Mehrsprachigkeit im Kontext des Kurmancî-Kurdischen und des Deutschen - Yasar Kirgiz - E-Book

Mehrsprachigkeit im Kontext des Kurmancî-Kurdischen und des Deutschen E-Book

Yasar Kirgiz

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Beschreibung

Das vorliegende Werk stellt sich anhand einer longitudinal angelegten Fallstudie einem Forschungsdesiderat: der mehrsprachigen Erwerbskonstellation Kurmancî-Kurdisch und Deutsch. Über einen Zeitraum von etwa acht Monaten werden die Sprachentwicklung und Sprachkompetenz von sechs Kindern im Vorschulalter in Kurmancî-Kurdisch und in Deutsch mit diversen Instrumenten erfasst und analysiert, wobei auch die weiteren Sprachen der Studienkinder sorgfältig herausgearbeitet und im Zusammenhang mit ihren ersten beiden Sprachen erläutert werden. Die Studie setzt sich auch mit dem Einfluss der Familiensprachpraxis auf die Sprachentwicklung und Sprachkompetenz auseinander. In diesem Zusammenhang wird außerdem die Rolle der bislang einmaligen bilingualen kurdisch-deutschen Kindertagesstätte Pîya mit in die Analyse eingeschlossen. Entsprechend vielfältig und vielsichtig sind die Ergebnisse dieser Studie.

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Yaşar Kırgız

Mehrsprachigkeit im Kontext des Kurmancî-Kurdischen und des Deutschen

Eine Fallstudie aus einer kurdisch-deutschen Kindertagesstätte

Der Druck dieser Dissertation wurde mit finanzieller Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung bzw. mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sowie der Potsdam Graduate School ermöglicht.

 

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam

im Jahr 2021 als Dissertation angenommen.

Gutachter*innen: Prof. Dr. Christoph Schroeder, Prof. Dr. Katharina Brizić, Prof. Dr. Natalia Gagarina

Tag der mündlichen Prüfung: 12.04.2021

 

DOI: https://www.doi.org/10.24053/9783823395522

 

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0939-7973

ISBN 978-3-8233-8552-3 (Print)

ISBN 978-3-8233-0366-4 (ePub)

Inhalt

Abstracts (Kurmancî, Deutsch, Englisch)1 Einleitung2 Forschungsziel, Forschungsfragen und Forschungshypothesen3 Design der Studie4 Forschungsgegenstand Kurmancî und Deutsch4.1 Forschungsgegenstand Kurmancî4.1.1 Überblick4.1.2 Soziolinguistische Rahmenbedingungen des Kurmancî in den Herkunftsländern4.1.3 Kurmancî in der westeuropäischen Diaspora, in Deutschland und in Berlin4.1.4 Grundlegende grammatische Charakteristiken des Kurmancî4.2 Forschungsgegenstand Deutsch4.2.1 Phonologie4.2.2 Morphologie4.2.3 Syntax5 Forschungsgegenstand Mehrsprachigkeit und Spracherwerb5.1 Definition und Theorien5.2 Kategorisierung des Spracherwerbs im frühkindlichen Alter5.3 Erzählkompetenz und ihr Erwerb5.4 Grammatische Kompetenz des Deutschen und ihr Erwerb5.5 Bedeutung des (mehrsprachigen) Spracherwerbs5.6 Spracherwerb in der Kita6 Forschungsfeld, methodisches Vorgehen und Studienkinder6.1 Forschungsfeld: Die Kita Pîya und ihre bilinguale Praxis6.2 Methodisches Vorgehen6.2.1 Methoden zur Dokumentation der Rolle von Familie und Kita6.2.2 Instrumente zur Dokumentation der Sprachentwicklung6.3 Studienkinder: FalldarstellungenZozan und RozaAramAzadWelatAras7 Ergebnisse7.1 Ergebnisse zu Kurmancî und Deutsch7.1.1 Ergebnisse von Zozan7.1.2 Ergebnisse von Roza7.1.3 Ergebnisse von Aram7.1.4 Ergebnisse von Azad7.1.5 Ergebnisse von Welat7.1.6 Ergebnisse von Aras7.2 Ergebnisse zu weiteren Sprachen7.2.1 Ergebnisse zu Arabisch bei Zozan und Roza7.2.2 Ergebnisse zu Französisch bei Aram7.2.3 Ergebnisse zu Türkisch bei Aram7.2.4 Ergebnisse zu Arabisch bei Welat7.3 Grammatische Charakteristiken der sprachlichen Daten7.3.1 Kurmancî7.3.2 Deutsch7.3.3 Ad-hoc-Entlehnungen und Codeswitchings8 Diskussion, Fazit und Ausblick8.1 Diskussion: Mehrsprachiges Heranwachsen mit Kurmancî und Deutsch8.1.1 Deutung der Ergebnisse zu Kurmancî und Deutsch8.1.2 Deutung der Ergebnisse zu weiteren Sprachen8.1.3 Deutung der grammatischen Merkmale der sprachlichen Daten8.1.4 Die Rolle der Kita Pîya für die Sprachentwicklung der Studienkinder8.2 Fazit8.3 Ausblick9 LiteraturverzeichnisTranskriptionsgrundlagenInternetquellen10 Abkürzungen und Hinweise zur TranskriptionAbkürzungenHinweise zur Transkription11 AnhängeFragen für das Leitfadeninterview mit Erzieher*innenElternfragebogen für die DissertationsstudieBeispiele der erzählten MAIN-GeschichtenBeispiel KurmancîBeispiel DeutschLexikonabfrage für die dritte und vierte SpracheKlassifikationstabelle der Bildungsstufen von UNESCO (ISCED 2011)Abbildungsverzeichnis

Ji bo diya min û bavê min (Für meine Eltern):

Siltanê Remê Sêrto (1940–2011) & Husînî Memedî Şavê (1934–2008)

 

„Ez yek ji wan kesan

filankes kurê filankes, ji te hez dikim …“ Yehya Omerî

Danksagung

Die vorliegende Studie wurde mit Hilfe und Unterstützung zahlreicher Menschen verwirklicht. Im Folgenden möchte ich mich bi dil û can – „mit Herz und Seele“ – bei einigen für meinen Werdegang im weiteren Sinne und für die Verwirklichung dieser Studie im engeren Sinne bedanken. Die Herangehensweise ist dabei nicht strikt chronologisch.

Diese Arbeit ist meinen Eltern gewidmet. Dabei ist die Rolle meiner Mutter hervorzuheben. Sie hat mit ihrem Statement „Hûn bixwînin ezê kirasî ser xwe bifroşim û we xwendan bidim“* ihren Kindern eine absolute Motivation mit auf den Bildungsweg gegeben.

Den Menschen aus meinem Dorf Palîkan bei Kele (Türkisch Araban) schulde ich mehr als ein Dankeschön. Insbesondere möchte ich mich bei Kekî Hecî(Haci Bayram Karalar) bedanken, der am 30. November 2019 von uns gegangen ist. Kekî Hecî war der Busfahrer unseres Dorfes und hat mich kostenfrei und sicher bis in meine Gymnasialzeiten nach Antep und zurück ins Dorf transportiert. Er hat mir sogar manchmal ein Stück Brot gekauft, einen Apfel oder eine Orange gegeben. Seine Art und Weise hat das harte Leben in Kurdistan ein Stückchen leichter gemacht.

Mein Bruder Vakkas – benannt nach einem Aleviten – gehört zu den schönsten Menschenseelen der Welt. Von den Gymnasialzeiten beginnend, hat er mich stets immateriell und materiell unterstützt. Ihm und meinen weiteren Geschwistern Halîme, Husên, Hasan, Seydî, Fatma († 1999) schulde ich einen großen Dank.

Mit meiner Frau Özgül Bendeş gehe ich seit März 2012 einen gemeinsamen Weg. Ihr Beitrag zu meinem Leben und zu dieser Studie ist enorm. Mit ihr habe ich gefühlt jedes Wort, jeden Satz dieser Dissertation besprochen. Ihr danke ich mindestens tausendmal.

Christiane von Stutterheim hat mir während meines Studiums an der Universität Heidelberg zwischen 2005 und 2010 ein Grundverständnis der Linguistik beigebracht. Darüber hinaus hat sie mir den Rahmen einer Magisterarbeit zur Typologie des Kurmancî geschaffen. Somit hat sie damals den Grundstein für diese Studie gelegt. Frau Kaltenbacher war ebenso meine Dozentin an der Universität Heidelberg. Zu meinem Glück lebte sie während meiner Promotion in Berlin und begleitete die Studie mit wachen Augen ehrenamtlich. Sowohl Frau Stutterheim als auch Frau Kaltenbacher möchte ich an dieser Stelle meinen besonderen Dank zum Ausdruck bringen.

Mein Dank gilt auch meinen Kolleginnen vom Erfolgsteam** Helga, Christine, Manuela und Brit. Mit ihnen konnte ich den Inhalt, aber auch die Sorgen dieser Dissertationsstudie immer besprechen. Ebenso haben die Kolleg*innen aus dem Doktorand*innen-Kolloquium von Herrn Schroeder mit ihren Anmerkungen, ihrer Kritik und ihren Ermunterungen einen großartigen Beitrag zu dieser Dissertationsstudie geleistet. Daher möchte ich mich bei den Teilnehmer*innen dieses Kolloquiums – u.a. bei Christin, Dorotheé, Verena, Kristina, Kateryna, Hilal, Anja, Cosima und Julia – herzlich bedanken. Auch die Kolleg*innen vom Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft in Berlin und speziell die vom Fachbereich Sprachentwicklung & Mehrsprachigkeit waren im Hinblick auf die inhaltliche sowie organisatorische Gestaltung der Studie stets unterstützend. Bei ihnen und insbesondere bei Nathalie Topaj bedanke ich mich für diese Unterstützung.

Für meine Studie hatte ich drei (offizielle) Betreuer*innen. Jede und jeder Einzelne von ihnen hat einen großartigen Beitrag zur Verwirklichung dieser Studie geleistet. Herr Schroeder hat den Rahmen der Studie geschaffen und den Gesamtüberblick der Studie immer im Auge behalten. Frau Brizić hat von Anfang an die Relevanz der Studie geschätzt und stand ihr mit Rat und Tat bei. Frau Gagarina hat trotz ihres dichten Arbeitsplans immer wieder Zeit für mich und für die Studie gefunden. Danke für diese harmonische Zusammenarbeit über die vergangenen nahezu sechs Jahre.

Jedem und jeder Forscher*in sind seine/ihre Studienkinder besonders. So waren auch meine Studienkinder. Jede Erhebung mit ihnen war ein spezielles Erlebnis und die Tür zu neuen Entdeckungen. Sie haben die tollsten, kreativsten Geschichten erzählt und die schönsten Sätze gebildet. Auch die Eltern der Studienkinder haben als Expert*innen ihrer Kinder an dieser Studie maßgeblich mitgewirkt. Mitgewirkt hat auch das Team der Kita Pîya Wedding. Namentlich genannt: Mehtap, Safiye, Yasemin, Sakar und Gulistan. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang die Mitwirkung der Geschäftsführerin des Kitaträgers Günay Darıcı zu nennen. Dank ihr hatte ich einen uneingeschränkten Zugang zu meinem Forschungsfeld.

Hervorzuheben ist auch der Beitrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung, bei der ich zwischen April 2017 und April 2020 Stipendiat war. Ohne ihre immaterielle und materielle Unterstützung wäre diese Studie undenkbar. Danke dafür, dass ich drei Jahre rund um die Uhr für die Dissertationsstudie einsatzbereit sein durfte und danke für die Möglichkeit des Auslandsaufenthaltes.

Last but not least möchte ich mich auch bei den folgenden Menschen für ihren Beitrag zu meinem Werdegang und zur Verwirklichung dieser Studie bedanken: Mehmet Yalçın, Selim Karadaş, Fatma Demir, Şükrü Aslan, Kıymet Aksoy, Abdullah Demirbaş, Jaffer Sheyholislami, Kerstin Reinke, Michael Obst, Xecê Bendeş, Ronahî Bendeş, Michael Chyet, Kenan Engin, Felix Arif Rhein, Erkin Erdoğan, Ali Parlar, Ercan Ayboğa, Gökay Akbulut, Dersîm Dağdeviren, Karin Binder, Şenol Arıkan, Rûşên Turgut, Heval Mahmut, Xemsê Bayram, Aylin Özüak, Şerif Derince, Kurda Nejad, Havva Kökbudak, Rukiye Kurt, Agit Kadino, Eylem Karadoğan, Koçer Bakış, Antje Schmidt und vielen anderen.

Abstracts (Kurmancî, Deutsch, Englisch)

Kurte (Abstract Kurmancî)

Gelê kurd ji salên 1960an pê de parçeyek ji civaka Almanyayê ye. Digel vê yekê, jiyana wan ya rojane, rewşa wan ya civakî, aborî û zimanî kêm bûye mijara lêkolînan. Bo nimûne, heta niha xebateke berfireh li ser fêrbûna zimanê kurdî û almanî di temen-pêşdibistan de li ber destan nîne. Ev lêkolîna demdirêj ya ku bi zimanê almanî hatiye nivîsandin hewl dide beşeke vê kêmasiyê dagire. Ev dike mijar bê ka çawa şeş zarok – ji sê salî heta şeş salî – zaravayê kurmancî yê kurdî û zimanê almanî hîn dibin.

Berî ku ev xebat destpêbikira, hewcedarî bi amûrekê hebû da ku asta kurmancî ya zarokan were pîvandin. Amûreke pîvanê ya bi vî rengî ji bo kurmancî nebû. Bi alîkariya zimannas, perwerdekar û herwiha dê û bavan amûreke heyî ji zimanê îngilîzî ji bo kurmancî hate adaptekirin. Navê vê amûrê LITMUS-MAIN1 e û ji bo pîvandina çîrokgotinê hatiye amadekirin (Gagarina û yên din 2019a). Lê belê bi rêya çîrok/metnên ku hatine afirandin nirxandina asta ziman bi gelemperî jî pêkan e. Ev amûr digel zimanê almanî ji bo gelek zimanên din jî hatiye adaptekirin. Bi bikaranîna vê amûrê derfet çêbû ku çîrokgotina zarokan bi kurmancî û almanî were pîvandin û analîzkirin.

Gelek kurdên li Almanyayê dijîn, dikarin ji bilî kurdî û almanî bi zimanekî din an jî bi çend zimanên din jî bipeyvin. Dibe ku ev zimanê/zimanên din beşek ji jiyana nifşên nû be/bin jî. Ji ber vê yekê di xebatê de tê lêkolînkirin bê ka zarokên ku bûne mijara vê xebatê ji bilî kurmancî û almanî zimanekî sêyemîn an jî çaremîn dizanin. Heke dizanin, ev zanîn di kîjan astê de ye.

Ji lêkolînan kifş e ku malbat û hêlîn li Almanyayê du kaniyên sereke ne ku zarok ji wan zimanê(n) xwe fêr dibin û bi pêş dixin. Rola wan herdu kaniyan jî di vê xebatê de tê analîzkirin. Hêlîna Pîya ya ku li vir tê lêkolînkirin kurmancî û almanî wekî hev û birêkûpêk teşwîq dike.

Herwiha rewşa kurdan ya li Almanyayê bi taybetî rewşa wan ya sosyolenguistik bi kurtasî tê nîqaşkirin. Ev nîqaşkirin dikare wekî çarçoveya berfireh ya vê xebatê were fêmkirin.

 

Abstract Deutsch

Die kurdische Bevölkerung ist seit den 1960er Jahren ein Teil der deutschen Gesellschaft. Dennoch sind ihre alltägliche Lebenswelt, ihre sozioökonomische und soziolinguistische Situation in Deutschland kaum untersucht. Ein klares Beispiel dafür ist, dass bis jetzt keine Studie bekannt ist, die sich eingehend mit dem Erwerb des Kurdischen und Deutschen im Vorschulalter befasst hat. Die vorliegende in Deutsch verfasste longitudinale Studie versucht, einen Teil dieser Lücke zu füllen, indem sie untersucht, wie sechs Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren die kurdische Varietät Kurmancî und das Deutsche erwerben.

Bevor diese Arbeit umgesetzt werden konnte, war es notwendig, ein Instrument zur Messung der Kurmancî-Kompetenz von Kindern zu erarbeiten, da ein solches bislang nicht existiert hat. Mit Hilfe von Linguist*innen, Erzieher*innen sowie Eltern wurde ein bestehendes Instrument aus dem Englischen ins Kurmancî adaptiert. Der Name dieses Instruments ist Language Impairment Testing in Multilingual Settings – Multilingual Assessment Instrument for Narratives (LITMUS-MAIN) und es elizitiert die Erzählkompetenz (Gagarina et al. 2019a). Allerdings kann durch die erzeugten Erzählungen/Texte auch die allgemeine Sprachkompetenz untersucht werden. Dieses Instrument wurde bereits in viele andere Sprachen, u.a. ins Deutsche, adaptiert. Durch seine erstmalige Adaptation ins Kurmancî konnte somit die Erzählfähigkeit der Studienkinder in Kurmancî und in Deutsch ermittelt und analysiert werden.

Viele Kurd*innen in Deutschland können neben Kurdisch und Deutsch noch eine oder mehrere weitere Sprachen sprechen. Diese weitere(n) Sprache(n) kann/können auch Teil des Lebens der Kindergeneration sein. Daher untersucht die vorliegende Studie zusätzlich auch, ob und inwieweit die Studienkinder neben Kurmancî und Deutsch noch eine dritte oder vierte Sprache können.

Die Forschung hat gezeigt, dass Familie und Kindertagestätte in Deutschland die beiden Hauptquellen sind, aus denen Kinder ihre Sprache(n) erwerben und entwickeln. Die Rolle beider Quellen wird in dieser Arbeit analysiert. Die hier untersuchte Kindertagestätte Pîya verfügt über ein durchgängig bilinguales Konzept zur Förderung des Kurmancî und des Deutschen.

Zudem wird auch ein kurzer Überblick zu den Kurd*innen in Deutschland, insbesondere zu ihrer soziolinguistischen Situation gegeben. Dieser Überblick kann als ein erweiterter Rahmen dieser Arbeit begriffen werden.

 

Abstract English

The Kurdish people have been part of German society since the 1960s. Nevertheless, their everyday life, their socio-economic and sociolinguistic situation in Germany have hardly been examined. A clear example of this is that so far, no study is known that has investigated in detail the acquisition of Kurdish and German in preschool age. This present longitudinal study written in German tries to fill in a part of this gap by examining how six children between ages three and six acquire the Kurmancî variety of Kurdish and German.

Before this work could begin, it was necessary to establish a tool to measure Kurmancî language proficiency in children, because such an instrument was not yet available. With the help of linguists, nursery schoolteachers, as well as parents, an existing instrument was adapted from English into Kurmancî. The name of this tool is Language Impairment Testing in Multilingual Settings – Multilingual Assessment Instrument for Narratives (LITMUS-MAIN) and it elicits narrative skills (Gagarina et al. 2019a). However, the narratives/texts generated can also be used to examine general language skills. This instrument has already been adapted into many other languages, including the German language. By adapting this tool for the first time into Kurmancî, it was possible to assess and analyze the narrative ability of the children in Kurmancî and in German.

Many Kurds in Germany can speak one or more additional language(s) beside Kurdish and German. This/These additional language(s) may also reach the children’s generation. Therefore, this study examines additionally whether and to what extent the children investigated also speak a third or fourth language beside Kurmancî and German.

Research has shown that families and nursery schools in Germany are the two main sources from which children learn and develop their language(s). The role of both sources is analyzed in this work. The investigated nursery school Pîya has a consistently bilingual concept for the promotion of Kurmancî and German.

A short overview of the Kurds in Germany, especially of their sociolinguistic situation, is also given. This overview can be understood as an extended framework of this work.

1Einleitung

Seit den sechziger Jahren sind Kurd*innen ein Teil von dynamischen Migrationsbewegungen aus dem Nahen Osten in die westeuropäischen Staaten, insbesondere nach Deutschland (vgl. Hassanpour/Mojab 2005: 218, Şenol 1992: 186). Seither hat die Migration der Kurd*innen praktisch nie aufgehört – auch wenn sie von Zeit zu Zeit abgenommen hat. Die letzte Welle der (Flucht‑)Migration der Kurd*innen – hauptsächlich aus Syrien und dem Irak – begann um 2014, intensivierte sich in den Jahren 2015/2016 und hält, wenn auch nicht mit gleicher Intensität, weiterhin an (vgl. Pürckhauer 2019). Da die Konflikte in den Herkunftsländern der Kurd*innen fortbestehen bzw. sich intensivieren, ist ein Ende ihrer Flucht(‑Migration) nicht abzusehen. Schon jetzt bilden die Kurd*innen eine der größten Migrant*innengruppen in Deutschland; ihre Zahl wird auf 1,2 Millionen Menschen geschätzt (vgl. Engin 2019: 9).

Die sozialpolitische Situation der Kurd*innen in Deutschland und in ihren Herkunftsländern dominiert die Themen, die in Deutschland in die öffentlichen und zum Teil auch in die wissenschaftlichen Diskussionen gelangen. Ihre alltägliche Lebenswelt, ihre sozioökomische und soziolinguistische Situation in Deutschland stehen dagegen kaum zur Diskussion und werden seitens der Forschung wenig aufgegriffen (vgl. Karataş 2019: 12, Ozmen 2010: 162, Schleimer 2019: 84). Der Spracherwerb ihrer Kinder unter Einbeziehung ihrer Sprache hat beispielsweise so gut wie keine Beachtung gefunden. Und dies trotz der Tatsache, dass an den allermeisten existierenden Studien zum Spracherwerb immer wieder auch kurdischsprachige Kinder beteiligt waren (vgl. Apeltauer 2008, Reich 2009).

Die vorliegende Studie betritt also ein neues Forschungsfeld. Dabei befasst sie sich in einer longitudinal angelegten Konzeption damit, wie sich die Sprachkompetenz der sechs ausgewählten Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren in Kurmancî-Kurdisch und in Deutsch entwickelt. Zu diesem Zweck wurden über den Zeitraum von etwa acht Monaten in einer bilingual kurdisch-deutschen Kindertagesstätte mit verschiedenen Methoden und Instrumenten Daten erhoben.

Die Varietät Kurmancî des Kurdischen, die hier der Untersuchungsgegenstand ist, wird Schätzungen zufolge von etwa zwei Dritteln der Kurd*innen weltweit gesprochen (vgl. Bulut 2018: XX). Selbst wenn die kurdische Diaspora in Westeuropa bzw. in Deutschland gesondert betrachtet wird, so müsste laut Ammann immer noch die Zahl der kurmancîsprachigen Kurd*innen überwiegen (vgl. Ammann 2019: 28, siehe auch Ghaderi 2014: 136).

Damit die vorliegende Studie sich in diesem neuen und zudem überaus großen Forschungsfeld nicht „verirrt“, operiert sie mit bestimmten Forschungsfragen, die in Kapitel 2 ausgeführt werden. Die Forschungsfragen strukturieren die Studie und richten sie auf ihr Ziel aus: auf Erfassung und ersten Einblick zur Spracherwerbskonstellation Kurmancî-Deutsch bei Kindern im Alter zwischen drei und sechs Jahren. In Kapitel 2 sind außerdem die Hypothesen der Studie ausgeführt und erläutert, die den Blick auf den Forschungsgegenstand zusätzlich schärfen. Im Anschluss daran folgt das Kapitel zum Forschungsdesign (Kapitel 3), welches das Format, die Methoden und Instrumente der Studie vorstellt und kurze Informationen zu den Studienkindern beinhaltet.

Kapitel 4 verfolgt zunächst das Ziel, im weiteren Sinne das Kurdische und im engeren Sinne das Kurmancî-Kurdisch zu kontextualisieren. Dabei wird zunächst ein Überblick über die Länder und Regionen gegeben, in denen das Kurdische, insbesondere das Kurmancî, geschichtlich beheimatet ist, und wie seine Varietäten aufgeteilt sind. Dazu werden zwei Landkarten zur Illustration herangezogen. Die Kontextualisierung wird mit einem Überblick zu den soziolinguistischen Rahmenbedingungen des Kurdischen/Kurmancî in den Herkunftsländern Irak, Syrien, Iran und Türkei fortgeführt. Dem folgen Ausführungen zur Migrationsgeschichte der Kurd*innen in den westeuropäischen Staaten. Dabei geht der Blick vom Allgemeinen zum Spezifischen: Erst wird die westeuropäische, dann die deutsche und schließlich die Berliner Diaspora der Kurd*innen dargestellt. In Berlin befindet sich auch das Forschungsfeld dieser Studie.

Auf die allgemeine Kontextualisierung des Kurdischen/Kurmancî folgt, ebenfalls in Kapitel 4, die grammatische Charakterisierung des Kurmancî. Dabei wird auf die phonologischen, syntaktischen und vor allem auf die morphologischen Charakteristiken wie Ezafe, Obliquus und Tempusformen eingegangen. Dieser Teil dient als Grundlage für die Ausführungen zu den grammatischen Merkmalen der sprachlichen Daten der Studienkinder.

Spiegelbildlich wird ebenso in Kapitel 4 mit der Erläuterung der grammatischen Merkmale des Deutschen verfahren. Der Unterschied ist dabei, dass die Erläuterungen zum Deutschen auf eine breite Grundlage in der Spracherwerbsforschung zurückgreifen können (vgl. u.a. Kaltenbacher 2015, Kauschke 2012, Meisel 2009, Ruberg/Rothweiler 2012, Schulz/Tracy 2011, Wegener 1995). In Kurmancî muss dagegen aufgrund fehlender Studien zum Spracherwerb auf allgemeine grammatische Untersuchungen – auch kurmancîsprachige – zurückgegriffen werden (vgl. u.a. Bedir Khan/Lescot 1986, Haig/Öpengin 2018, MacKenzie 1961, Omarkhali 2011, Tan 2005).

In Kapitel 5 finden sich schließlich beide Sprachen unter dem umfassenden „Dach“ des Begriffs der „Mehrsprachigkeit“. Es wird dabei sowohl auf allgemeine Grundlagen als auch auf den Kontext Kindertagesstätte – im Folgenden meist als Kita abgekürzt – eingegangen. Hier wird zunächst versucht, Bilingualismus/Mehrsprachigkeit zu definieren. Des Weiteren werden zentrale Theorien des Spracherwerbs kurz umrissen, die versuchen, den Spracherwerb aus der kognitiven Perspektive zu erläutern (vgl. Grießhaber 2010, Katerbow 2013, Schulz/Grimm 2012). Darüber hinaus erfolgt die Kategorisierung des Erwerbs des Deutschen, der das Alter und der Beginn des systematischen Zuganges zugrunde gelegt werden. In diesem Kapitel wird auch auf den Erwerb der Erzähl- und Grammatikkompetenz eingegangen und in dieser Weise eine Grundlage für die Analyse der Daten geschaffen.

Kapitel 6 der Studie ist ihrem Forschungskontext, methodischen Vorgehen und ihren Studienkindern gewidmet. Die Kindertagesstätte Pîya, die im Folgenden meist als Kita Pîya bezeichnet wird, stellt den Forschungskontext der Studie dar. Bezüglich der Kita Pîya, die bilingual Kurmancî-Deutsch konzipiert ist, werden zunächst einige Eckpunkte – Gründungsjahr, Kapazität, Konzept, Gründungshintergründe etc. – eingeführt. Den Schwerpunkt der Ausführungen bildet jedoch die Darstellung der bilingualen Praxis der Kita. Diese Darstellung beruht hauptsächlich auf den Erkenntnissen der Leitfadeninterviews mit den Erzieher*innen. Im Einzelnen wird auf die materiellen und personellen Ressourcen der Kita eingegangen. Dabei werden die Herausforderungen und Schwierigkeiten erläutert, die Erzieher*innen im Kita-Alltag insbesondere im Hinblick auf das Kurmancî zu überwinden haben.

Ein großer Teil des Kapitels 6 handelt von dem methodischen Vorgehen. In diesem Zusammenhang werden zunächst die Leitfadeninterviews erläutert, die mit den Erzieher*innen, der Leitung der Kita und der Geschäftsführung des Kita-Trägers durchgeführt worden sind. Auf die Darstellung der Leitfadeninterviews folgt die Erläuterung des Fragebogens für Eltern, der aus zwei Teilen besteht. Dieser wurde um offene Fragen zur Sprachenbiografie der Eltern ergänzt. Die Erkenntnisse, die dadurch gewonnen wurden, dienen dazu, die Rahmenbedingungen des Spracherwerbs der Studienkinder auszuleuchten.

Der Fokus der vorliegenden Studie liegt auf der Dokumentation und Analyse des Spracherwerbs und der Sprachkompetenz der Studienkinder. Dies erfolgt mit drei verschiedenen Instrumenten: LITMUS-MAIN – ab hier meist nur noch als MAIN abgekürzt (Gagarina et al. 2012, 2019a), LiSe-DaZ (Schulz/Tracy 2011) und HAVAS 5 (Reich/Roth 2004a, 2004b). Hinzu kommt als Ergänzung eine speziell für diese Studie zusammengestellte Lexikonabfrage. Für welche Sprachen, wie oft und in welchen Zeitabständen diese Instrumente eingesetzt waren, wird im Detail im dritten Kapitel „Design der Studie“ erläutert. In Kapitel 6 wird dagegen ausführlich dargestellt, was genau mit diesen Instrumenten elizitiert wird. Hier finden sich ausführliche Erläuterungen zur Vorbereitung, Durchführung und Auswertung dieser Instrumente. Die Erläuterungen zu MAIN und LiSe-DaZ, die die zwei Hauptinstrumente der Studie bilden, sind dabei umfangreicher und umfassen auch ihre theoretischen Grundlagen.

In Kapitel 6 erfolgt auch die Vorstellung der Studienkinder ausgehend von den Erkenntnissen, die durch Eltern, Erzieher*innen sowie durch teilnehmende Beobachtungen ermittelt wurden. Dabei werden der Weg und die Zugangsbedingungen der Studienkinder zu ihren Sprachen detailliert herausgearbeitet und erläutert. Dadurch wird die Analyse ihrer Kompetenz in ihren Sprachen im späteren Verlauf nachvollziehbarer.

Kapitel 7 ist der umfangreichste Teil der Studie und führt die Ergebnisse nach Sprachen aufgegliedert im Detail aus. Zunächst werden die sprachlichen Ergebnisse der Studienkinder in Kurmancî mit MAIN und in Deutsch mit MAIN und LiSe-DaZ kurz erörtert und tabellarisch dargestellt. Die Erörterung und Darlegung erfolgt für jedes Kind einzeln und gegliedert nach einzelnen Messzeitpunkten. Für vier Studienkinder liegen Ergebnisse in einer dritten Sprache Arabisch bzw. Französisch vor, im Fall eines dieser Kinder auch in der vierten Sprache Türkisch.

In Kapitel 7 werden auch die grammatischen Merkmale der sprachlichen Daten der Studienkinder in Kurmancî und Deutsch, die durch MAIN und LiSe-DaZ gesammelt wurden, auf der phonologischen, morphologischen und syntaktischen Ebene dargelegt und analysiert. Die theoretische Grundlage bilden dabei die Ausführungen zu den grammatischen Eigenschaften des Kurmancî und des Deutschen im vierten Kapitel. Abschließend wird auf die Äußerungen – seien es Wörter, Wortgruppen oder Sätze – eingegangen, die aus einer anderen Sprache übernommen sind. Hier wird eine vorsichtige Analyse unternommen, wie bei der Übernahme grammatisch verfahren wird.

Kapitel 8 ist das letzte Kapitel der Studie und rundet sie ab. Dabei werden die Ergebnisse der Studie diskutiert. Dies umfasst zum einen die Testergebnisse der Kinder in Kurmancî und in Deutsch sowie in weiteren Sprachen. Zum anderen stehen die grammatischen Eigenschaften der sprachlichen Daten in Kurmancî und in Deutsch zur Diskussion. Des Weiteren wird in diesem Abschnitt die Rolle der Kita Pîya für den Spracherwerb und die Sprachkompetenz der Studienkinder unter die Lupe genommen, bevor in einem Ausblick die Relevanz der Studie innerhalb der Spracherwerbsforschung verortet und kurz umrissen wird, inwiefern die Studie für die zukünftige Forschung eine Grundlage und/oder eine Perspektive bietet.

2Forschungsziel, Forschungsfragen und Forschungshypothesen

Die vorliegende Studie ist als eine qualitative und explorative Studie zu betrachten. Sie versucht, anhand von wenigen Fällen explorativ „dem Forschungsgegenstand möglichst nahe“ zu kommen (Mayring 2010: 231, für einen Überblick zur qualitativen Forschung siehe Brüsemeister 2008 und Flick 2009 und für die Beziehung zwischen qualitativer und explorativer Herangehensweise Mayring 2010). Im Einklang mit der qualitativen und explorativen Herangehensweise ist das Ziel der Studie breit aufgestellt: Erfassung und erster Einblick zur Spracherwerbskonstellation Kurmancî-Deutsch bei Kindern im Alter zwischen drei und sechs Jahren. Der Grund dafür ist, dass diese Erwerbskonstellation bisher kaum, eventuell sogar noch gar nicht untersucht wurde, obwohl sie keine Seltenheit in Deutschland ist und spezifische Besonderheiten aufweist, wie z.B., dass Kinder, die mit dieser Erwerbkonstellation aufwachsen, in erheblichem Maß Zugang zu weiteren Sprachen haben.

Darüber hinaus ist auch nicht bekannt, ob das Kurmancî überhaupt je im Fokus einer tiefgreifenden Studie zum Spracherwerb gestanden hat – sei es allein oder in der Konstellation mit anderen Sprachen. Hier wird von der Untersuchung von Mahalingappa abgesehen, die nicht den Erwerb des Kurmancî im Allgemeinen, aber immerhin den Erwerb der Ergativität in Kurmancî bei Kindern in der Altersspanne zwischen 1,6 und 4,3 Jahren thematisiert (vgl. Mahalingappa 2009: 53ff.).1

Damit die vorliegende Studie ihr Ziel erreichen kann, werden vier übergreifende Forschungsfragen formuliert:

Über welche Sprachkompetenz verfügen die Studienkinder in Kurmancî und Deutsch im Alter von drei bis sechs Jahren und wie entwickelt sich diese über den Erhebungszeitraum von etwa acht Monaten?

Diese Frage stellt den Schwerpunkt der Studie dar und wird in zwei Teilfragen bearbeitet. Erstens wird der Frage nachgegangen, wie sich die Erzählkompetenz der Studienkinder in Kurmancî und in Deutsch darstellt und wie der diesbezügliche Entwicklungsverlauf über die Erhebungszeit ist. In diesem Zusammenhang wird auch überprüft, ob die Erzählkompetenz in Kurmancî und in Deutsch vergleichbar ist. Darüber hinaus wird auch der Frage nachgegangen, ob die Erzählkompetenz unter Berücksichtigung des Kurmancî mit gleichaltrigen bilingualen Kindern vergleichbar ist, die mit anderen Spracherwerbskonstellationen aufwachsen.

Während die erste Teilfrage sich auf die Erzählkompetenz bezieht und beide Sprachen umfasst, fokussiert die zweite Teilfrage die Morphosyntax und wird nur in Bezug auf das Deutsche gestellt. Die Frage ist: Wie sind die Normwerte der Studienkinder in Deutsch und wie entwickeln sie sich über die Erhebungszeit? Dass diese Frage nur hinsichtlich der Morphosyntax beantwortet wird, ist bedingt durch das eingesetzte Instrument LiSe-DaZ, da dieses Instrument Normwerte im Wesentlichen für Morphosyntax erhebt. Ein äquivalentes Instrument für Kurmancî ist nicht vorhanden, so dass der Sprachvergleich hier aus methodischen Gründen nicht erfolgen kann.

Um diese Lücke im Hinblick auf das Kurmancî einigermaßen zu schließen und das Deutsch der Kinder in einem größeren Bild unter die Lupe zu nehmen, wird die zweite übergreifende Frage der Studie formuliert:

Welche grammatischen Merkmale weisen die semi-spontan2 und experimentell elizitierten sprachlichen Daten der Studienkinder auf?

Die Antwort auf diese Frage wird in drei Bereichen der Sprache – Phonologie, Morphologie und Syntax – gesucht. Mit dieser Frage wird der Bereich der Phonologie des Deutschen, der von LiSe-DaZ nicht behandelt wird, mit in die Analyse eingeschlossen. Auch einige morphosyntaktische Kategorien, die mit diesem Instrument nicht untersucht werden, wie das Genus und der Numerus (Schulz/Tracy 2011: 20), sind in dieser Weise der Analyse inkludiert.

Die ausführliche Auseinandersetzung mit den grammatischen Merkmalen der sprachlichen Daten bietet auch die Grundlage dafür, eine Unterscheidung in Bezug auf die Äußerungen der Kinder vorzunehmen, die aus anderen Sprachen übernommen sind. Die Frage, die dieser Unterscheidung Rechnung trägt, ist, ob diese Äußerungen an die Grammatik der jeweiligen Sprache angepasst werden oder nicht (vgl. Hock/Joseph 2019, Poplack 2018).

Da Kurd*innen zu jenen Migrant*innengruppen gehören, deren Mitglieder bereits in ihren Herkunftsländern meistens bilingual/multilingual sind und mit dieser Ausgangslage in dem Einwanderungsland ankommen, ist es häufig der Fall, dass ihre Kinder mit den Sprachen der Eltern und der Sprache des Einwanderungslandes und somit dreisprachig bzw. mehrsprachig aufwachsen (Herkenrath 2017, Ozmen 2010, Riehl 2014, Şimşek 2016). Im Fall dieser Studie kommt noch hinzu, dass fünf der sechs Studienkinder außerhalb Deutschlands geboren sind – vier in den Herkunftsländern und eins in einem weiteren Land. In diesen Ländern hatten sie Zugang zu einer weiteren Sprache außer Kurmancî oder waren von dieser Sprache umgeben. Bei einem Kind kommt hinzu, dass aufgrund der Familienkonstellation und Migration eine vierte Sprache zu seiner Lebenswelt gehört.

Da die vorliegende Studie bemüht ist, die Sprachkompetenz der Studienkinder insgesamt, also auch in weiteren Sprachen zu ermitteln, lautet eine weitere Frage:

Inwieweit ist bei den Studienkindern eine Sprachkompetenz in weiteren Sprachen – zusätzlich zu Kurmancî und Deutsch – vorhanden?

Die vierte und letzte Frage bezieht sich auf die Rolle der Kita, insbesondere auf die Rolle ihres Inputs beim Spracherwerb der Studienkinder. Die Kita wird in Deutschland als ein fester Bestandteil der Kindheit betrachtet (vgl. Bildung in Deutschland 2014: 45, König/Friederich 2014: 11). Des Weiteren wird sie als zweitrelevanteste Instanz – nach der Familie – aufgefasst, in der die sprachliche Sozialisation des Kindes stattfindet (vgl. Reich 2009: 13). Für Kinder, die zu Hause keinen oder wenig Zugang zum Deutschen haben, ist die Kita sogar die erste und eventuell die relevanteste Instanz für den Deutscherwerb (vgl. Jeuk 2003: 9, Schulz/Tracy 2011: 21). Daher ist die Rolle der hier untersuchten Kita Pîya für den Erwerb des Deutschen – aber auch für den des Kurmancî – zu beleuchten. Denn die Kita fördert neben dem Deutschen auch das Kurmancî konsequent. Insofern ist eine weitere übergreifende Frage wie folgt formuliert:

Welche Rolle spielt die Kita Pîya für den Erwerb des Kurmancî und des Deutschen?

Diese Frage wird in erster Linie vor dem Hintergrund der Kenntnis zu beantworten sein, welche Kinder zu Hause keinen plausiblen Zugang zu den untersuchten Sprachen haben und daher auf den Input in der Kita angewiesen sind und wie sie dadurch ihre Kompetenzen in der jeweiligen Sprache ausbauen.

Wenn auch zu Beginn mehr oder minder eindeutig war, welches Ziel mit welchen Forschungsfragen in der vorliegenden Studie verfolgt werden sollte, war die Aufstellung der Hypothesen – wie es ein Merkmal der explorativen Studien ist (vgl. Mayring 2010: 225) – nicht einfach. Dies lag daran, dass das Forschungsfeld neu war und es ungewiss war, welche Zusammenhänge und Wechselwirkungen in diesem neuen Feld überhaupt untersuchbar sind. Dennoch konnten, abgeleitet von Ergebnissen der Spracherwerbsforschung, flankiert von ersten informellen Gesprächen mit Eltern und Erzieher*innen sowie durch die ersten Eindrücke der teilnehmenden Beobachtungen in der Kita einige vorsichtige Hypothesen zu der spezifischen Erwerbkonstellation Kurmancî-Deutsch gebildet werden. Diese Hypothesen schärfen im Zusammenhang mit den Forschungsfragen den Blick für bestimmte Merkmale, Phänomene und Bereiche des untersuchten Gegenstandes (vgl. Grond 2018 für eine vergleichbare Vorgehensweise).

Die erste Hypothese ist, dass die bilingualen Kinder zwar in ihren beiden Sprachen eine ähnliche Erzählkompetenz auf der Makroebene – also bei der Wiedergabe der globalen Struktur – aufweisen werden (vgl. Gagarina et al. 2015), dies allerdings nicht, wenn der Zugang zu einer der Sprachen nicht über eine längere Zeit gegeben war. Denn das Erzählen einer Geschichte verlangt das Erreichen einer gewissen Schwelle der Sprachkompetenz (vgl. Bohnacker 2016: 24, siehe auch die Abschnitte 5.3 und 5.4). Jedoch ist nicht konkret ermittelt, nach welcher Dauer des Zuganges zu der jeweiligen Sprache die Erzählkompetenz eintritt. Für Sprachen wie Deutsch ist allerdings bekannt, dass erst am Ende des ersten Jahres des systematischen Zuganges, manchmal auch erst danach, die Grundstrukturen der Sprache durch die sukzessiven Erwerber*innen erworben werden, z.B. verschiedene Satzstrukturen (vgl. Ruberg/Rothweiler 2012, Schulz/Tracy 2011). Insofern ist für vier der sechs Studienkinder, die sukzessiv das Deutsche erwerben, anzunehmen, dass sich ihre Erzählkompetenz in dieser Sprache erst etwa ab dem Ende des ersten Jahres des systematischen Zuganges der Erzählkompetenz in Kurmancî etappenweise angleicht (für Erläuterungen zum Erwerbsbeginn sowie zur Erwerbsdauer der Studienkinder siehe die Übersicht im nächsten Abschnitt).

In Bezug auf den Zugang zu Kurmancî ist zu erwähnen, dass nur ein einziges Kind der Studie erst zu einem späteren Zeitpunkt – etwa mit eineinhalb Jahren – einen geregelteren Zugang zu Kurmancî bekommen hat (für genaue Informationen siehe den Abschnitt 6.3). Es ist allerdings schwierig, für dieses Kind eine Annahme darüber zu äußern, nach welcher Dauer des Zuganges es eine Erzählkompetenz in Kurmancî entwickeln und ab wann diese sich der in Deutsch angleichen wird. Denn anders als im Deutschen ist der Spracherwerb in Kurmancî nicht dokumentiert und damit einhergehend ist eine Grundlage für eine solche Annahme nicht gegeben. Daher kann für dieses Kind höchstens vermutet werden, dass es durch den geregelten Zugang im Laufe der Zeit eine Kurmancî-Kompetenz entwickelt. Mit voranschreitender Entwicklung ist zu erwarten, dass es Figuren, Objekte und einzelne Ereignisse der Geschichten benennt/beschreibt, diese mehr und mehr verknüpft und die Geschichten schließlich auch in Kurmancî erzählt. Wann dies jedoch geschieht, kann im Rahmen dieser Studie nicht definiert werden. Dazu wäre eine ausführliche Dokumentation des Spracherwerbs in Kurmancî vonnöten.

Die zweite Hypothese ist, dass die Studienkinder (abgesehen von einem Kind) in LiSe-DaZ, d. h. im Deutschen, niedrige Werte aufweisen werden. Der Grund dafür ist, dass den Werten von LiSe-DaZ die Annahme zugrunde liegt, dass Kinder mit Deutsch als Zweitsprache im Alter zwischen 25 und 48 Monaten in die Kita kommen und fortan einen systematischen Zugang zum Deutschen haben. Dieser Annahme nach sind die Werte ermittelt und Vergleichsgruppen nach Alter und Kontaktzeit gebildet (vgl. Schulz/Tracy 2011: 21). Vier der sechs Studienkinder kamen jedoch älter als 48 Monate in die Kita. Aufgrund dieser Tatsache konnten sie nicht immer mit ihrer tatsächlichen Gruppe, sondern mit der nächsten passenden Gruppe verglichen werden. Bei einem weiteren Kind werden Werte von Deutsch als Muttersprache (DaM) zugrunde gelegt, wobei es in seinen ersten Lebensjahren nicht die üblichen Erwerbsbedingungen eines DaM-Kindes hatte (für genaue Informationen siehe den Abschnitt 6.3).

Die dritte Hypothese ist, dass die Studienkinder hinsichtlich der Grammatik des Deutschen die meisten Schwierigkeiten nicht mit der Syntax, sondern mit der Morphologie haben werden (vgl. Kauschke 2012, Meisel 2009). Um genauer zu sein: Sie werden ihre größten Schwierigkeiten im Ausdruck der grammatischen Kategorien der Nominalphrase haben. Hier werden Kinder, die das Deutsche sukzessiv erwerben, auf mehr Schwierigkeiten stoßen. Denn in der Spracherwerbsforschung ist dokumentiert, dass der Erwerb der grammatischen Kategorien der Nominalphrase Kindern, und insbesondere sukzessiven Erwerber*innen, schwerfällt (vgl. Kaltenbacher/Klages 2007, Ruberg/Rothweiler 2012).

Wenn auch keine ausführliche Dokumentation zum Erwerb des Kurmancî vorliegt, so ist dennoch davon auszugehen, dass die Unterscheidung der Stammformen der Verben in Kurmancî zum frühen Spracherwerb gehört. Denn die grammatische Unterscheidung der Gegenwart und der Vergangenheit erfolgt über diese beiden Stammformen. Sobald also Kinder in ihren Äußerungen Gegenwart und Vergangenheit voneinander unterscheiden, müssen sie mit beiden Stammformen operieren. In diesem Zusammenhang geht aus der Studie von Mahalingappa hervor, dass kurdischsprachige Kinder, die im Osten der Türkei mit Kurmancî aufwachsen, ab einem Alter von etwa zwei bis zweieinhalb Jahren sowohl eine Tempusform der Gegenwart als auch eine der Vergangenheit nutzen und somit die beiden Stammformen anwenden (vgl. Mahalingappa 2009: 53ff.) Die vierte Hypothese lautet entsprechend, dass diese Unterscheidung der Stammformen den meisten Studienkindern gelingen wird, da sie zum Zeitpunkt der Erhebung im Erwerb des Kurmancî bereits fortgeschritten sind.

Die fünfte Hypothese bezieht sich darauf, dass das Kurmancî der meisten Studienkinder regionalen Unterschieden unterliegen wird. Denn das Kurmancî umfasst ein großes geografisches Gebiet, das auch größtenteils durch mehrere Staatsgrenzen geteilt ist. Des Weiteren ist seine Standardvarietät den meisten Sprecher*innen aufgrund soziopolitischer Rahmenbedingungen kaum verfügbar (vgl. Aygen 2007, Haig/Öpengin 2018).

Die sechste Hypothese ist, dass Studienkinder, die Kontakt zu einer dritten oder vierten Sprache haben bzw. hatten, diese Sprache(n) auch produktiv nutzen werden, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie ihre ersten beiden Sprachen Kurmancî und Deutsch. Bei der Kontextualisierung der dritten Forschungsfrage wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Lebenswelt der Kinder, die mit Kurmancî und Deutsch aufwachsen, in den meisten Fällen eine bzw. mehrere weitere Sprachen angehören. Die Studie von Şimşek (2016) geht auf diese Tatsache ein und ermittelt, dass die von ihr untersuchten Studienkinder über eine produktive Sprachkompetenz in der dritten Sprache – in dem Fall Türkisch – verfügen. Daran anknüpfend geht die vorliegende Studie von einer produktiven Sprachkompetenz in weiteren Sprachen neben Kurmancî und Deutsch aus, zu denen die untersuchten Kinder Zugang haben.

Die Hypothesen sieben und acht beziehen sich auf die Umsetzung des Konzepts der Kita und auf den Sprachgebrauch der Kinder in der Kita. Im Hinblick auf Ersteres ist davon auszugehen, dass die Kita Schwierigkeiten in der Umsetzung ihres Konzepts haben wird, da es sich in ihrem Fall um ein Pilotprojekt handelt. Darüber hinaus gibt es bis jetzt nur wenig bzw. kaum Erfahrungen im Umgang mit der institutionellen Vermittlung des Kurmancî (vgl. Akın 2017, Derince 2017, Grond 2018). Mit Blick auf den Sprachgebrauch wird vermutet, dass Kinder aus den kurmancîsprachigen Familien in der Kita vor allem zu Beginn mehrheitlich Kurmancî sprechen werden, da ihnen diese Sprache vertrauter ist.

3Design der Studie

Da die vorliegende Studie als eine explorative Studie definiert ist, wird sie im Format einer Fallstudie entfaltet, die insgesamt sechs Kinder umfasst. Der Vorteil einer Fallstudie ist, dass das gegebene Thema besonders umfassend behandelt werden kann. Diese Herangehensweise ist für das Thema der vorliegenden Studie vonnöten, da es bis jetzt – wie bereits erwähnt – kaum untersucht wurde. Als Fallstudie kann sie ihr Thema „multiperspektivisch“ angehen (vgl. Gürsoy 2016: 18) und einen ersten Einblick in die Spracherwerbskonstellation Kurmancî-Deutsch ermöglichen. Des Weiteren ist es ein Anliegen, „die Kinder in ihren vielschichtigen Lebenslagen wahrzunehmen […].“ (Chilla/Niebuhr-Siebert 2017: 29) Dies ist ebenfalls im Format der Fallanalyse möglich.

Die sechs Studienkinder wurden aus der Kurdisch-Deutsch bilingualen Kita Pîya ausgewählt. Sie heißen Zozan, Roza, Aram, Azad, Welat und Aras.1 Zozan und Roza sind Zwillingsschwestern und gleichzeitig die beiden einzigen Mädchen der Studie. Die anderen vier Studienkinder sind Jungen. In Bezug auf Zozan, Roza, Azad und Welat ist auch anzumerken, dass sie in den Jahren 2015 und 2016 im Zuge der sogenannten Flüchtlingswelle nach Deutschland kamen.

Der Auswahl der Studienkinder wurden zwei Kriterien zugrunde gelegt. Erstens sollten die Kinder mindestens drei Jahre alt sein, da die zwei Hauptinstrumente der Studie – MAIN und LiSe-DaZ – für Kinder ab drei Jahren konzipiert sind (vgl. Gagarina et al. 2012, Schulz/Tracy 2011). Zweitens sollten die Kinder über eine produktive Kompetenz in beiden Sprachen verfügen. Damit ist in diesem Kontext gemeint, dass sie in beiden Sprachen Output geben bzw. beide Sprachen sprechen können, indem sie beispielsweise Sätze bilden oder Geschichten erzählen, so dass sprachliche Daten in beiden Sprachen gesammelt werden können. Zumindest sollten sie aber eine der Sprachen – Kurmancî oder Deutsch – sprechen, deren Erwerb untersucht wird. Fünf der sechs Studienkinder sprachen zum Zeitpunkt der Datenerhebung beide Sprachen. Nur ein Kind sprach in der Zeit Deutsch, aber kein Kurmancî.

Die Informationen über die produktive Sprachkompetenz der Kinder wurden durch Gespräche mit Eltern und Erzieher*innen sowie durch teilnehmende Beobachtungen in der Kita ermittelt. Durch die Gespräche mit Eltern wurde auch sichergestellt, dass die ausgewählten Kinder keine Besonderheiten („Störungen“) im Spracherwerb aufweisen bzw. Einschränkungen haben, die den Spracherwerb beeinflussen, wie z.B. eine Hörschädigung. Im Folgenden werden weitere Angaben zu den Kindern tabellarisch zusammengefasst.

Name des Kindes

Geburtsort des Kindes

Erstsprache(n) des Kindes

Alter bei Ankunft in DE2

Alter beim Eintritt in die Kita

Alter bei der Erhebung

Kontakt zum Deutschen bei der Erhebung

Zozan

Kobanî/

Syrien

Kurmancî

4,5

4,10

6,3 – 6,10

17 – 24 Monate

Roza

Kobanî/

Syrien

Kurmancî

4,5

4,10

6,3 – 6,10

17 – 24 Monate

Aram

Paris/

Frankreich

Deutsch, Kurmancî, Französisch

3,9

3,9

5,11 – 6,6

Seit Geburt

Azad

Şengal/

Irak

Kurmancî

4,0

4,5

5,2 – 5,10

9 – 17 Monate

Welat

Şengal/

Irak

Kurmancî

3,9

4,7

5,2 – 5,9

7 – 14 Monate

Aras

Berlin/

Deutschland

Deutsch

-

1,6

3,2 – 3,9

Seit Geburt3

 

Abbildung 1:

Angaben zu den Studienkindern

Eine detaillierte Beschreibung der jungen, aber dennoch vielschichtigen Biografien der Studienkinder erfolgt in den Falldarstellungen (im Abschnitt 6.3). Aber hier soll schon eine Kategorisierung hinsichtlich ihres Deutscherwerbs vorweggenommen werden. Wie es der Übersicht zu entnehmen ist, kommen vier der insgesamt sechs Studienkinder – Zozan, Roza, Azad, Welat – erst im Alter zwischen 4,5 bis 4,10 in die Kita, was auch den Beginn ihres systematischen Erwerbs des Deutschen markiert. Entsprechend sind sie sukzessive bilinguale Erwerber*innen des Deutschen. Die zwei weiteren Kinder, Aram und Aras, sind als simultane Erwerber des Deutschen und des Kurmancî zu definieren, wobei bei Aras der Zugang zum Deutschen seit der Geburt gegeben ist, aber der Zugang zum Kurmancî im Wesentlichen ab dem Alter von eineinhalb Jahren – mit dem Eintritt in die Kita – erfolgt. Welche theoretische Grundlage dieser Kategorisierung zugrunde gelegt ist, wird im Abschnitt 5.2 erläutert.

Im Rahmen des Formats der Fallstudie untersucht die vorliegende Arbeit nicht nur den Spracherwerb und die Sprachkompetenz der Studienkinder, sondern darüber hinaus auch die Einflussfaktoren auf diese. Mit Einflussfaktoren sind konkret die Kita und die Familien der Studienkinder gemeint. Hinsichtlich der Kita wurde mit den Erzieher*innen, mit der Kitaleitung sowie mit der Geschäftsführung des Kitaträgers ein Leitfadeninterview geführt. Die Fragen für das Leitfadeninterview an die Erzieher*innen und die Kitaleitung wurden in Anlehnung an Brizić (im Ersch.) entwickelt. Mit den Familien wurde ein Fragebogen durchgegangen, der von MAIN (vgl. Gagarina et al. 2012) und Brizić (im Ersch.) adaptiert ist. Zudem wurden den Eltern weiterführende Fragen zu ihrer Sprachbiografie gestellt. Durch die Thematisierung der Rolle der Kita und der Familie für den Spracherwerb und die Sprachkompetenz sollten der erhaltene Input und die gegebene Interaktion in den Sprachen untersucht werden. Dadurch wurde den zwei wesentlichen sogenannten externen Faktoren des Spracherwerbs Rechnung getragen (vgl. Ellis 2008: 238ff.). Zu ergänzen ist, dass Interviews und Fragebogen einmalig durchgeführt worden sind, aber sowohl im Vorfeld als auch im Nachgang informelle Gespräche stattgefunden haben, um neue oder ergänzende Informationen zu akquirieren.

Der Schwerpunkt der vorliegenden Studie liegt jedoch auf der Dokumentation des Spracherwerbs und auf der Ermittlung der Sprachkompetenz der Studienkinder. Zu diesem Zweck wurden drei Instrumente in Anspruch genommen:

Language Impairment Testing in Multilingual Settings – Multilingual Assessment Instrument for Narratives (LITMUS-MAIN) (Gagarina et al. 2012, 2019a)

Linguistische Sprachstandserhebung – Deutsch als Zweitsprache (LiSe-DaZ) (Schulz/Tracy 2011)

Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstandes bei Fünfjährigen (HAVAS 5) (Reich/Roth 2004a, 2004b)

Diese Instrumente wurden um eine Lexikonabfrage für die Sprachkompetenz in der dritten und vierten Sprache ergänzt.

MAIN wurde bei den Studienkindern für Kurmancî und Deutsch insgesamt zu drei Messzeitpunkten (ab hier meist als MZP abgekürzt) mit einem Abstand von etwa drei Monaten eingesetzt. LiSe-DaZ wurde nur für das Deutsche zu zwei MZP mit einem Abstand von etwa fünf Monaten eingesetzt. HAVAS 5 wurde herangezogen, um die mögliche Kompetenz der Studienkinder in weiteren Sprachen zu ermitteln. Diesem Instrument wurde jedoch eine kleine Lexikonabfrage vorangestellt, um auch eine niedrige Kompetenz zu erfassen. Die Erhebung zur Ermittlung der Sprachkompetenz in der dritten und vierten Sprache fand einmal statt. Was genau mit welchem Instrument elizitiert worden ist, wird im Detail bei ihren Ausführungen im Abschnitt 6.2.2 dargelegt. Dort werden auch einige Aspekte der Adaptation von MAIN ins Kurmancî beschrieben. Im Folgenden wird tabellarisch dargestellt, wann welches Instrument eingesetzt wurde.

MAIN

1. MZP

Mitte Februar –Anfang März 2017 in Kurmancî und Deutsch

2. MZP

Ende Mai – Anfang Juni 2017

in Kurmancî und Deutsch

3. MZP

Ende August – Anfang September 2017

in Kurmancî und Deutsch

LiSe-DaZ

1. MZP

Anfang April 2017

in Deutsch

2. MZP

Anfang September 2017 in Deutsch

HAVAS 5 & Lexikonabfrage

Mitte Juni 2017 in weiteren Sprachen

Abbildung 2:

Zeitraum der eingesetzten Instrumente

Beim ersten MZP hat Azad die MAIN-Geschichten nicht erzählt. Mit der Erhebung seiner sprachlichen Daten wurde daher im April mit LiSe-DaZ begonnen. Als die anderen Kinder Ende Mai – Anfang Juni ihren zweiten MZP mit MAIN hatten, war für ihn der erste MZP mit diesem Instrument. Entsprechend war sein dritter MZP mit MAIN nicht im September, sondern drei Monate später im Dezember zu Ende. Die sprachlichen Erhebungen haben bei Azad innerhalb von acht Monaten und bei den anderen Kindern innerhalb von sieben Monaten stattgefunden (für diese Besonderheit bei Azad siehe seine Falldarstellung im Abschnitt 6.3).

4Forschungsgegenstand Kurmancî und Deutsch

4.1Forschungsgegenstand Kurmancî

4.1.1Überblick

Beim Kurmancî handelt es sich um diejenige Varietät des Kurdischen, die von den meisten Kurd*innen gesprochen wird (vgl. Thackston 2006: VII, Turgut 2011: 14). Es wird angenommen, dass kurdische Varietäten weltweit insgesamt von 20 bis 30 Millionen Menschen gesprochen werden (vgl. Haig/Öpengin 2018: 157). Bulut schätzt, dass 65% davon die Kurmancî-Varietät sprechen (vgl. Bulut 2018: XX), also 13 bis 20 Millionen Menschen. Auch Thackston gibt eine vergleichbare Zahl der Kurmancîsprecher*innen an, nämlich 15 bis 17 Millionen (vgl. Thackston 2006: VII).

Das Kurdische stellt nicht eine Sprache, sondern einen Sammelbegriff für verschiedene Varietäten dar (vgl. Chyet 2019: 104, Grond 2018: 45, van Bruinessen 1989: 37). Welche Varietäten zum Kurdischen gehören und ob es sich bei diesen um Sprachen oder um ein Varietätenkontinuum handelt, ist in der Kurdologie und in der Iranistik Gegenstand von Diskussionen (vgl. Haig/Öpengin 2018, Matras 2017), auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann. Der folgenden Karte kann indes ungefähr entnommen werden, wo welche Varietäten gesprochen werden.

Abbildung 3:

Landkarte zu den kurdischen Varietäten (Haig/Öpengin 2018: 159)

Aus der Landkarte geht hervor, dass Kurmancî hauptsächlich in der Südost-Türkei, im Nordirak und im nordwestlichen Teil des Irans gesprochen wird. Es ist außerdem in einem kleinen Gebiet Nordostsyriens sowie Westarmeniens beheimatet. Zur Landkarte ist allerdings anzumerken, dass sie einige Regionen nicht oder nicht adäquat berücksichtigt, in denen ebenfalls Kurmancî gesprochen wird. Dazu gehören vor allem Gebiete in Zentralanatolien sowie in Nordsyrien um die Ortschaften Afrin, Kobanî und Hasaka (Hesîçe) (vgl. Havrest 1998: 73, Hajo 1982: 1, Strohmeier/Yalçin-Heckmann 2000: 29). Daher ist festzuhalten, dass Syrien neben der Türkei, dem Irak und Iran über eine beachtliche Anzahl an Kurmancîsprecher*innen verfügt, wenn auch diesbezüglich derzeit wie in den anderen Staaten keine genauen Angaben vorliegen. Es ist ebenso bekannt, dass in den großen Städten dieser Staaten, vor allem in Istanbul und Aleppo, große kurmancîsprachige Gemeinschaften leben.

Auch innerhalb des Kurmancî gibt es zahlreiche Varietäten. Inzwischen befassen sich einige Studien mit den lexikalischen und vor allem mit den grammatischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden dieser Varietäten (vgl. Haig/Bulut 2017, Haig/Öpengin 2018, MacKenzie 1961). An der Universität Manchester wurde auch eine Varietätendatenbank angelegt, die aus verschiedenen kurmancîsprachigen Regionen Sprachproben mit Transkriptionen sowie grammatischen und lexikalischen Analysen zur Verfügung stellt. Diese Möglichkeiten bietet die Datenbank im Übrigen auch für andere Varietäten des Kurdischen an.1

Neben der Beschreibung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Varietäten gibt es auch Bemühungen, diese in Gruppen einzuteilen. Haig/Öpengin (2018) unterteilen die Varietäten in drei Gruppen und zeichnen sie in der Landkarte folgendermaßen auf.

Abbildung 4:

Die geografische Verbreitung der Varietäten des Kurmancî2 (Haig/Öpengin 2018: 193)

Auch eine Standardvariante des Kurmancî gibt es, die sich maßgeblich auf das Süd-Kurmancî stützt, jedoch auch Elemente der anderen Varietäten zum Teil integriert (vgl. Haig/Öpengin 2018: 164). Die Standardisierung des Kurmancî erfolgte durch seine Verschriftlichung ab dem Jahr 1932 in der Zeitschrift „Hawar“, die maßgeblich ein Werk von Celadet Bedir Khan war (vgl. Grond 2018: 47). Das Standard-Kurmancî repräsentiert auf dem aktuellen Stand in erster Linie die Schrift- und Mediensprache sowie die Bildungssprache, sofern in Kurmancî Bildung angeboten wird. Der wesentliche Aspekt ist hier, dass der Varietät die nötige Institutionalisierung gefehlt hat, – beispielsweise allgemeinbildende Schulsysteme –, um sich etablieren zu können.