Mein gelobtes Land - Ari Shavit - E-Book
SONDERANGEBOT

Mein gelobtes Land E-Book

Ari Shavit

4,9
19,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die große Geschichte Israels

Der renommierte Journalist Ari Shavit sieht Israel in einer halt- und ausweglosen Lage: als jüdisch-westlicher Staat in einer arabisch-islamischen (Um-)Welt seit seiner Gründung in der Existenz bedroht, andererseits Okkupationsmacht über ein anderes, das palästinensische Volk. Der Innovationskraft und Lebensfreude seiner Menschen stehen ein bröckelndes Gemeinwesen, zermürbende Konflikte, militärische Scheinerfolge und der Verlust internationalen Ansehens gegenüber. Was als gemeinschaftlicher hoffnungsfroher Aufbruch begann, insbesondere nach den Schrecken des Holocausts, der gemeinsame Bau von Eretz Israel, ist heute allgemeiner Desillusion und Desintegration gewichen. Shavit erzählt, zunächst auf den Spuren seines zionistischen Urgroßvaters, eine sehr persönliche Geschichte Israels während der letzten anderthalb Jahrhunderte, von Erfolgen im steten Überlebenskampf, aber auch von schuldbehafteter Tragik und unübersehbarem Niedergang.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 933

Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
16
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ARI SHAVIT

MEINGELOBTESLAND

TRIUMPH UND TRAGÖDIE ISRAELS

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Müller

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe ist 2013 unter dem Titel »My Promised Land: The Triumph and Tragedy of Israel« bei Spiegel & Grau, New York, erschienen.Das Kapitel »Am Meer« wurde übersetzt von Susanne Kuhlmann-Krieg.Das Copyright an dieser Karte liegt bei Mapping Specialists Ltd.

1. Auflage

© 2013 by Ari Shavit

© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: buxdesign München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-14821-8www.cbertelsmann.de

Für Timna, meine Liebe

INHALT

EINLEITUNG: Fragezeichen

EINS: Ein erster Blick, 1897

ZWEI: Ins Tal hinein, 1921

DREI: Der Orangenhain, 1936

VIER: Masada, 1942

FÜNF: Lydda, 1948

SECHS: Wohnungsbau, 1957

SIEBEN: Das Projekt, 1967

ACHT: Besiedlung, 1975

NEUN: Gaza-Strand, 1991

ZEHN: Frieden, 1993

ELF: J’accuse, 1999

ZWÖLF: Sex, Drugs und die Zustände im Land, 2000

DREIZEIHN: Nach Galiläa hinauf, 2003

VIERZEHN: Realitätsschock, 2006

FÜNFZEHN: Occupy Rothschild, 2011

SECHZEHN: Existenzielle Herausforderung, 2013

SIEBZEHN: Am Meer

DANK

QUELLENHINWEISE

PERSONENREGISTER

ORTS- UND SACHREGISTER

© Micha Bar-Am/Magnum Photos

EINLEITUNG____________________

Fragezeichen

SO WEIT MEINE ERINNERUNG ZURÜCKREICHT, habe ich Angst verspürt. Existenzielle Angst. Das Israel, in dem ich aufwuchs – das Israel Mitte der Sechzigerjahre –, war ein energiegeladenes, quirliges und hoffnungsvolles Land. Doch ich hatte immer das Gefühl, jenseits der stattlichen Häuser der oberen Mittelschicht und der gepflegten Rasenflächen in meiner Heimatstadt würde ein finsteres Meer liegen. Eines Tages, so fürchtete ich, würde dieses Meer anschwellen und uns alle verschlingen. Ein Tsunami mythologischen Ausmaßes würde über unseren Küsten zusammenschlagen und mein Israel fortreißen. Es würde zu einem neuen Atlantis werden, versunken in den Tiefen der See.

Eines Morgens im Juni 1967, ich war neun Jahre alt, traf ich im Badezimmer meinen Vater beim Rasieren an. Ich fragte ihn, ob die Araber gewinnen würden. Würden sie unser Israel erobern? Würden sie uns wirklich alle ins Meer treiben? Kurz danach brach der Sechs-Tage-Krieg aus.

Im Oktober 1973 begannen die Sirenen zu heulen und kündigten unmittelbar bevorstehendes Unheil an. Ich lag an jenem Nachmittag von Jom Kippur, dem Tag der Versöhnung, mit Grippe im Bett, während draußen F-4-Kampfflugzeuge am Himmel entlangrasten. Sie flogen in einer Höhe von nur 150 Metern über unser Dach hinweg, auf dem Weg zum Suezkanal, um die ägyptischen Invasionstruppen, die uns überraschend angegriffen hatten, abzuwehren. Viele von ihnen kehrten nicht zurück. Ich war sechzehn und innerlich wie versteinert, als die Nachricht vom Zusammenbruch unserer Stellungen in der Wüste Sinai und auf den Golanhöhen eintraf. Zehn entsetzliche Tage lang sah es so aus, als ob meine Urängste gerechtfertigt gewesen wären. Israel war in höchster Gefahr. Die Mauern des Dritten Tempels gerieten ins Wanken.

Im Januar 1991 brach der Zweite Golfkrieg aus, auch Erster Irakkrieg genannt. Irakische Scud-Raketen gingen auf Tel Aviv nieder. Man war besorgt wegen eines möglichen Angriffs mit chemischen Waffen. Wochenlang nahmen die Israelis überall, wo sie hingingen, ihre Gasmasken mit. Kündigte ein Warnsignal einen sich nähernden feindlichen Flugkörper an, schlossen wir uns manchmal mit der Maske vor dem Gesicht in einen hermetisch abgeschlossenen Schutzraum ein. Wenn sich auch später immer wieder herausstellte, dass keine echte Gefahr bestanden hatte, war an diesem surrealen Ritual etwas Erschreckendes. Ich horchte angestrengt auf das Heulen der Sirenen und starrte voller Bestürzung in die angstgeweiteten Augen meiner Liebsten hinter den Gläsern der Gasmasken aus deutscher Fabrikation.

Im März 2002 erschütterte eine Welle von Terroranschlägen das Land. Hunderte kamen ums Leben, als palästinensische Selbstmordattentäter in Bussen, Klubs und Einkaufszentren Bomben zündeten. Als ich eines Nachts in Jerusalem in meinem Arbeitszimmer am Schreibtisch saß, ertönte plötzlich ein lauter Knall. Er musste aus der Kneipe in der Nähe gekommen sein. Ich schnappte mir meinen Notizblock und rannte nach draußen, hin zu dem Ort des Geschehens. Drei gut aussehende junge Männer hingen an der Bar vor ihren halb vollen Bierkrügen – tot. Eine zierliche junge Frau lag in einer Ecke – ebenfalls tot. Andere Gäste, die verwundet waren, schrien oder wimmerten. Als ich mir im Licht der Flammen, die in dem in die Luft gejagten Lokal loderten, das Inferno um mich herum anschaute, fragte der Journalist, der ich inzwischen war: Was wird werden? Wie sollen wir mit diesem Wahnsinn fertigwerden? Wird die Zeit kommen, da die Dynamik, für die wir Israelis bekannt sind, vor den tödlichen Kräften, die uns zu vernichten suchen, kapituliert?

Der eindeutige Sieg 1967 zerstreute die Ängste der Vorkriegszeit. Der ökonomische Aufschwung, der Mitte der Siebzigerjahre begann und sich in den Achtzigern fortsetzte, schloss die tiefe Wunde von 1973. Der Friedensprozess in den Neunzigern heilte das Trauma von 1991. Der Wohlstand, der gegen Ende des 20. Jahrhunderts aufkam, ließ die Schrecken von 2002 schnell vergessen. Gerade weil wir Israelis von Ungewissheiten umgeben sind, glauben wir hartnäckig an uns selbst, an unseren Staat – und an unsere Zukunft. Doch was mich persönlich betrifft, wich im Lauf der ganzen vergangenen Jahre meine unterdrückte Angst nie von mir. Es war tabu, über diese Angst zu reden oder sie offen zum Ausdruck zu bringen, aber sie begleitete mich, wohin ich auch ging. Unsere Städte schienen mir auf Sand gebaut zu sein. Unseren Häusern schien es an Festigkeit zu fehlen. Selbst als mein Land immer stärker und reicher wurde, kam es mir höchst verletzlich vor. Mir wurde bewusst, wie exponiert wir waren, ständig irgendwelchen Bedrohungen ausgesetzt. Es stimmte: Wir führten weiterhin ein intensives, reiches und in vielfacher Hinsicht glückliches Leben. Israel flößt ein Gefühl von Sicherheit ein, bedingt durch seinen physischen, ökonomischen und militärischen Erfolg. Unser Alltag zeichnet sich durch eine erstaunliche Lebendigkeit aus. Und doch ist unterschwellig ständig die Furcht präsent, dass diese Kraft eines Tages erstarren könnte, so wie Lava und Asche des Vesuvs das Leben in Pompeji zum Erstarren brachten. Mein geliebtes Heimatland wird vernichtet werden, wenn riesige Scharen von Arabern oder mächtige islamische Streitkräfte seine Verteidigungslinien durchbrechen.

So weit meine Erinnerung zurückreicht, hat Israel fremde Territorien besetzt gehalten. Nur eine Woche, nachdem ich meinen Vater gefragt hatte, ob die arabischen Staaten Israel erobern würden, eroberte Israel die von Arabern bewohnten Gebiete des Westjordanlands und des Gaza-Streifens. Einen Monat später brachen meine Eltern, mein Bruder und ich zu einem Familienausflug in die besetzten Städte Ramallah, Bethlehem und Hebron auf. Wo immer wir hinkamen, trafen wir auf die Überreste ausgebrannter jordanischer Jeeps, Trucks und anderer Militärfahrzeuge. Weiße Kapitulationsfahnen hingen an den meisten Häusern. Die von den Ketten israelischer Panzer plattgewalzten Karosserien nobler Mercedes-Limousinen blockierten einige Straßen. Palästinensischen Kindern, die in meinem Alter oder jünger waren, stand die Angst in den Augen. Ihre Eltern wirkten wie am Boden zerstört und erniedrigt. Innerhalb weniger Wochen hatten sich die mächtigen und furchtgebietenden Araber in hilflose Opfer verwandelt, während aus den bedrohten Israelis Eroberer geworden waren. Der jüdische Staat war siegestrunken und von Stolz und einem berauschenden Gefühl von Macht erfüllt.

Als Teenager fand ich das alles noch in Ordnung. Der allgemeinen Ansicht nach übten wir eine wohlwollende und wohltätige Art von Besatzung aus. Das moderne Israel ließ Fortschritt und Prosperität in den Palästinensergebieten Einzug halten. Unsere rückständigen Nachbarn verfügten jetzt auch über Elektrizität und fließendes Wasser und ein öffentliches Gesundheitswesen – alles Dinge, die sie vorher entbehrt hatten. Sie mussten erkennen, dass es ihnen noch nie so gut ergangen war. Sie mussten uns dankbar für das sein, was wir ihnen geschenkt hatten. Und würde eines Tages Frieden einkehren, würden wir ihnen den größten Teil der besetzten Gebiete zurückgeben. Fürs Erste war jedoch im Land Israel alles in Ordnung. Araber und Juden lebten zusammen – in Ruhe und im Überfluss.

Doch als ich meinen Militärdienst ableistete, dämmerte mir, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Als Mitglied einer Eliteeinheit der Fallschirmspringerverbände der IDF, der Israel Defense Forces, wurde ich in genau jenen besetzten Städten stationiert, die ich zehn Jahre zuvor als Kind besucht hatte. Jetzt war ich damit beauftragt, die schmutzige Arbeit zu erledigen: Wachestehen an Kontrollpunkten, Festnahmen in Privathäusern, gewaltsame Auflösungen von Demonstrationen. Was mich am meisten traumatisierte, war das überfallartige Eindringen in Wohnhäuser, um junge Männer aus ihren warmen Betten zu mitternächtlichen Verhören zu schleifen. Ich fragte mich, was zum Teufel da eigentlich ablief. Wieso musste ich zur Verteidigung meines Heimatlands Zivilisten tyrannisieren, die ihrer Rechte und ihrer Freiheit beraubt waren? Warum besetzte und unterdrückte mein Israel ein anderes Volk?

Ich wurde zu einem Pazifisten. Zuerst als junger Aktivist, dann als Journalist. Voller Leidenschaft protestierte ich gegen die Besetzung. In den Achtzigern opponierte ich gegen die Errichtung von Siedlungen in den Palästinensergebieten. In den Neunzigern engagierte ich mich für die Errichtung eines von der PLO regierten Palästinenserstaats. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gehörte ich zu den Befürwortern eines unilateralen Rückzugs Israels aus dem Gaza-Streifen. Doch nahezu alle Antiokkupationskampagnen, in die ich involviert war, schlugen am Ende fehl. Fast ein halbes Jahrhundert, nachdem ich mit meiner Familie jene Tour durch das besetzte Westjordanland unternommen hatte, untersteht das Gebiet immer noch israelischer Besetzung. Mag sie auch ein Unrecht und ein Übel sein, Besetzung ist ein integraler Bestandteil des jüdischen Staats geworden. Sie ist ebenso integraler Bestandteil meines Lebens als Bürger dieses Staats geworden. Obwohl ich gegen sie aufbegehre, bin ich für sie verantwortlich. Die Tatsache, dass mein Volk zu einem Volk geworden ist, das ein anderes besetzt hält, kann ich weder negieren, noch kann ich ihr entgehen.

Erst vor ein paar Jahren ging mir auf, dass zwischen meiner existenziellen Angst davor, was die Zukunft meines Landes betrifft, und meiner moralischen Empörung über seine Besatzungspolitik ein Zusammenhang besteht. Israel ist der einzige westliche Staat, der ein anderes Volk besetzt hält. Israel ist aber auch der einzige westliche Staat, der in seiner Existenz bedroht ist. Besetzung und Bedrohung machen zusammen die Seinsbedingungen Israels einzigartig. Besetzung und Bedrohung sind die beiden Eckpfeiler unserer Situationgeworden.

Beobachter und Kommentatoren negieren meist diese Dualität. Diejenigen, die politisch links sind, befassen sich mit der Besetzung, ignorieren aber die Bedrohung, während die vom rechten Lager die Bedrohung hervorheben, die Besetzung jedoch übergehen. Die Wahrheit ist, dass man, wenn man nicht beide Elemente in sein Weltbild aufnimmt, weder Israel noch den israelisch-palästinensischen Konflikt richtig verstehen kann. Jede Sicht der Dinge, die nicht beide dieser fundamentalen Faktoren miteinbezieht, ist zwangsläufig mangelhaft und führt zu nichts. Nur ein Denkansatz, bei dem das eine wie das andere mitberücksichtigt wird, kann realistisch und moralisch sein und eine zutreffende Geschichte des Staates Israel aufzeigen.

Ich wurde 1957 in der Universitätsstadt Rehovot geboren. Mein Vater war Wissenschaftler, meine Mutter Künstlerin, und einige meiner Vorfahren gehörten zu den Pionieren der zionistischen Unternehmung in Palästina. Mit achtzehn wurde ich wie die meisten Israelis zum Wehrdienst eingezogen und diente bei den Fallschirmspringern, danach studierte ich Philosophie an der Hebräischen Universität von Jerusalem. In jener Zeit trat ich der Friedensbewegung bei, später setzte ich mich für die Menschenrechte ein. Seit 1995 arbeite ich als Journalist für Israels führende liberale Zeitung Haaretz. Obwohl ich immer für den Frieden eingetreten bin und mich für die Zwei-Staaten-Lösung ausgesprochen habe, wurden mir nach und nach die Schwachstellen der Friedensbewegung bewusst, ihre einseitige Ausrichtung und Voreingenommenheit. Hinsichtlich der Bedeutung, die ich sowohl unserer Bedrohung als auch unserer Besetzung fremder Territorien beimaß. Und als Kolumnist stellte und stelle ich sowohl linke als auch rechte Dogmen infrage. Ich habe erkannt, dass es in Bezug auf den Nahen Osten keine einfachen Antworten gibt und keine Patentlösungen hinsichtlich des israelisch-palästinensischen Konflikts. Mir ist klar geworden, dass die Situation Israels außerordentlich komplex ist – vielleicht sogar tragisch.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ging es den Israelis gut. Der Terror legte sich, die Hochtechnologie erlebte in allen möglichen Bereichen einen Boom, das Leben allgemein war voller Dynamik. In wirtschaftlicher Hinsicht erwies sich das Land als Tiger. Grundsätzlich war es eine Hochburg von Energie, Kreativität und Attraktivität. Doch unter der Oberfläche, dieser schönen Fassade, mit der man eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte überzogen hatte, lauerte die Angst. Die Menschen begannen laut die Fragen zu stellen, die ich mir mein ganzes Leben lang gestellt hatte. Es ging nicht mehr nur um linke oder rechte Politik. Oder um »weltlich« kontra »religiös«. Irgendetwas weitaus Tiefgründigeres geschah. Vielen Israelis bereitete das neue Israel, das langsam Gestalt annahm, Unbehagen. Sie fragten sich, ob sie immer noch dem jüdischen Staat angehörten. Sie hatten ihr Vertrauen in Israels Überlebensfähigkeit verloren. Einige verschafften sich ausländische Pässe oder schickten ihre Kinder zum Studium ins Ausland. Die Oberschicht sorgte dafür, dass sie noch eine Alternative zum Leben in Israel, zum Israeli-Sein in der Hinterhand hatte. Obwohl die meisten Israelis ihr Heimatland nach wie vor liebten und seine Vorzüge priesen, verloren viele von ihnen ihren unerschütterlichen Glauben an seine Zukunft.

Seit Anbruch des zweiten Jahrzehnts dämpfen diverse Befürchtungen den Lebenshunger der Israelis – es sind vor allem folgende sechs: die Vorstellung, dass der israelisch-palästinensische Konflikt nicht in absehbarer Zeit beendet wird; die Sorge, dass Israels strategische Hegemonie in der Nahost-Region bedroht sein könnte; die Angst, dass die Legitimität des jüdischen Staats unterhöhlt wird; die Vermutung, dass es innerhalb einer zutiefst gewandelten israelischen Gesellschaft zu Spaltung und Polarisierung kommt; die Beobachtung, dass ihre liberal-demokratischen Fundamente zu verfallen beginnen; und zuletzt die Erkenntnis, dass die wechselnden Regierungen des Landes nicht in der Lage waren, mit solchen grundlegenden Problemen wie Besetzung und sozialer Desintegration fertigzuwerden, und dass dies wohl auch weiterhin so bleiben wird. Mit jeder einzelnen Angst ist ein Gefühl von Bedrohung verbunden, zusammen lassen sie ein dramatisches Gefühl von Gefährdetsein entstehen. Ist kein Friede herbeizuführen, wie sollen wir dann einen Konflikt überstehen, der über Generationen hinweg andauert? Wie, wenn unsere strategische Überlegenheit in Gefahr gerät, unsere Legitimität schwindet, unsere demokratische Identität zu Bruch geht und interne Meinungsverschiedenheiten unseren Zusammenhalt sprengen? Wird Israel auch weiterhin innovativ, attraktiv und energiegeladen bleiben, so ist doch der Zweifel für die Nation bestimmend geworden. Angst hat sich über das ganze Land gelegt wie der Unheil verkündende Schatten eines riesigen Vulkans.

Das ist es, was mich zu dieser Reise aufbrechen ließ. Nahezu siebzig Jahre nach seiner Gründung muss Israel sich wieder mit seinen Kernfragen auseinandersetzen. Nahezu 120 Jahre, nachdem er ins Leben gerufen wurde, ist der Zionismus wieder mit seinen grundsätzlichen Widersprüchen konfrontiert. Aktuell geht es nicht nur um die Besetzung fremder Territorien, man muss weit mehr infrage stellen. Und die Herbeiführung des Friedens ist nicht das alleinige Problem, das es zu lösen gilt. Alle Bürger dieses Staats müssen sich überlegen: Warum Israel? Was ist Israel? Wird Israel …?

Diese drei »Israel-Fragen« lassen sich nicht unter Zuhilfenahme von Polemik beantworten. Komplex, wie sie sind, kann man sie nicht durch Argumente und Gegenargumente klären. Dazu ist es erforderlich, die Geschichte des Staats Israel zu erzählen. Genau das habe ich in diesem Buch versucht. Auf meine eigene Weise, von persönlichen Meinungen und Einstellungen gefärbt, habe ich mich mit unserer Existenz insgesamt befasst. Es ist die Odyssee eines Israeli, der von dem historischen Drama, das sein Heimatland heimsucht, verwirrt ist und der sich bemüht, dessen Ursachen auf den Grund zu gehen. Es ist eine Reise durch Raum und Zeit eines in Israel Geborenen, um das Gemeinwesen, das sich Israel nennt, zu erkunden. Mithilfe der Geschichte meiner Familie, meiner eigenen Biografie und ausführlicher Interviews will ich die allgemeinere Israel-Story aufzeigen und darlegen, von welchen Problemen das Land durchdrungen ist. Was ist in meiner Heimat im Lauf des vergangenen Jahrhunderts und darüber hinaus vorgegangen, dass wir an dem Punkt angekommen sind, an dem wir uns heute befinden? Was wurde erreicht, und was ist fehlgeschlagen? Und vor allem: Auf was bewegen wir uns zu? Ist mein tief in mir sitzendes Gefühl von Angst wirklich begründet? Ist der jüdische Staat tatsächlich in Gefahr? Sind wir Israelis hoffnungslos in eine Tragödie verwickelt? Oder könnten wir vielleicht wieder neuen Mut fassen und uns selbst wie auch das Land, das wir so sehr lieben, retten?

© American Colony/Matson Collection, mit Genehmigung der Library of Congress

EINS____________________

Ein erster Blick, 1897

AM ABEND DES 15. APRIL 1897 befindet sich ein kleiner eleganter Dampfer auf dem Weg von Port Said in Ägypten nach Jaffa. Von den dreißig Passagieren an Bord sind zwanzig zionistische »Pilger« aus London, die über Paris, Marseille und Alexandria bis hierher an die Mittelmeerküste gelangt sind. Die Pilger stehen unter der Führung des ehrenwerten Herbert Bentwich, meines Urgroßvaters.

Bentwich ist ein ungewöhnlicher Zionist. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts rekrutieren sich die meisten Anhänger der Bewegung aus Osteuropa. Bentwich ist britischer Untertan. Die meisten Zionisten sind arm, er hingegen, ein Gentleman, ist finanziell unabhängig. Die meisten Zionisten sind säkular eingestellt, er jedoch ist ein gläubiger Jude. Für die meisten Zionisten jener Zeit ist der Anschluss an diese Bewegung der einzige Ausweg, es bleibt ihnen keine andere Wahl; er aber tritt ihr aus freien Stücken bei. Herbert Bentwich ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Juden sich wieder in ihrem alten Heimatland, Judäa, niederlassen müssen.

Die Pilgerfahrt, auf der die englischen Zionisten sich befinden, ist nicht weniger ungewöhnlich. Es handelt sich um die erste Reise britischer Juden aus der oberen Mittelschicht nach Eretz Israel. Aus diesem Grund misst der Begründer des politischen Zionismus, Theodor Herzl, dem Besuch der Gruppe im Land ihrer Vorväter solche Bedeutung bei. Er erwartet, dass Bentwich und seine Mitreisenden einen ausführlichen Bericht über das Land Israel verfassen. Herzls besonderes Interesse gilt den Einwohnern Palästinas, und er will wissen, wie groß die Aussichten auf eine erfolgreiche Kolonisierung des Gebiets sind. Er geht davon aus, dass dieser Bericht beim Ersten Zionistischen Kongress, der für Ende des Sommers in Basel geplant ist, vorgelegt werden wird.

Doch mein Urgroßvater ist weniger ambitioniert als der Wiener Publizist. Sein Zionismus, der älter ist als der Herzls, ist eher romantischer als politischer Natur. Doch auch er hat sich von der englischen Übersetzung von Herzls prophetischem Manifest Der Judenstaat mitreißen lassen. Er hat den Verfasser persönlich eingeladen in seinen renommierten Londoner Klub, und das Charisma des visionären Führers hat ihn überwältigt. Genau wie Herzl glaubt er, dass die Juden nach Palästina zurückkehren müssen. Doch als der Dampfer »Oxus« mit seinem flachen Rumpf durch das dunkle Wasser des Mittelmeers pflügt, ist Bentwich noch ein Unschuldiger. Mein Urgroßvater hat nicht die Absicht, Besitz von einem Land zu ergreifen und einen Staat zu gründen. Er will Gott gegenübertreten.

Ich verharre einen Moment an Deck. Ich versuche mir klarzumachen, warum die »Oxus«auf dem Weg nach Jaffa ist. Und wer genau ist dieser Vorfahr von mir? Warum ist er hier? Was hat ihn auf dieses Schiff geführt?

Kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es weltweit mehr als elf Millionen Juden. Von diesen sind gut sieben Millionen in Osteuropa beheimatet, zwei Millionen in Mittel- und Westeuropa und anderthalb in Nordamerika. Die Zahl der Juden in Asien, in Nordafrika und im Nahen Osten beläuft sich auf weniger als eine Million.

Lediglich in Nordamerika und in Westeuropa sind die Juden emanzipiert. In Russland werden sie verfolgt, in Polen diskriminiert. In islamischen Ländern besitzen sie den Status eines »geschützten Volks« und gelten damit als Bürger zweiter Klasse. Sogar in den Vereinigten Staaten, in Frankreich und Großbritannien sind sie nur dem Gesetz nach emanzipiert. Der Antisemitismus grassiert. Die Christenheit hat 1897 noch nicht ihren Frieden mit den Juden gemacht: Vielen fällt es schwer, sie als freie und gleichberechtigte Menschen zu behandeln, die sich ihres eigenen Werts bewusst sind.

Besonders in den Ostgebieten Europas leiden die Juden große Not. Eine neue Art von auf ethnischen Vorurteilen basierendem Antisemitismus löst den alten, religiös begründeten ab. Eine Welle von Pogromen erfasst jüdische Siedlungen und Gemeinden in Russland, Weißrussland, Moldawien, Rumänien und Polen. Den meisten Schtetl-Juden wird klar, dass es dort, wo sie zu Hause sind, keine Zukunft für sie gibt. Hunderttausende machen sich auf den Weg in die USA, das heißt zunächst nach Ellis Island. Es kommt zu einer neuen Diaspora, zu einer Massenmigration mit umwälzenden, teils entsetzlichen Folgen.

Was die Zukunft für die Juden bereithält, ist noch schlimmer als das, was ihnen in der Vergangenheit geschah. Im Lauf des nächsten halben Jahrhunderts wird ein Drittel von ihnen ermordet. Zwei Drittel der europäischen Juden werden ausgerottet. Die schlimmste Katastrophe in der Geschichte des jüdischen Volks ist dabei, sich anzubahnen. Als die »Oxus«sich der Küste des Heiligen Lands nähert, ist die Notwendigkeit, Palästina den Juden zu übergeben, beinahe mit Händen zu greifen. Wenn sie nicht dort an Land gehen, dann werden sie keine Zukunft haben. Vielleicht stellt die Küste, die sich am Horizont abzuzeichnen beginnt, wirklich das einzige rettende Ufer für sie dar.

Es gibt noch eine weitere Dringlichkeit. In den tausend Jahren vor 1897 bürgten zwei große G für das Überleben des Judentums und der Juden: Gott und das Ghetto. Was die Juden in die Lage versetzte, ihre Identität und ihre Kultur zu bewahren, waren ihre Nähe zu Gott und ihr Abgetrenntsein von der sie umgebenden nichtjüdischen Welt. Die Juden besaßen kein eigenes Territorium und kein Königreich, sie besaßen weder Freiheit noch Herrschaftsgewalt. Was sie als Volk zusammenhielt, waren ihr religiöser Glaube, ihre religiöse Praxis und eine aussagestarke religiöse Erzähltradition. Hinzu kamen noch die hohen Mauern, die die Nichtjuden um sie herum errichtet hatten. Doch in den hundert Jahren vor 1897 stürzten Gott und die Ghettomauern ein. Säkularisierung und Emanzipation – auch in ihren begrenzten Formen – ließen die alte Grundlage jüdischen Überlebens erodieren. Es gab nichts mehr, was das jüdische Volk inmitten anderer Völker zusammenhielt. Auch dort, wo Juden nicht in Gefahr standen, von russischen Kosaken abgeschlachtet oder von französischen Antisemiten verfolgt zu werden, waren sie einer kollektiven tödlichen Gefahr ausgesetzt. Ihre Fähigkeit, in der Diaspora eine nicht auf dem Glauben basierende jüdische Kultur zu bewahren, war auf einmal bedroht.

Eine Revolution war erforderlich. Wenn es überleben wollte, musste das jüdische Volk von einem in der Diaspora unter Fremden lebenden in eines verwandelt werden, das über ein eigenes Herrschaftsgebiet verfügte. Vor diesem Hintergrund schien der Zionismus, wie er sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts auszubilden begann, eine geniale Lösung anzubieten. Seine Begründer, mit Theodor Herzl an der Spitze, zeichneten sich sowohl durch prophetische Gaben als auch durch Heroismus aus. Das 19. Jahrhundert war insgesamt gesehen überhaupt ein goldenes Zeitalter für die westeuropäischen Juden. Doch die Zionisten sehen, was kommen wird. Natürlich wissen sie nicht, dass das 20. Jahrhundert Stätten wie Auschwitz und Treblinka hervorbringen wird. Im Grunde unternehmen sie aber auf ihre eigene Weise etwas, um dem Geschehen in den Vierzigerjahren entgegenzuwirken. Sie erkennen, dass sie es mit einer fundamentalen Bedrohung zu tun haben: der möglichen Auslöschung, dem »Aussterben« des jüdischen Volks. Und sie begreifen, dass solch eine grundlegende Gefahr nach radikalen Gegenmaßnahmen verlangt: nach einer Umwandlung des jüdischen Volks, ein Prozess, der aber nur in Palästina stattfinden kann, der alten Heimstatt der Juden.

Herbert Bentwich sieht die Situation nicht so klar, wie Theodor Herzl es tut. Er ahnt nicht, dass das Jahrhundert, das bald anbrechen wird, das dramatischste in der langen Geschichte der Juden sein wird. Doch seine Intuition sagt ihm, dass die Zeit für radikale Maßnahmen gekommen ist. Er weiß, dass die Juden in Osteuropa in einem unerträglichen Elend leben und dass der Prozess der Assimilation im Westen nicht aufzuhalten ist; im Osten sind die Juden bedroht, im Westen ist das Judentum in Gefahr. Meinem Urgroßvater ist bewusst, dass das jüdische Volk dringend einer neuen Existenzstätte bedarf, eines neuen Anfangs, einer neuen Lebensweise. Zu ihrem Überleben bedürfen die Juden des Heiligen Landes.

Bentwich wurde 1856 im Londoner Stadtviertel Whitechapel geboren. Sein Vater war ein russisch-jüdischer Immigrant, der den Lebensunterhalt für sich und seine Familie als Handelsreisender verdiente: Er bot in Manchester und Cambridge Schmuckwaren zum Kauf an. Sein geliebter Sohn sollte es aber zu mehr im Leben bringen, und er schickte Herbert daher auf eine noble Grammar School. Der Junge erbrachte dort gute Leistungen; er wusste, dass alle Hoffnungen seiner Eltern auf ihm ruhten, und arbeitete aus diesem Grund diszipliniert und angestrengt, um sich als guter Sohn zu erweisen. In seinen Dreißigern war er bereits ein erfolgreicher Anwalt mit einer Wohnung im wohlhabenden Stadtteil St. John’s Wood.

Vor seiner Reise nach Palästina war mein Urgroßvater eine führende Persönlichkeit innerhalb der anglo-jüdischen Gemeinde. Beruflich hatte er sich auf Urheberrecht spezialisiert. Was das gesellschaftliche Leben betraf, so war er einer der Gründer des bekannten Maccabean Club, eines Dining- und Debattierklubs, in dem des Öfteren Vorträge gehalten wurden. Er war mit einer hübschen Frau mit künstlerischen Neigungen verheiratet, die in ihrem herrschaftlichen Haus in der Avenue Road neun Kinder großzog; zwei weitere sollten noch in späteren Jahren hinzukommen.

Als typischer Selfmademan zeichnet sich Herbert Bentwich durch Strenge und Pedanterie aus. Seine Hauptcharakterzüge sind Arroganz, Entschlossenheit, Selbstsicherheit, Selbstvertrauen und Unangepasstheit. Doch er ist auch ein Romantiker mit einem Hang zum Mystizismus. Bentwich ist durch und durch Viktorianer. Er fühlt sich dem Britischen Empire zutiefst verpflichtet, denn es hat seine Tore dem Einwanderersohn geöffnet, der er einmal war. Als er zwei Jahre alt war, wurde der erste Jude ins britische Parlament gewählt. Kurz nach seinem fünfzehnten Geburtstag wurde der erste Jude in Oxford zum Studium zugelassen. Vierzehn Jahre später wurde der erste Jude ins House of Lords aufgenommen. Diese Meilensteine in der Geschichte der englischen Juden sind für Bentwich gleichbedeutend mit Wundern. Er sieht die Emanzipation nicht als verspätete, längst überfällige Gewährung von etwas an, was den Juden per Naturrecht zusteht, sondern für ihn ist sie ein Akt der Gnade, den Queen Victorias Großbritannien seinem Volk hat zukommen lassen.

Von seiner äußeren Erscheinung her ähnelt Bentwich dem Prince of Wales. Er hat stahlblaue Augen, einen gepflegten Vollbart, ein markantes Kinn. Auch sein Auftreten ist das eines Adligen. Ursprünglich von armer Herkunft, hat er sich die Wertvorstellungen und Bräuche der Oberschicht des Empire, das über die Meere herrscht, zu eigen gemacht. Wie es sich für einen echten Gentleman gehört, reist er gern, liebt die Poesie und das Theater. Er kennt seinen Shakespeare und ist mit dem Lake District vertraut. Doch beeinträchtigt das nicht seine jüdische Identität. Zusammen mit seiner Frau Susan unterhält er einen Haushalt in perfekter anglo-jüdischer Harmonie: Hier wird ebenso das Morgengebet aufgesagt wie Kammermusik gehört, Tennyson wie Maimonides gelesen. Die Befolgung der Sabbatrituale lässt sich durchaus mit einer Erziehung in Oxford oder Cambridge vereinbaren. Bentwich glaubt fest daran, dass das jüdische Volk genauso eine Mission hat wie das britische Imperium. Er sieht es als die Pflicht der emanzipierten Westjuden an, sich um die verfolgten Ostjuden zu kümmern. Felsenfest ist er davon überzeugt, dass das Empire seine Brüder genauso retten wird, wie es ihn gerettet hat. Seine Treue gegenüber der Krone, aber auch die Berufung, die er als Jude in sich spürt, sind miteinander verflochten. Beides drängt ihn in Richtung Palästina. Es veranlasst ihn dazu, diese einzigartige anglo-jüdische Delegation anzuführen, die sich zu den Küsten des Heiligen Landes aufmacht.

Wäre ich Herbert Bentwich begegnet, hätte ich ihn vermutlich nicht gemocht. Wäre ich sein Sohn gewesen, hätte ich mit Sicherheit gegen ihn aufbegehrt. Seine Einstellung sowie seine gedankliche Ausrichtung – monarchistisch, religiös, patriarchalisch, imperialistisch – sind um Welten von meinen Vorstellungen entfernt. Doch wenn ich ihn so aus der Entfernung betrachte – aus der Distanz von mehr als einem Jahrhundert –, kann ich gewisse Ähnlichkeiten zwischen uns beiden nicht leugnen. Ich bin überrascht darüber, wie sehr ich mich mit meinem exzentrischen Urgroßvater identifiziere.

Daher frage ich erneut: Warum ist er auf dem Weg ins Heilige Land? Wieso befindet er sich an Bord dieses Dampfers? Er schwebt in keiner Gefahr. Er führt in London ein glückliches und erfülltes Leben. Warum hat er die weite Reise nach Jaffa angetreten?

Ein Grund dafür ist seine romantische Ader. 1897 ist Palästina noch kein britisches Gebiet, aber es liegt schon in Sichtweite der Briten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Sehnsucht nach Zion bei Engländern nicht weniger stark ausgeprägt als bei Juden. George Eliot war in dieser Beziehung mit ihrer Romanfigur Daniel Deronda die Wegbereiterin, gefolgt von dem Reiseschriftsteller Laurence Oliphant. Die Begeisterung für Zion ist jetzt ein zentrales Element für den englischen Romantizismus der Kolonialzeit. Für meinen Urgroßvater, Romantiker, Jude und ein viktorianischer Gentleman, ist die Verlockung, die von Palästina ausgeht, unwiderstehlich. Das Verlangen nach Zion ist fester Bestandteil seiner seelischen Verfasstheit geworden. Es ist bestimmend für seine Identität.

Der zweite Grund dafür, dass er die Fahrt nach Jaffa angetreten hat, ist von größerer Tragweite. Bentwich ist seiner Zeit weit voraus. Der Weg, den er im späten 19. Jahrhundert von Whitechapel nach St. John’s Wood zurücklegte, entspricht dem, den viele Juden im 20. Jahrhundert von der New Yorker Lower East Side zur Upper West Side antraten. Als das 20. Jahrhundert näher rückt, sieht mein Urgroßvater sich mit den Problemen konfrontiert, denen die Juden Amerikas im 21. Jahrhundert gegenüberstehen: Wie kann man sich in einer freien, offenen Welt eine jüdische Identität bewahren, wie kann man das Judentum ohne schützende Ghettomauern am Leben erhalten? Und wie kann man verhindern, dass die Juden sich überall im prosperierenden Westen verstreuen und ihren traditionellen Zusammenhalt verlieren?

Ja, Herbert Bentwich hat die Reise von Charing Cross nach Jaffa angetreten, weil er sich verpflichtet fühlt, dem Elend der Juden im Osten ein Ende zu setzen. Sein Hauptmotiv für diese Unternehmung ist aber darin zu sehen, dass er begriffen hat, wie sinnlos es im Westen geworden ist, an einem typisch jüdischen Leben festzuhalten. Weil ihm ein ungewöhnlich privilegiertes Leben beschert ist, erkennt er, welche Herausforderung der Antisemitismus mit sich bringen wird. Er sieht schon die Kalamität im Anschluss an den Holocaust. Er realisiert, dass seine Welt anglo-jüdischer Harmonie bald untergehen wird. Deswegen überquert er das Mittelmeer.

Am 16. April fährt sein Schiff in den uralten Hafen von Jaffa ein und geht vor Anker. Ich beobachte ihn, wie er um fünf Uhr morgens in seiner Kajüte erster Klasse erwacht. Ich schaue ihm zu, wie er die Stufen zum hölzernen Deck der »Oxus«erklimmt, in einen hellen, leichten Anzug gekleidet und mit einemTropenhelm auf dem Kopf. Ich verfolge, wie er vom Deck aus Ausschau hält. Die Sonne ist dabei, über den Torbögen und Mauertürmen Jaffas aufzugehen. Und das Land, das mein Urgroßvater vor sich liegen sieht, ist genau so, wie er es sich erhofft hat: von der sanften Morgendämmerung erhellt und in das zarte Licht der Verheißung gehüllt.

Möchte ich, dass er es betritt? Ich bin mir noch nicht sicher.

Ich bin besessen von allem Britischen. Wie Bentwich liebe ich Land’s End und den Mount Snowdon und den Lake District. Das typische englische Cottage begeistert mich ebenso wie der typische Pub. Die englische Landschaft entzückt mich. Das Frühstücksritual erfreut mein Herz ebenso wie das Teeritual – vor allem, wenn clotted cream aus Devonshire eine Rolle dabei spielt. Die Hebriden haben eine hypnotische Wirkung auf mich und ebenso die schottischen Highlands und die sanften grünen Hügel von Dorset. Ich bewundere die Selbstverständlichkeit, mit der die Menschen sich ihrer Identität als Engländer gewiss sind. Ich fühle mich von der Ruhe einer Insel angezogen, die seit acht Jahrhunderten keinen fremden Eroberer mehr gesehen hat, von der Kontinuität der Lebensweise dort. Von der Kultiviertheit, mit der man die Dinge regelt.

Falls Herbert Bentwich an Land geht, wird er all dem Lebewohl sagen. Er wird sich selbst und seine Kinder und Enkel und Urenkel entwurzeln, er wird sie dem englischen Grün entziehen und in den wilden Nahen Osten verpflanzen, wo sie auf Generationen hinaus leben müssen. Ist es nicht verrückt, so etwas zu tun? Gleicht sein Verhalten nicht dem eines Narren?

Doch so einfach ist das alles nicht. Die Britischen Inseln gehören nicht wirklich uns. Wir sind nur auf der Durchreise, denn der Weg, den wir zurücklegen müssen, ist viel länger und viel mühevoller. Das englische Grün lieferte uns nur ein vorübergehendes, elegantes Refugium, ließ uns auf dem langen Weg zu Atem kommen. Die demografischen Daten erzählen eine ganz klare Geschichte: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Herbert Bentwich nicht mehr erlebt, wird die anglo-jüdische Gemeinde um ein Drittel schrumpfen. Von 1950 bis 2000 wird die Zahl der Juden, die auf den Britischen Inseln zu Hause sind, von 400 000 auf schätzungsweise 300 000 sinken. Jüdische Schulen und Synagogen werden geschlossen. In Städten wie Brighton und Bournemouth werden die Gemeinden kleiner. Die Ehen, die zwischen Juden und Nichtjuden geschlossenen werden, nehmen um einiges mehr als 50 Prozent zu. Junge Juden aus nichtgläubigen Familien werden sich fragen, warum sie an ihrem Jüdischsein festhalten sollen. Worin läge der Sinn?

In anderen westeuropäischen Ländern kommt es zu einer ähnlichen Entwicklung. Die nichtorthodoxen jüdischen Gemeinden in Dänemark, Holland und Belgien werden nahezu verschwinden. Nachdem sie mehr als 200 Jahre lang eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des modernen Europa gespielt haben – wir brauchen nur an Mendelsohn zu denken, an Marx, Freud, Mahler, Kafka und Einstein –, werden die Juden nach und nach aus dem Rampenlicht treten. Die goldene Zeit des europäischen Judentums wird vorbei, ja, die bloße Existenz eines überlebensfähigen, vitalen und kreativen Judentums wird gefährdet sein. Was einmal war, wird nie wieder sein.

Fünfzig Jahre später wird sogar die einflussreiche und wohlhabende jüdische Gemeinde Nordamerikas von derselben Malaise betroffen sein. Der Anteil von Juden an der amerikanischen Gesellschaft wird drastisch sinken. Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden werden zahlenmäßig gewaltig zunehmen. Das alte jüdische Establishment wird versteinern, und immer weniger nichtgläubige Juden werden aktiv am jüdischen Leben teilnehmen oder mit ihm zu tun haben. Die amerikanische Judenheit wird zwar immer noch dynamischer und kraftvoller sein als die europäische, doch wenn sie über den Ozean zu ihren kontinentaleuropäischen und britischen Vettern hinüberschauen, können die amerikanischen Juden sehen, was das 21. Jahrhundert für sie bereithält – und es ist kein schöner Anblick.

Soll mein Urgroßvater also an Land gehen? Wenn er es nicht macht, werde ich als ein Nachfahr in Großbritannien ein angenehmes und ausgefülltes Leben führen. Ich werde keinen Militärdienst ableisten müssen, ich werde mich in keiner unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben befinden und in kein quälendes moralisches Dilemma gestürzt werden. Die Wochenenden werde ich im Kreis meiner Lieben im reetgedeckten Cottage meiner Familie in Dorset verbringen, die Sommerferien in den schottischen Highlands.

Falls mein Urgroßvater jedoch nicht das Schiff verlässt, besteht die Möglichkeit, dass meine Kinder nur bedingt Juden sein werden. Vielleicht werden sie überhaupt nicht jüdisch sein. Das Britische wird unsere jüdische Identität ersticken. Auf den grünen Wiesen von Alt-England und ebenso in den dichten Wäldern von New England könnte die säkulare jüdische Kultur sich in nichts auflösen. Auf beiden Seiten des Atlantiks könnte das Volk der nichtgläubigen Juden nach und nach aussterben.

So ruhig und glatt ist das Mittelmeer, als die von Bentwich angeführte Delegation von Bord des Dampfers geht, dass man glauben könnte, sich auf einem See zu befinden. Arabische Schauerleute bringen die Passagiere der »Oxus«in schlichten hölzernen Booten ans Ufer. Der Hafen von Jaffa erweist sich als weniger niederdrückend als erwartet. Doch in der Stadt selbst ist Markttag. Einige der europäischen Reisenden sind entsetzt über die in der Sonne hängenden Tierkörper, den übelriechenden Fisch, das verrottende Gemüse. Sie bemerken die entzündeten Augen der Frauen aus den umliegenden Dörfern, die ausgemergelten Kinder. Und das ganze Geschiebe und Gestoße, den Lärm, den Dreck. Die Herren, die vier Damen und eine Zofe begeben sich zu ihrem in der Innenstadt gelegenen Hotel; sie besteigen elegante Kutschen von Thomas Cook, die pünktlich zur Stelle sind. Und sobald die Europäer das Chaos des arabischen Teils von Jaffa hinter sich gelassen haben, wird ihre Stimmung wieder besser. Von den Orangenhainen her steigt ihnen ein süßer Duft in die Nase, und der Anblick der Felder von flammend-roten und blass-purpurnen Wildblumen entzückt sie.

Die Reisenden werden von meinem anderen Urgroßvater willkommen geheißen: von Dr. Hillel Yoffe, der einen positiven Eindruck auf sie macht. In den sechs Jahren, seit er in Jaffa an Land gegangen ist oder – wie später Bentwich und seine Gesellschaft – von arabischen Bootsleuten ans Ufer gebracht wurde, hat er eine Menge erreicht. Seine Arbeit als Mediziner – er hat versucht, die Malaria auszurotten – ist mittlerweile in weiten Kreisen bekannt. Seine Leistungen im öffentlichen Bereich – er ist Vorsitzender des Zionistischen Komitees in Palästina – sind herausragend. Wie die Pilger aus Großbritannien ist er zutiefst überzeugt davon, dass die privilegierten Juden im Westen ihren verarmten Brüdern und Schwestern beistehen müssen. Es geht nicht nur darum, sie vor geistig umnachteten und zurückgebliebenen Kosaken zu retten, sondern er sieht es als moralische Pflicht der Bessergestellten an, sie an die moderne Wissenschaft heranzuführen und generell zu ihrer »Aufklärung« beizutragen. In dieser entlegenen und unwirtlichen Provinz des Osmanischen Reichs ist Dr. Yoffe der Fürstreiter für Fortschritt. Seine Mission besteht darin, nicht nur seine Patienten zu heilen, sondern auch sein Volk.

Unter Führung von Dr. Yoffe begibt sich der Konvoi der Briten zu der französischen Landwirtschaftsschule Mikveh Yisrael. Wegen des Pessachfests sind keine Schüler anwesend, doch die Lehrer und das andere Personal beeindrucken die Besucher. Mikveh Yisrael ist eine Oase des Fortschritts. Die talentierten Ausbilder bringen den jungen palästinensischen Juden bei, wie man das Land mit modernen Anbaumethoden bestellt. Ihre Aufgabe besteht darin, tüchtige Agronomen und Weinbauern für das nächste Jahrhundert heranzuziehen. Die landwirtschaftlichen Verfahren französischen Stils, die sie lehren, werden sich nach und nach in ganz Palästina verbreiten und die Wüsten des Landes erblühen lassen. Die Besucher sind mehr als begeistert. Sie glauben zu sehen, wie in der Zukunft die Saat aufgeht. Und genau das ist es, was sie erkennen wollen: die Zukunft.

Von der Landwirtschaftsschule Mikveh Yisrael fahren sie weiter zur Kolonie Rishon LeZion. Baron Edmond de Rothschild ist ihr Geldgeber und ihr allgemeiner Wohltäter. Der örtliche Gouverneur, der den Baron vertritt, bringt die hochstehenden Besucher in seiner im Kolonialstil erbauten Residenz unter. Die Briten finden den Franzosen sympathisch. Sie sind erleichtert, in dieser gottentlegenen Gegend einen solch prächtigen Bau und einen mit allem versehenen Haushalt vorzufinden – und derart gutes Essen vorgesetzt zu bekommen. Was sie aber mehr als alles andere entzückt, ist der moderne Weinbaubetrieb, den der Baron im Herzen der seit fünfzehn Jahren bestehenden Kolonie eingerichtet hat. Die Vorstellung, dass Palästina zur Provence des Orients werden könnte, hat etwas Verblüffendes. Der Anblick der Häuser mit ihren roten Dächern inmitten der tiefgrünen Weingärten und auch der berauschende Duft des ersten Weins, der nach fast 1800 Jahren wieder im Heimatland der Juden gekeltert wurde, haben geradezu etwas Unwirkliches an sich.

Als sie um die Mittagszeit in Ramleh eintreffen, ist ihnen alles klar. Sieben Stunden nach ihrer Ankunft in Palästina hegen die meisten aus der Pilgergruppe keine Zweifel mehr: Judäa ist der Ort, an dem die großen Scharen der verfolgten Juden aus Russland, Polen und Rumänien angesiedelt werden sollten. Palästina soll ihre neue Heimstatt sein, dort wird ihr Überleben gesichert sein. Bald soll die Delegation den Zug von Lydda nach Jerusalem besteigen. Doch ein Mann wie Herbert Bentwich lässt noch nicht einmal eine halbe Stunde ungenutzt verstreichen. Seine Mitreisenden sind erschöpft, sie ruhen sich aus, lassen sich die vielen Eindrücke, die sie empfangen haben, noch einmal durch den Kopf gehen, hängen ihren Gefühlen nach. Mein Urgroßvater jedoch ruht nicht. In seinem weißen Anzug und mit seinem weißen Tropenhelm steigt er den weißen Turm hoch, der wie ein Leuchtturm in der Mitte von Ramleh aufragt. Und von der Spitze dieses hohen weißen Turms sieht mein Urgroßvater: das Land.

Als er 1897 auf das kaum besiedelte Territorium schaut, nimmt Bentwich die Ruhe wahr, die Leere und die Verheißung. Das ist die Bühne, auf der sich das Drama entfaltet hat und weiter entfalten wird, all das, was war und was sein wird: die Wildblumenteppiche, die Haine uralter Olivenbäume, die zart-purpurne Silhouette des Hebron-Gebirges. Und dort drüben: Jerusalem. Durch reinen Zufall ist mein Urgroßvater in einem entscheidenden Moment des Geschehens auf der Bühne zugegen. Das ist der Augenblick, in dem eine Wahl getroffen werden muss. Soll man diesen Weg einschlagen oder den anderen? Vorangehen oder sich zurückziehen? Palästina wählen oder ablehnen?

Mein Urgroßvater ist nicht wirklich dafür geeignet, eine solch gewichtige Entscheidung zu fällen. Er nimmt das Land nicht so wahr, wie es ist. Auf dem Weg von Mikveh Yisrael nach Rishon LeZion hat er nicht das Palästinenserdorf Abu Kabir registriert. Auf der Weiterfahrt von Rishon LeZion nach Ramleh hat er nicht das Palästinenserdorf Sarafand zu Gesicht bekommen. Und in Ramleh erkennt er nicht, dass er sich in einer palästinensischen Stadt befindet. Als er jetzt oben auf dem weißen Turm steht, blickt er über die sich in der Nähe befindliche palästinensische Stadt Lydda hinweg. Und er sieht auch nicht die Palästinensersiedlungen Haditha, Gimzu oder El-Kubbab. Er sieht nicht das auf der Schulter des Tel Gezer gelegene Palästinenserdorf Abu Shusha.

Wie konnte das sein? Das frage ich mich selbst in einem anderen Jahrhundert. Wie war es möglich, dass mein Vorfahr so blind war?

1897 leben mehr als eine halbe Million Araber, Beduinen und Drusen in Palästina. Es gibt zwanzig größere oder kleinere Städte und Hunderte von Dörfern. Wie war es also möglich, dass der pedantische Bentwich sie nicht bemerkte? Wie konnte es sein, dass der scharfäugige Mann von dem Turm in Ramleh aus nicht registrierte, dass das Land bereits »eingenommen« war? Dass ein anderes Volk jetzt das Land seiner Ahnen besiedelte?

Ich will nicht kritisch sein, will ihn nicht verurteilen. Im Gegenteil. Mir ist klar, dass das Eretz Israel, das er vor seinem geistigen Auge sieht, ein riesiges, 100 000 Quadratkilometer umfassendes Gebiet ist, das das heutige Königreich Jordanien einschließt. Und in diesem weitläufigen Gebiet leben weniger als eine Million Einwohner. Für die jüdischen Überlebenden antisemitischer Ausschreitungen in Europa gibt es dort also mehr als genug Lebensraum. Großpalästina kann Juden und Arabern eine Heimat sein.

Mir ist auch klar, dass das Land, das Bentwich in Augenschein nimmt, von zahlreichen nomadischen Beduinen bevölkert ist. Viele von den anderen, die dort leben, sind kleine Pachtbauern, Unfreie ohne Anrecht auf territorialen Besitz. Die große Mehrheit der Palästinenser wohnt 1897 in armseligen Dörfern und Weilern. Ihre Häuser sind schäbige Lehmhütten. Von Armut und Krankheiten aller Art niedergedrückt, sind diese Menschen für einen viktorianischen Gentleman kaum wahrnehmbar.

Es ist natürlich auch wahrscheinlich, dass Herbert Bentwich, ein Weißer der viktorianischen Epoche, in Nichtweißen keine ihm ebenbürtigen Menschen zu sehen vermag. Er kann sich leicht einreden, dass die Juden, die von Europa herüberkommen werden, die Lebensbedingungen der Einheimischen verbessern werden, dass die europäischen Juden ihre Krankheiten heilen, sie erziehen, sie zivilisieren werden. Dass sie auf anständige und würdige Weise Seite an Seite mit ihnen leben werden.

Doch es gibt noch einen viel überzeugenderen Grund für sein Nichtsehen: Im April 1897 existiert überhaupt kein palästinensisches »Volk«. Palästinenser kennen noch kein Gefühl der Selbstbestimmtheit und noch keine nennenswerte Nationalbewegung. Der arabische Nationalismus ist gerade dabei zu erwachen – aber im fernen Damaskus und Beirut sowie auf der Arabischen Halbinsel. Die Araber Palästinas besitzen nicht so etwas wie eine überzeugende nationale Identität, keine eigenständige politische Kultur. Den Einwohnern dieser abgelegenen Regionen des Osmanischen Reichs ist Selbstregierung fremd, ebenso Autonomie. Wenn man selbst stolzer Untertan des Britischen Empire ist, kann man in diesem Land leicht eine Art Niemandsland ausmachen, eines, das die Juden berechtigterweise beanspruchen und besiedeln dürfen.

Ich frage mich aber immer noch, wieso er so blind war. Schließlich waren es arabische Bootsleute, die ihn bei Tagesanbruch weckten und ihn in ihrem primitiven hölzernen Gefährt ans Ufer brachten. Arabische Höker und Händler sind ihm auf dem Markt von Jaffa begegnet. Arabisches Personal hat sich in seinem dortigen Hotel um ihn gekümmert. Unterwegs hat er vom Fenster seiner Kutsche aus arabische Dorfbewohner beobachten können, ebenso die arabischen Einwohner von Ramleh und Lydda. Ihm können nicht die Araber entgangen sein, die ihn im Auftrag von Thomas Cook auf der Reise begleiteten: die Führer, die Pferdeknechte, die Diener. In dem Palästina gewidmeten Baedeker wird ausdrücklich hervorgehoben, dass Ramleh eine von Arabern erbaute Stadt und der weiße Turm ein arabischer Turm ist.

Während ich Herbert Bentwich beobachte, wie er das Land von der Spitze dieses Turms erkundet, ohne zu sehen, verstehe ich ihn vollkommen. Dass mein Großvater nicht sieht, dahinter verbirgt sich die Notwendigkeit, die Augen vor bestimmten Dingen zu verschließen. Er sieht nicht, weil er, wenn er es täte, sich abwenden und kehrtmachen müsste. Doch er kann nicht zurück. Damit er also weitermachen kann, zieht er es vor, nicht zu sehen.

Er schart die anderen Pilger um sich, und sie steigen in den Zug nach Jerusalem. Die Eisenbahnstrecke von Jaffa nach Jerusalem wurde erst wenige Jahre zuvor von einer französischen Gesellschaft angelegt. Die Lokomotive ist modernster Bauart und zieht nicht weniger moderne Waggons hinter sich her, in denen man auf bequem gepolsterten Sitzen Platz nimmt. Doch so begeistert er auch über diese Merkmale des Fortschritts ist, die Landschaft beeindruckt ihn noch mehr. Durch das große Fenster des Abteils – alles in Frankreich konstruiert – erblickt er die Überreste der antiken Hebräerstadt Gezer (während ihm die nahe gelegene palästinensische Siedlung Abu Shusha entgeht). Er sieht die Gräber der heldenmütigen makkabäischen Freiheitskämpfer in Modi’in (nicht aber das Palästinenserdorf Midia). Er wirft einen Blick auf Samsons Tzora (nicht aber auf Artouf). Dir-el-Hawa liegt außerhalb seines Gesichtsfelds und ebenso Ein Kerem. Mein Großvater registriert die ganze uralte Pracht der Schlucht, die sich unter Windungen bis nach Jerusalem hinzieht, doch die palästinensischen Bauern, die die Terrassen an den zerklüfteten Wänden des Gebirges von Jerusalem bestellen, entgehen ihm.

Was Herbert Bentwich antreibt, ist eine lebhafte Erinnerung an die Geschichte im Verein mit einem starken Glauben an eine Weiterentwicklung sowie einer Sehnsucht nach der ruhmreichen Vorzeit. Alles dies zusammen bewirkt, dass er entschlossen ist, einer Modernisierung den Weg zu ebnen. Er fühlt sich verpflichtet, etwas für die russische Judenheit zu tun, die unter der zaristischen Tyrannei stöhnt. Er kann die Opfer der Pogrome, zu denen es 1881/1882 in der Ukraine kam, nicht vergessen und ebenso wenig die jüngsten Opfer der antisemitischen Ausschreitungen in Rumänien. Doch was ihn wirklich in den Bann geschlagen hat, sind die Bibel und die Modernität. Seine Leidenschaft gilt dem Bemühen, die Propheten zu neuem Leben zu erwecken und Telegrafenverbindungen zu schaffen. Sein Denken ist ganz auf die mythologische Vergangenheit und die von der Technologie bestimmte Zukunft gerichtet, und so kennt er eigentlich keine Gegenwart. Zwischen Erinnerung und Traum gibt es keinen Platz für ein Hier und Jetzt. Im Bewusstsein meines Urgroßvaters ist kein Raum für das Land, wie es ist. Es ist in ihm kein Raum für die palästinensischen Bauern, die bei ihren Oliven- und Feigenbäumen stehen und dem in feines Leinen gekleideten britischen Gentleman zuwinken. Mein Großvater sitzt am Fenster seines Abteils, er ist ganz versunken in den Anblick der biblischen Landschaft.

Als ich den Zug verfolge, wie er nach Jerusalem dampft, muss ich an Ferdinand Marie de Lesseps denken, den französischen Generalkonsul in Ägypten, der einen detaillierten Plan entwarf, wie man Mittelmeer und Indischen Ozean mit einem künstlichen Wasserlauf verbinden könnte. De Lesseps beschaffte die Geldmittel, um seine Vision realisieren zu können, indem er eine Aktiengesellschaft gründete. In zehn Jahren wurde der Suezkanal ausgehoben – was einen schrecklich hohen Tribut an Menschenleben forderte –, und Lesseps bewies dem 19. Jahrhundert, dass es keine Grenzen gab, dass sich im Zeitalter der Vernunft jedes Problem lösen ließ. Kein Berg war zu hoch für den auf Ratio basierenden Fortschritt.

Herbert Bentwich ist kein Franzose, sondern Brite, und wenn er auch von seiner Persönlichkeit her kein Cartesianer, sondern ein Tory ist, also ein Konservativer, steckt in ihm etwas von dem Geist, der de Lesseps beflügelte. Er ist überzeugt, dass es eine rationale Lösung für die jüdische Frage geben muss. Herzl würde die Konzession erhalten, einen Plan ausarbeiten und durch Gründung einer Aktiengesellschaft das Kapital zusammenbringen. Herzl würde den großen künstlichen Nationalstaat erschaffen, der Ost und West verband und die Vergangenheit mit der Zukunft verknüpfte. Er würde dieses Ödland in einen Schauplatz weltbewegender Ereignisse und großer Taten verwandeln.

Die Mitreisenden meines Urgroßvaters sind ebenfalls innerlich stark bewegt. Seit Tagesanbruch haben sie schon so viel gesehen: Jaffa, Mikveh Yisrael, Rishon LeZion, Ramleh, die Ebenen Judäas, das Hebron-Gebirge, die Schlucht, die nach Jerusalem führt. Die Lokomotive kommt nur langsam voran, und die Thomas-Cook-Touristen nutzen die Zeit, indem sie in ihren diversen Reiseführern und Nachschlagewerken lesen: in ihrem Baedeker, Smith, Thompson, Oliphant oder Conder. Als sie durch das Tal von Ayalon kommen, lassen sie vor ihrem geistigen Auge die großen biblischen Schlachten auferstehen, die dort stattgefunden haben, und bei Beth Horon betrachten sie, voller Ehrfurcht und Staunen, die Stätte des heroischen Sieges der Hasmonäer über die Seleukiden. Sie haben das Gefühl, in der Zeit zurückzureisen, durch verschiedene Epochen, durch die bemerkenswerte Geschichte der Kinder Israels.

Ich schaue sie mir genau an: die Männer und die fünf Frauen, Briten, Amerikaner und Kontinentaleuropäer. Mit der Ausnahme von dreien allesamt Juden. Beinahe jeder von ihnen ist gebildet und wohlhabend: emanzipierte Juden der modernen Zeit. Sie mögen in ihrer Kleidung ein wenig fehl am Platze wirken, nicht dazugehörend, und naiv sein, aber sie sind in jedem Fall frei von Böswilligkeit. Was sie hierher gebracht hat, ist Verzweiflung, und Verzweiflung bringt Entschlossenheit hervor. Sie sind sich der gewaltigen Kräfte – Imperialismus, Kapitalismus, Naturwissenschaft, Technologie –, die in ihnen wirken und unter deren Einfluss sie stehen und durch die sie das Land verwandeln werden, nicht bewusst. Und wenn Imperialismus, Kapitalismus, Naturwissenschaft, Technologie sich mit ihrer Entschlossenheit vermählen, hält ihnen nichts stand: Diese Kräfte werden Berge einebnen und Dörfer auslöschen, sie werden ein Volk durch ein anderes ersetzen. Als der Zug sich mit seinen im Baedeker blätternden Passagieren weiter auf sein Ziel zubewegt, wird also der Wandel unvermeidbar.

Von den einundzwanzig Reisenden ist nur ein einziger nicht leichtgläubig oder arglos. Israel Zangwill ist ein bekannter Schriftsteller, der mit dem Roman Children of the Ghetto einen internationalen Bestseller veröffentlicht hat. Zangwill ist ein spitzzüngiger, scharfsinniger und gnadenloser Mann. Ihm sind nicht der gutmütige Konservatismus und der menschenfreundliche Romantizismus meines Vorfahren zu eigen. Er hat es nicht nötig, sich selbst etwas vorzumachen, zu schauen, ohne zu sehen. Alles, was Herbert Bentwich nicht erkennt, erkennt er ganz klar. Er sieht die palästinensischen Ortschaften Abu Kabir, Sarafand, Haditha und Abu Shusha. Und auch all die bescheidenen Dörfer und armseligen Weiler links und rechts der Strecke nach Jerusalem. Er bemerkt die Bauern, die das Land bestellen und dem vorbeifahrenden französischen Zug zuwinken.

In sieben Jahren wird all das, was Zangwill jetzt in sich aufnimmt, wieder aus ihm herausströmen. In einer epochemachenden Rede, die er 1904 in New York hält, wird der weltbekannte Autor seine Zuhörer mit der Erklärung schockieren, dass Palästina von einem Volk bewohnt ist. Zangwill wird darlegen, dass im Bezirk Jerusalem die Bevölkerungsdichte doppelt so hoch ist wie in den Vereinigten Staaten. Doch der um Provokation bemühte Zionist wird nicht nur subversive demografische Daten hervorsprudeln, sondern auch behaupten, dass noch niemals in der Geschichte ein bewohntes Land ohne Zuhilfenahme von Gewalt eingenommen wurde. Er wird zu dem Schluss gelangen, da andere das Land Israel bewohnten, müssten die Söhne Israels bereit sein, auch zu brutalen Mitteln zu greifen: »Mit dem Schwert die das Land in ihrem Besitz haltenden Stämme vertreiben, genau wie unsere Vorväter es taten.«

Zangwills Rede wird von den Zionisten als ketzerisch aufgefasst werden und für Empörung in ihren Kreisen sorgen. 1897, und sogar noch 1904, legt kein Zionist außer ihm eine so schonungslos offene Analyse der Realität vor und kommt zu solch grausamen Schlussfolgerungen. Der Nonkonformist wird aus der Bewegung ausgeschlossen, ihr aber im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts wieder beitreten und dann das öffentlich kundtun, was bis dahin kein Zionist sich selbst zuzuflüstern gewagt hat: »Es gibt keinen besonderen Grund für die Araber, sich an diesen paar Kilometer Land festzuklammern. ›Ihre Zelte zusammenzufalten und sich still und heimlich davonzustehlen‹, das ist ihre sprichwörtliche Gewohnheit. Sollen sie es uns jetzt vormachen … Wir müssen sie sanft dazu überreden, weiterzuziehen.«

ENDE DER LESEPROBE