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Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. An Hochschulen und auf der Sekundarstufe II begegnen Lehrende und Lernende zahlreichen Sprachen - und dies keineswegs nur in den Sprachfächern. Wie erleben sie das Miteinander von beispielsweise Englisch, Albanisch, Schweizerdeutsch und Berufssprache? Wie können Lehrende sprachfördernd und professionell auf die Mehrsprachigkeit reagieren? Und wie kann diese Vielfalt positiv eingesetzt und genutzt werden? Beiträge aus der Sprach- und Hochschuldidaktik sowie Praxisberichte zeigen wirklichkeitsnahe Möglichkeiten auf, aber auch die Grenzen im Umgang mit Mehrsprachigkeit.
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Seitenzahl: 213
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Monique Honegger, Tamara De Vito, Dagmar Bach (Hrsg.)
Mehrsprachigkeiten
Mit Vielfalt jonglieren – auf Sekundarstufe II und an Hochschulen
ISBN Print: 978-3-0355-1425-4
ISBN E-Book: 978-3-0355-1426-1
1. Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 hep Verlag AG, Bern
hep-verlag.com
Vorwort zur Reihe «Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung»
Dagmar Bach, Tamara De Vito und Monique Honegger
Einleitung – Erstsprachen, Zweitsprachen und Mehrsprachigkeiten
Teil A
Mehrsprachige Praxis und Übergänge
Afra Sturm
Schreiben im Übergang als literale Enkulturation
Mathias Müller und Anja Winkler
Grammatik als Einbahnstrasse am Beispiel der Aufnahme in die Berufsmaturitätsschule
Kirsten Schindler
Mehrsprachigkeit als Mehrstimmigkeit – Studienprojekte im Praxissemester zwischen Theorie und Praxis
«Manchmal weiche ich aus …» – Ben, 65
«Ayo Browsie mowsie sgeht» – Abed, 24
«Versuch dein Glück» – Jamila, 18
Teil B
Sprachen lernen aus Perspektive der Lehrenden
Alex Rickert
Wie Studierende und Sekundarstufe-II-Lernende das Schreiben anspruchsvoller Texte durch Scaffolding meistern
Saskia Sterel und Manfred Pfiffner
Förderorientierte Lesekompetenzdiagnostik mit JuDiT®
Stefan Jörissen und Eva Buff Keller
Abschlussarbeiten im Studium: Einordnung und Prozessgestaltung
«Switching: Brücken – Schweigen» – Laurent, 54
«Sie können ja gut Dialekt!» – Abel, 45
Teil C
Didaktische Anlagen innerhalb von Curricula
Beatrice Müller
Mentoring – Überwindung von Bildungsungerechtigkeiten für Schüler*innen und Studierende: das Projekt VWA-Werkstatt
Nadine Vetterli
Sprachlosigkeit im Unterricht
Sandra Buchmann
Die brauchen einfach Stützunterricht
Annette Verhein und Stefan Jörissen
Schreiben an Hochschulen – vielfältiger als erwartet
«No Switching» – Nadja, 38
«Es längt – Es langet» – Mirjam, 30
Monique Honegger, Dagmar Bach und Tamara De Vito
Nachwort «Wenn Babylon die Mythen hinter sich lässt»
Autor*innen und Herausgeber*innen
Lehren, prüfen, beraten, forschen, organisieren: Diese Themen sind Bestandteil des Aufgabenfelds von Dozierenden an Hochschulen oder Lehrenden in der Erwachsenenbildung. Sie sind die Akteurinnen und Akteure im Wissens- und Technologietransfer durch Weiterbildung und Dienstleistungen, betreiben Projektmanagement und engagieren sich in der Qualitätsentwicklung der eigenen Bildungsorganisation.
Lehre und Unterricht sind dabei herausgefordert: So gestalten Dozierende etwa gemeinsam Curricula oder einzelne Module, planen Leistungsnachweise, integrieren Phasen von selbstorganisiertem Lernen oder implementieren Konzepte von Blended Learning in ihre Lehrveranstaltungen.
Die Abteilung für Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung an der Pädagogischen Hochschule Zürich (PH Zürich) unterstützt seit 2009 Hochschulen, Berufsfachschulen sowie Organisationen der Erwachsenenbildung und ihr Lehrpersonal durch Weiterbildung und Beratung.
Themenschwerpunkte sind dabei Studierenden-/Lernendenorientierung, Rollenvielfalt bei Lehrenden, kompetenzorientierte Lehre, erwachsenenbildnerisches Handeln, Mentoring, Tutoring, Beratung, Schreib-, Denk- und Lernförderung in Lehre an Hochschulen und Bildungsorganisationen der Erwachsenenbildung, Hochschulentwicklung, Evaluation sowie Digitalisierung und ihre Folgen für die Weiterbildung.
Zum vorliegenden Band: «Mehrsprachigkeiten» erstreckt sich als Thema über alle oben genannten Kernthemen. Bilingualer Unterricht auf der Sekundarstufe II, Englisch als Berufssprache und Studiumssprache sowie die handelnden Individuen: Mehr als 80 Prozent der Lernenden und Lehrenden in Hochschulen und Sekundarstufe II sind mehrsprachig.
Herausgeberinnen sind Monique Honegger (Senior Teacher Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung), Tamara De Vito und Dagmar Bach (Dozentinnen, Zentrum für Berufs- und Erwachsenenbildung).
Die Reihe «Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung» regt Diskussionen über und Auseinandersetzungen mit aktuellen und praxisrelevanten hochschuldidaktischen und erwachsenenpädagogischen Fragen an. Sie stellt Dozierenden an Fachhochschulen sowie Verantwortlichen von Aus- und Weiterbildungen in Institutionen der Erwachsenenbildung und im vorliegenden Band explizit auch Lehrpersonen der Sekundarstufe II Reflexions- und Handlungsinstrumente zur Verfügung. Üblicherweise erscheint ein Band jährlich.
Neu sind folgende Bände geplant:
Band 10 (2020)
Mit allem rechnen: Improvisieren in der Bildungsarbeit
(Hrsg. von Geri Thomann und Monique Honegger)
Band 11 (2021)
Umgang mit Unerwartetem: Führen in Expertenorganisationen – Bildung und Gesundheit im Vergleich (Hrsg. von Geri Thomann u. a.)
Bereits publizierte Bände:
https://phzh.ch/de/Weiterbildung/Hochschuldidaktik-und-Erwachsenenbildung/publikationen-projekte/#
Bitte kontaktieren Sie uns für Rückmeldungen oder Ideen. Wir wünschen Ihnen viele Anregungen.
Das Editorialboard der Reihe:
Geri Thomann, Monique Honegger, Daniel Ammann, Dagmar Bach, Erik Haberzeth und Tobias Zimmermann
Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung PH Zürich
https://phzh.ch/de/ueber-uns/Organisation/Prorektorat-Weiterbildung- und-Dienstleistungen/abteilung-hochschuldidaktik-und-erwachsenenbildung/
Wir sprechen in diesem Band von «Mehrsprachigkeiten» und gehen davon aus, dass sich die Sprachen eines Individuums als «Theil seines Selbst» (von Humboldt, siehe unten) manifestieren. Das zeigt sich etwa, wenn eine Schülerin halblaut in ihrer Erstsprache zählt, die nicht die Unterrichtssprache ist, oder ein Dozent nach einem Sprachwechsel plötzlich mit tieferer Stimme spricht. Oder: Ein Vater wechselt unwillkürlich von der Berufs- in die Familiensprache, während er im Büro mit seiner Tochter telefoniert. Jugendliche bearbeiten in der Schule eine Aufgabe als Gruppe und switchen dabei zwischen Albanisch und Schweizerdeutsch. Die Beispiele illustrieren, dass im Alltag Mehrsprachigkeiten gelebt werden, und nicht Einsprachigkeit. Darüber hinaus gibt es auch institutionell fixierte Mehrsprachigkeiten: An Hochschulen ist Englisch heute die übliche Wissenschaftssprache vieler Disziplinen. Im alltäglichen Berufsgespräch erscheint Englisch dann in anderer Form, als Umgangssprache, in der deutschen Schweiz kombiniert mit Hoch- und Schweizerdeutsch.
Der Begriff «Mehrsprachigkeiten» im Plural fokussiert die Komplexität von Sprachbiografien und Sprachgebrauchsrealitäten, auch hinsichtlich der didaktischen Überlegungen in diesem Buch. Das Zusammenspiel verschiedener Sprachen, Sprachvarietäten und Register gilt es als Lehrende und Dozierende zu berücksichtigen – in sämtlichen Lerngebieten, denn Sprachlernen findet immer statt, auch in Fächern und Disziplinen, die nicht explizit Sprachfächer sind (vgl. Gogolin/Lange 2010).
In den Beiträgen dieses Bandes werden in diesem Sinne folgende Fragen diskutiert:
Wie lässt sich Lernen denken und wie gestalten, wenn es immer auch Spracherwerb ist und wenn Spracherwerb – umgekehrt – immer Erwerb von Welt- und Kulturwissen ist?
Welche didaktische Haltung, welcher Umgang mit Sprache als Kommunikationsmittel ist dabei produktiv?
Bevor wir den Umgang mit Sprache an Hochschulen und Schulen fokussieren, folgen zunächst einige Gedanken zu ausgewählten Mythen, die sich auf Sprache und Mehrsprachigkeiten beziehen:
Mythos «Dominanz der lokalen Sprache»: Nur wer Sprache und Bildungssprache einer bestimmten Region mindestens annähernd als Erstsprache verwenden kann, besitzt intakte Chancen auf eine persönliche und berufliche Entwicklung in dieser bestimmten räumlichen, sprachlichen und sozialen Umgebung (siehe Abschnitt 1.1).
Mythos «Sprachzerfall»: Sprachkompetenz und Sprachvarietäten schwinden von Generation zu Generation. Mehrsprachigkeit ist ein neueres Phänomen und geht mit dem Untergang von autochthoner Kultur einher (siehe Abschnitt 1.2).
Mythos «Sprachbegabung»: Sprach- (oder Mathematik-)Vermögen ist primär von der individuellen Begabung abhängig und nur mit grossen Mühen durch Bildung und Lernen beeinflussbar (siehe Abschnitt 1.3).
Diese Mythen wirken, unabhängig davon, ob sie empirisch stimmen oder nicht (zu Sprachideologien vgl. auch Busch 2017, S. 82–84). Wie und ob Individuen eine bestimmte Sprache verwenden, nicht verwenden oder nicht den Konventionen entsprechend verwenden, beeinflusst Lernende, Lehrende und Entscheidungsträger in der Bildungspolitik. Was in einem kulturellen Kontext über Sprachen gedacht wird, beeinflusst die Personen, die diese Sprachen verwenden, und hat Auswirkungen darauf, was ihnen geschieht (Afra Sturm in diesem Band, hier). Sich verständlich auszudrücken, widerspricht beispielsweise gewissen impliziten Wissenschaftskonventionen (vgl. Langer/Schulz von Thun/Tausch 2011, S. 159 f.). Dies zeigt sich in Texten, in formellen oder familiären Gesprächen und in der Interaktion von Personen verschiedener Herkunftssprachen. Stets markiert Sprachverwendung auch den sozialen und intellektuellen Status, weit über ihre rein kommunikative Funktion hinaus. Sprache fungiert als zentraler Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe oder gesellschaftlichen Ausschluss.
Die folgende selektive Diskussion der drei genannten Mythen bewegt sich mehr auf einer soziologischen und weniger auf sprachdidaktischer oder linguistischer Ebene, da Mythen eher gesellschaftliche Wirkungen und nicht empirisch fundierte Forschungsergebnisse erklären. In der Diskussion versuchen wir, subjektive Theorien über das Sprachenlernen, die mindestens teilweise auf diesen als Tatsachen getarnten Mythen beruhen, einer – auch didaktisch – weiterführenden Argumentation zugänglich zu machen.
Die Erwartung, dass die lokale Sprache in ihrer bildungssprachlichen Form kompetent verwendet werden muss, um Bildungserfolg zu erreichen, ist in der Schweiz so dominant und im Bereich der öffentlichen Volksschule derart allgemein akzeptiert, dass sich eine weiter greifende Betrachtung lohnt. Wilhelm von Humboldt beschrieb 1836, wie Sprache und Herkunft zusammen zu denken sind:
«Gerade aber die Vertheilung in Nationen beweist die gar nicht äusserliche, sondern ganz innerliche Natur der Sprache […]. Der innige Zusammenhang der Sprache mit der physischen Abstammung, und dadurch ihr Ursprung aus der Tiefe des Wesens und die durch die Abstammung bedingte Einheit der menschlichen Natur gehen auch aus den gewöhnlichen Thatsachen hervor, dass die vaterländische Sprache für die Gebildeten und Ungebildeten eine viel grössere Stärke und Innigkeit besitzt, als eine fremde, dass sie das Ohr, nach langer Entbehrung, mit einer Art plötzlichen Zaubers begrüsst und in der Ferne mit Sehnsucht berührt, dass dies […] gerade auf dem Unerklärlichen, dem Individuellsten, auf ihrem Laute beruht, dass es ist, als wenn man mit dem heimischen einen Theil seines Selbst vernähme.»
Humboldts Beschreibung ist charakteristisch für ihre Entstehungszeit, in der sich in Europa sprachlich homogenere Nationen bildeten. Die Idee von Sprache und Kultur als einigendem Band stellt allerdings wiederum den inneren Zusammenhalt von politischen Einheiten infrage (Baskenland, Kurdistan, Kanton Jura) und führt bis heute dazu, dass Sprachen von Minderheiten, etwa griechische oder albanische Sprachvarietäten in Süditalien, systematisch ausgemerzt werden. Humboldts Gedanken sind, 200 Jahre nachdem sie formuliert wurden, in Alltagstheorien verankert und beeinflussen die politische Steuerung des Umgangs mit Sprache. Die inländische Sprachenvielfalt (in der Schweiz etwa das Rätoromanische, in Kanada etwa das Französische und die indigenen Sprachen) wird zwar – von den Sprachmehrheiten durchaus auch etwas widerwillig – gepflegt. Aber Begriffe wie Deutsch als Zweitsprache, DaZ, implizieren, dass Sprachenvielfalt nicht an sich als Wert anerkannt wird und Ziel des Unterrichts primär die Anpassung an die lokale Mehrheitssprache ist. DaZ ist im Übrigen bereits eine begriffliche und gedankliche Weiterentwicklung von Deutsch als Fremdsprache, eine Wendung, die heute nur mehr verwendet wird, wenn die Umgebungssprache der Deutsch-Lernenden nicht Deutsch ist. Allerdings verdecken Bezeichnungen wie «fremdsprachige Jugendliche», «DaZ-Schüler» oder «Schülerinnen mit anderer Erst- oder Herkunftssprache» die Tatsache, dass Lehrpersonen und Dozierende mit Gruppen von grösstenteils «mehrsprachigen Menschen» arbeiten. Eine Umschreibung wie DaZ impliziert und verfestigt die Vorstellung, dass nur die einheimische Bildungssprache den Zugang zur weiterführenden Ausbildung ermöglichen kann.
Dies zeigt, dass nach den emanzipatorischen Schritten der 1980er- und 1990er-Jahre weitere folgen müssen. Damals wurden zahlreiche didaktische Handreichungen publiziert, die teilweise auch die soziale Schicht berücksichtigten, wie das «Handbuch für den Deutschunterricht mit ausländischen Arbeitern» (Barkowski/Harnisch/Kumm 1980). Etwas später entstanden die – bis heute laufend weiterentwickelten – Lehrgänge für Lehrpersonen, die DaZ unterrichten. Immer noch liegt die Perspektive beim einheimischen Standardmenschen in einer sozial unmarkierten Version: Er benutzt Bildungssprache als eine seiner Erstsprachen und erlernt sie in Schule und Familie – in der deutschen Schweiz in den beiden Varietäten der hochdeutschen und der schweizerdeutschen Bildungssprache. Diesem Standardmenschen sollen Kinder und Jugendliche möglichst früh und gut angeglichen werden. Die realen Mehrsprachigkeiten[1] der Schweiz werden dabei entweder ausgeblendet,[2] oder der Umgang damit ist betont freiwillig[3] beziehungsweise wird nur in eng eingegrenzten Zusammenhängen verlangt. So nahmen etwa über Movetia, der Nationalen Agentur für Austausch und Mobilität, im Jahr 2018 nur rund zwei Prozent der Lernenden in der Volksschule und gymnasialen Sekundarstufe II an einem Sprachaustausch innerhalb der Schweiz teil (Movetia 2019, S. 11). Diese niedrige Zahl erstaunt, weil die Schweiz als offiziell viersprachiges Land für solche Formen des Sprach- und Kulturerwerbs geradezu prädestiniert sein müsste und weil sich die Arbeitswelt an einer Mehrsprachigkeit der Berufslernenden interessiert zeigt (vgl. Grin 2013). Allerdings ist für die – vor allem mittleren und kleinen – Lehrbetriebe der Berufsbildung und die einzelnen interessierten Lehrpersonen der Organisationsaufwand nach wie vor enorm und nicht integraler Bestandteil von Bildungskonzepten.
Demnach lässt sich konstatieren, dass die Relevanz von Sprachen (bildungs-)politischen Ideologien unterliegt. Entsprechend wird oft mit «Chancengleichheit» argumentiert, wenn es um die Relevanz von Bildungssprache geht. Erzählungen über Ausländer*innen, die es – trotz Anderssprachigkeiten – geschafft haben, bestätigen den Mythos.
Dies verdeutlicht, dass Sprache ein Machtinstrument ist (siehe den Beitrag von Vetterli in diesem Band, hier). Wer an der Macht teilhaben will, muss eine bestimmte Sprache beziehungsweise Sprachvarietät und das damit verbundene (Welt-)Wissen (vgl. Busch 2017, S. 81–95) der Mächtigen beherrschen. Dieses Phänomen zeigt sich global. So gilt in Australien Englisch in Hochschulen und Schulen unbestritten als Bildungssprache, wird entsprechend gelernt und verwendet. Dennoch zeigen die Sprachbiografien der australischen Lernenden, dass weit weniger als die Hälfte von ihnen Englisch als Erstsprache bezeichnet. Sie nennen Englisch jedoch auch nicht ihre Zweitsprache und verwenden verschiedene Sprachen gleich oft (vgl. Klug 2014). Ähnliche Tendenzen finden sich in Europa. Denken wir an internationale Schulen, die kaum daran interessiert sind, die lokale Sprache in ihr Curriculum zu integrieren. Sie setzen auf Englisch. Offenbar funktioniert eine globalisierte Elite ohne Kenntnisse der lokalen Sprachen mit Englisch als Lingua franca (vgl. Volksschulamt Kanton Zürich o. J.).
Sprachen und Kulturen wandeln sich. Wandel verursacht neben Begeisterung stets auch Verunsicherung. Oftmals entsteht dabei eine Reibungsfläche zwischen Generationen und entsprechend auch im Verständnis von Bildung. Sieber und Sitta haben gezeigt, wie die altbekannte Klage über den Sittenverfall mit der Klage über den Sprachzerfall einhergeht. Politisch gesehen, funktioniert das Argument des Sprachzerfalls perfekt. Es berührt archetypische Ängste. Linguistisch ist jedoch erwiesen, dass es keinen Sprachzerfall gibt, sondern lediglich Sprachwandel. Es reduzieren sich weder Aktiv-Wortschätze, noch nimmt die Ausdruckskraft ab. Vielmehr verändern sich Wortschätze und dasjenige, was Sprachen in einer jeweiligen Zeit prägnant beschreiben. Ob dieser Wandel nun in einer Sprache geschieht oder ob er mehrere Sprachen tangiert, ist, sachlich gesehen, nicht zu werten. Es sei denn, man ginge, wie Humboldt in unserem Eingangszitat, davon aus, dass die Sprache einer Gruppe eine mystische Identität schafft (Sieber/Sitta 1994, S. 15–18).
Eine souverän mehrsprachige Person ist, so die Nebentöne und stereotypen Vorstellungen, eventuell auch fleissig. Sicher jedoch ist sie zufällig mit Begabung und vielleicht zusätzlich mit einer besonderen individuellen Biografie reich beschenkt worden. So weit der Mythos. Tatsächlich macht Begabung, gefasst mit dem Modell des Intelligenzquotienten gemäss zahlreichen Untersuchungen einen wesentlichen Teil des Schulerfolgs aus (vgl. Khan 2018, S. 344 f).
Der Mythos der Sprachbegabung allerdings bremst – wie die übrigen – den fördernden Umgang mit Sprachen im Bildungssystem, impliziert er doch eine von aussen wenig beeinflussbare Sprachkompetenz, die Bildungsversuche unterläuft oder sie unnötig macht: Lehrpersonen und Dozierende erwarten so mitunter von Lernenden, die vor Kurzem aus Deutschland eingereist sind, dass sie bessere Texte schreiben als Schweizer derselben Gruppe, und reproduzieren diese Annahme gleich selbst über die Benotung. Weiter verführt dieser Mythos Fachleute beim Erstellen von Lehrplänen dazu, dass sie für Mehrsprachigkeiten weder Förderung noch spezifische Beachtung vorsehen und Sprachenlernen in sämtlichen Schulfächern auf eine marginale Rolle verwiesen bleibt. Kurz: Forschungsergebnisse bleiben didaktisch weitgehend wirkungslos, obschon sie belegen, dass sprachfördernde Lehrpersonen den inhaltlichen Lernstoff mit Lese- und Schreibunterricht verbinden (vgl. Neuland/Peschel 2013, S. 246; Hattie 2009, S. 259).
Weiter vernachlässigt der Mythos der Sprachbegabung die Wirkung der sozioökonomischen Herkunft der Personen, die eine Sprache sprechen oder lernen: Es ist relevant, ob die Eltern eines Kindes mit albanischer Erstsprache im diplomatischen Dienst tätig sind oder Arbeiten ausführen, die keinen formalen Bildungsabschluss verlangen.
Zusammenfassend lässt sich zu den Mythen über Mehrsprachigkeiten, deren es noch weitere gibt – etwa, dass nur Kinder eine Sprache voll und ganz erwerben können – Folgendes festhalten: Zukunft und Gegenwart sind mehrsprachig, und zwar in einem Masse, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken, inwiefern die Arbeit mit einer einzigen Bildungssprache pro Region tatsächlich sinnvoll ist. Diskurse darüber, wie Mehrsprachigkeiten zu behandeln sind, müssen von Mythen befreit und in politischen Zusammenhängen gesehen werden. Was eine bestimmte Sprachverwendung bedeutet und bewirkt, sollte in der Schule und im Studium thematisiert werden.
Mehrsprachigkeiten erfassen kommunikative, identitätsstiftende Realitäten im gesamten Lebenskontext. Die öffentliche Bildung hat Lernende optimal darauf vorzubereiten.
Wir unterscheiden grob zwei Formen von Mehrsprachigkeiten, die sich nicht scharf voneinander trennen lassen.
Einerseits wird die «Landessprache» in unterschiedlichen beruflichen und Bildungssituationen verwendet. Stichworte dazu sind Fachsprachen, Berufssprachen oder Firmensprachen. Dazu gehören auch die diversen Formen von Alltagssprachen und Sprachregistern, mit denen Menschen Beziehungen, Zugehörigkeit und Distanz ausdrücken. Wie sich diese Mehrsprachigkeit – auch individuell – entwickelt, zeigt sich besonders deutlich in der Altersphase zwischen 16 und 30 Jahren: Nicht nur markieren Berufs- und Gruppensprachen die Entwicklung von (beruflichen) Identitäten, sie befördern sie auch.
Andererseits stehen mehrere Herkunfts-, Landes- oder Unternehmenssprachen wie etwa Albanisch, Deutsch und Englisch sowohl getrennt also auch sich durchdringend in verschiedenen Kontexten nebeneinander und sind dabei nicht gleichwertig oder gleichberechtigt.
Lernkontexte funktionieren vorab sprachlich, und ein Grossteil der Lernenden und Lehrenden lebt in komplexen mehrsprachigen Identitäten. Neben dem Unterricht, der offiziell in der Bildungssprache stattfindet, verwenden sie, in den Korridoren, auf dem Campus oder dem Pausenplatz, verschiedene Soziolekte, Wissenschafts- und Berufssprachen. Bestimmte Sprachen werden je nach Kontext auch versteckt, in der Schweiz etwa Serbisch während des Jugoslawienkriegs.
«Mehrsprachigkeiten» – gezielt im Plural verwendet – meint also die Vielfalt an Sprachen, Sprachverwendungen und Sprachregistern im Kontext der Professionalisierung und die Formen ihres Erwerbs (gesteuerter oder ungesteuerter Spracherwerb).
Für den Unterricht in Deutsch als Zweitsprache existieren zahllose Hilfestellungen und Ideensammlungen, die meisten davon allerdings nur für die Volksschule. Auch sind ausgreifende didaktische Anregungen zur «Förderung der Schulsprache in allen Fächern» (Neugebauer/Nodari 2016) selten. Was fehlt, wird oftmals an den Sprachunterricht/allgemeinbildenden Unterricht delegiert. An Hochschulen gibt es für das «Fehlende» spezifische Dienstleistungen (Kurse), manchmal auch Dienstleistungsstellen (Sprachzentren, Schreibzentren u. a.).
Der vorliegende Band versucht, in diese Lücke zu springen, mit dem Risiko, den Erwartungen nicht gerecht zu werden. Wir beleuchten den Umgang mit Sprache auf der Sekundarstufe II und Hochschulstufe, berücksichtigen dabei Dimensionen von Mehrsprachigkeiten und geben Hinweise für die Unterrichtspraxis. Es gibt vier gute Gründe, dieses unmögliche Unterfangen zu wagen:
Mehrsprachigkeiten an sich sind kein Grund für Schulerfolg oder -misserfolg. Der sogenannte Migrationshintergrund ist keine aussagekräftige Kategorie, haben doch gewisse migrierte Einwohner*innen der Schweiz sogar einen durchschnittlich besseren Schulerfolg als die einheimische Bevölkerung. Erst in Kombination mit der sozialen Schicht können Mehrsprachigkeiten Misserfolg in der Schule erklären (Khan 2018, S. 386–399). Daher sind Lehrende, auch wenn kein sprachliches Fach im Vordergrund steht, angehalten, mit der Dimension der Mehrsprachigkeiten bewusst und gezielt umzugehen.
Mehrsprachigkeiten sind die Norm und nicht eine Störung des Unterrichts. Diese Haltung von Lehrpersonen ist produktiv für den Unterricht (Khan 2018, S. 406–429). Mehrsprachigkeiten zu akzeptieren, zu berücksichtigen, sie als Chance wahrzunehmen und auch didaktisch zu verwenden, dazu bedarf es viel Übung. Hier können persönliche Überzeugungen und subjektive Theorien das Unterrichtsgeschehen behindern. Etwa: Wenn die Volksschule das nicht geschafft hat, dann die Berufsbildung erst recht nicht. Zentral ist die Überzeugung der Lehrenden – wie immer beim Unterrichten –, dass Menschen lernen wollen und aus verschiedenen Kontexten und Perspektiven heraus unterschiedlich lernen. Zu dieser Haltung gehört auch ein offener Blick auf die vorhandenen sprachlichen und kulturellen Ressourcen. Wir plädieren dafür, dass diese Haltung professionell unterfüttert wird mit didaktischem Know-how zu Scaffolding, Arbeit mit Textsorten, effektivem Sprachenlernen sowie Kenntnissen über Besonderheiten der deutschen Sprache allgemein und der Bildungssprache (vgl. Schader 2012). Auf diese Weise nähern sich Lehrende dem Ziel, Sprachförderung in jedem Fach, jeder Lehrveranstaltung und jedem Seminar zu betreiben.
Der Spracherwerb, das Sprachlernen ist weder auf der Sekundarstufe II noch auf der Hochschulstufe abgeschlossen. Ab Sekundarstufe II beginnt die Sprachentwicklung hin auf elaboriertes Leseverstehen, materialgestütztes Schreiben sowie angemessene mündliche und schriftliche Sprache in bestimmten Berufen und Disziplinen. Gerade in Naturwissenschaften ist die Studiensprache ganz oder teilweise Englisch. Auch diese Form des Englischen muss eingeübt werden, sind doch die Gepflogenheiten wissenschaftlichen Schreibens auf Englisch andere als auf Deutsch (vgl. Sieber 1994 sowie Jörissen/Verhein in diesem Band).
Berufslernende und Studierende sind nicht grenzenlos fähig, mit eigenen Mehrsprachigkeiten umzugehen. Es ist Aufgabe der Lehrenden und der Bildungsinstitutionen, sie dabei aktiv zu unterstützen. Entwicklungspsychologisch gesehen, verhindern Pubertät und Adoleszenz als Phasen der Identitätsbildung aufgrund der oben dargestellten sozialen Bedingungen tendenziell, dass junge Menschen souverän mit ihrer mehrsprachigen Identität umgehen. In der Adoleszenz – und auch später – vermeiden es Menschen besonders in formellen Settings, auf persönliche Hintergründe hinzuweisen, die nicht der Norm entsprechen. Sie gehen bewusst oder unbewusst davon aus, dass offener Umgang mit Mehrsprachigkeiten dem Selbstwert, ihrem Ansehen und der Karriere schaden kann (Honegger/Sieber 2013). Wenn sie lernen, dass Mehrsprachigkeiten in einem formellen Umfeld (Beruf, Schule) negativ konnotiert werden, verstecken sie sie. Dies gilt besonders für sozial markierte Sprachen wie jamaikanisches Patois oder für «uninteressante» Sprachen wie Tigrinya – wobei in beiden Fällen (heute noch) die Hautfarbe dem Aufgehen im Mainstream einen Riegel vorschiebt. Bilaterale Bildungssettings (vgl. Thomann/Honegger/Suter 2016) würden einen bewussten Umgang mit der Situation des «anders und gleichzeitig nicht anders sein Wollens» ermöglichen und auch generell Vielfalten in der Bildung berücksichtigen können.
Teil A bietet differenzierte Blicke auf die Sprachenvielfalten in der schulischen Praxis und an den Stufenübergängen, welche die hohe Komplexität, die hier berücksichtigt werden muss, offenbaren:
Afra Sturm zeigt das Konzept der Enkulturation auf, in das sie die Arbeit mit Feedback integriert, die für Lernen immer zentral ist. Insbesondere stellt sie dar, wie inhaltliche und prozessuale Aspekte des Modellierens den Spracherwerb aller Lernenden gleichermassen unterstützen.
Inwiefern erfassen Übertrittsprüfungen in die Sekundarstufe II tatsächlich diejenigen Kompetenzen, die bei mehrsprachigen Jugendlichen für Bildungs- und Berufserfolg relevant sind? Dies diskutieren Mathias Müller und Anja Winkler. Als Basis dienen ihnen ihre schweizweiten Untersuchungen zu Übertrittsprüfungen in die gymnasiale Sekundarstufe II.
Kirsten Schindlers Beitrag verdeutlicht die sprachlichen Realitäten, die Lehramtsstudierende zu bewältigen haben. Sie verwendet dazu das Modell der Mehrstimmigkeiten, das unterschiedliche Sprachverwendung in diversen Rollen (Studierende, Praktika als Lehrperson) im Studium erfasst und reflektiert.
Sandra Buchmann und Nadine Vetterli beleuchten in ihren praxisorientierten Essays mögliche Realitäten im Unterricht mit mehrsprachigen Lernenden an Berufsfachschulen. Sie zeigen auf, wie Berufslernende je nach Lebenskontext sprachlos werden, nicht am (Unterrichts-)Geschehen teilnehmen und nicht lernen können. Weiter weisen sie auf Ansätze hin, mit denen diese «kontextuelle» Sprachlosigkeit aufgelöst werden kann.
Dieser Teil bietet Werkzeuge für didaktisches Handeln, das beim Sprachenlernen unterstützt. Die Frage, wie und ob mehrere Sprachen in Individuen eine gegenseitige positive oder negative Transferwirkung erzeugen, lässt sich noch nicht beantworten: Der Forschungsstand zeigt zwar Korrelationen auf, jedoch lassen sich die konkreten Wirkungen einzelner didaktischer Massnahmen bis anhin evidenzbasiert nicht nachweisen (Lambelet u. a. 2020; Berthele/Lambelet 2018).
Saskia Sterel und Manfred Pfiffner erläutern das Lese-Diagnose-Tool «Judit» für mehrsprachige Lernende der Sekundarstufe II. Sie informieren über die didaktische Basis und den Aufbau von «Judit» und formulieren Implikationen für dessen didaktische Langzeitwirkung.
Das Scaffolding und inwiefern es beim Lernen auf Sekundarstufe II sowie auch mit Studierenden eingesetzt werden kann, präsentiert Alex Rickert. Er hat dafür den aktuellen Stand des Wissens anhand eines konkreten Beispiels von wissenschaftlichem Schreiben aufgearbeitet.
Einen Prozess, der auch mehrsprachige Studierende bei ihren Abschlussarbeiten im Studium fördert, stellen Stefan Jörissen und Eva Buff Keller dar. Sie zeigen, wie diese komplexe Situation, in der Lernen, Beraten und Beurteilen zu kombinieren sind, produktiv gestaltet werden kann.
Beatrice Müller