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Ein Kind wird geboren, aber es passt partout nicht in das Schema Hellblau-Rosa oder Junge-Mädchen. Was aufgrund genetischer Konditionen als seltene, aber trotzdem "natürliche" Variante gelten muss, entwickelt sich für das Kind und seine Eltern zu einer schwierigen Kette von Problemen und Entscheidungen, meistens begleitet von Ängsten, Unwissenheit, Vorurteilen und Fehlinformationen.Clara Morgen schreibt über ihr Leben mit ihrem Kind, das zunächst Franz, dann aber nach ärztlichem Gutachten Franzi genannt wird, über Ärztinnen und Ärzte und deren Diagnosen, über die Fragen der Offenheit gegenüber dem Kind und dem Freundes- oder Bekanntenkreis, über die fatalen Probleme und Folgen von Operationen, über Selbstzweifel und schlechtes Gewissen. Aber auch über das Glück, dieses Kind besonders zu lieben und in einer Umgebung aufwachsen zu sehen, die das "Anderssein" akzeptiert und so dem Kind das notwendige Selbstbewusstsein und die Würde gibt, die jedes Kind zum Aufwachsen und Erwachsenwerden braucht. Eine sehr persönliche Erzählung, ergänzt durch Interviews mit anderen Eltern, Ärztinnen und Ärzten, intersexuellen Menschen und Interessengruppen.
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Seitenzahl: 173
Clara Morgen
Mein intersexuelles Kind
weiblich männlich
fließend
Mit Unterstützung der
© 2013 by: TRANSIT Buchverlag
Berlin · FörbauPostfach 121111 | 10605 Berlinwww.transit-verlag.de
Umschlaggestaltung und Layout: Gudrun FröbaDruck und Bindung: Pustet, RegensburgISBN 978-3-88747-292-4ISBN 978-3-88747-298-6 ebook
INHALT
FRANZI
Vorwort
»Penis nicht darstellbar«
»Vielen Dank für die Kastration«
»Bloß nicht die Wahrheit sagen«
»Unter Hitler wäre ich ins KZ gekommen«
»Ich gehöre auch zu denen …«
»Sie sehen aus wie Mädchen und spielen Fußball wie Jungs«
Epilog
GESPRÄCHE
»Zeitweise hab ich mich wie ein Monster gefühlt«
»Was biste denn nun, Junge oder Mädchen?«
»Ein Schweigegebot hätte mich umgebracht!«
»Grenzüberschreitung scheint mein Lebensthema zu sein«
POSITIONEN
Claudia Kittel, National Coalition
Dr. Heinz-Jürgen Voß, Biologe
Arn Sauer, TransInterQueer
Dr. Ulrike Klöppel, Psychologin
Dr. Jörg Woweries, Kinderarzt im Ruhestand
Dr. Michael Wunder, Psychotherapeut
Glossar
Literaturempfehlungen
Intersex in Film und Funk
Die Autorin
Für M. und K.
Vorwort
Sommer 2011. Der deutsche Ethikrat tagt am Berliner Gendarmenmarkt. Thema: Die Situation von Menschen mit Intersexualität in Deutschland. Als Mutter einer erwachsenen intersexuellen Tochter sitze ich im Auditorium. Die Vorsitzende des Vereins »Intersexuelle Menschen«, eine gestandene Frau um die Fünfzig, gibt mit ruhiger Stimme am Podium ihr Statement ab. Völlig unerwartet wird sie in ihrem Vortrag von einem Weinkrampf erfasst, sie kann nur noch stammeln: »Niemand kann sich in unsere Lage versetzen. Niemand kann verstehen, wie wir fühlen. Wir sind völlig allein gelassen.«
Diese Szene hat mich mitten ins Herz getroffen. Sie hat mich dazu veranlasst, mein Leben mit meinem Kind noch einmal zu reflektieren und dieses Buch zu schreiben.
Wo immer ich das Thema meines geplanten Buches erwähnte, reagierten meine Gesprächspartner gleichermaßen mitleidsvoll und ahnungslos: »Ach ja, Intersexuelle, das sind doch die, die sich mit ihrem Geschlecht nicht wohl fühlen, so Transsexuelle, Transvestiten, Hermaphroditen.« Einzig Hermaphrodit ist richtig. Es gab sie schon in der griechischen und römischen Mythologie. In Ovids »Metamorphosen« wird der Sohn von Hermes und Aphrodite, genannt Hermaphroditos, von der Quellnymphe Salmacis verführt. Salmacis ist so hingerissen vom jungen Hermaphroditos, dass sie die Götter darum bittet, ihre beiden Körper zu einem Wesen zu verschmelzen. Die Götter kommen ihrer Bitte nach, in der Quelle der Nymphe entsteht ein Mensch mit weiblichen und männlichen Geschlechtsmerkmalen.
Bei Ovid heißt es:
»Wie er sich sieht von der Flut,
worein als Mann er gestiegen,
Zum Halbmann gemacht
und schlaff die Glieder geworden,
bittet, die Hände gestreckt,
mit schon unmännlicher Stimme
Hermaphroditus und spricht:
›Erweist, o Vater und Mutter,
Euerem Sohne die Gunst,
der führt von euch beiden den Namen.
Wer in den Quell hier kommt als Mann,
der steige als Zwitter wieder heraus
und erschlaffe sogleich, wie er taucht in das Wasser.‹
Gütig erfüllend den Wunsch
des doppelgestaltigen Sohnes
geben die Eltern dem Quell
das Geschlecht verwirrenden Zauber.«
»Verwirrender Zauber?« Ist damit nicht ganz knapp das Schicksal der Zwitter, Hermaphroditen, Menschen mit Intergeschlechtlichkeit treffend bezeichnet?
Ein Kind, das mit uneindeutigem Geschlechtsmerkmal geboren wird, sei es eine vergrößerte Klitoris, ein winziger Penis, ein Chromosomensatz, der nicht mit den äußeren Geschlechtsmerkmalen übereinstimmt, löst Befremden aus, lässt es sich doch nicht einordnen in die bipolaren Vorstellungen von Mann und Frau. Aber kann ein Zwitter nicht auch als Zauberwesen wahrgenommen werden, dessen Identität eben nicht ausschließlich weiblich oder ausschließlich männlich geprägt ist? Und kann sich daraus nicht auch eine ganz andere, neue Identität ergeben? Eine faszinierende Vorstellung.
Die Einteilung in Mann und Frau wird heute zunehmend in Frage gestellt. Die Frauenbewegung der 1970er Jahre hat viel dazu beigetragen, indem sie biologische, naturgegebene Voraussetzungen für männliches und weibliches Verhalten zur Disposition stellte und ihnen die These vom ausschließlich sozio-kulturell geprägtem Geschlecht entgegen setzte. Die Genderstudies an den sozialwissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten analysieren weltweit die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern.
Auch die Queer-Theorie überprüft kritisch die zweigeschlechtliche Gesellschaftsordnung. Heterosexualität als allein selig machende, die Gesellschaft über Jahrtausende dominierende Norm wird angefochten. Als Alternative zur rigiden Zweigeschlechtlichkeit bietet sie eine Vielfalt von Geschlechtlichkeit an, die jedem, der sich nicht in das gängige Schema einordnen will, offen stehen sollte.
Wie aber empfinden intersexuelle Menschen sich selbst? Wie verhält sich die Gesellschaft ihnen gegenüber? Kann man überhaupt solchen komplexen Fragen und Themen gerecht werden?
Mein Versuch: Ein Herantasten, indem ich im ersten Teil aufschreibe, wie ich die Geburt und das Heranwachsen meines intersexuellen Kindes erlebt und empfunden habe. Und mir im zweiten Teil Antworten auf die oben angesprochenen Fragen hole. In erster Linie von intersexuellen Menschen selbst, zu Experten auf ihrem Gebiet gewordenen Betroffenen, von Selbsthilfegruppen, Eltern, Ärzten, Psychologen.
Ihnen allen danke ich für das Vertrauen, für die Offenheit, für den Mut, mit dem sie mir begegnet sind. Danken möchte ich auch der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und ihrer Leiterin, Frau Christine Lüders, die dieses Buch erst möglich gemacht haben. Und zuletzt natürlich Franzi.
1
»Penis nicht darstellbar«
Franzi 0-1 Jahr
Ich stamme aus einer großen Familie. Wir sechs Kinder waren der Stolz unserer Eltern. Das Kinderkriegen war in unserer Familie und der noch viel größeren Verwandtschaft ganz normal. Die Kinder plumpsten nur so auf die Welt: 18 Cousinen und Cousins mütterlicherseits, 46 väterlicherseits.
Meine Kindheit war eine typische Wirtschaftswunder-Kindheit, Reisen nach Italien, Klavierunterricht, Hula-Hoop-Reifen. Mein Vater war Landarzt in Berlin und im Schwarzwald, und meine Mutter bekam ihre Antibaby-Pillen als Ärztemuster, von denen auch ich heimlich Gebrauch machte. Ziemlich früh. Es begann die Zeit von Oswald Kolle und Beate Uhse. Unserer Mutter war die letzte Schwangerschaft im Alter von 43 Jahren etwas peinlich, denn ihre zwei großen Töchter, darunter ich, waren ja auch schon im gebärfähigen Alter. Ich war nie versessen aufs Kinderkriegen, eine Großfamilie wie die unsrige war wirklich nicht mein Ziel, denn die hatte ich ja schon. Trotzdem war ich glücklich, als ich mit 36 schwanger wurde, von Georg, einem Mann, den ich liebte.
Meine Eltern waren nicht unbedingt begeistert, denn ich war noch mit einem anderen Mann, Joseph Morgen, verheiratet, aber sie akzeptierten meinen neuen Lebensgefährten ohne Wenn und Aber, und die ganze Familie freute sich auf den Nachwuchs. Meine Schwangerschaft verlief nicht ohne Komplikationen, immer wieder hatte ich Blutungen und das Kind wuchs zu langsam. Die Familie war besorgt, und mein Vater nahm ein Familienjubiläum zum Anlass, nach Berlin zu reisen und einen Blick auf meinen Bauch zu werfen. »Na ja, wird kein Riese«, sagte er, nachdem er fachmännisch meinen Bauch abgetastet hatte.
Der Kollege meines Vaters, der meine Schwangerschaft festgestellt hatte, drückte mir als erstes ein kleines blaues Heftchen in die Hand, den Mutterpass. »Mutterpass« – das Wort erinnert an das Mutterkreuz, mehr noch an das Klassenbuch, in das Schüler-Lob und -Tadel eingetragen wurden und wohl noch immer werden. In meinem Pass überwogen die Tadel, denn das Kind entwickelte sich nicht »normgemäß«. Ich war eine Spätgebärende. Bei den vielen Untersuchungen stellte man fest, dass das Kind über die Placenta ausreichend ernährt wurde, aber auf die Frage, warum es dann so ungenügend wachse, hatten die Ärzte keine Antwort. Jeden Tag fuhr ich in die Klinik, um die Herztöne des Fötus’ abhören zu lassen.
Für Spätgebärende war die Untersuchung des Fruchtwassers Routine und brachte keinen Verdacht auf ein Down-Syndrom, also jene Trisomie 21, die man damals noch als Mongolismus bezeichnete.
Mein Bruder war zu dieser Zeit Assistenzarzt am Klinikum der Freien Universität Berlin, hatte Zugriff auf die Ergebnisse und verriet mir, was ich von meinem behandelnden Arzt gar nicht wissen wollte: »XY«, und ergänzte schon im Tonfall des angehenden Arztes trocken: »Aus der Kategorie Jäger und Sammler«. Ein Junge also, XY-männlich wurde im Mutterpass markiert.
Den Universitäts-Gynäkologen blieb das Wachstumsproblem des Kindes ein Rätsel, also schickten sie mich zu Professor H., der trotz seines fortgeschrittenen Alters mit den neuesten Möglichkeiten und Techniken des Ultraschalls vertraut war und als Koryphäe auf seinem Gebiet galt.
Warum ich von diesem externen Arzt untersucht werden sollte, war mir nicht klar. Hatten die Ärzte in der Klinik so wenig Vertrauen in ihre eigenen Untersuchungen? Verunsichert fuhr ich in dessen Praxis in einem ruhigen Villenvorort. Offensichtlich war er schon von den Klinikärzten informiert, denn ich wurde ohne Wartezeit sofort in sein Sprechzimmer gerufen. Und ohne lange Vorrede strich er mir den Bauch mit Gel ein, führte wortlos die Sonde darüber, setzte sich an seinen Schreibtisch, sagte, ohne mich anzublicken, »Penis nicht darstellbar«, und schrieb es dann wortgleich in den Mutterpass. Keine weiteren Erklärungen. Keine Einladung zum Gespräch, und auch ich schwieg.
Ahnte ich damals schon, dass da mit dem Geschlecht irgendetwas nicht in Ordnung sein könnte? Beklommen verließ ich das Sprechzimmer. Im Auto schon zwang ich mich, mir erst einmal keine großen Gedanken über dieses »Penis nicht darstellbar« zu machen, es einfach zu verdrängen. Von irgendwelchen Konsequenzen für das Kind, gar von Missbildungen hatte er ja nicht gesprochen. Der Penis wird schon wachsen, wenn das Kind erst einmal geboren ist, dachte ich in meiner Naivität, und Ultraschall ist auch nicht der Weisheit letzter Schluss.
Einen Monat später wurde, etwas früher als errechnet, im achten Schwangerschaftsmonat die Geburt per Kaiserschnitt eingeleitet. Zu diesem Schritt hatten sich die Ärzte entschlossen, denn das Embryo hatte unregelmäßige Herztöne, und bei mir zeigten sich die ersten Wehen auf den Schreibern.
Als ich nach der Kaiserschnittoperation wieder gehen konnte, humpelte ich mit zusammengebissenen Zähnen in die Station für Frühgeborene, die »Frühchenkrippe«, wie man sie im Krankenhausjargon nennt, ging vorbei an den vielen Brutkästen, in denen blasse Winzlinge an Schläuchen regungslos schlummerten – hoffentlich ist das da mit dem riesigen Kopf nicht meines – dachte ich flüchtig im Vorbeigehen –, dann endlich ein Bettchen mit dem Schild: Kind Morgen.
Franz – auf diesen Namen hatten wir uns schon lange vor der Geburt geeinigt – lag wie eine Puppe in seinem Wärmebett. Ein Leichtgewicht, aber immerhin knapp vier Pfund, keine künstliche Ernährung, keine Schläuche. Die Fingerchen öffneten und schlossen sich wie Korallen. Ganz vorsichtig drückte ich Franz an mich und schloss das kleine Ding sofort in mein Herz. Vor Freude musste ich weinen, nach all den Aufregungen um die Komplikationen der Schwangerschaft und um die etwas verfrühte Geburt. Jetzt war er da, und ich wollte meinen kleinen Sohn gar nicht wieder loslassen, wie er da so schutzlos in meinen Armen lag, in einer hellblauen Strampelhose, in die zwei Säuglinge gepasst hätten, ein Moment des Glücks.
Ich war nicht weiter beunruhigt, als ich beim ersten Wickeln statt eines kleinen Penis nur so eine Hautschürze, eine Art Läppchen, zwischen seinen Beinen erblickte. Zwar hatte ich noch die Ultraschalldiagnose »Penis nicht darstellbar« von Professor H. im Hinterkopf, aber viel mehr beschäftigten mich Gewicht und Größe des Kindes: Was konnte ich tun, damit es möglichst schnell wuchs?
Als ich am vierten Tag ans Wärmebett trat, fand ich es leer. Am Bett hing gut lesbar ein Zettel: »Früh- und Mangelgeborenes mit Missbildung des Genitals. Zwittergenital. Verdacht auf Pseudohermaphroditismus masculinus«.
Die Säuglingsschwester teilte mir mit, dass Professor W. vor wenigen Minuten darum gebeten habe, dieses Kind in den großen Hörsaal zu bringen. Er wolle seinen Studenten einmal den nicht eben häufigen Fall einer »Geschlechtsmissbildung« live vorführen. Dieser Bitte waren die Schwestern gerade nachgekommen und schoben mein Kind auf einer Transportbahre durch den Korridor. Mein Kind ins Panoptikum? Hundert Augen auf sein Geschlecht gerichtet? Ich war erbost. Das kommt nicht in Frage! Nicht mein Kind. Ich lief so schnell ich mit meinen Kaiserschnittwunden konnte über den Korridor. Professor W., der berühmte Kinderchirurg, der Halbgott in minzfarbenem Kittel, wehte über den Flur, gefolgt von einem Tross von Assistenzärzten, Schwestern, Studenten. Ich brachte den Konvoi zum Stehen. »Stellen Sie sich nicht so an, junge Frau, wir alle sind doch der Wissenschaft verpflichtet! Sie sind da keine Ausnahme! Ihr Säugling kriegt ja sowieso noch nichts mit, ihm wird doch kein Leid angetan!« Für kurze Zeit herrschte eisiges Schweigen. Ich rang um Fassung. »Kein Leid getan? Hier wird doch eine Schamgrenze überschritten, ein Neugeborenes, und wie Sie doch sagen, Mangelgeborenes, wird Stress und Unruhe ausgesetzt.« Ich weiß nicht, was ich noch alles so gesagt habe, jedenfalls lag das Kind einige Minuten später wieder in meinen Armen. Als ich es in sein Bettchen zurücklegen wollte, hing da immer noch der Zettel: »Verdacht auf Pseudohermaphroditismus«. War das die Diagnose? Und was bedeutet sie? Oder litt ich unter der berüchtigten Wochenbettdepression? Jedenfalls schlich ich verwirrt in das muffige Krankenhauszimmer zurück, das ich mit vier Unterleiboperierten teilte, zum Glück keine frischgebackenen Mütter, so dass mir die unerlässlichen »Gebärgespräche« erspart blieben.
Am Abend trat die diensthabende Gynäkologin an mein Bett. Sie hatte mich schon seit Monaten betreut und schien mir sehr sachlich und kompetent. »Wir hatten heute ein Konsilium gemeinsam mit dem Kinderchirurgen, einem Endokrinologen und dem Chefarzt. Wir wollen Ihnen raten, das Kind als Mädchen großzuziehen. So wie sein Geschlechtsteil jetzt aussieht, können wir davon ausgehen, dass es niemals wie ein Junge im Stehen Wasser lassen kann, niemals eine richtige Erektion haben wird, niemals ein erfülltes Sex-Leben. Ihr Kind ist ein Zwitter. Ein Hermaphrodit. Machen Sie aus Franz Franzi.« Und: »Ein Kind als Mädchen zu erziehen ist gewiss leichter, als einen Jungen, stecken Sie ihr Ohrringe ins Ohr, rosa Kleidchen, Puppen, das wird dann schon eine richtige Frau! Und kosmetische Operationen am Geschlecht, dafür gibt es heute genügend Fachleute. Es ist leichter, ein ›Loch‹ zu graben als einen ›Pfahl‹ zu konstruieren!« Ich war fassungslos und fing an zu weinen.
Plötzlich war die Falle zugeschnappt: Was ich unterschwellig seit Tagen ahnte, aber erfolgreich zu verdrängen wusste, wurde zur Gewissheit. Ich sollte aus einem XY-geborenen Kind, also einem Jungen, soviel hatte ich von der Vererbungslehre noch im Hinterkopf, allein durch Erziehung ein Mädchen machen. Die Chirurgen würden dann durch kleinere, geschlechtsangleichende Eingriffe das Werk vollenden. So unproblematisch stellten sich das viele Ärzte damals vor. Einfach so das Geschlecht eines gerade geborenen Kindes umwandeln, das kann ja wohl nicht möglich sein! Bin ich denn der liebe Gott, dass ich so über das Geschick meines Kindes, über das ganze Leben, das vor ihm liegt, so einfach entscheiden darf? Kann ich es nicht so lassen und mit ihm und seinem Vater ein neues Leben am anderen Ende der Welt beginnen? Diese Gedanken gingen mir über Monate durch den Kopf, und den Satz mit dem Ohrring sollte ich nie wieder vergessen.
Als ich fünf Tage nach dem Kaiserschnitt vom öffentlichen Telefonapparat im Flur des Krankenhauses ein Zwei-Mark-Stück einwarf, um persönlich mit meinen Eltern zu sprechen, war mir beklommen zumute, ich hatte Angst.
Mein Bruder, der Assistenzarzt, hatte meine Eltern schon über die besonderen Umstände informiert, und sie waren offensichtlich um Fassung bemüht, reagierten mit großer Herzlichkeit und sprachen mir auf diese Weise Mut zu. »Pass auf dich auf und lauf mit deinem Schnitt nicht zu viel rum«, polterte mein Vater, und meine Mutter riet mir, nicht traurig zu sein, wenn’s denn mit dem Stillen nicht klappen sollte, sie habe bei uns sechs Kindern auch nie genügend Milch gehabt. Ihre arme Tochter, mögen sie damals gedacht haben, wie wird sie mit einem solchen Schicksal fertig werden? War das neue Enkelkind etwa behindert und benötigte lebenslange intensive Betreuung? Wird ihre Tochter ihr Leben auf diese Herausforderung einrichten können? Und das Neugeborene, wird es überhaupt ein normales Leben führen können?
Bei meinem alten Vater war, wie er mir später erzählte, eine Missbildung der Geschlechtsteile in seiner sechzigjährigen Praxis als Arzt und Geburtshelfer nie vorgekommen. Er erinnerte sich aber an ein oder zwei solcher »Missgeburten«, die von der Hebamme der Klinik, an der er immer mittwochs operierte, entbunden wurden. Über deren Schicksal wurde dann in den 1960er Jahren wohl kein weiteres Wort verloren.
Nach sechs Tagen verließ ich auf eigenen Wunsch das Krankenhaus. Allein. Neidvoll dachte ich an die Mütter, die ihr Kind mitnehmen durften. Meines blieb noch vier Wochen auf der »Frühchenkrippe« der Klinik. Diese Station war zu jeder Tages- und Nachtzeit von Eltern in rosa Kitteln bevölkert, die wie Flamingos zwischen Wärmebettchen, Inkubatoren, Brutkästen hin und her liefen. Jeder versuchte auf seine Weise, die diensthabenden Schwestern und auch die Ärzte für sein Kind zu interessieren, in den Schwesterzimmern stapelten sich Pralinenkartons. Darunter so einige mit Schwarzwälder Kirschwasser gefüllte Pralinen, die mir meine Eltern extra geschickt hatten.
Mein Kind bekam Besuch von unseren engen Freundinnen und Freunden, die das Fußende des Bettes in einen kleinen Tierpark verwandelt hatten: Teddybären, ein Steiff-Panther, ein Wollschaf, ein Pinguin, der das Kind an Größe überragte.
Georg brachte schon am dritten Tag nach der Geburt einen winzigen blauen Anorak, ein Geschenk seiner Schwester. Alle glaubten ja, es sei ein Junge, auch der Freundeskreis von Georg. Als es dann zwei Wochen später hieß es: »April, April, es ist ein Mädchen«, war das eine recht knifflige Situation für den Vater, und die Bemerkung eines Freundes, es handele sich wohl um einen Hermaphroditen, überhörte er einfach und schnitt schnell ein anderes Thema an.
Für Georg als gläubigen Katholiken war das Geschlecht seines Kindes von Gott gegeben und schon der bloße Gedanke daran, es durch Menschenhand willkürlich zu verändern, letztlich durch den Willen von uns Eltern, brachte ihn in schwere Gewissensnöte. Trost und Beistand, vielleicht auch Rat und Hilfe, hat er bei einem Freund gefunden, einem Priester und Religionsphilosophen. Ich wusste und weiß auch heute wenig über seine Gefühle, über seinen Glauben. Er hat mit mir nie darüber gesprochen, ich habe ihn auch nicht dazu aufgefordert. Bis in sein Inneres vorzudringen, das wollte ich nicht, ich hatte nicht das Bedürfnis, etwas über seine tiefsten Gefühle oder Leidenschaften zu erfahren. Ich dachte damals und denke noch heute, dass zuviel Nähe der Liebe nicht gut tut.
Ich habe großen Respekt für seine Überzeugungen, doch kamen sie mir immer weltfremd vor. In den ersten Jahren unserer Liebe mag mich als einen eher pragmatischen Menschen diese Weltfremdheit angezogen haben. Aber nach Franzis Geburt fühlte ich mich allein gelassen. Zum Glück hatte ich in jenen Wochen sehr viel mit praktischen Erwägungen, Einkäufen, Umzug in eine größere Wohnung zu tun, dass an Einsamkeitsgefühle, tiefergehende Liebesreflexionen gar nicht zu denken war, ich verdrängte sie einfach. Georg und ich bemühten uns krampfhaft um einander, dennoch fiel es uns schwer, uns über die anstehenden Entscheidungen wie etwa die Operation auszutauschen oder gar gemeinsam zu entscheiden. Unsere Liebe war diesen Anstrengungen nicht gewachsen. Wir wurden zu einer Art Schicksalsgemeinschaft. Wir hatten nie zusammengelebt, und es war von Anfang an klar, dass unser Kind in meiner Wohnung groß werden sollte. Viel Zeit verbrachte das Kind aber auch mit seinem Vater, der es liebevoll umsorgte und umhegte. Das mag ihm als Junggesellen nicht immer leicht gefallen sein. Viele Aufgaben löste er allerdings äußerst originell, so beschäftigte er Franzi zum Beispiel mit dem Bau von Höhlen unter Tischen, Stühlen, seinem Schreibtisch, oder sang sie mit Mozart-Arien in den Schlaf.
Die folgenden Wochen waren durch unzählige Gespräche mit den Klinikärzten geprägt. Doch keiner konnte uns eindeutige Auskünfte geben, klare Ansagen machen oder gar Entscheidungshilfe geben. Wenigstens hatten sie sich auf eine Diagnose geeinigt: »Inkomplette testikuläre Feminisierung«. Was heißt, dass der Fötus zwar männliche Sexualhormone produziert, sie aber nicht annehmen und verwerten kann und sich deshalb nur verkümmerte Genitalien und Hoden bilden. Unsere Fragen konnten die Ärzte nicht beantworten, sie rieten uns, psychologischen Beistand zu suchen. Wo und bei wem konnten sie uns aber auch nicht verraten.
Georg und ich waren nicht nur völlig unvorbereitet, sondern auch vollkommen hilflos.
Jahre später dann las ich John Colapintos Buch »Der Junge, der als Mädchen aufwuchs«. In den 1980er Jahren hatte der geschilderte Fall eines Jungen, der zum Mädchen umoperiert wurde, in weiten Kreisen für großes Aufsehen gesorgt und war besonders für die amerikanischen Feministinnen ein gefundenes Fressen: Der »Held« des Buches, der berühmte Analytiker und Arzt Money, behauptet darin steif und fest, dass das Geschlecht einzig sozial geprägt sei und biologische Faktoren bei der Geschlechtsidentität keine Rolle spielten.
Wo hätte man 1984 Informationen und Erklärungen zu »Hermaphroditismus« und »Testikuläre Feminisierung«, die nicht nur für einen engen Medizinerkreis bestimmt und verständlich waren, finden können? Über das Internet konnte man sich in jenen Jahren noch nicht informieren, das steckte noch in seinen Anfängen. Ich hatte so eine ganz vage Vorstellung von den Phänomenen und dachte an Romy Haag, einen berühmten Transvestiten aus dem Berliner Kabarett, die ich lange vor Franzis Geburt kennengelernt hatte. Ihr Auftritt als Frau im »Chez Nous« endete mit einer herzergreifenden Szene: Sie warf ihre Brustpolster auf die Bühne, zog das Glitzerkleid aus und riss die falschen Wimpern ab. Sie heulte herzzerreißend, und die schwarze Schminke lief ihr über das Gesicht.
Ein Aufbegehren gegen das Schicksal als Transvestit? Im falschen Körper das falsche Geschlecht? Sollte so Franzis Zukunft aussehen? Wie viele meiner Bekannten und Freunde heute noch, kannte ich damals den Unterschied zwischen Transsexualität und Intersexualität nicht. Der neutrale Begriff »Intersexualität« war in jenen Jahren sogar noch völlig unbekannt. Er entwickelte sich erst mit dem Aufkommen der »XY-Selbsthilfegruppen« in den 1990er Jahren und ersetzte dann das als diskriminierend empfundene Wort »Hermaphroditismus«.