zweier wirtschaftlicher Konkurrenten, sondern um einen neuen Kalten Krieg. Es geht um die Weltordnung und wer in ihr zukünftig die technologische, wirtschaftliche, politische und letztlich auch militärische Führerschaft übernimmt. Austragungsort sind die digitalen Technologien, bei denen sich beide Länder voneinander unabhängig machen wollen. Diese Entkoppelung, die bereits jetzt die nützlichen Technologie-, Talent- und Investitionsflüsse zwischen den beiden Ländern unterbricht, wird sich auf eine breitere Palette von Wirtschaftsaktivitäten erstrecken. Es wird nicht nur den gesamten fünf Billionen Dollar schweren globalen Technologiesektor betreffen, sondern auch eine Vielzahl anderer Industrien und Institutionen, von Medien und Unterhaltung bis hin zur akademischen Forschung. Die große Frage ist: Wo wird die neue virtuelle Berliner Mauer errichtet? Welche Seite werden die Länder wählen – und welche Seite wählen wir Deutsche und Europäer, wo wir doch gesellschaftlich, politisch, kulturell und sicherheitspolitisch mit den USA verbunden sind, wirtschaftspolitisch aber ebenso mit China wie mit den Vereinigten Staaten? Es ist richtig, wenn die neue EU-Kommissionspräsidentin die EU auch zu einem globalen Akteur machen will. Doch entgegen des vom neuen starken europäischen Duo Ursula von der Leyen und Emmanuel Macron geprägten Selbstverständnisses einer EU als Garantin des Multilateralismus kann der Eintritt Europas als geopolitischer Player die Unsicherheiten sogar erhöhen. Washington könnte Brüssel noch stärker als »Gegner« identifizieren, als dies Präsident Trump ohnehin schon getan hat. Es wächst die Besorgnis, dass sich die USA und die Europäische Union immer weiter voneinander entfernen und Europa wirtschaftlich in einen »Mehrfronten-Krieg« verwickelt wird: einerseits die USA, andererseits China. Denn eine geopolitisch aktivere EU wird auch zu mehr Spannungen mit Peking führen. So sehr China darauf besteht, dass die Welt das Prinzip »Ein China – zwei Systeme« zum Beispiel mit Blick auf Hongkong oder Taiwan akzeptiert, so sehr wird ein geopolitischeres Europa versuchen müssen, China dazu zu bewegen, das geeinte Europa zu akzeptieren und nicht mehr zu versuchen, einzelne Staaten aus der europäischen Solidarität herauszukaufen.Aber nicht nur in Fragen der Technologieführerschaft und der immer robusteren Handelspolitik wird sich die Kehrtwende von einer stabilen und vorhersehbaren zu einer unsicheren und unvorhersehbaren Welt im Jahr 2020 zeigen, sondern auch an der Zunahme von Gewaltkonflikten. Dies machen praktisch alle politischen Analysten vor allem an der Situation im Nahen und Mittleren Osten deutlich.Hauptursache ist das Scheitern der US-Politik gegenüber den großen schiitischen Nationen im Nahen Osten. Das schafft erhebliche Risiken für die regionale Stabilität, einschließlich eines tödlichen Konflikts mit dem Iran, eines Aufwärtsdrucks auf die Ölpreise, eines irakischen Staates, der sich entweder in der iranischen Umlaufbahn befindet oder versagt, und eines mit Moskau und Teheran verschmolzenen Schurkenstaates Syrien. Ein geopolitisches Risiko ganz eigener Art ist der Klimawandel, denn erkennbar funktioniert die internationale Klimapolitik nicht. Das bringt die Politik auf einen Kollisionskurs mit einem wachsenden Anteil von Investoren, Unternehmen und der Gesellschaft insgesamt, die in diesem Jahr höhere Kosten tragen werden. Die Zivilgesellschaft wird auf Investoren und Unternehmen Druck ausüben, die ihrer Meinung nach zu langsam vorgehen – ein Trend, der von wachsenden Graswurzelbewegungen wie »Extinction Rebellion« und »Fridays for Future« angeführt wird. Im Gegenzug werden die Anleger ihre Engagements in kohlenstoffintensiven Industrien – einschließlich kritischer Sektoren wie Stahl und Zement – reduzieren, was sich auf die Vermögenspreise auswirken wird. Es besteht auch ein wachsendes Risiko von öffentlichen Unruhen wegen des Klimas, wobei die Protestierenden immer regider werdende Maßnahmen ergreifen.

Für uns Europäer stellt sich die Frage, ob wir, ob unsere Kinder und Enkelkinder in der Welt von morgen noch selbst über ihr Schicksal bestimmen können. Ob sie noch so leben können, wie sie leben wollen. Oder ob sie so leben müssen, wie andere es für angemessen halten. Werden wir Europäer also aus der sich entwickelnden »G-Zwei-Welt«, in der China und die USA versuchen, die Regeln der Welt neu zu bestimmen, wenigstens eine »G-Drei-Welt« machen können, in der mindestens Europa seine Souveränität wahrt, oder besser eine »G-X-Welt«, in der alle Nationen dieser Erde gleichberechtigt in einer internationalen Ordnung ihren Platz haben? Oder geraten wir Europäer auf den unbequemen Platz zwischen den Stühlen – schlimmer: zwischen die Mühlsteine?

Wir sind mitten drin in einer großen Transformation, die sowohl technologisch und wirtschaftlich als auch politisch und kulturell die Lebenschancen meiner Töchter und ihrer Generation umfassend beeinflussen wird. Und das erstmals nach 1945 nicht zwangsläufig positiv. Im Jahr 2030, am Ende des jetzt beginnenden neuen Jahrzehnts, werde ich hoffentlich noch leben, dann aber gewiss im Ruhestand. Mich persönlich und viele andere in Deutschland wird die Wucht des Wandels in den nächsten Jahren vermutlich gar nicht mehr so stark betreffen – aber um uns geht es ja in Wahrheit gar nicht mehr. Etwas flapsig könnte man sagen: Wir haben »das Gröbste« schon hinter uns. Ganz anders unsere Kinder.

Meine mittlere Tochter Marie wird im Jahr 2030 volljährig sein und auf eigenen Füßen stehen müssen und wollen. Sie wird dann Bürgerin eines Landes und Mitglied einer Gesellschaft sein, für die wir heute und in den kommenden Jahren die Weichen stellen. Sie und ihre Generation werden Verantwortung einfordern und übernehmen – von uns.

Und vielleicht wird sie mir auch die Frage stellen, die viele Kinder ihren Eltern irgendwann stellen: »Was hast du eigentlich damals dafür getan, um meiner Generation eine ordentliche Zukunft zu ermöglichen?«

Die nächsten Jahre werden also darüber entscheiden, ob wir eine gute Antwort geben können und ob wir die Weichen richtig stellen.

Vielleicht kann uns dabei ein Blick zurück helfen, ein Blick in die Geschichte der europäischen Industrialisierung, deren Anfänge sich in einem der vielleicht berühmtesten Gemälde des wahrscheinlich größten britischen Malers des 19. Jahrhunderts: Joseph Mallord William Turner, abbilden. Der Titel des Bildes aus dem Jahr 1844 ist dabei fast Programm: »Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway«.

Joseph Mallord William Turner: Regen, Dampf und Geschwindigkeit, der Zug »Great Western«, 1844, Öl auf Leinwand, National Gallery, London

Das Bild (deutsch: »Regen, Dampf und Geschwindigkeit«) selbst, inzwischen millionenfach auf Postkarten, in Kalendern und Monografien gedruckt, enthält alles, worum es in diesem Buch geht: um Kraft, Bewegung, Richtung, Parallelität, Unschärfe, Auflösung, Tempo, Fortschritt, Natur sowie das gleißende Licht der Sonne, die das Leben auf der Erde überhaupt erst möglich macht. Eine Bild-Ikone der damals gerade beginnenden Industrialisierung der Welt, der Startschuss des sinnbildlichen rasenden Fortschritts.

Man muss das Bild genau betrachten, um alle Details zu erkennen. Denn das gleißende Sonnenlicht am Himmel und der Regen erschweren eine klare Betrachtung. Eine Dampflokomotive überquert eine steinerne Brücke und fährt am Betrachter vorbei an den unteren rechten Bildrand. Keine Idylle, sondern ein Bild voll von diffusem Licht und Bewegung, wenige blaue Striche am Himmel, der Rest von Himmel und Erde in grellem Gelb-Ocker und ein paar Braun-Tönen mit weißen Erhöhungen – der beinahe unsichtbare peitschende Regen von rechts oben tut ein Übriges, um das Bild unscharf werden zu lassen und die Bewegung der Lokomotive sichtbar zu machen.

Und was hat dieses 175 Jahre alte Gemälde mit der Situation von heute zu tun? Mein Eindruck ist: Wir befinden uns in einer vergleichbaren Situation im Übergang zu einem neuen Zeitalter. In diesem Bild wird der technisch-wissenschaftliche Ausgangspunkt der Industrialisierung sozusagen malerisch festgehalten. Und zugleich das Überholte, am Rande des Bildes sichtbar: ein Ruderboot, das eine sich vor dem Regen mit Schirm schützende Figur über den Fluss bringt; ein Hase, der quer über die Schienen springt und von dem der Bildbetrachter nicht weiß, ob es ihm gelingt, sein Hasenleben zu retten.

Heute könnte wahrscheinlich kein einzelnes Bild, auch kein Foto mehr die aktuelle Lage so bannen, wie das damals in einem malerischen Moment möglich war. Die Menschheit stand um die Mitte des 19. Jahrhunderts, im Geburtsland der Industrialisierung, am Beginn dieser – bis heute – andauernden Epoche, auch wenn seit vielen Jahren schon gern von der Phase der Post-Industrialisierung geredet wird.

Wie Europa, Deutschland und seine demokratischen Kräfte mit der sich vollziehenden politischen Neuordnung der Welt, mit ihren inzwischen unübersehbaren ökonomischen Gewichtsverschiebungen, aber auch mit den rasanten gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozessen umgehen und sie zugleich gestalten sollten, damit sich unser Kontinent, aber auch unser Land im Zentrum Europas behaupten kann, darum geht es in diesem Buch. Denn das wird ausschlaggebend sein dafür, ob es uns gelingt, Europa und seine Mitgliedsstaaten als prosperierende Wohlstandsregion für alle hier lebenden Menschen weiterzuentwickeln.

Die kürzlich verstorbene ungarische Philosophin Agnes Heller sagte in einem Interview mit der FAZ kurz vor ihrem Tode: »Wenn man die Welt vernünftig ansieht, schaut sie vernünftig zurück. Das heißt nicht, dass die Welt vernünftig wäre; aber wir geben ihr Sinn durch die Art des Blicks, den wir auf sie richten. (…) Die Europäische Union ist Europas letzte Chance. Wenn sie zerfällt, wird Europa untergehen wie das Römische Reich.«

Wie muss unser vernünftiger und nicht angst- oder ideologiegetriebener Blick auf die Welt aussehen? Und was müssen wir tun, um Europa für unsere Kinder zu erhalten? Nicht um seiner selbst willen, sondern weil die Generation meiner Töchter nur dann eine Stimme in der Welt haben wird, wenn es eine gemeinsame europäische Stimme ist. Selbst das große Deutschland ist zu klein für die Welt.

Europa ist zu allem fähig. Zum Guten und zum Bösen. Empirisch war es häufiger in den letzten Jahrhunderten zu Letzterem fähig, vor allem im 20. Jahrhundert; denn erst seit 70 Jahren gibt es zumindest im Westen Europas keinen Krieg. Wir sind sozusagen noch im Stadium des Experiments. Oder wie Agnes Heller es ausdrückt: »Beides sind europäische Erfindungen: Hier die Werte der Aufklärung und der liberalen Demokratie, dort die Werte des Totalitarismus. Beide sind europäische Erfindungen.« Trotz mehr als 70 Jahre liberales Deutschland und fast ebenso lange europäische Zusammenarbeit: Es ist nicht zwangsläufig, dass beides auch in den kommenden Jahrzehnten die Grundlagen unseres Zusammenlebens bildet. Es kommt erneut sehr auf uns an, wohin sich unser Land und Europa entwickeln.

Und schließlich geht es in diesem Buch auch um die Sozialdemokratische Partei Deutschland. Seit mehr als 42 Jahren gehöre ich der SPD an. Und natürlich lässt mich die jüngere Entwicklung der SPD nicht unberührt. Was könnten Antworten einer erneuerten Sozialdemokratie sein, die ihren eigentlichen Kern wiederentdeckt: eine Partei der Freiheit und der Emanzipationsfähigkeit zu sein. Denn die sozial­demokratische Bewegung war immer eine Leistungsbewegung, um für die, die die Werte einer Gesellschaft schaffen, auch faire Beteiligungen am Haben und am Sagen durchzusetzen.

Was bedeutet diese große Idee vom Zusammenleben in einer Gesellschaft, die sich immer mehr individualisiert und in der gleichzeitig immer weniger klar ist, was die Menschen miteinander verbindet? Welche Idee von einer besseren Gesellschaft kann ein erneuerte Sozialdemokratie wieder in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen, damit der Hoffnungsüberschuss auf eine andere, eine bessere Gesellschaft neu entsteht, in der alle angemessen beteiligt sind am Haben und am Sagen und Demokratie nicht immer mehr zu einem Elitenprojekt wird? Die zunehmende Ruppigkeit und Rohheit in unserem Land und in der Welt schreien doch geradezu nach einer Alternative, in der eine freundliche Gesellschaft die Menschen wieder zueinanderfinden lässt, statt sie immer wieder nur in Stellung gegenein­ander zu bringen. Ich bin sicher: Es braucht nur ein bisschen Mut und Fantasie, um sich vom scheinbar immer aggressiver gewordenen Alltag nicht anstecken zu lassen und nicht zu resignieren. Den Pessimisten und Gleichgültigen die Idee einer anderen, einer freundlichen Gesellschaft entgegenzuhalten, auch darum soll es am Ende in diesem Buch gehen. Am Ende, weil der traditionelle Blick der Politik viel zu oft von der eigenen Partei ins Land und dann in die Welt geht.

Diese Froschperspektive aber muss man umkehren, wenn man selbst Orientierung finden und sie anderen geben will. Also erst der Blick in die Welt und dann darauf, was das für uns in Europa, in Deutschland und für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten heißen kann.

I. Die Große Transformation: Ein neues Zeitalter hat begonnen

1. Die internationale Ordnung und ihre Bedrohung – Können wir sie sichern?

Die Geschichte der Stadt Venedig ist ein gutes Beispiel, um zu veranschaulichen, was wir derzeit durchleben. Venedig ist weltberühmt, eine wunderschöne Stadt, herrlich anzuschauen. Allerdings schon etwas morbid, mit viel Patina und anhaltenden Überflutungsproblemen. Das Problem: Kaum ein Venezianer lebt noch in der Stadt. Dafür kommen aber Jahr für Jahr 30 Millionen Touristen aus aller Welt in die einzigartige Stadt der Gondeln, unter ihnen viele sehr reiche Chinesen, die dort die alten Paläste aufkaufen, sanieren und danach meist niemanden mehr hineinlassen. Venedig heute ist ein großes Museum. Das war nicht immer so, denn diese Stadt war einst das mächtigste Handelszentrum Europas. Es kontrollierte die Wirtschaftsachsen durch das Mittelmeer und entwickelte dadurch politische und auch militärische Macht.

Anfang des 15. Jahrhunderts jedoch geschah etwas, womit die Venezianer vermutlich nicht gerechnet hatten: Die Portugiesen und Spanier machten sich auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien entlang der Westküste Afrikas auf – und entdeckten dabei Amerika. Diese Entdeckung eines neuen Kontinents hatte gravierende Folgen für die bis dahin bestehenden wirtschaftlichen, politischen und militärischen Gravitationszentren Europas. Schritt für Schritt verlagerten sich die Handels- und Wirtschaftsachsen jetzt vom Mittelmeer in den Atlantik – und mit ihnen die politischen und militärischen Machtachsen. Mit Portugal, Spanien und später England stiegen neue Mächte auf – für Venedig dagegen begann der Abstieg. Ganz sachte, Schritt für Schritt, begleitet von vielen kleinen und großen Konflikten mit seinen Nachbarn. Heute betrachten wir die einstigen Reichtümer dieser großartigen und in der frühen Neuzeit mächtigen Stadt als Freilichtmuseum für Touristen.

Daraus ergeben sich zwei Fragen: 1. Haben die Venezianer eigentlich gemerkt, wie sich die Machtachsen der ihnen bekannten Welt verschoben? Und 2. Merken wir heute eigentlich, dass sich gerade erneut die zentralen Wirtschafts- und Handelsachsen und mit ihnen die politischen und militärischen Machtzentren verlagern?

Denn genau das geschieht gerade: Nach 600 Jahren endet die Europazentriertheit der Weltpolitik. Nicht mehr der Atlantik ist das Gravitationszentrum der Welt, sondern der Pazifik. Seit der Entdeckung des Seewegs nach Amerika war die transatlantische Achse dominierend in der Welt: technologisch, wirtschaftlich, politisch und auch militärisch. 600 Jahre prägte die Ideengeschichte Europas die Weltordnung im »alten Europa« ebenso wie »in der neuen Welt«. Und dieses Zeitalter geht nun zu Ende. Was wir erleben gleicht einer tektonischen Plattenverschiebung mit Erschütterung all dessen, was wir bisher als gefestigt und gesichert angesehen haben. Aktuell sieht sich unser Europa neuen und bislang nicht gekannten Herausforderungen gegenüber. Und auch wenn die Zukunft ungewiss bleiben wird, um die Bedeutung dieser Veränderungen für das Europa, wie wir es heute kennen, besser einschätzen zu können, müssen wir uns erst einmal selbst im Kontext dieses grundlegenden Wandels verorten und fragen: »Wo kommen wir eigentlich her?«

Das Ende des Zweiten Weltkriegs und der Beginn einer neuen Ära

Für das Europa, das wir heute kennen, stellt das Jahr 1945 natürlich die wichtigste Zäsur dar. Unter dem Eindruck des gerade beendeten Zweiten Weltkrieges ging es darum, Prinzipien für das zwischenstaatliche Verhalten zu schaffen, die das Ausbrechen eines neuerlichen Krieges verhindern sollten.

Der Eindruck des Zweiten Weltkrieges sowie die Analyse seiner Ursachen machte allen Beteiligten klar, dass das ungeregelte System der Beziehungen zwischen Staaten die Welt immer wieder ins Chaos stürzt. Ohne eine übergeordnete Instanz, die die Beziehungen zwischen Staaten regelt und Fehlverhalten bestraft, eine Art Weltpolizei, wird das internationale Staatensystem anarchisch und chaotisch bleiben. Zwischen April und Oktober 1945 arbeiteten 50 Staaten jene Grundakte aus, die in Zukunft die Beziehungen zwischen Staaten regulieren sollte: Die Charta der Vereinten Nationen. Sie fußt auf dem generellen Gewaltverbot, Kriege zwischen Staaten sollten damit der Vergangenheit angehören. Und sie schafft verbindliche Regelungen über die Handelsbeziehungen zwischen Staaten – sie sollen frei sein von jeder Ausübung von Druck und Zwang. Am 24. Oktober 1945 wurde dann die Institution gegründet, die diese Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen fortan verkörpern sollte: Die Vereinten Nationen.

Dass der Zweite Weltkrieg ausbrach, lag aber nicht nur daran, dass es keinen »Weltpolizisten« gab. Dieser zweite industrielle Krieg in Europa hatte auch wirtschaftliche Ursachen – so hatte die Weltwirtschaftskrise infolge des Börsencrashs von 1929 gezeigt, dass ungeregelte Finanzmärkte katastrophale Folgen haben können. Eine weitere Beobachtung war, dass die Abschottung des eigenen Wirtschaftsraums vom Handel mit anderen Mitgliedern der Staatengemeinschaft, um kurzfristig die eigene Wirtschaft zu stärken, die Wahrscheinlichkeit eines Krieges erhöht. Wirtschaftliche Interdependenz andererseits minimiert die Risiken für militärische Großkonflikte.

Die Frage einer neuen Wirtschaftsordnung wurde bereits kurz nach der erfolgreichen Landung der alliierten Truppen in der Normandie, anlässlich einer Konferenz in Bretton-Woods, im Juli 1944 beantwortet. Die Konferenz, an der 44 spätere Siegermächte beteiligt waren und an der über 700 Delegierte teilnahmen, schrieb gemeinsam mit dem Allgemeinen Abkommen über Güter und Zölle (GATT) den wirtschafts- und handelspolitischen Pfeiler dessen, was wir heute als »liberal order« oder Multilateralismus bezeichnen, fest. Die Sowjetunion war an diesen Anfängen beteiligt und ratifizierte die Erklärung von Bretton-Woods zunächst. Unter dem Eindruck der zunehmenden Systemkonkurrenz aber zog sie ihre Beteiligung zurück. Sie schuf ihren eigenen Wirtschaftsraum, basierend auf den Prinzipien von Planwirtschaft und stalinistischer Kontrolle.

Die Unvereinbarkeit der Weltanschauungen der alliierten Siegermächte trat offen zutage, als der gemeinsame Feind, Hitler-Deutschland und die Nazis, besiegt war. Ihr Konflikt und der Wettbewerb um das bessere System sollten über 40 Jahre lang die Weltordnung prägen. Ein zentraler Schauplatz war dabei von Anfang an Deutschland und Europa, die durch einen »Eisernen Vorhang« geteilt waren. Vor allem ging es darum zu verhindern, dass ein wiedererstarktes Deutschland einen neuerlichen Krieg in Europa beginnt. Schließlich teilte die Frage, wie mit dem besiegten Deutschland umzugehen sei, nicht nur die ehemaligen Verbündeten in zwei Lager, sondern auch Deutschland. In keinem anderen Land der Welt war die Grenze zwischen den beiden Blöcken so sichtbar und spürbar wie im geteilten Deutschland.