Mein Meister und Bezwinger - François-Henri Désérable - E-Book

Mein Meister und Bezwinger E-Book

François-Henri Désérable

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Beschreibung

Vasco und Tina verfallen einander – dabei will Tina in wenigen Wochen Edgar, den Vater ihrer Zwillinge, heiraten. Was klingt wie eine tausendfach erzählte Dreiecksgeschichte, entpuppt sich bei François-Henri Désérable als charmantes, vor Esprit prickelndes Liebes- und Leseabenteuer. Für Vasco, Bibliothekar der Bibliothèque nationale de France, und Tina, die Schauspielerin, die jeden Morgen zwischen zwei Tassen Kaffee Gedichte von Verlaine und Rimbaud rezitiert, ist die Literatur ein unentbehrliches Liebeselixier. Vasco schreckt nicht einmal vor dem Diebstahl jener Schatulle zurück, in der das Herz von Voltaire aufbewahrt wird, oder vor dem Einsatz des Revolvers, mit dem Verlaine 1873 auf Rimbaud schoss. Nun sitzt Vasco im Gefängnis und der namenlose Chronist dieser Folie à deux, Vascos und Tinas bester Freund, vor dem Untersuchungsrichter. Er soll ihm die Gedichte erklären, die Vasco über seine Liebe zu Tina geschrieben hat. Der Freund versteht Vascos Anspielungen und erzählt dem Richter viel über die Form von Sonetten und Haikus. Doch die ganze Wahrheit über Vasco und Tina enthüllt er nur den Leserinnen und Lesern. Diese Amour fou macht Lust auf Lyrik, auf Verse wie die von Paul Verlaine, die dem Roman den Titel geben: »Ist voller Spott dein Herz, ist es empfindsam, sachte? Nichts weiß ich, doch ich danke der Natur die mir dein Herz zum Meister und Bezwinger machte.«

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Seitenzahl: 224

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Vasco und Tina sind einander verfallen – dabei will Tina in wenigen Wochen Edgar, den Vater ihrer Zwillinge, heiraten. Was klingt wie eine tausendfach erzählte Dreiecksgeschichte, entpuppt sich bei François-Henri Désérable als charmantes, vor Esprit prickelndes Liebes- und Leseabenteuer.

Für Vasco, Bibliothekar der Bibliothèque nationale de France, und Tina, die Schauspielerin, die jeden Morgen zwischen zwei Tassen Kaffee Gedichte von Paul Verlaine und Arthur Rimbaud rezitiert, ist die Literatur ein unentbehrliches Liebeselixier. Vasco schreckt nicht einmal vor dem Diebstahl jener Schatulle zurück, in der das Herz von Voltaire aufbewahrt wird, oder vor dem Einsatz des Revolvers, mit dem Verlaine 1873 auf Rimbaud schoss.

Nun sitzt Vasco im Gefängnis und der namenlose Chronist dieser Folie à deux, Vascos und Tinas bester Freund, vor dem Untersuchungsrichter. Er soll ihm die Gedichte erklären, die Vasco über seine Liebe zu Tina geschrieben hat. Der Freund versteht Vascos Anspielungen und erzählt dem Richter viel über die Form von Sonetten und Haikus. Doch die ganze Wahrheit über Vasco und Tina enthüllt er nur den Leserinnen und Lesern.

Diese Amour fou macht Lust auf Lyrik, auf Verse wie die von Paul Verlaine, die dem Roman den Titel geben:

Ist voller Spott dein Herz

Oder empfindsam, sachte?

Nichts weiß ich, doch ich danke der Natur,

Die mir dein Herz zum Meister und Bezwinger machte.

François-Henri Désérable

Mein Meister und Bezwinger

ROMAN

Aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz

Edition Blau im Rotpunktverlag

Die Originalausgabe ist 2021 unter dem Titel Mon maître et mon vainqueur in den Éditions Gallimard erschienen.

© 2021 Éditions Gallimard, Paris

© 2023 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich (für die deutschsprachige Ausgabe)

www.rotpunktverlag.ch

Umschlagbild: Kim Myers Robertson

Fotos Seite 49, 76, 86, 143: François-Henri Désérable

Foto Seite 153: Paul Dornac © Musée Carnavalet

Lektorat: Anina Barandun

Korrektorat: Sarah Schroepf

Umschlag: Patrizia Grab

eISBN 978-3-03973-008-7

1. Auflage 2023

Alles Gute

Ist voller Spott dein Herz

Oder empfindsam, sachte?

Nichts weiß ich, doch ich danke der Natur,

Die mir dein Herz zum Meister und Bezwinger machte.

Paul Verlaine

Zeichnen wollte ich das Bewusstsein zu existieren und das Verstreichen der Zeit.

Henri Michaux

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Dank

Anmerkungen des Übersetzers und der Übersetzerin

Autor, Übersetzer, Übersetzerin

Die Gedichte aus Vascos Heft im französischen Original

1

Dass die Geschichte aus dem Ruder läuft, habe ich begriffen, als ich in einen Waffenladen gegangen bin. Das sollte mir Vasco später, sehr viel später anvertrauen, eines Tages, als wir beide auf einer Caféterrasse saßen. An jenem Tag also, ich meine den, an dem er in einen Waffenladen ging, hatte Vasco Drohungen erhalten, und zwar so ernsthafte, dass er das Bedürfnis verspürte, sich eine Schusswaffe zu besorgen.

Es war ein Freitag im Oktober, kurz vor Mittag, unweit der Gare du Nord. Im Schaufenster lagen neben Gewehren und Handfeuerwaffen, Colt, Browning, Beretta, Luger – Namen, die ihm vertraut waren, von denen er aber nicht hätte sagen können, ob sie Marken oder Modelle bezeichneten, ob Beretta zum Beispiel eine Gattungsbezeichnung war oder eine Marke, ein Eigenname, der in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen war –, auch Blankwaffen, lange Dolche, Säbel, Messer, Wurfmesser und sogar, sagte mir Vasco, ein Champagnersäbel.

Der Waffenverkäufer saß hinten im Laden auf einem Schemel mit einem Sandwich in der Hand vor dem Computer.

Er schaute auf: Kann ich Ihnen behilflich sein?

Nun ja, sagte Vasco, ich gedenke, einem Schützenverein beizutreten, könnten Sie mir da etwas empfehlen?

Schon, schon …, schnarrte der Waffenverkäufer, wenn Sie in einem Jahr wiederkommen.

Und er erklärte ihm, das sei nicht so einfach, es sei nicht wie in den Vereinigten Staaten, wo man mit einer 9-mm-Pistole in einer Papiertüte den Laden verlässt, als hätte man gerade sechs Donuts gekauft, nein, in Frankreich brauche man da eine Genehmigung, die unterschiedlichen, kumulativen Voraussetzungen unterliege – volljährig sein und die Lizenz eines Schützenvereins haben, kein Eintrag im Führungszeugnis, nicht unfreiwillig in psychiatrischer Behandlung gewesen sein und so weiter. Und dann müsse man seinen Antrag bei der Präfektur stellen, einen ganzen Haufen Unterlagen beibringen, Formulare, Belege, Erklärungen, Bescheinigungen, Urkunden, Bewilligungen, Bescheide, Ausweise, all das könne Monate dauern, mindestens ein Jahr, und selbst dann, so warnte ihn der Waffenverkäufer, ist immer noch nicht sicher, dass man Ihnen die Erlaubnis auch erteilt: Wissen Sie, bei all den Attentaten …

Und wenn ich bedroht werde, hat Vasco eingewandt, wenn ich mich verteidigen muss – was mache ich dann?

Das Beste ist ein Teleskopschlagstock, empfahl der Waffenverkäufer, zum Beispiel der hier. Und er holte einen schwarzen Schlagstock aus vernickeltem Stahl mit rutschfest geriffeltem Gummigriff aus dem Schaufenster – die Crème de la Crème für nur 59 Euro 90. Zeigen Sie mal, bat Vasco. Zusammengeschoben maß der Schlagstock einundzwanzig Zentimeter, ausgezogen war er dreiundfünfzig lang, gerade genug, um einen Angreifer auf Abstand zu halten.

Besser als gar nichts …, hat Vasco sich gesagt und den Laden mit seinem Teleskopschlagstock in einem Nylonetui verlassen. Fast einen Monat lang ging er nur noch mit dem Schlagstock aus dem Haus, und mit Angst im Bauch, weil er damit rechnete, jeden Moment Edgar mit einem Baseballschläger in der Hand vor der Tür aufkreuzen zu sehen, denn das hatte Edgar neben anderen Sachen in seiner Mail geschrieben: Ich schlag dir den Schädel mit dem Schläger zu Brei.

Mein Schlagstock, mein kleiner Schlagstock, sagte sich Vasco beruhigt, während er ihn streichelte: Man musste ihn nur am Griff halten, dann eine schnelle Bewegung aus dem Handgelenk machen, wie ein Pendel von hinten nach vorn, und Hopp! entfaltete er sich. Damit wurde er zur gefährlichen Waffe, ein Schlag in den Unterkiefer, hatte der Waffenverkäufer ausgeführt, und der Angreifer kann sechs Monate lang nur noch Suppe schlürfen. Daran dachte Vasco, wenn er an Edgar dachte, Suppe, komm nur her, und du schlürfst sechs Monate lang Suppe.

3

Schweigen. Von Tina habe ich als Erstes ein Schweigen gehört. Sie war eines Morgens im Radio eingeladen, um Werbung für ihr Theaterstück zu machen, der Moderator hatte sie gerade gefragt, ob das Theater die Wirklichkeit nur abbilde oder ob es sie transzendiere, um etwas Universelles zu erreichen, eine Frage, auf die man meistens nur eine abgedroschene Antwort erhält – nicht so bei Tina, die beschlossen hatte, wirklich darüber nachzudenken, als würde sie innerlich jedes ihrer Worte abwägen.

Ergebnis: Stille, eine lange Stille, die der Moderator füllte, so gut er konnte, indem er noch mal die Uhrzeit sagte (9:17 Uhr), den Namen des Senders und den seines Gastes, ihr Alter (achtundzwanzig), ihren Beruf (Schauspielerin), dann den Titel des Stückes (Zweieinhalb Tage in Stuttgart), in dem sie eine Hauptrolle spielte und das ihr eine Molière-Nominierung eingebracht hatte (als beste Nachwuchsdarstellerin), und schließlich, worum es darin ging (die letzte Begegnung zwischen Verlaine und Rimbaud, die zweieinhalb Tage, die sie im Februar 1875 zusammen in Stuttgart verbracht hatten), bevor er seine Frage anders formulierte (also, das Theater – Mimikry oder Mimesis?).

Ich war zu Hause, im Bad, das Radio stand auf der Waschmaschine, ich putzte mir die Zähne und konnte deutlich das Reiben der Borsten auf dem Zahnschmelz hören, ich konnte hören, wie der dünne Wasserstrahl rann und vor allem, vor allem Tinas Schweigen, ja, ich hörte Tinas Schweigen, und ich dachte, man sollte eine Typologie des Schweigens entwickeln, die verschiedenen Formen beschreiben, sie dann kategorisieren, vom suggestiven Schweigen bis zum beklemmenden Schweigen, vom feierlichen Schweigen bis zum betrübten Schweigen, vom monotonen Schweigen irgendwo auf dem Land im Winter bis zum gottesfürchtigen Schweigen der Gläubigen in der Kirche, vom tränenerstickten Schweigen der Totenzimmer bis zum kontemplativen Schweigen der Vollmondliebhaber, alle sollte man sie beschreiben, bis hin zum radiofonen Schweigen von Tina.

Zehn Minuten ging das so, ein quasi vollkommenes Schweigen, nur unterbrochen von den Fragen des Moderators, der sich inzwischen fast dafür entschuldigte, eingeschüchtert von Tinas nachdenklichem Schweigen, einem langen, im Radio ungewöhnlichen Schweigen, dessen Intensität durch die Versuche des Moderators nur noch gesteigert wurde. Sie hatte mich zunächst aufmerksam werden lassen, dann hatte sie mich genervt. Sie schien sich beim Nichts-Sagen zuzuhören, so wie andere sich beim Reden zuhören. Schließlich ließ der Moderator ein Chanson laufen: Ton héritage von Benjamin Biolay – ich erinnere mich, als wäre es heute Morgen gewesen, ich hörte es zum ersten Mal, großartig, dieses Chanson. Si tu aimes l’automne vermeil, merveille, rouge sang, habe ich angestimmt, sagt Ihnen das was? Nein? Na gut.

Jedenfalls hat Tina nach dem Chanson von Biolay angefangen zu reden.

Nicht von sich, nicht von ihrem Stück, nicht, um auf die Fragen des Moderators zu antworten: Sie begann, Gedichte zu rezitieren. Wie viel Zeit haben wir noch, hat Tina gefragt, zehn Minuten, oder? Also lassen Sie mich Ihnen ein bisschen Verlaine, ein bisschen Rimbaud schenken, lassen Sie mich Ihnen Gedichte rezitieren. Und zehn Minuten lang hat sie live im Radio zur besten Sendezeit Verse gesprochen, sie hat mit einem Sonett aus den Poèmes saturniens begonnen, und als sie fertig damit war, hat sie, ohne den Moderator auch nur dazwischengehen zu lassen, mit einem anderen Gedicht weitergemacht, diesmal von Rimbaud: Au Cabaret-Vert, über dessen letzten Vers sie gesagt hat, hören Sie, hören Sie die Alliterationen, der kräftige Krug, mit schimmerndem Schaum / vergoldet von letzter verbliebener Sonne, hören Sie gut zu, und sie hat den Vers wiederholt und dabei jede Silbe einzeln ausgesprochen und jedes Phonem betont, und übergangslos haben wir noch das Bateau ivre bekommen, mit den fünfundzwanzig Vierzeilern, die sie von Anfang bis Ende durchsprach, so wie sie immer gesprochen werden müssten, mit einer gesetzten und bedächtigen Stimme, die nicht an den Stimmbändern entsteht, nicht durch das Reiben der Luft aus der Lunge am Kehlkopf entlang, sondern weiter weg, tiefer, im Herzen, den Eingeweiden, dem Unterleib, was weiß ich, einer Stimme, die einen die klatschende, tobende Tide hören lässt, die einen die Sonnenflechten und den azurnen Schleim sehen lässt, die schwarzen Seepferdchen, die ragenden Archipele, und während man auf einem konkurrierenden Sender einen lokalen Abgeordneten hören konnte, wie er ein von einer Bande von Unfähigen in Hinterzimmern ausgehecktes, zusammengeschustertes Reformprojekt anprangerte, das die Finanzen der Kommunen belasten würde, und auf einem anderen einen Minister ebendiese Maßnahme verteidigen hörte, die in der aktuellen Konjunkturphase notwendig sei, um einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen, das Wachstum anzukurbeln und so wieder das Vertrauen der privaten Haushalte zu gewinnen, und auf noch einem anderen einen Gewerkschaftsführer, der den Regierungschef warnte, der versicherte, er sei entschlossen, Kurs zu halten, wolle aber den gesellschaftlichen Dialog wieder aufnehmen, und auf einem weiteren schließlich einen Imitator, der all diese Leute imitierte, worüber der Moderator der Morgensendung immer wieder bemüht lachte, rezitierte Tina Gedichte, und ich stand da, in meinem Badezimmer, lehnte an der Waschmaschinentrommel, und wie eine Million andere Zuhörer atmete ich an jenem Morgen nur noch bei der Zäsur zwischen zwei Hemistichien.

Ich fand sie abwechselnd affektiert und aufrichtig, angeberisch, dann anrührend, ich wusste nicht, woran ich mich halten sollte, ich wusste nicht, ob ich fasziniert oder verärgert oder beides zugleich war, aber sie hatte mir Lust gemacht, sie und ihre Aufführung zu sehen. Es gab nur noch ein paar Plätze in der Kategorie 4, zu achtunddreißig Euro und mit »eingeschränkter Sicht«. Ich dachte naiv, sie sei teilweise eingeschränkt, diese Sicht, geradezu lächerlich eingeschränkt, ich dachte, zu dem Preis könnte ich mindestenszwei Drittel der Bühne sehen und sogar, wenn ich mir die Mühe machte, mich ein bisschen vorzubeugen, warum nicht, die ganze Bühne – nun war jedoch das, was ich für eine harmlose Warnung gehalten hatte, ein Euphemismus und zugleich echter Betrug: Ich fand mich auf einem Klappsitz hinter einer Säule wieder, was sage ich, einem Pfeiler, einem tragenden, enormen, massiven Pfeiler, und wenn Sie ihn weggenommen hätten, diesen Pfeiler, so wäre zweifellos das gesamte Gebäude in sich zusammengestürzt, und in dem Moment hätte ich nichts dagegen gehabt, es über den Dreckskerlen zusammenstürzen zu sehen, die mir diesen Platz verkauft hatten, denn ich konnte mich noch so sehr verrenken, ich konnte den Hals noch so sehr hinter den meines Nachbarn strecken, nichts. Von Zweieinhalb Tage in Stuttgart habe ich nichts gesehen. Achtunddreißig Kröten, habe ich gesagt. Und siebzig Kröten Osteopathie. Für den steifen Hals.

Das heißt, als ich dort rausging, hatte es mir gründlich die Petersilie verhagelt. Zugegeben, Sie werden mir sagen, dass mich das nicht daran gehindert hat, alles zu hören, vom ersten bis zum letzten Satz – dem authentischen Satz, den Verlaine sagte, als er von Rimbauds Tod erfuhr –, aber dieses nach den Worten von Le Point »sensible und atemlose« Stück von »verblüffender Wirklichkeitsnähe« (Le Monde), »getragen von zwei Schauspielerinnen auf dem Höhepunkt ihrer Kunst« (Télérama), mit der »jungen Lou Lampros, meisterhaft in der Rolle des Rimbaud« (L’Officiel des spectacles), und »der Entdeckung des Jahres in der Rolle von Verlaine« (Elle, die also von Tina sprach), dieses Stück hätte ich dann doch ganz gern gesehen. Zwiespältig war nur die Meinung des Figaro: »Ein Monument an Geschwätz, in einem Bühnenbild ohne Anmut, nur halb gerettet von der gewollt mutigen Besetzung (die beiden Dichter gespielt von zwei Frauen, was für eine Idee!)« – ein Satz, der leider ein wenig zu lang war, um ihn in extenso auf das Plakat zu drucken, wie die Produzenten des Stückes befunden hatten, den sie aber doch teilweise hatten wiedergeben wollen: »Ein Monument (…)!« (Le Figaro).

So stand es da, in Großbuchstaben, auf dem Plakat am Eingang des Theaters: »EIN MONUMENT (…)!« (Le Figaro), und direkt darüber der Titel des Stückes, und noch darüber die Gesichter der beiden Schauspielerinnen, Lou und Tina, Rücken an Rücken, und ich weiß nicht, warum, aber ich war wie gebannt von Tinas Blick, Tinas Augen – Augen, die …

Die Ihr Freund in einem Gedicht thematisiert, sagte der Richter.

mein ständiges

wachsein

störendes

grübeln

stetiges

konzert

meiner nächte:

unerhörtes grün

deiner augen

(und es sind zwei, kaum zu glauben)1

Kein Zweifel, sagte ich, das sind Tinas Augen, sie sind grün, es sind zwei, kein Zweifel. Augen von einem Grün … mein Gott. Ein ihren Augen eigenes Grün: tinagrüne Augen. Amazonien vom Himmel aus betrachtet, sagte Vasco, mit einem Schuss Blau: Die Iris hat die Kraft der Brandung; alles ist Dröhnen, Grollen, beständiger Tumult, in dem die Pupille versinkt wie ein vom Sturm entmastetes Schiff. Und auch auf dem Plakat waren sie grün, die Augen, aber von blassem Grün, einem verwaschenen Grün nach dem Regen; der Anflug eines Lächelns, ein eckiges, leicht vorstehendes Kinn; ein falscher Schnurrbart bedeckte das halbe Gesicht.

Und ich hätte ihm auch noch sagen können, dem Richter, wie es mir gelungen war, über den Produzenten ihres Stückes, den ich mehr oder weniger kannte, Kontakt mit ihr zu knüpfen, wie sie und ich Freunde geworden waren, ja, ich hätte ihm von der innigen Vertrautheit erzählen können, die mich seitdem mit Tina verband (ich behaupte nicht, dass ich anfangs nicht Lust gehabt hätte, mit ihr zu schlafen, auch sie hatte einige Zeit daran gedacht, oder sagen wir, die Idee war ihr gekommen, und auch wenn sie nie etwas in dieser Richtung angedeutet hat, mag ich die Vorstellung, dass es so war, aber sie hatte keinerlei Absicht, Edgar untreu zu sein – und das versteht sich von selbst, das war vor Vasco. Und dann ist unsere Lust vergangen, es war uns gelungen, das Begehren zu sublimieren, den Eros zu spalten und nur seine spirituelle Dimension zu bewahren – umso besser: Unsere Freundschaft war wichtiger als eine kurze Vereinigung zweier Leiber, in gewisser Weise war sie bereits Liebe, und vielleicht ist Freundschaft ja das: eine unvollendete Form der Liebe).

Das alles hätte ich ihm sagen können, aber das war nicht das Thema. Das Thema war, dass wir es uns zur Gewohnheit gemacht hatten, uns einmal die Woche zu sehen, am Donnerstagnachmittag – das war der spielfreie Tag am Theater. Wir trafen uns im Hotel Particulier, das den doppelten Vorteil hatte, nur einen Katzensprung von mir zu Hause weg zu sein und nicht allzu weit von ihr: So musste ich nie lange auf sie warten. Sie sagte, sie leide seit ein paar Jahren an einer Krankheit, von der sie glaubte, sie sei irreversibel: Sie vergaß, die Zeit für den Weg einzuberechnen. Sie brach erst in dem Moment von zu Hause auf, wenn sie erwartet wurde, als könnte sie sich mit einem Fingerschnips am Ort der Verabredung einfinden, wo sie im Allgemeinen mit einer Viertelstunde Verspätung eintraf, manchmal mehr, niemals weniger – sie verpasste Züge, sie kränkte Leute, das ist eben so, mein Lieber, daran musst du dich gewöhnen, sagte Tina. Als ich ihr an einem Donnerstagnachmittag sagte, ich würde am Samstagabend Freunde zum Essen empfangen, darunter sei dieser Vasco, den ich ihr vorstellen wollte, und sie mir sagte, Ich werde versuchen, vorbeizukommen (sie hatte bereits eine Verabredung), da schien es mir ganz natürlich, dass man an diesem Abend nicht allzu sehr mit ihrer Anwesenheit unter uns rechnen durfte.

4

Vasco liebte nur Brünette oder Blonde, doch Tinas Haar ging ins Rötliche – Rotbraun mit einem Mahagonischimmer. Tina liebte nur Männer mit grünen Augen, doch die von Vasco waren blau, mit einem Stich ins Braune. Sie war überhaupt nicht sein Typ, er war nie der ihre gewesen. Sie hatten nichts, um sich zu gefallen; doch sie gefielen sich, liebten sich, litten, sich geliebt zu haben, entliebten sich, litten, sich entliebt zu haben, fanden sich wieder und verließen sich endgültig – aber greifen wir nicht vor.

Es hatte nicht lange gedauert, danach, nach seiner Begegnung mit ihr, bis Vasco mich mit Fragen bestürmte. Er wollte alles über Tina wissen, ein bisschen wie Sie, sagte ich, der Sie alles über Vasco wissen wollen. Denn schließlich war sie gekommen. Mit Verspätung, wie gewohnt, aber sie war gekommen. Wir saßen beim Dessert, Vasco plauderte mit Malone, seinem Anwalt – der zu diesem Zeitpunkt nicht sein Anwalt war, sondern ein Anwalt, mit dem wir befreundet waren – über Bowling. Ich hörte ihnen mit einem Ohr zu, ich hörte zu, wie ihm Vasco vom einzigen Mal in seinem Leben erzählte, dass er Bowling gespielt hatte, das war an einem Mittwochabend in Joinville-le-Pont, ein Albtraum, sagte Vasco, er erinnerte sich noch an seine Kugel, die jedes zweite Mal in den Rinnen neben der Bahn landete, an Kegel, die aufrecht stehen blieben wie eine Armee von Zwergsoldaten, im Begriff, sich auf ihn zu stürzen, und an die kränkende Null, die auf der Anzeigetafel erschien. Ich habe demütigende Stunden auf der Bowlingbahn von Joinville-le-Pont durchlebt, sagte Vasco, als es klopfte. Es war Tina.

Ein Strauß Osterglocken, den sie in den Händen hielt, verbarg ihr Gesicht, aber ich konnte auf beiden Seiten des Straußes ihr Haar und ihre Ohrringe sehen, riesige Ohrringe, verziert mit Hortensienblüten, die sie einer andalusischen Prinzessin ähneln ließen – der Vorstellung, die sich Vasco von einer andalusischen Prinzessin machte, und tatsächlich würde er sie später so nennen, meine andalusische Prinzessin, würde er sagen. Hier, die sind für dich, sagte Tina; also stellte ich die Blumen in eine Vase, während sie sich für die Verspätung entschuldigte, sie kam von einer anderen Abendgesellschaft, sie hatte ein bisschen getrunken, hast du Champagner? Ich goss ihr ein Glas ein, sie stieß mit uns an, ich weiß nicht mehr, worüber wir sprachen, ich erinnere mich, dass wir ihr zuhörten, ohne etwas zu sagen, vor allem Vasco schien fasziniert: Er sah sie mit einem etwas dümmlichen Lächeln an, direkt in die Augen, als wollte er da leben, wo sein Blick hinging. Je te promets ertönte vom Plattenspieler, aber die Schallplatte war zerkratzt, und die Stimme von Johnny blieb am Wort couche von Je te promets le ciel au-dessus de ta couche hängen – couche, couche, couche, stotterte Johnny, da stand Tina auf, nahm die Nadel von der Platte, und da es keine Musik mehr gab …

Begann sie zu singen, sagte der Richter.

Mist, sagte ich. Woher wissen Sie das?

Da. Lesen Sie.

Wer könnte ihr denn je das Wasser reichen?

Wo sie auch ist, beginnt die Welt zu blinken!

Wie denn vor ihr nicht auf die Knie sinken

Und erbleichen?

Habt ihr schon mal gesehen, wie sie schmollt?

Ach schaut doch nur die schönen weichen Wangen

Darin zwei hübsche Grübchen lustig prangen

Ganz ungewollt.

Und Augen, sag ich euch! Ihr glaubt es nicht

Die Augen lodern, dass die Sterne weichen

Sie wollen nicht der weißen Kerze gleichen

Dem Kirchenlicht.

Und wenn die Plattennadel einmal springt

So lasst die Stimmung euch dann bloß nicht trüben

Weil Tina einfach, ohne je zu üben

Lauthals singt.2