Mein größtes Rätsel bin ich selbst - Cécile Loetz - E-Book

Mein größtes Rätsel bin ich selbst E-Book

Cécile Loetz

0,0

Beschreibung

Bekannt vom erfolgreichen Podcast „Rätsel des Unbewussten“ – entlang lebensnaher Geschichten erklären die Autor:innen den Prozess der Psychoanalyse.

Verstehen führt zu Veränderung – das Unverstandene müssen wir immer wieder aufs Neue durchleben. Doch was bedeutet es zu verstehen? Die Psychologen Cécile Loetz und Jakob Müller erlauben uns einen intimen Einblick in die Gedanken und Gefühle von Menschen, die sich in Krisen in Therapie begeben und die unbewusste Dynamik hinter ihrem Schmerz, Angst, Trauma und ihrer Aggression zu durchdringen beginnen. Ungeschönt und dennoch voller Empathie schildern sie den oft schwer greifbaren Prozess der Psychotherapie, der den Weg zu einem besseren Verständnis der eigenen Geschichte ermöglicht. Ein kluges, differenziertes und ungemein anregendes Buch, das Neugier weckt und Mut macht, sich mit dem eigenen Leben auseinanderzusetzen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 425

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das ist das Cover des Buches »Mein größtes Rätsel bin ich selbst« von Cécile Loetz, Jakob Müller

Über das Buch

Bekannt vom erfolgreichen Podcast »Rätsel des Unbewussten« — entlang lebensnaher Geschichten erklären die Autor:innen den Prozess der Psychoanalyse.Verstehen führt zu Veränderung — das Unverstandene müssen wir immer wieder aufs Neue durchleben. Doch was bedeutet es zu verstehen? Die Psychologen Cécile Loetz und Jakob Müller erlauben uns einen intimen Einblick in die Gedanken und Gefühle von Menschen, die sich in Krisen in Therapie begeben und die unbewusste Dynamik hinter ihrem Schmerz, Angst, Trauma und ihrer Aggression zu durchdringen beginnen. Ungeschönt und dennoch voller Empathie schildern sie den oft schwer greifbaren Prozess der Psychotherapie, der den Weg zu einem besseren Verständnis der eigenen Geschichte ermöglicht. Ein kluges, differenziertes und ungemein anregendes Buch, das Neugier weckt und Mut macht, sich mit dem eigenen Leben auseinanderzusetzen.

Cécile Loetz + Jakob Müller

Mein größtes Rätsel bin ich selbst

Die Geheimnisse der Psyche verstehen

Hanser

Einleitung

Mein größtes Rätsel bin ich selbst

Eine Frau hat alles, was es vermeintlich braucht, um zufrieden zu sein: einen soliden Beruf, eine Partnerschaft, tolle Kinder. Trotzdem scheint ihr Leben von einer tiefen Sinnlosigkeit durchzogen, und jeden Morgen muss sie sich überwinden, aus dem Bett zu steigen. Nach außen hin zeigt sie das nicht, wahrscheinlich ahnt niemand, wie es ihr wirklich geht. Warum sie das Leben so sinnlos erlebt, kann sie selbst nicht sagen.

Ein Student lernt auf seine Prüfungen so kurzfristig, dass immer unsicher ist, ob er sie überhaupt bestehen wird. Alle Lernpläne und Motivationstricks erweisen sich als wirkungslos. Auch sonst neigt er zur Prokrastination, schiebt Verpflichtungen aller Art auf, als müsse er jeden Schritt in seinem Leben gegen eine zähe Masse in seinem Inneren setzen.

Eine junge Frau gerät auf unerklärliche Weise immer wieder in dieselbe Situation: Ihre Beziehungen zu Männern scheitern, auf die immer gleiche Weise — trotz ihrer Bemühungen, bei jedem neuen Partner alles anders anzugehen und nach einem völlig anderen Typus Mann zu suchen. Sie befürchtet, zu keiner stabilen Partnerschaft fähig zu sein.

Wieder einer anderen Person fällt es schwer, sich von den Wünschen anderer abzugrenzen. Sie kann nicht Nein sagen und lässt sich immer wieder in ungewollte Verpflichtungen oder andere unangenehme Situationen verwickeln.

Dies sind nur einige jener vielgestaltigen Hemmnisse und Verstrickungen, in die unser psychisches Leben geraten kann. Alle Beispiele stellen uns vor ein Rätsel. Warum tun wir nicht das, was wir doch eigentlich wollen? Was führt uns immer wieder in dieselben Situationen, allen guten Vorsätzen zum Trotz? Das Schicksal? Wir selbst, gleichsam als das größte Rätsel von allen? Rätselhaft sind nicht nur jene kleineren oder größeren Störungen des Alltags, denen wir uns mit etwas Humor oder einem gewissen Schulterzucken fügen können: »So bin ich eben.« Auch das Wesen einer tiefen psychischen Krise besteht meist darin, dass das, worunter wir leiden, sich unserem Willen und unserer Kontrolle entzieht. Wir leiden, obwohl es scheinbar keinen triftigen Grund dazu gibt. Wir sind niedergeschlagen und traurig, obwohl doch »eigentlich alles gut ist«, fühlen uns nicht geliebt, obwohl die anderen uns versichern, dass sie uns mögen, haben Angst, obwohl keine Gefahr droht, werden impulsiv, obwohl es um Kleinigkeiten geht, oder werden von Zuständen überwältigt, die wir anderen kaum mit Worten beschreiben können.

Unser Buch erzählt die Geschichten von Menschen, die in solche Krisen geraten sind, und von ihrer Suche nach Antworten. Alle Menschen, von denen in den folgenden Kapiteln die Rede sein wird, haben eine Psychotherapie unternommen. Wir schildern den Verlauf dieser Therapien aus der Perspektive der Therapeutinnen und Therapeuten. Es ist eine Reise durch die innere Welt dieser Menschen, aber auch die Geschichte jener besonderen Beziehung, die in einer Psychotherapie zwischen Therapeut und Patient entsteht. Denn letztendlich sind unsere Beziehungen der Schlüssel für Veränderungen, auch und gerade in einer Therapie.

Alle Therapien, von denen wir in diesem Buch erzählen, folgen einem psychoanalytischen Setting. Mit der Psychoanalyse konzentrieren wir uns auf eine therapeutische Herangehensweise, die für unsere Zeit vielleicht ungewöhnlich scheint. Dies zeigt schon die Tatsache, dass die therapeutischen Prozesse, die wir in diesem Buch schildern, allesamt ihre Zeit gebraucht haben, manche weniger, manche mehr. Die geschilderten Therapien sind keine Wunderkiste mit Tipps und Tricks, anhand derer sich Symptome vermeintlich im Handumdrehen zum Verschwinden bringen lassen, noch können sie ein Heilungsversprechen durch den Einsatz einer vermeintlich bahnbrechenden Methode geben. Unsere Gesellschaft begegnet jenem Rätselhaften, das psychischem Leiden innewohnt, mit vielgestaltigen Versuchen, Kontrolle über das psychische Leben herzustellen. Es herrscht kein Mangel an Ratgebern, Techniken, Anleitungen, wie wir uns selbst in eine gewünschte Richtung lenken, unsere Gedanken und Gefühle verändern oder umprogrammieren können. Aber so wenig es eine Anleitung für unser Leben gibt, so wenig gibt es eine Anleitung für unsere Psyche. Auf dem Feld psychischer Hilfen gilt, dass es kein Allheilmittel gibt, vermeintlich schnelle Lösungen oft nicht nachhaltig sind. Jeder Mensch muss letztlich für sich einen eigenen Weg finden, der für ihn gangbar ist. In einer Psychotherapie geht es zugleich auch immer um einen gemeinsamen Weg, weshalb es wichtig ist, dass Patient und Therapeut miteinander harmonieren. Wir möchten in unserem Buch zeigen, welche Prozesse entstehen können, wenn Patient und Therapeut in einen solchen Austausch kommen — und wie sich darin auch etwas Hilfreiches für private Beziehungen und das eigene psychische Leben entdecken lässt.

Wir möchten versuchen, einen Einblick in jene »Rätsel der Psyche« zu geben, wie sie uns in unserer Arbeit als Psychotherapeuten begegnen. Oftmals ist ein psychisches Symptom, seien es Niedergeschlagenheit, Ängste oder sich wiederholende Beziehungsmuster, nur das Anzeichen für ein Problem, das wir noch nicht verstanden haben, das uns in diesem Sinne unbewusst ist — gerade dann, wenn es hartnäckig ist und sich nicht durch Willenskraft beseitigen lässt. Etwas, das uns manchmal wie ein Schatten durch unser Leben begleitet, der uns überallhin verfolgt, egal, wie schnell wir zu rennen versuchen. Es geht darum, sich selbst besser zu verstehen und über diesen Prozess mehr innere Freiheit zu gewinnen. Denn nur, wenn wir wissen, was wir tun, öffnet sich uns ein Spielraum, um uns aus festgefahrenen Mustern lösen zu können.

Das Wort »Psychoanalyse« weckt üblicherweise gleich eine Reihe von Assoziationen und klingt in vielen Ohren verstaubt. Man denkt an Sigmund Freud, die Couch, an den »Ödipuskomplex« und Schlagworte wie Verdrängung, Triebe, Trauma. Doch die Psychoanalyse ist viel mehr als das: Sie hat eine lange Geschichte, in der sich Theorien und therapeutisches Vorgehen immer wieder gewandelt haben. Psychoanalytische Therapien werden in vielen Ländern weltweit praktiziert, wobei es mitunter sehr unterschiedliche Ansätze und Herangehensweisen gibt. In Deutschland sind psychoanalytische Therapien neben Verhaltenstherapien und Systemischen Therapien wissenschaftlich anerkannt und werden von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Sie machen etwa die Hälfte aller Psychotherapien aus. In Form eher kürzerer und fokussierter Therapien finden sie sich unter dem Namen »Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie«, für eher längere und intensivere Formen unter dem Namen »Analytische Psychotherapie«.

Aktuelle psychoanalytische Ansätze haben wenig mit dem Klischeebild dunkler Triebe oder heimlicher verderbter Wünsche zu tun, die auf der Couch zutage gefördert werden. Ein zentraler Grundsatz der zeitgenössischen Psychoanalyse ist, dass sich unser Selbst aus den Beziehungserfahrungen bildet, die wir im Verlauf unseres Lebens machen. Beziehung ist der Stoff, aus dem unsere Psyche ist — wir erfahren von anderen, wer wir sind. Daran erinnert vielleicht schon unser Name, den wir uns nicht selbst gegeben haben. Menschen verinnerlichen ihre Beziehungserfahrungen, machen das, was sie mit anderen erfahren, zu einem Teil des Selbst. Die Bindungserfahrungen, die wir als Kinder in unseren Familien machen, sind für unsere spätere Entwicklung besonders prägend. Aus diesen frühen Erfahrungen entsteht ein tiefes Wissen über uns selbst, das uns meist nicht bewusst ist, sondern von dem wir ganz implizit ausgehen, das zur Brille wird, durch die wir auf die Welt schauen: ob wir gut sind, wie wir sind, ob wir geliebt werden, uns sicher fühlen und den anderen vertrauen dürfen. Aber auch spätere Beziehungserfahrungen, etwa mit Freunden, in einer Partnerschaft — oder in einer Therapie —, nehmen Einfluss auf das Bild, das wir von uns selbst und anderen haben. Das bedeutet auch: Wir können uns durch neue Beziehungserfahrungen ändern. Hinter vielen psychischen Schwierigkeiten steht auch ein unverstandener Appell an den anderen: ein Wunsch, gesehen und geliebt zu werden, eine Wut oder Enttäuschung, weil man nie gehört wurde, eine Angst, den anderen zu verlieren, oder ein innerer Rückzug, um nicht wieder verletzt zu werden. In unserer Arbeit als Psychoanalytiker versuchen wir, die Spur der Beziehungsgeschichte unserer Patientinnen und Patienten nachzuzeichnen und zu verstehen, was ein psychisches Symptom mit dem Leben und der Geschichte eines Menschen zu tun hat. Manchmal kann eine psychische Verletzung nur überwunden werden, wenn man jener Stimme Gehör schenkt, die man ein Leben lang in sich unterdrückt hat, sie gerade nicht mit Techniken der Selbstdisziplinierung wieder zum Verstummen zu bringen versucht.

Warum das in manchen Fällen so schwierig ist, aber auch, wie es gelingen kann, davon handelt dieses Buch. Dabei geht es uns nicht nur darum, die Geschichte von einzelnen Patienten zu erzählen. Diese Geschichten sind vielmehr auch der Anlass, allgemein Licht in die Rätsel unseres unbewussten Lebens zu bringen. Alle Therapieerzählungen enthalten Passagen, die die Hintergründe zu bestimmten Fachbegriffen und Terminologien erhellen — in einer Bedeutung, wie sie vielleicht vielen nicht bekannt ist. Ein Register am Ende des Buchs hilft bei der Suche und Orientierung im Text. Davor finden sich zudem Verweise auf einzelne Folgen unseres Podcasts »Rätsel des Unbewussten« sowie ausgewählte Literaturempfehlungen, die einige der Themen, die wir hier erzählerisch berühren, noch einmal aus der Perspektive der klinischen Praxis und der Wissenschaft vertiefen. Zu jeder Therapiegeschichte findet sich auf unserer Homepage (www.psy-cast.de) zudem eine ausführliche Nachbesprechung durch die Autoren. Die Geschichten in diesem Buch beruhen auf tatsächlichen Therapieverläufen, sind aber so stark abgewandelt, anonymisiert und fiktionalisiert, dass kein Rückschluss auf eine reale Person möglich ist. Wir danken allen, die uns erlaubt haben, andere an ihrem therapeutischen Prozess teilhaben zu lassen.

Wir hoffen, dass wir mit diesem Buch einer Perspektive eine Stimme leihen können, die in unseren gegenwärtigen Debatten oft vergessen wird. Vielleicht kann aus unserem Beitrag die eine oder der andere eine Anregung gewinnen, sich selbst und andere Menschen besser zu verstehen. Auch wenn sich jenes Rätsel, das wir uns selbst sind, wohl niemals vollends ergründen lässt.

Um der Lesbarkeit willen verzichten wir in unserem Buch auf das Gendern. Selbstverständlich dürfen sich alle Menschen gleichermaßen angesprochen und zur Lektüre eingeladen fühlen.

Konrad

Die Melancholie des Lichts oder: Die Weiße Depression

Die Geschichte führt uns in die Praxis eines männlichen Psychoanalytikers mittleren Alters, der über seine Arbeit mit seinem Patienten Konrad berichtet. Es handelt sich um eine Analytische Psychotherapie, deren Kosten von den gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland übernommen werden. Die Stundenzahl ist vorab auf üblicherweise bis zu 300 Sitzungen festgelegt. Die Sitzungen finden mehrmals in der Woche statt, Patienten können, müssen dabei nicht auf der Couch liegen.

Künstliche Sterne

Ein berühmter psychoanalytischer Satz besagt, dass alles, was wir in unserer Geschichte nicht bewältigt haben, zur Wiederholung verdammt ist. Eine Verletzung, die wir in unserem Leben erleiden, wirft eine Frage auf, die wir zu beantworten suchen und gleichsam an jeden Menschen richten, der uns fortan begegnet. Unsere Psyche kommt nicht zur Ruhe, ehe sie eine Antwort gefunden hat. Wenn ich an meine Arbeit mit Konrad denke, glaube ich, dass er mir eine solche Frage schon gleich bei unserem ersten Aufeinandertreffen gestellt hat. Aber es hat lange gedauert, ehe ich sie verstanden habe.

Es ist ein wolkenverhangener Nachmittag im ausklingenden Sommer, kurz nach den großen Ferien. Zu meiner psychotherapeutischen Sprechstunde erscheint ein Mann Anfang 40, eher schmal gebaut, schon etwas schütteres, grau meliertes Haar. Mein erster Eindruck: eigentlich ein attraktiver Mann, der aber nicht wirklich etwas aus sich macht. Seine Kleidung, Bomberjacke, Jeans, Mütze mit englischer Aufschrift, verleiht ihm eine beinahe jugendliche Erscheinung und erinnert an die 90er-Jahre, als Konrad jung gewesen sein muss. Er begrüßt mich mit einem Nicken sowie einer überraschend tiefen Stimme, sein Blick ist freundlich, aber auch gleichgültig, wenig neugierig, als wäre er schon oft hier gewesen. Etwas umständlich befestigt er seinen Rucksack an der Vorrichtung in meiner Garderobe, ehe er mich in den Therapieraum begleitet, wobei er sich beim Schritt über die Türschwelle duckt, als fürchte er, sich den Kopf zu stoßen.

Als Konrad an mir vorübergeht, entsteht in mir ein merkwürdiger Eindruck: Ich meine, den Geruch von etwas wahrzunehmen, das ich von irgendwoher kenne, so vage und flüchtig, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich es mir nur eingebildet habe. Vielleicht ist es sein Rasierwasser? Etwas erinnert mich an eine Art von Männlichkeit, die es heute kaum noch gibt — und die auch Konrad, von außen besehen, wenig zu vertreten scheint: der Geruch von Kernseife, nach hinten gekämmte Haare, Bügelwäsche, die morgentliche Rasur vor dem Spiegel, reinweißer Hemdkragen — für einen Moment durchzuckt mich der unheimliche Eindruck, eine mir seit Kindertagen bekannte und lange verschollene Person betrete den Raum, und nicht ein Patient, den ich noch nie gesehen habe. Ehe ich es recht greifen kann, ist das Gefühl verflogen.

Stattdessen greift nun ein anderes Gefühl Raum, das mich über lange Phasen der Therapie begleiten wird: eine ratlose Leere sowie der Eindruck, die Zeit vergehe nur quälend langsam.

Konrad setzt sich, schweigt, blickt auf seine weißen Turnschuhe und eröffnet das Gespräch schließlich mit den Worten: »Ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin. Ich hab gedacht, so etwas wie hier brauche ich eigentlich nicht. Aber mein Hausarzt meinte, ich soll einmal einen Termin bei einem Psychotherapeuten machen.«

»Weshalb denn?«, frage ich.

»Wegen Depressionen. Aber ich weiß nicht, ob ich das wirklich habe. Vielleicht geht es auch um etwas anderes.«

Konrad kann nicht recht erklären, was er damit meint. Er berichtet, dass er seit einiger Zeit unter Panikattacken leidet. Sie kämen vor allem nachts, rissen ihn aus dem Schlaf. Er wisse nicht, ob er schlecht geträumt habe, denn er könne sich seit seiner Jugend nicht an seine Träume erinnern. Er wache auf mit Herzrasen und einem »komischen Gefühl«: »Es ist, als wäre der Raum um mich leer, alles schwarz, da gibt es nichts anderes, nur mich und sonst nichts. Dann ist da so eine Angst, ich weiß nicht, vor was.« Der Arzt habe alles Mögliche abgeklärt, mit seinem Herzen und »im Kopf« sei alles okay. »Also mehr oder weniger«, sagt Konrad. Er sei kein Hypochonder, aber er merke doch, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte, »da oben stimmt etwas nicht« — Konrad tippt mit dem Finger an seine Stirn.

Ich sage: »Nachts aufwachen, und der Raum um Sie herum ist leer. Das hört sich an wie ein Gefühl von schrecklicher Verlassenheit.«

Konrad übergeht meine Worte, spricht weiter, ohne mich anzusehen. Er könne dann nicht mehr einschlafen, müsse grübeln, aber seine Gedanken hätten »keinen Inhalt«. Das sei eigentlich noch schlimmer als die Angst. Etwa vor einem Jahr, im letzten November, habe es begonnen. Er leide allerdings schon länger unter Schlafstörungen, könne sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen habe, »das muss Jahrzehnte her sein«. Damit er überhaupt schlafen kann, nimmt er seit einiger Zeit ein mildes Antidepressivum.

Ich frage: »Haben Sie selbst eine Idee, wie das kommt: das mit der Angst und den Schlafstörungen?«

Konrad: »Ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht … Ich denke, ich brauche einen Neuanfang«, sagt er, »vielleicht ein neuer Job oder eine neue Stadt oder so etwas. Aber wohin, das weiß ich nicht.«

Wie Konrad von sich erzählt, entsteht in mir das Bild eines Mannes, der in der Mitte seines Lebens nicht mehr weiterkommt, der an einem unsichtbaren Hindernis festzuhängen scheint. Er arbeitet als Techniker im örtlichen Planetarium. Für meine Ohren klingt das nach einer durchaus interessanten Tätigkeit, doch noch ehe ich etwas dazu sagen kann, beschreibt Konrad sie so: »Das ist eigentlich nur für Besucher spannend. Wenn man das erste Mal da ist oder als Kind oder so. Aber wenn man es hundert Mal gesehen hat: Das ist auch nichts anderes als ein Kino, nur dass die Filme veraltet sind.« Die Arbeit sei in Ordnung, aber im Grunde langweile er sich und würde gerne etwas anderes machen als jeden Tag »künstliche Sterne« an die Leinwand werfen. Er hat schon einige Anläufe unternommen, Kurse gemacht, Fortbildungen, aber daraus ist immer nichts geworden, »nie hab ich wirklich etwas umgesetzt«. Warum, kann Konrad nicht sagen, irgendwie »ging es dann immer nicht weiter, wenn es darauf ankam«.

Er lebt alleine, seine letzte Beziehung ist vor einigen Jahren in die Brüche gegangen. Er wünsche sich eigentlich schon Familie und Kinder und hätte sich das auch mit Tanja, seiner letzten Partnerin, vorstellen können.

»Aber irgendwie hat etwas zwischen uns gefehlt. Seitdem habe ich nicht mehr wirklich gesucht. Jetzt bin ich auch schon 42. Ich glaube nicht, dass das noch etwas wird.«

Die Beziehung mit Tanja sei die längste in seinem Leben gewesen, über fünf Jahre waren sie ein Paar. Zu Beginn der Beziehung habe es eigentlich gut gepasst zwischen beiden. Doch nach und nach habe Tanja ihm immer mehr Vorwürfe gemacht, immer wieder Dinge eingefordert: »Sie war eigentlich ständig enttäuscht von mir. Sie meinte: ›Du bist nie wirklich da!‹«

Als ich ihn frage, was Tanja damit gemeint haben könnte, antwortet Konrad: »Ich weiß es immer noch nicht. Ich hab mir schon Zeit genommen. Wir haben Sachen unternommen, haben das gemacht, was sie wollte … aber das hat ihr irgendwie nicht gereicht. Anscheinend konnte ich ihr nicht geben, was sie gesucht hat.«

Konrad erzählt davon ohne Vorwurf oder irgendeine andere Regung in der Stimme, liefert mir eher einen faktischen Bericht. Mittlerweile hat Tanja einen neuen Partner, im letzten Jahr haben sie und er eine Tochter bekommen. Zur Geburt kam eine Karte mit einem Foto der Kleinen: Sie sei »wirklich süß«, er erkenne Tanja in ihren Gesichtszügen wieder. Statt die Karte wegzuwerfen, wie er es eigentlich habe machen wollen, habe Konrad sie behalten, sie sogar bei sich im Wohnzimmer aufgestellt.

Ich sage: »Wie eine Erinnerung daran, was Sie sich eigentlich mit ihr ersehnt haben.«

Konrad, ohne aufzusehen: »Ja.«

Ich: »Das muss ziemlich schmerzhaft gewesen sein.«

Konrad: »Ich freue mich für Tanja, dass es ihr gut geht. Dass sie es geschafft hat, glücklich zu sein.«

Ich: »Aber Sie selbst haben das Gefühl, dass Sie es nicht schaffen …«

Konrad: »Das ist kein Gefühl, sondern die Wahrheit. Ich hab es verbockt.«

Als ich meinen Gedanken ausspreche, er stecke irgendwie im Leben fest und wisse gerade nicht recht weiter, schaut mich Konrad das erste Mal an und nickt: »Das trifft es gut.«

Mein erster Eindruck ist, dass Konrad unter so etwas wie einem festgefrorenen Liebeskummer leidet. Seine Beziehung, in die er Hoffnungen gesetzt hatte, ist gescheitert, und er kann sich nicht erklären, warum. Das ist ihm nicht das erste Mal passiert, schon mehrere Beziehungen seien auf ähnliche Weise gescheitert. Doch es scheint nicht nur um eine Partnerschaft und die Gründung einer Familie zu gehen, sondern um etwas ganz Grundsätzliches in Konrads Leben. Er hat keine echte Freizeitbeschäftigung; mit seinen wenigen Freunden unternimmt er nur selten etwas. Er geht einem Beruf nach, mit dem er nicht wirklich zufrieden ist — »künstliche Sterne« statt etwas, das für ihn Bedeutung hat —, zumindest kann er seine Tätigkeit, obwohl sie eigentlich interessante Seiten hat, nicht mit einer solchen Bedeutung besetzen, führt sie nur maschinenhaft-gleichgültig aus. Aus irgendeinem Grund kann Konrad eine bestimmte Schwelle im Leben nicht nehmen, nicht wirklich zu etwas finden, das ihn zufrieden macht. Etwas fehlt. Aber was?

Ich sage: »Ich habe das Gefühl, Sie warten auf etwas, aber es kommt nicht. Das Leben zieht weiter, andere gründen eine Familie, scheinen glücklich zu sein. Aber für Sie wird die Zeit knapp. Vielleicht lässt Sie das in der Nacht aufschrecken?«

Konrad: »Aber das ist eigentlich ziemlich dumm. Im Leben gibt es nichts umsonst, da braucht man auf nichts warten. Man muss es selbst in die Hand nehmen, etwas aus sich machen. Das hab ich nicht geschafft.«

Ich: »Ihr Leben ist aber noch nicht am Ende.«

Konrad: »Aber viel Zeit habe ich nicht mehr. Man setzt sich in meinem Alter auf keine Schulbank mehr. Man gründet auch keine Familie mit 50« — er lacht verbittert — »da haben andere bald schon Enkelkinder.«

Ich: »Dann ist es vielleicht wichtig zu verstehen, warum das so ist. In unserer Arbeit könnte es darum gehen, herauszufinden, was Sie festhält — und wie Sie weiterkommen können.«

Konrad gibt ein »Das hört sich gut an« zurück — aber er verzieht keine Miene dabei, sodass mir nicht klar ist, wie er es meint. Ich habe das Gefühl, ihm einen naiven Optimismus anzuempfehlen, der an der kalten Hand der Realität erfriert. Wenngleich ich doch auch ein kurzes Aufglimmen von Hoffnung zu vernehmen glaube. Obwohl die Zeit während der Stunde nur zäh voranzuschreiten scheint, ist die Sitzung auf einmal überraschend schnell zu Ende. Ich fühle mich plötzlich unter Druck — eigentlich gibt es noch so viel zu besprechen, ich habe ja noch gar nicht wirklich etwas über Konrad erfahren; als hätten wir uns zum Mittagessen verabredet, und nach der Suppe wird schon abgedeckt.

Als ich Konrad eine weitere Sitzung anbiete, nimmt er an. Dabei erkundigt er sich nach meiner »Arbeitstechnik«. Er hatte erwartet, dass ich ihm Ratschläge und Tipps gebe, wie er besser klarkommen kann. Es gebe doch solche Trainings, »wie finde ich mein Glück in zehn Schritten und so was« — Konrad spricht, als würde er selbst nicht daran glauben, aber erwarten, dass ich ihm genau so ein Programm hier verordnen werde.

Ich sage: »Es klingt, als rechnen Sie damit, dass ich Ihnen etwas vorgebe, eine Anleitung zum Glücklichsein. Aber wäre das nicht nur der nächste Kurs, die nächste Ausbildung, die zu scheitern droht?«

Konrad antwortet mit einem »Hm«. Ich beschreibe ihm die unterschiedlichen Therapieformen, auch solche, die mehr auf Vorgaben und Anleitungen aufbauen. Unsere Gespräche wären hingegen erst einmal ganz offen, damit wir uns Zeit nehmen können herauszufinden, worum es eigentlich geht.

»So darüber zu sprechen, wie hier, das ist schon auch gut«, meint Konrad schließlich. Er berichtet, dass es seine Halbschwester Yvonne war, die »ihm den Kopf gewaschen« und ihn gedrängt hat, endlich mal »mit jemandem darüber zu reden«.

»Wie geht es Ihnen jetzt nach dem Gespräch?«, frage ich.

»Gut«, sagt er, mit jener ungerührten Stimme, die ich nicht recht zu interpretieren weiß. Konrad geht aus der Stunde, verabschiedet sich mit demselben freundlichen, aber müden Blick, mit dem er mich begrüßt hat, seufzt leise, als er die Praxis verlässt.

Nach dieser ersten Stunde breiten sich erst einmal Ratlosigkeit und Unbehagen in mir aus. Es fühlt sich an, als wäre etwas Wesentliches unausgesprochen geblieben, als hätte ich etwas versäumt — obwohl ich gar nicht sagen könnte, was. Es bleibt allein die Spannung einer unbefriedigenden Ungewissheit in mir, die sich nicht aufgelöst hat.

Die Gefühle, die in mir als Therapeut in der Begegnung mit einem Patienten entstehen, haben in der Psychoanalyse eine besondere Bedeutung. Was ich fühle, kann natürlich mit mir selbst zu tun haben, mit eigenen Unsicherheiten; aber es kann auch durch etwas hervorgerufen werden, das in der Stunde geschieht. Es gehört zum psychoanalytischen Arbeiten, solche Gefühle nicht auszublenden oder beiseitezuschieben, sondern zunächst einmal in sich wahrzunehmen und über sie nachzudenken, auch wenn sie irrational oder unwichtig scheinen. Denn in ihnen kann etwas enthalten sein, das für die Therapie bedeutsam ist — wenn man so will, eine Flaschenpost, die mir vor die Füße gespült wird. Jeder Mensch trägt an seine Mitmenschen bestimmte Erwartungen heran, Wünsche, Ängste — und in diesen verbirgt sich oft die Geschichte unserer Beziehungen. Es gibt so etwas wie eine Gefühlserbschaft, die wir aus unserer Vergangenheit mitnehmen. Was wir in emotional bedeutsamen Beziehungen erfahren haben, wird zu einem Teil unserer selbst, formt unseren Blick, wird zu einer Art Schablone, mit der wir auf die Welt schauen: Wir erwarten es auch in künftigen Beziehungen, sei es, dass wir uns danach sehnen, sei es, dass wir uns davor fürchten. Oft merken wir das nicht, die Schablonen sind uns so selbstverständlich, dass uns ihr Vorhandensein gar nicht bewusst wird, sie also unbewusst sind.

Haben wir zum Beispiel Erfahrungen gemacht, die uns zweifeln lassen, ob der andere es gut mit uns meint, dann kann es sein, dass wir uns auch in späteren Beziehungen misstrauisch verhalten, andere wenig an unseren Gefühlen teilhaben lassen. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn wir von unseren Eltern wenig Rückhalt erfahren, uns oft bloßgestellt oder alleingelassen gefühlt haben. In der Psychoanalyse spricht man auch von einer Übertragung, das heißt, wir übertragen unsere vergangenen Erfahrungen auf neue Situationen. Begegnen wir aber einem anderen Menschen mit Misstrauen, wird dieser auf uns reagieren, in der Regel ebenfalls mit negativen Gefühlen: Unser Gegenüber bleibt reserviert, wird vielleicht sogar selbst misstrauisch. Diese Dynamik wird in der Psychoanalyse Gegenübertragung genannt, sie bezeichnet das, was die Übertragung einer Person in einer anderen Person auslöst. Die Muster von Übertragung- und Gegenübertragung knüpfen sich in allen menschlichen Beziehungen, immerzu und in alle Richtungen. Wenn sich zwei Menschen begegnen, ergibt sich ein kompliziertes Netz aus Gefühlen und Erwartungen, die beide jeweils an den anderen richten.

Meistens können wir unsere Erwartungen mit der Realität abgleichen und gegebenenfalls anpassen: Wir fürchten vielleicht, dass der andere uns nicht mag, aber können uns dann doch für eine Begegnung öffnen, wenn wir merken, dass diese Befürchtung nicht berechtigt ist. Tragen wir aber eine tiefe Verletzung in uns, kann uns diese Flexibilität verloren gehen, dann fällt es uns schwer, die Fühler nach neuen Erfahrungen auszustrecken. Das ist es, was man in der Psychoanalyse eine verinnerlichte Beziehungsstörung nennt, die sich oftmals — wenngleich nicht immer — mit einer psychischen Störung verbindet. Wir sind auf ein Thema fixiert, können im anderen immer nur die Person sehen, die uns einmal verletzt hat. Weil wir so eine große Angst vor einer neuen Verletzung haben, lassen wir etwa gar keinen bedeutsamen Kontakt entstehen oder reagieren auf kleine Irritationen sofort gekränkt, ärgerlich, enttäuscht — was es unserem Gegenüber im Gegenzug schwermacht, uns mit Offenheit zu begegnen. Wieder entsteht eine Beziehungsdynamik, in der wir nicht die Erfahrung machen können, die wir eigentlich so sehr bräuchten: gemocht zu werden, in einen gelingenden Austausch zu kommen. Stattdessen wiederholt sich die Erfahrung eines irgendwie scheiternden Kontakts — und damit in gewissem Sinne auch unsere Vergangenheit. Wir merken oftmals nicht, wie wir selbst immer wieder dazu beitragen, dass sich diese schmerzhafte Situation wiederholt, wie wir selbst dem anderen eine bestimmte Rolle zuschieben. Wir suchen nach Veränderungen im Außen, etwa der endlich »richtigen Beziehung«, dem »richtigen Beruf«, dem »richtigen Wohnort«, merken aber nicht, dass es etwas in unserem Inneren ist, das uns nicht zufrieden werden lässt.

Es ist eine Besonderheit der Psychoanalyse, dass Therapeuten auf Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamiken achten und sie zum Gesprächsgegenstand machen — dies hilft, sich festgefahrener Beziehungsmuster bewusst zu werden und auch den eigenen Anteil daran zu reflektieren. Dazu ist jedoch erst einmal ein gewisses Moment von Zurückhaltung aufseiten des Therapeuten notwendig — um gerade nicht in alte Automatismen zu verfallen, etwa sofort zum zurückweisenden Gegenüber zu werden. Deshalb muss auch ein Therapeut seine eigenen Gefühle, das heißt seine Gegenübertragung in die Reflexion einbeziehen.

Wie verhält es sich diesbezüglich bei Konrad? Das ist nach unserem ersten Treffen schwer zu sagen. Ich habe ja noch fast gar nichts über seine Biografie und seine Familiengeschichte erfahren, kenne sozusagen die Rollen noch nicht, die in seinem Leben bestimmend waren und sind. Dennoch ist zunächst einmal ein Kontakt entstanden, der einen Funken Hoffnung weckt: Die Therapie könnte helfen. Zugleich scheint es, als würde dieser Funken keine Glut entfachen, sondern in einem rätselhaften Dunkel zerstieben. Eine Begegnung, wenn man so will, »mit Potenzial«, das aber nicht wirklich ausgeschöpft wird. Es ist, als hätte sich in unserem ersten Zusammentreffen sein Lebensthema — die eigenen Möglichkeiten nicht ergreifen zu können — in einer mikroskopischen Szene wiederholt. Plötzlich wird die Zeit knapp, die Stunde ist zu schnell alt geworden.

Konrad und ich nehmen uns in den kommenden Wochen Zeit, um auszuloten, ob wir gut zusammenarbeiten können. Er erzählt in dieser Zeit auch mehr Details aus seiner Geschichte. Es ist eine sehr traurige Geschichte, auch wenn Konrad sie ungerührt vorträgt. In mir entsteht das Bild eines Lebensweges, der schon früh von Abbrüchen und Verlusten gezeichnet ist. Konrad hat seine Eltern verloren, als er noch ein junger Mann war, zuerst den Vater, wenige Jahre später auch die Mutter, beide unter mir noch unklaren Umständen.

Konrad kommt, wie er sagt, »aus einfachen Verhältnissen«. Geboren ist er in den 1970er-Jahren in einer kleinen Stadt in Norddeutschland. Seine Eltern haben ihn recht spät bekommen, er ist das einzige Kind geblieben. Er hat eine ältere Halbschwester aus einer früheren Beziehung des Vaters, Yvonne, die allerdings in einer anderen Stadt aufgewachsen ist. Seine Mutter arbeitete als Verkäuferin, hat ihren Beruf aber nach der Geburt aufgegeben. Konrads Vater war Lkw-Fahrer und nur selten zu Hause. Er habe als kleiner Junge seinen Vater vermisst, obwohl das Verhältnis der beiden eher distanziert gewesen sei. Aber man ersehnt ja zumeist das, was man am meisten vermisst. Der Beruf des Vaters habe auf ihn als Kind einen großen Eindruck gemacht, er habe sich immer vorgestellt, wie der Vater in die Ferne fährt und dort etwas Abenteuerliches erlebt. Zu Hause sei der Vater oft müde und misslaunisch gewesen, wortkarg. Er habe sich im Grunde nicht viel für Konrad interessiert. Einmal habe er versprochen, zu einem wichtigen Spiel von Konrads Fußballmannschaft zu kommen, an einem Sonntagvormittag, es dann aber »wieder verpasst, er hatte irgendeinen Auftrag, bei dem er einspringen musste«. In diesem Spiel schoss Konrad ein entscheidendes Tor.

»Aber freuen konnte ich mich nicht.«

Ich sage: »Weil die entscheidende Person nicht da war, für die Sie das Tor eigentlich geschossen haben.«

Konrad: »Das war üblich so bei ihm. Arbeit geht vor.«

In Konrads Fantasie war der Vater auf seinen Reisen ein anderer, und als Junge träumte er immer davon, dass er einmal mit dem Vater auf eine Tour fahren darf.

Ich: »Damit Sie endlich den Vater kennenlernen, nach dem Sie sich so gesehnt haben.«

Konrad wiegelt ab: »Ja, aber so toll war das dann gar nicht.«

Als ihn der Vater einmal mitnimmt, Konrad war schon ein Jugendlicher, ist er enttäuscht: immer nur Straßen, Firmengelände, Tankstellen und Zeitdruck und sein Vater genauso stumm und mürrisch wie zu Hause. Dort auf den Autobahnen findet Konrad nicht, wonach er sucht. Aber vielleicht an einem anderen Ort, ferner noch, wohin keine Straßen führen?

Konrad beschreibt seine Eltern als bemüht, aber doch viel mit sich beschäftigt, »nicht wirklich da«. Beim Vater ist das im wörtlichen Sinne zu verstehen, aber in einem übertragenen Sinn gilt es auch für die Mutter. Wenn der Vater zu einer seiner wochenlangen Touren aufbrach, sagte er schon früh zu Konrad: »Gib auf die Mutti acht.« Das nicht ohne Grund. In Konrads Erzählungen wirkt die Mutter auf mich, als hätte sie an Depressionen gelitten, auch wenn dieses Wort in der Familie nie gefallen ist. Gerade, wenn der Vater nicht da war, sei sie tagelang nicht aus dem Bett gekommen, habe immer gesagt: »Konny, mach dir dein Frühstück heute selber.« Seine Mutter stammte aus der DDR, einer ländlichen Region, »aber sie ist noch rechtzeitig rübergekommen, bevor die Mauer da war«. Ihre Eltern, Konrads Großeltern, seien aber hinter der Mauer geblieben. Die Familie sieht sich nie wieder. Auf den wenigen alten Fotos von seiner Mutter als junger Frau sieht sie »eigentlich glücklich aus«. Aber später sei sie »immer schlecht drauf« gewesen, ob das mit »Heimweh« zu tun hatte, wisse er nicht.

In der Schule hatte Konrad eigentlich sehr gute Noten, von den Lehrern bekam er eine Empfehlung fürs Gymnasium. Dort hatte er aber Schwierigkeiten, kam in der Klasse nicht so gut klar. In der siebten Stufe fiel er durch. Daraufhin meldeten ihn seine Eltern von der Schule ab mit der Begründung, er solle lieber auf die Realschule gehen und einen Beruf lernen. Das habe er dann auch gemacht und »Mechaniker gelernt«. Doch das sei letztendlich langweilig gewesen. »Also der Job ist schon okay, aber es war nicht so mein Ding.«

Konrad nimmt nach der Ausbildung noch einen neuen Anlauf, versucht, an einer Abendschule sein Abitur nachzuholen, da ist er 19 Jahre alt. In dieser Zeit erkrankt der Vater an Lungenkrebs und stirbt wenige Monate später. Konrad bricht die Abendschule ab, obwohl er dort gute Fortschritte macht.

»Auf einmal hab ich keinen Sinn mehr darin gesehen. Das war dumm. Eigentlich wollte ich ja studieren. Aber irgendwie ging das alles dann nicht mehr«, sagt er.

»Vielleicht hatte das mit dem Tod Ihres Vaters zu tun. Als hätten Sie auch für ihn die Schule besucht, und wo er nicht mehr da war, da fehlte etwas, das Ihnen Sinn gegeben hat«, sage ich.

»Ich weiß nicht. Ich wollte ja etwas ganz anderes machen als er. Er hat sich nie groß dafür interessiert, was ich mache«, antwortet Konrad.

Der Abbruch seines Abiturs, nicht der einzige in seinem Leben, bleibt rätselhaft.

Konrad bleibt in den nächsten Jahren in der Nähe der Mutter, deren Zustand immer desolater wird. Sie stirbt, als Konrad, mittlerweile 25, gerade im Urlaub auf Mallorca ist. Die Nachbarin übermittelt Konrad die Nachricht, seine Mutter sei »einfach nicht mehr aufgewacht«. Als er zurückkehrt, ist die Mutter schon abgeholt worden, er sieht sie nicht wieder. »Man hat sie gleich ins Krematorium gebracht und eingeäschert«, sagt Konrad — was sich für mich merkwürdig anhört. Konrad schildert die Umstände so, dass ich mir nicht sicher bin, ob die Wendung »nicht mehr aufgewacht« nicht doch die Umschreibung für einen Suizid ist, über dessen Umstände man Konrad nicht genau aufklären oder die er selbst nicht genau kennen wollte.

Konrad geht nach dem Tod der Mutter für mehrere Jahre auf Reisen, nach Australien und Neuseeland, lernt dort eine Frau kennen, kehrt aber wieder nach Deutschland zurück, als es ernst wird zwischen beiden. Aus seiner Familie bleibt ihm nur Yvonne, seine ältere Halbschwester, mit der er ein gutes Verhältnis hat, die aber weiterhin mehrere Hundert Kilometer entfernt lebt. Seit dieser Zeit ist er in wechselnden Jobs als Techniker tätig, bis er schließlich die Anstellung am Planetarium findet, wo er die Projektoren betreut. Er geht, da schon ein Mann in den Dreißigern, die Beziehung mit Tanja ein, die mehrere Jahre dauert, die beiden ziehen auch in eine gemeinsame Wohnung.

»Nun, das Ende kennen Sie ja bereits«, schließt Konrad, »seitdem ist eigentlich nicht mehr viel los.« Er schaut mich aus müden Augen an, als hätte all das Erzählen ihm nur wieder in Erinnerung gerufen, wie viel Lasten ihm das Leben schon aufgebunden hat, wie viele Trümmerteile vergebener Hoffnungen sich hinter ihm auftürmen.

Während ich Konrads Geschichte niederschreibe, fällt es mir schwer, die Atmosphäre im Therapieraum wiederzugeben, während er sprach. Obwohl Konrad schon da alle wesentlichen Details aus seiner Geschichte berichtet — und es sich um eine bestürzende Geschichte handelt —, bin ich in den Stunden eigenartig fühllos, unberührt, wie betäubt. Die Ereignisse und Jahreszahlen huschen an mir vorbei. Eigentlich müsste an so vielen Stellen ein Nest schmerzlicher Empfindungen glühen: die Vatersehnsucht, die Leere und Leblosigkeit im Kontakt mit der Mutter; die Enttäuschung, es nicht zum Abitur zu schaffen; der frühe Verlust seiner Eltern; das Scheitern seiner Beziehungen. Konrad sucht etwas, das er auch in den fernsten Winkeln der Erde nicht gefunden hat, weil es am Ende vielleicht etwas in ihm selbst ist, das er nicht finden kann. Aber was?

Konrad spricht nahezu ohne emotionale Beteiligung, was mich immer wieder dazu verleitet, ihm Gefühle gleichsam anzubieten, als wolle ich um sein fühlendes Herz werben, das sich irgendwo in seinem Faktenbericht verstecken muss: »Das war für Sie bestimmt nicht leicht.« Oder: »Das muss traurig gewesen sein.« Oder auch: »Sie hatten sicherlich große Sehnsucht.« Konrad wiegelt das alles ab, er verneint es nicht, stimmt manchmal sogar zu, aber einen emotionalen Zugang öffnet das nicht. Ich komme mir vor wie jemand, der draußen vor verschlossenen Türen steht und ans Fenster klopft — ein wenig zu polterig, als würde ich darauf beharren, über Dinge zu sprechen, die für ihn eigentlich erledigt scheinen. Gleichsam wie das leibhaftige Klischee eines Psychoanalytikers, der in der Vergangenheit bohrt, Eintritt in Konrads innere Welt zu erlangen sucht, wo er sich eigentlich nur ein besseres Schloss für seine Tür von mir wünscht.

Ich glaube, Konrad hat in seinem Leben selbst schon früh vergeblich an solche Türen geklopft, bei anderen Menschen, wie ich jetzt bei ihm — aber wenn niemand aufmacht, entsteht vielleicht eine grundlegende Überzeugung, dass diese Mühe vergeblich ist. Es ist etwas wie eine fundamentale Resignation in ihm, beinahe anorganisch wie die Materie, bevor sie zum Leben erweckt wurde. Ich bin fast geneigt, sein Angstsymptom — die Panik — als ein Zeichen von Lebendigkeit zu werten. Angst heißt ja immer auch, leben zu wollen. Immerhin: Sein Symptom — und die Aufmunterung seiner Schwester — waren es auch, die ihn dazu bewegt haben, eine Therapie zu beginnen. In irgendeinem Winkel seiner Seele hofft er vielleicht, dass es jemanden gibt, der helfen kann.

In einer Stunde sage ich: »Vielleicht war das alles zu schmerzhaft für Sie. Wenn Sie das alles hätten fühlen müssen, wären Sie an diesem Gefühl verbrannt. Sie haben Ihren fühlenden Teil in Eis gepackt. Und wir beide stehen gerade vor dieser Wand aus Eis.«

Konrad schaut mich ein wenig scheel an, antwortet mir mit einem seiner »Hms«.

Als ich nachfrage, was er denn im Kopf hat, wenn er mir ein »Hm« zuschiebt, antwortet er: »Ne, stimmt schon, Sie könnten recht haben mit dem Eis« — aber wieder klingt es, als würde er ausweichen, als könne er mich am besten auf Distanz halten, indem er mir mit Worten ein Zugeständnis macht.

Es wirkt überhaupt, als wäre er skeptisch gegenüber allen allzu »psychologischen« Deutungen oder einer Sprache, die zu bilderreich und metaphorisch ist. »Ich bin eher so ein rationaler Typ«, sagt Konrad — obwohl ich von Anfang an das Gefühl habe, dass er eigentlich sehr sensibel ist.

Lässt sich seine Problematik nicht geradewegs in diesem Licht beschreiben: Konrad hat nur wenig Zugang zu seinen eigenen Gefühlen und damit auch wenig Zugang zu sich selbst? Wir brauchen diesen Kontakt zu uns selbst, damit wir uns lebendig fühlen. Ohne ihn ist die Welt für uns leer und dürftig. Etwas in Konrad hat diesen Kontakt unterbunden. Man könnte auch sagen: Konrad hat etwas verdrängt, wobei ich dieses Wort ungerne verwende, da es so viele Assoziationen hervorruft und oft missverstanden wird. Es geht nicht darum, dass sich Konrad nicht an die traurigen Ereignisse seiner Geschichte erinnert: Er hat sie mir ja berichtet — aber die Verbindung zu den damit verbundenen Gefühlen ist gekappt. Obwohl diese Gefühle vielleicht noch da sind, ihn untergründig zu beherrschen scheinen, er sie gerade nicht hinter sich lassen kann. Es scheint, dass Konrad alle psychischen Kräfte aufwenden muss, das Tor zu diesen schmerzhaften Erinnerungen zuzudrücken. Vielleicht ist das Konrads inneres Dilemma: Er kann sich nicht lebendig fühlen, solange er keinen Zugang zu seiner Gefühlswelt findet, aber einen Zugang zu finden würde zugleich bedeuten, von Schmerz überwältigt zu werden.

Ohne Verbindung zu sich selbst verarmt aber auch die Beziehung zu anderen, denn ohne Gefühle wird jedes Gespräch leer, gewinnen Worte keine Bedeutung, können auch andere nicht mit ihm in Resonanz kommen. Vielleicht weiß er selbst gar nicht, wie viel Schmerz er in sich trägt, denke ich, es ist da nur dieses gefrorene Meer in ihm, das ihn immer wieder sagen lässt: »Ich weiß nicht, ich kann es nicht fühlen« oder einfach »hm«. Konrad wirkt so tief in sich vergraben, kann mit dem, was ich sage, nicht wirklich etwas anfangen, dass ich mich frage, ob eine Therapie, bei der es vor allem um das Sprechen über das innere Erleben geht, wirklich das Richtige für ihn ist. Wie kann ich Konrad helfen?

Manchmal sind es weniger die Worte, die ein Mensch spricht, als seine Fantasien, Interessen oder etwas scheinbar Nebensächliches, worin sich der »lebendige« Teil des Selbst verbirgt. Konrad spricht in den ersten Wochen wenig von solchen Dingen: wovon er träumt, wofür er sich begeistert, was ihn interessiert. Bis auf eine Sache, die mir wie ein Farbfleck auf einer grauen Leinwand erscheint: seine Faszination für das Weltall. Schon als Jugendlicher, sagt Konrad, habe er viel gelesen, Science-Fiction, vor allem aber Sachbücher über Astronomie. Das sei bis zum heutigen Tag so geblieben, er »binge« oft bis in die Nacht Podcasts oder Erklärvideos zu diesem Thema. Sein Arbeitsplatz im Planetarium ist also nicht ganz zufällig gewählt. Auch wenn er sich darüber beklagt, dass er es hier mit »künstlichen Sternen« zu tun hat, steckt darin doch ein wahres Interesse. Konrad verrät mir, dass er schon als Jugendlicher den heimlichen Wunsch hatte, Astrophysiker zu werden. Deshalb wollte er sein Abitur nachholen, auch wenn er seinen Eltern damals nichts davon erzählte. Erst viel später in der Therapie wird er mir schildern, dass er, wenngleich auf einem anderen Weg, immer noch an der Verwirklichung dieses Traumes arbeitet, auf eine Weise, die ich ihm zu Beginn der Therapie nicht zugetraut hätte.

Es ist dieses Gespräch über seinen alten Wunsch, Astrophysiker zu werden, in dem zum ersten Mal ein wirklicher Austausch stattfindet, wir in Kontakt kommen. Vielleicht spürt Konrad, dass auch ich mich für das Thema interessiere — immerhin kann er dieses Interesse wahrnehmen, und ein wenig Lebendigkeit kommt in den Raum. Es beginnt ein Dialog, in dem wir uns vordergründig über Sternensysteme austauschen, in dem aber vielleicht zugleich noch etwas ganz anderes mitgeteilt wird — als sprächen wir nicht nur über einen fernen Planeten, sondern auch über Konrad.

Er beschreibt, dass er durch einen Podcast von der Entdeckung eines Planeten in einem benachbarten Sternensystem erfahren hat, der sich in der »bewohnbaren Zone« befindet.

»Es könnte dort Leben geben?«, frage ich.

»Man weiß es nicht. Aber es ist eher unwahrscheinlich.« Der Stern, an den der Planet gebunden sei, weise in unregelmäßigen Abständen immer wieder »Ausbrüche« auf, die den Planeten wahrscheinlich radioaktiv verstrahlten.

»Wenn dort etwas lebt, dann hat es nicht viel Zeit, sich zu entwickeln. Immer nur von Ausbruch zu Ausbruch, ehe es wieder ausgelöscht wird und von Neuem beginnen muss. Vielleicht hat der Planet aber gar keine Atmosphäre mehr, die ihn schützt, und es kann dort ohnehin nichts entstehen.«

»Hm«, sage ich. Ein Schweigen tritt ein, ehe ich hinzufüge: »Dann wäre es eine leere und tote Landschaft.«

»Ja«, sagt Konrad, »aber irgendwie — ich weiß nicht. Gerade das hat ja etwas. Der Wüstenplanet. Das hat mich irgendwie schon immer fasziniert.«

Als Konrad mir seine Vorstellung ferner Wüstenwelten näherbringt, wird sein Blick wacher, in sein Sprechen kommt ein Moment von Leidenschaft — als würde er gerade dort lebendig, wo es um das Tote geht. Auch in mir entstehen beinahe poetische Fantasien, aber grauenvoller Art: der Planet, der den Mutterstern umkreist, wieder und wieder, wie in der Hoffnung, von ihm endlich jenen Funken zu empfangen, der Leben wecken könnte. Aber es kommt nur das tödliche Licht.

»Es ist merkwürdig«, sagt Konrad, »warum es das überhaupt gibt. Einen Planeten, bei einem fernen Stern, wo nichts ist, nur Leere.«

»Sie meinen, weil eine Erde ohne Leben sinnlos ist?«, sage ich, fragend, unverständig.

»Aber auch anziehend …«, sagt Konrad und fügt nach einer Weile hinzu: »Der Planet fühlt es ja nicht, das Sinnlose.«

»Weil er nicht lebendig sein muss.«

»Ja«, sagt Konrad und sieht mich an, als wäre er überrascht von meiner Antwort.

Am Weltall habe ihn immer schon die Leere des Raumes fasziniert, mehr als die Frage, ob es Leben gibt. »Denn selbst wenn es dort irgendwo andere Lebensformen gibt, können wir wahrscheinlich nie voneinander erfahren.« Es gäbe Hohlräume im All, die allein durch ihr ungeheures Ausmaß jede Verbindung unmöglich machten. Denn selbst ein Lichtstrahl, den man von einem Ort zum anderen schicke, könne sein Ziel nie erreichen, bevor es nicht schon lang erloschen sei.

Dieser Lichtstrahl, so denke ich, ist ein Bild dafür, wie Konrad Beziehungen erlebt: als wäre es vergeblich, je beim anderen anlangen zu wollen, die Ferne zwischen ihm und dem anderen unüberwindlich. Es ist aber auch ein Sinnbild für unsere gemeinsame Arbeit, unsere Therapie: eine Reise, von der Konrad nicht glauben kann, dass sie an ein Ziel gelangen wird, statt immer nur neue Räume der Leere in seinem Innern zu durchmessen. Eine Reise, die er aber dennoch unternimmt, indem er zu unseren Sitzungen kommt. Ein Teil von ihm identifiziert sich mit dem Toten. Er empfindet eine Faszination für die Leere, wie eine abgründige Lust am Nichts, die ich auch in anderen Lebensbereichen an ihm wahrzunehmen meine, als wäre die Hoffnungslosigkeit sein heimlicher Trost, als könne nur das Nichts so etwas wie Geborgenheit geben: von der Leere umhüllt, wie auf einer Reise des Lichts durch die Nacht, allein, und keine Augen um ihn, die ein Urteil sprechen, ohne Schmerz, aber auch ohne Sinn.

Was ist mit dem Teil von ihm, der leben will, der sich nach dem anderen sehnt und nach einem »Wozu«? Ich glaube, auch etwas von dieser anderen Seite wahrnehmen zu können. Es ist viel wert, dass Konrad solche Worte überhaupt finden kann, ein Bild ausgestalten, das eigentlich gut zu seinem seelischen Kosmos passt — auch wenn er es noch nicht mit sich selbst in Zusammenhang bringt. Wer ein Wort oder ein Bild findet für das, was in ihm ist, der hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass er sich einmal doch einem anderen wird mitteilen können.

Ich formuliere in der Stunde keine Verbindung zwischen unserem Gespräch über das Weltall und Konrads innerer Welt, denke das erst einmal nur für mich — auch, weil ich ihm nicht zu nahe treten will und das Gefühl habe, nicht gleich meinen Stiefel in den Spalt der Tür setzen zu dürfen. Schon in der nächsten Woche ist diese Tür — einstweilen — wieder geschlossen und Konrad im Zustande jener Unlebendigkeit, die auch mein Fühlen betäubt.

Nach einigen Wochen Probesitzungen — es ist mittlerweile Dezember geworden — vereinbaren wir schließlich die Aufnahme einer psychoanalytischen Therapie für den Beginn des neuen Jahres, mit drei Sitzungen in der Woche, aber nicht auf der Couch, sondern im Gegenübersitzen.

Die Wand aus Beton

Wie mit Konrad arbeiten? Was sind die Ziele der Therapie? Was möchte Konrad selbst mit der Therapie erreichen? Als ich ihn das frage, ist er ratlos. »Nachts besser schlafen zu können«, sagt er, »und irgendwie — weiterkommen. Aber eigentlich kann ich das gar nicht so genau sagen, was ich erreichen will.«

Ich sage: »Wäre das nicht ein Ziel unserer Arbeit? Dass Sie wissen, was Sie wollen? Und Entscheidungen treffen können, wie Sie Ihr Leben gestalten möchten?«

Konrad sagt, dass er sich eine Beziehung wünscht. Aber er möchte nicht, dass es noch einmal so endet wie mit Tanja. Ob das mit Kindern noch etwas wird, daran zweifelt er. Ob es nicht zu spät ist — »und ob ich es wirklich kann, Vater sein. Oder ob es nicht besser für meine Kinder ist, nicht auf die Welt zu kommen«, sagt er.

»Es ist besser für meine Kinder, nicht auf die Welt zu kommen«: Diesen ernüchternden Satz muss ich für mich wiederholen. Es steckt vielleicht ein Funken Wahrheit darin. Konrad nimmt wahr, dass Kinder etwas brauchen, das er nicht geben kann, solange er unter der Herrschaft jener rätselhaften Leere steht. Wieder ist da diese Resignation — die zweite Hälfe des Lebens ist angebrochen, der Sommer neigt sich dem Ende zu, viele Türen beginnen sich zu schließen. Wird es der Therapie gelingen, daran etwas zu verändern? Und wie lange wird das dauern? Bleibt Konrad dann noch genügend Zeit? Oder käme er, selbst wenn die Therapie ihm einen Weg ins Freie zeigt, in eine Welt, die sich ohne ihn weitergedreht hat und in der er keine Heimat mehr finden kann? Ziel einer Therapie muss nicht immer zwingend sein, neue Möglichkeiten zu eröffnen. Gerade bei älteren Menschen geht es öfter darum, Abschied zu nehmen von dem, was nicht mehr möglich ist, die eigene Geschichte anzunehmen. Auch bei Konrad scheint es darum zu gehen, etwas Versäumtes zu betrauern. Zugleich erhebt etwas in mir Einspruch: Noch ist etwas möglich!

Ich glaube, die Frage nach einer Beziehung und Kindern ist bei Konrad auch in einem übertragenen Sinn zu verstehen. Es geht nicht nur um die leiblichen Kinder einer eigenen Familie, sondern ganz grundlegend um die Frage, ob er etwas ins Leben bringen kann, ob er etwas in sich trägt, das ihm so viel bedeutet, dass er es anderen Menschen geben möchte. Und dahinter steht auch eine ganz grundsätzliche Frage: ob er lieben kann. Nichts aber macht uns so schutzlos, oder in den Worten Sigmund Freuds: »Niemals sind wir so verletzlich, als wenn wir lieben.« Konrad hat das in seinem Leben schon viel zu früh erfahren. Dies vielleicht ist der maßgebliche Punkt, der über die Entwicklung der Therapie entscheiden wird: Kann Konrad noch einmal dieses Wagnis eingehen, sein Herz an etwas binden, an etwas wirklich glauben?

Ich frage Konrad: »Glauben Sie denn, dass etwas anders werden kann?«

Konrad: »Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Ich würde es mir wünschen. Aber ob ich daran glauben kann …« Konrad beendet den Satz nicht.

Ich sage: »Wahrscheinlich können wir beide hier noch keine Antwort geben. Sie und ich wissen noch nicht, was aus unserer Arbeit entstehen kann und was nicht.«

»Ja«, sagt Konrad, »das steht in den Sternen.«

Die ersten Wochen und Monate der Therapie sind für mich quälend und mühsam. Dadurch, dass ich Konrad nun mehrmals in der Woche sehe, greift das Gefühl der Leere nur umso mehr Raum. Konrad spricht über seinen Alltag, seine Arbeit als Techniker, öfter auch über seine vergangene Beziehung zu Tanja. Doch alles, was er sagt, scheint wie der wiederkehrende — und scheiternde — Versuch, der Wüste Leben einzuhauchen. Konrad beschreibt mir die Begebenheiten in einer Weise, dass ich nicht recht weiß, was ich dazu sagen soll. Es gibt scheinbar kein konkretes Problem, keine offene Frage, über die wir uns gemeinsam austauschen könnten, sondern nur fertig gebackene Ausschnitte seines Lebens, Berichte, Anekdoten, die er mir in den Raum legt, mit denen ich aber nicht wirklich etwas anfangen kann. Immer wieder entsteht zwischen uns Schweigen, Leere, manchmal minutenlang. In den Schweigepausen baut sich in mir ein innerer Druck auf, den Zustand durch irgendetwas zu beenden, eine Nachfrage, eine Bemerkung. Aber mein Denken ist wie gelähmt, mir fällt nichts Sinnvolles ein, außer belanglose Bemerkungen: »Wie ist es denn zurzeit in der Arbeit?«, oder: »Wie haben Sie denn das Wochenende verbracht?« Doch auch damit rege ich kein Gespräch an, sondern ziehe nur immerzu einen Fahrschein ins Nirgendwo. Konrad antwortet bemüht, aber einsilbig, wahrscheinlich unter dem Bann derselben Einfallslosigkeit. Unsere Zusammenkünfte haben etwas von endlosen Familienkaffeetreffen, die quälend sind, weil man sich eigentlich nicht wirklich etwas zu sagen hat. Und beim Versuch, die Zeit »totzuschlagen«, entsteht eben nur das: tote Zeit. Ich bin erleichtert, wenn die Turmuhr mir das nahe Ende der Stunde ankündigt, aber immer auch unbefriedigt: Wie kann ich nur in Kontakt mit Konrad kommen? Ich beschwichtige mein Unbehagen mit einer abstrakten Hoffnung: Morgen gehe ich es anders an.

Doch die Stunden gleichen sich. Morgen ist wie gestern. Immer wieder ergibt sich jene charakteristische Konstellation in unserer Begegnung, in der Konrad ratlos wirkt, sich eine Leere ausbreitet — weil nicht wirklich Gefühle im Raum sind —, während ich auf eine irgendwie unbeholfene Weise versuche, so etwas wie emotionale Wiederbelebungsmaßnahmen zu ergreifen. Ich unterbreite ihm Vorschläge, was er vielleicht empfinden könnte, versuche zu benennen, was ihn eigentlich bewegt, worum es in der Stunde wirklich geht. Das allerdings ist die Frage: Worum geht es in den Stunden?

Einmal berichtet Konrad von einer Situation im Planetarium, die ihm am Vortag widerfahren ist. Ein Besucher, wohl auf der Suche nach der Toilette, war unerlaubt in den Maschinenraum eingedrungen und ließ sich, neugierig geworden, nicht wieder hinauskomplementieren, obwohl Konrad ihm — allerdings auf sehr verklausulierte Weise — sagte, dass dies kein Besucherraum sei. Konrad habe schließlich resigniert und so getan, als wäre der Besucher nicht da, bis dieser endlich gegangen sei.

Die Geschichten, die Patienten während der Therapie erzählen