Mein Onkel Guntram - Guntram Trennert - E-Book

Mein Onkel Guntram E-Book

Guntram Trennert

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Beschreibung

Es handelt sich bei dem vorliegenden Buch um den Nachlass des jung verstorbenen Bruders meines Vaters. Es sind seine Tagebücher und Briefe aus den Jahren 1943 und 1944. Er war zu diesem Zeitpunkt 15 bzw. 16 Jahre alt. Er war ein ganz normaler Jugendlicher, der viel über seine Zukunft nachdachte, viele phantastische Pläne machte, sehr romantisch veranlagt war, Schule überflüssig fand und für den 'Mädchen' ein ständiges Thema war. Er schreibt seine Gedanken auf, aber er hält auch seinen Alltag fest. Insofern ergibt sich zwangsläufig die Verwendung eines Vokabulars aus dem sogenannten 'Dritten Reich'.

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Seitenzahl: 225

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Vorwort

Wer ist Onkel Guntram?

Das Projekt

Selma Trennert 1934 über Guntram, 6 Jahre alt

Der Luftangriff auf Wuppertal-Barmen 29.05. – 30.05.1943

Erstes Tagebuch: 16.08.1943 – 03.09.1943

Ende des ersten Tagebuchs

Briefe 3.9.1943 – 7.9.1943

Zweites Tagebuch 8.9.1943 – 4.12.1943

Ende des zweiten Tagebuchs

Lennep, den 27. September 2020

Bildteil

Briefe 5.12.1943 – 25.1.1944

Drittes Tagebuch 20.04.1944 – 8.10.1944

Ende des dritten und letzten Tagebuches.

Guntrams Tod

Nachwort

Zeugnisse

Gedichte

Vorwort

Es handelt sich bei dem vorliegenden Buch um den Nachlass des jung verstorbenen Bruders meines Vaters. Es sind seine Tagebücher und Briefe aus den Jahren 1943 und 1944. Er war zu diesem Zeitpunkt 15 bzw. 16 Jahre alt.

Er war ein ganz normaler Jugendlicher, der viel über seine Zukunft nachdachte, viele phantastische Pläne machte, sehr romantisch veranlagt, Schule überflüssig fand und für den „Mädchen“ ein ständiges Thema war.

Er schreibt seine Gedanken auf, aber er hält auch seinen Alltag fest. Insofern ergibt sich zwangsläufig die Verwendung eines Vokabulars aus dem sogenannten „Dritten Reich“.

Die Rechtschreibung und Zeichensetzung wurde der besseren Lesbarkeit halber an die heutigen Regeln angepasst.

Wer ist Onkel Guntram?

Mein Vater Harald ist 1921 geboren, sein Bruder Guntram sieben Jahre später und seine Schwester Erika 1931. Guntram ist lange vor meiner Geburt gestorben mit nur 16 Jahren. Als Kind wusste ich gar nicht, dass Papi einen Bruder hatte, später natürlich schon, aber es wurde wenig von ihm erzählt, wir wussten, er ist an einer nicht behandelten Blinddarmentzündung gestorben, aber wann das genau war und wie alt er geworden ist, war meiner Schwester und mir nicht klar.

Das Projekt

Alles fing damit an, dass meine Cousine Dorothea bei einem Besuch mit einem großen Karton auftauchte und ihn nach dem Kaffeetrinken auf unseren Esszimmertisch stellte. „Ihr seid doch so an der Geschichte unserer Familie interessiert, ich dachte, das ist was für euch.“ Mit diesen Worten öffnete sie jenen Karton und bald war der Tisch bedeckt mit unzähligen Briefen, Briefumschlägen, Dokumenten, alten Ausweisen, Bescheinigungen, Fotos und Postkarten. Als letztes kam ein kleiner dunkelbrauner, verschlissener Schulranzen dazu.

Was unsere Ehemänner den Rest des Nachmittags machten, weiß ich nicht mehr genau, Dorothea und ich tauchten jedenfalls in die Vergangenheit ein und sichteten den ausgebreiteten Schatz. Geburtsurkunden, Schulzeugnisse, Kinderzeichnungen, Telegramme, jede Menge Briefe, Tagebücher aber auch eine Todesanzeige zeugten von dem kurzen Leben unseres Onkels Guntram.

Nach zwei Stunden schwirrte mir der Kopf, die Männer hatten genug gefachsimpelt, wir packten alles wieder in den besagten Karton, verabschiedeten uns herzlich und zurück blieb eine Aufgabe.

Es gab drei Möglichkeiten:

Der Altpapiercontainer – eine radikale Lösung, die aber nicht in Frage kam. Das hätte, wenn überhaupt, viel, viel eher geschehen müssen. Der Karton hatte 80 Jahre überlebt, er war 80 Jahre lang aufräumwütigen Nachfahren entkommen, jetzt war er Geschichte.

Kurz habe ich erwogen, alles sorgfältig zu verpacken, eine Notiz über die Herkunft der Unterlagen dazuzulegen und dann in der hintersten Ecke des Speichers zu deponieren – sollen doch unsere Nachfahren sehen, was sie damit machen!

Aber dann hat schließlich die Neugier gesiegt und ich habe mich der Aufgabe gewidmet.

An einem verregneten Nachmittag breitete ich sämtliche Dokumente aus dem Karton um mich herum aus. Ziemlich unsystematisch las ich den einen und anderen Brief und blätterte durch das Fotoalbum. Ein paar uninteressante Fotokopien neueren Datums, ein Stapel alter Postkarten, die aber keinen persönlichen Bezug hatten und das Fotoalbum, das offensichtlich erst vor kurzem dazugekommen war, sortierte ich aus.

An diesem Nachmittag entstand nach und nach ein Bild von einem Jungen, der gut zeichnen konnte, der sich Gedanken über seine Zukunft machte und der lustig und frech sein konnte. Es entstand aber auch ein Bild der Zeit: Briefe, in denen von Luftangriffen die Rede ist, von Winterhandschuhen, von mühseligen Fahrten zu Verwandten, um dort Kartoffeln zu erwerben. Und das Bild einer Mutter, deren Söhne beide im Krieg sind.

Spätestens jetzt gab es kein Zurück mehr und ich fasste den Plan, ein neues Buchprojekt zu beginnen.

Ein erster Versuch, das gesamte Material chronologisch zu ordnen: viel zu viel! Nach dem Sortieren:

Die drei Tagebücher von Guntram Trennert

Briefe an Guntram (überwiegend von seiner Mutter, aber auch von seinen Geschwistern Harald und Erika und von seinen Freunden)

Briefe von Guntram (meist an seine Mutter)

Dokumente, Bescheinigungen, ...

Unterlagen Guntrams Tod betreffend (Anzeigen, Briefe und Bescheinigungen)

Bildmaterial (Zeichnungen)

Selma Trennert (Briefe, Gedichte, Zeitungsausschnitte)

Meine Großmutter Selma hatte offensichtlich einen regen Briefwechsel mit dem Wuppertaler Generalanzeiger! Unzählige Gedichte zu Geburtstagen, Taufen etc., aber auch zu kritischen Themen (wie zum Beispiel der „Rivalität“ zwischen Barmen und Elberfeld).

Auch ein Gedicht über Baltrum, das in der „Inselglocke“ veröffentlicht wurde.

(letzteres Material wurde hier nicht „verarbeitet“, da es sich nicht direkt auf Guntram Trennert bezieht)

Zur Vorgehensweise: Durch drei unterschiedliche Schrifttypen soll optisch deutlich gemacht werden, ob es sich um einen Tagebucheintrag, einen Brief oder um einen Kommentar meinerseits handelt. Sowohl die (handschriftlichen) Tagebucheinträge als auch die Briefe habe ich so genau wie möglich übertragen. Zum Teil aber war es mir nicht möglich, die genaue Schreibweise eines Namens z.B. zu „entziffern“, aber ich denke, das spielt eigentlich keine Rolle. Die Briefe sind chronologisch geordnet und an den entsprechenden Stellen in den Tagebüchern eingefügt.

Renate Trennert

Selma Trennert 1934 über Guntram, 6 Jahre alt

Aufzeichnungen von Selma Trennert, 1934 (vielleicht ein Konzept für einen Eintrag ins „Familientagebuch“?):

rrr, rrr, rrr, rrr, macht die Klingel. Das kann nur Guntram, mein Sechsjähriger sein. Der hat wieder was Besonderes und während ich gehe um zu öffnen und ihm ein wenig die Leviten zu lesen wegen der „Pöhlerei“ (es ist an diesem Nachmittag das vierte Mal), schrillt die Klingel schon wieder vier, fünf Mal. Mit einem Satz bin ich an der Tür, um ihm eine Abreibung zu geben. Da ruft er mir schon mit überstürzender Stimme entgegen: „Mama, ein Stück Speck! Wir haben ein Mäusenest auf der Kippe gefunden. Eine große Maus und acht kleine.“ Atemlos, mit vom Laufen hochrotem Kopf und strahlenden Augen drängt er an mir vorbei in die Küche. Ich gehe lächelnd hinterher, mein Ärger ist verflogen und schneide schnell ein Stück Speck ab, mit dem mein Guntram davonrast. Heute Abend wird er mir seine Erlebnisse haarklein berichten.

Die „Kippe“ ist ein großes Stück schon jahrelang brachliegendes Land, das mal eine Rasenfläche werden sollte. Damals aber konnte wohl infolge Geldmangel die Arbeit nicht ausgeführt werden und inzwischen hat eine üppige Vegetation sich auf der ehemals hässlichen kahlen Fläche breitgemacht.

Darauf wuchert saftiger Klee, Butter- und Gänseblümchen und recht viel Gras. Eine richtige Tummelwiese ist daraus entstanden und ich wünsche mir als Mutter mehrerer Kinder, dass dieses Stückchen Erde noch recht lange so bleibt wie es jetzt ist. Gewiss ist es für die nächsten Anwohner nicht schön, wenn zufällig mal ein ausrangierter Kochtopf von den Kindern dort gefunden wird und als Musikinstrument benutzt wird, aber warum wirft man solche Gegenstände nicht in den Mülleimer.

Für meinen natur- und tierliebenden Guntram ist besagte Kippe, die schon seit seinem vierten Lebensjahr sein Tummelplatz ist (ich sehe ihn sozusagen nur bei den Mahlzeiten), jedenfalls eine unergründliche Fundgrube. Er kennt alles was da kreucht und fleucht und bringt es mit nach Hause. Was hat er nicht schon alles dort erbeutet. Schmetterlinge, Hummeltierchen, alle möglichen Käferarten, ja sogar Spinnen und Regenwürmern ist er mit der gleichen Liebe zugetan, es ist rührend, wie behutsam er die Tierchen anfasst und allen gibt er nach kurzer Besitzerfreude die Freiheit zurück. In der ersten Zeit habe ich ihm das Mitbringen der Tiere verboten, aber ich merkte bald, wie sehr er an den Tierchen hing, als er mir sagte: „Aber Mama, die Tiere tuen mir doch gar nichts“. Hielt er mal eins der Tierchen über Nacht in Gefangenschaft, so sorgte er gewissenhaft am Abend noch für frisches Futter und stellte dann die durchlöcherte Pappschachtelbehausung auf die Veranda. Sobald er morgens erwacht, gedenkt er seiner Schützlinge, sieht nach, ob alle noch leben und ob das Futter frisch ist.

Der Luftangriff auf Wuppertal-Barmen 29.05. – 30.05.1943

Die Barmer Innenstadt wurde von den Briten mit insgesamt rund 1.700 Sprengund rund 280.000 Brandbomben belegt. Nach diesem Großangriff auf Barmen wurden aus rund 4.000 total zerstörten Häusern über 3000 Tote geborgen. Dies waren bis zu diesem Zeitpunkt die schwersten Verluste an Menschenleben bei einem einzelnen Luftangriff auf das Deutsche Reich. 80 Prozent der bebauten Fläche wurden laut Analyse der britischen Luftwaffe durch das Feuer zerstört. Fünf der sechs größten Fabriken sowie 211 andere industrielle Anlagen wurden vollständig zerstört. In der Folge wurden die Schüler Wuppertaler Schulen nach Schwelm, aber unter anderem auch nach Erfurt und Gera in Thüringen evakuiert. Quelle: DeWiki > Luftangriffe auf Wuppertal

Erstes Tagebuch: 16.08.1943 – 03.09.1943

Wuppertal d. 16.8.1943

Heute, am 16.8. fange ich dieses Tagebuch an. Ich will in es hineinschreiben, was ich erleben werde, denn ich muss morgen, um die Schule weiter besuchen zu können, nach Gera fahren. Wegen der Zerstörung Wuppertals am 30.5.1943 wird die Horst-Wessel-Schule nach Gera verlegt (18.5.43). Ich, als einzigster der Klasse. Die anderen Schüler sind entweder Flakhelfer oder besuchen das jetzt überfüllte Gymnasium zu Schwelm.

Nun bin ich einmal gespannt, wie es wird.

Morgen um 4 ½ Uhr geht es los.

Gera den 19.8.1943

Nun sitze ich im Zug in einem französischen Wagen der 2. Klasse. Die Landschaft zieht an mir vorüber. Man sieht keine zerstörten Häuser mehr. Überall blühendes, jetzt mehr fruchttragendes Leben, denn die Bäume, die wir sehen, hängen voll von Äpfeln und Birnen. In Soest fängt es an zu dunkeln. Einer steckt eine Kerze an, die dann auf einen in der Mitte des Abteils stehenden Koffer gestellt wird. Jetzt wird es gemütlich. Lieder erklingen, lustige und traurige, schräge und saubere. Erst um 11 – 11 ½ Uhr wird es langsam still. Jetzt geht der Betrieb auf dem Gang los. Um ein schönes Mädchen sammeln sich die heiratslustigen Jünglinge. Da muss man dabei gewesen sein. Hoch aufgereckt damit man stärker aussieht. Man ist ja schließlich kein Hampelmann mehr. Dann ran. Mit dem Mädchen anzubändeln, - keine Lust oder – keinen Mut. Na ja – was soll sich also so ein Mädchen mit so kleinen Jungs herumknutschen, so süße Jünglinge aus der 5ten Klasse. Also Licht aus, Messer raus, haut ihm! Die ganze Bande von vier bis 7 Mann durch den Gang gehauen! (Horst und ich) An zugiger Ecke auf Nummer sicher gesetzt damit ihnen die schwarzen Gedanken ausgeblasen werden. Wir dürfen sowas machen, denn wir besitzen das Recht des Stärkeren und das des Mutigeren? Jedenfalls, es war ein nettes blondes Mädchen. In Erfurt stieg es aus. Wir handeln nach dem Leitsatz: „In fünfzig Jahren ist alles vorbei“. –

Ankunft in Gera. Unsere Wohnung ist so ziemlich. Wanzenverdacht im Kleiderschrank, Ameisen im Honig, Katze scheißt an die Wand. – Aber dennoch hat sich Bolle ganz köstlich amüsiert. Einen Pudding gibt’s auch. Außerdem schöne Mädchen. Ob sie nun stur sind, weiß ich noch nicht.

Eine hat mir gewunken, viele andere reagieren nicht. Wer weiß, was die Ausnahmen sind, die Sturen oder die Leichtherzigen, Schönen.

Gleich um 4 geht’s zum Ernährungsamt. Vielleicht auch zum Polizeipräsidium, wenn man das hier so nennen kann. Während ich dieses schreibe, sitze ich an einem schwarzen Schreibtisch. Darüber hängt ein Führerbild und das Geweih eines Damhirschs. Rechts daneben hängt ein Bücherregal mit zwei Büchern: Sämtliche Werke von Storm, Band 1 und 2. Na vielleicht ... kann man mal –

Gera den 19.8.1943

Liebe Mutter

Nach der Abfahrt nahmen wir erst einmal vernünftig von unserem Abteil 2ter Klasse Besitz. Wir waren zu 8 Mann im Abteil. Herr Herberg, meine drei „Klassenkameraden“, ich und einige andere Jungen. Nach kurzer Fahrzeit stand schon eine ganze Masse, Erwachsene und Junge, um die „Sänger vom finsteren Walde“. Ich war nachher ganz heiser von all dem Singen. Als wir in Soest ankamen, wurde es dunkel. Einer hatte eine V.D.A. Kerze mit. Die wurde angesteckt und auf einen Koffer gestellt. Es wurde richtig gemütlich. Geschlafen habe ich überhaupt während der Fahrt nicht. Wir, beziehungsweise ich haben uns die mondbeschienene Landschaft angesehen; außerdem haben wir ein paar Verliebte auf Nummer sicher gesetzt. Das letzte Mal bedeutet wir: Horst und ich. Na alles in allem eine tolle Fahrt. Vor Lachen und Singen tut mir der ganze Hals weh. An Deinen Butterbroten habe ich bis heute gegessen!!! 8.45 kamen wir in Gera an. Nach einigem Stehen auf dem Bahnhof und einer Ansprache des Hauptparteikerls wurden wir in einen Autobus verladen und zu einer Wirtschaft gebracht. Von dort wurden wir den Pflegeeltern zugeteilt. Auf Wunsch kamen Horst und ich zusammen zu einer Frau Gast, noch mehr zu einer Bäckerei, aber zu einer, die wegen Einberufung geschlossen ist. Frau Gast war zuerst noch nicht da und eine Frau, die eine Etage höher wohnte, wir wohnen Parterre, nahm uns für ein paar Stunden auf. Ich dachte: “Donnerwetter, da hast du einen guten Fischzug gemacht. Eine sehr freundliche Frau und gute Wohnung.“ Aber bei Frau Gast ist es ein wenig anders: Freundliche Frau, die Wohnung, hier ein Eisschrank, modernste Ausführung, dicht daneben ein dreckiger Spülstein, beschädigte Tapeten. Unseren Kleiderschrank mussten wir vier Etagen hinunter holen, wahrlich ein erhebender Empfang. Der Kleiderschrank kam aus einem Zimmer wo Wanzen waren, bis jetzt haben wir noch keine entdeckt. Nur eine Ameise neben dem Käse und eine im Honig. Weiter. Unser Kleiderschrank steht im Vorratsraum. Wir schlafen in den Ehebetten. Wo wir unsere Schulsachen später machen sollen, weiß ich noch nicht. Na trotzdem: „Aber dennoch hat sich Bolle ganz köstlich amüsiert.“ Erste Mahlzeit: stahlharte Brötchen. Aber nicht vor Alter, sondern vor Knusprigkeit. Abends etwas, was ich zuerst für Milchsuppe ansah, in die man statt Zucker Salz hineingetan hat. Später stellte sich heraus, dass es eine Griesmehlsuppe mit Ei war. Außerdem ein Glas schwarzer Tee. Heute Morgen gab es Brötchen, Marmelade und Kunsthonig mit einer Ameise und schwarzen Kaffee. Zu Mittag Mehlwürmer (Nudeln). Wir waren schon im Strandbad und sind schon ordentlich durch die Stadt gebummelt. Stadt heißt hier natürlich Städtchen. In Hinsicht auf Industriestadt bin ich angenehm enttäuscht. Breite Baumalleen, schöne Villen, moderne Straßenbahnen. Sogar ein Autobus fährt elektrisch. Verstehen kann man die Menschen. Einige Kinos und ein Theater sind vorhanden. Bis jetzt war nur einmal Voralarm. Von Erfurt bis Gera fährt man ungefähr 2 Stunden. Vielleicht mehr, vielleicht weniger. Die Sonderkarten schicke ich hiermit zurück.

Als Zusatz zur Essensfrage: wir essen morgens, mittags um 1, abends um 7. Bett 10 Uhr.

Wie es nun alles werden wird, weiß ich noch nicht. Bis jetzt geht’s soweit gut. Jetzt will ich schließen, weil ich mehr noch nicht weiß. Sorgen brauchst Du Dir also nicht zu machen. Bin gesund.

Es grüßt Dich, liebe Mutter

Dein Guntram

Grüße auch an Tante Liddi, Onkel Hans und Onkel Moritz.

Gera den 21.8.1943

Am 20. mussten wir morgens um 9 Uhr vor dem Hauptbahnhof erscheinen. Es sollte die neue Schule besichtigt werden, aber aus der Besichtigung wurde ein Spaziergang durch die heiße Sonne. Ein etwas zweifelhaftes Vergnügen. Während der Wanderung teilten sich die höheren Klassen von dem großen Tross. Klasse 8 ein Mann, Kl. 7 zwei Mann. 6a ein Mann, 6b 4 Mann. Nachdem Horst und ich diese uninteressante Versammlung schon vorher verlassen hatten, gingen wir zum Ernährungsamt. Große Hitze. Streit zwischen Einheimischen und Wuppertalern. Streit der Einheimischen untereinander. Außerdem war ein kleines Mädchen da. Klein heißt hier nicht jung, sondern kleiner wie ich. Sie war Jahrgang 29 und hieß Hannelore Model, stammte aus Wuppertal, war aber schon 8 Wochen in Thüringen. Nach dreistündigem Stehen war die Kartensache erledigt und wir zogen nach „Hause“. Das Essen war inzwischen mehrere Male aufgewärmt worden. Nachmittags zwischen 3 und 4 gingen Horst und ich ins Strandbad. Wir trafen dort viele aus Wuppertal. Es wurde tüchtig Fez gemacht und die gerarer Weiblichkeit ergötzte sich an ihnen wahrscheinlich noch unbekanntem Treiben. Da wurden Mädchen gemustert, gut befunden – wieder verworfen - ...

Na wir waren jedenfalls um 8.05 wieder in der Sedanstraße [jetzt Franz-Petrich-Straße] 24. Um 9.15 Uhr gingen wir unter dem Vorwand, Herrn Hahn besuchen zu wollen, noch einmal heraus. Am Bahnhof trafen wir 4 Kameraden mit 2 Mädchen, die aber beide zu jung waren. Die eine war direkt widerlich mit ihren langen, 3 Finger breiten, knochigen Händen und fletschenden Zähnen. Dürr wie ein Stock. Dann trafen wir am Bahnhof noch zwei, die aus Westfalen kommen wollten. Auch zwei Kinder. Ich hatte das Gefühl, dass sie uns in Allem nach Strich und Faden belögen. Vom Heimatsort bis zum Reiseziel und vom Namen bis zum Alter. Um 10 Uhr kamen wir nach Sedanstraße 24. Wir trafen unsere 4 Bundesbrüder wieder, die einen Pflaumenbaum ausgemacht hatten, an dem wir mal kräftig geschüttelt haben. Pflaumensteine haben wir nachher vor schlecht verdunkelte Fenster geworfen. Heute Morgen standen wir um 8.00 Uhr auf.

Der Bolle reist zu Pfingsten, Banko war sein Ziel, da verlor er seinen Jüngsten ganz plötzlich im Gewühl.

Gera den 21.8.1943

Liebe Mutter

Heute möchte ich Dir mal wieder einen kleinen Bericht schicken. Man gewöhnt sich so langsam an alles. Ans Essen, ans fremde Bett und an Katzen, die mit beim Frühstück sitzen. Na, das zuerst, jetzt mal weiter.

Gestern waren wir im Strandbad. Es waren auch noch mehrere Wuppertaler da, außerdem ein Düsseldorfer, der sich uns angeschlossen hatte. Wir haben tüchtig Fez gehauen. Die Thüringer Weiblichkeit stand da und sah zu. So etwas hat sie bei ihren etwas sturen Jünglingen noch nicht gesehen.

Um 8.05 kamen wir abends nach „Hause“. Nachdem wir zu Abend gegessen hatten, mussten wir noch einige Eimer voll Sand auf den Speicher tragen. Was ich noch vergessen hatte, die Katze hatte es sich auf der Wäsche gemütlich gemacht und da hat Horst sie durchs Fenster getan. Das Biest war aber nachher so scheu, dass Frau Gast es merkte, und die Katze ist ihr Steckenpferd. Sie nimmt an, die Kinder draußen hätten sie mit Sand beworfen. Es waren für Horst ein paar verdammt ungemütliche Minuten. Was Fressalien anbelangt, so hat eine gewesene Bäckerei doch noch allerhand. Jeden Morgen Brötchen. Einen ganzen Eimer voll Speck habe ich gesehen und so weiter. Jetzt will ich Dir mal einen Lageplan unserer Wohnung aufzeichnen.

Liebe Mutter, Du musst den unzusammenhängenden Brief entschuldigen, aber ich habe gerade Zeit zu schreiben, und da dachte ich: schreib.

Schicke mir bitte Fischkarte, Zuckerkarte und Kartoffelkarte.

Herzliche Grüße sendet Dir

Dein Guntram

Grüße auch an Tante Liddi, Onkel Hans und Onkel Moritz.

Gera den 21.8.43

Liebe Mutter,

Jetzt muss ich am selben Tag noch einmal schreiben. Diesmal eine Bitte: kaufe mir doch bitte eine neue Badehose und schicke sie mir. Farbe möglichst dunkel, am liebsten dunkelblau.

Herzliche Grüße, Guntram

Brief von Selma Trennert an ihren Sohn Guntram

Wuppertal-Barmen den 22.8.1943

Mein lieber Guntram

Gestern erhielt ich Deinen ersten ausführlichen Bericht und ich muss sagen, dass mir seitdem das Herz ein wenig schwer ist. In Deinem nächsten Bericht erfahre ich dann ja wohl, wie es nun endgültig ist. Mit den unliebsamen Insekten (ich meine jetzt nicht die harmlosen Ameisen) hat es hoffentlich nicht seine Richtigkeit. Wie könnt ihr denn darüber sprechen, wenn ihr noch keine entdeckt habt, wie Du schreibst? Kennt ihr denn überhaupt das berüchtigte Insekt? Mit solchen Behauptungen muss man sehr vorsichtig sein. – Werdet ihr satt? In den nächsten Tagen schicke ich Dir ein Päckchen mit Gelee. Den heimatlichen Marmeladentopf wirst du ja wohl vermissen. Schreibe mir, was Du brauchen kannst, wenn irgend möglich beschaffe ich es. Habt Ihr schon Unterricht gehabt? Ich stelle einige saftige Fehler in Deinem Brief fest, es wird also die höchste Zeit, dass der Unterricht beginnt. Fehler: „... nehmen wir von unserem Abteil 2ter Klasse besitz.“ Jedes Wort vor welches Du ein Geschlechtswort setzen kannst, ist ein Dingwort! „... Auf Nummer sicher gesetzt“ Sicher wird in diesem Falle groß geschrieben. „Das letzte Mal“ wird zusammenhängend geschrieben. Anfang wird groß geschrieben! „... stellte sich heraus, dass es eine Grießsuppe war.“ jedes dass, das (welches) mit keinem anderen Wort ersetzt werden kann, wird mit ß geschrieben. „In Hinsicht auf Industriestadt“ Hinsicht wird groß geschrieben. So wird „Theater“ geschrieben und nicht das h nach dem zweiten t. Zusatz wird groß geschrieben. Nun aber genug mit der Schulmeisterei (denkst Du vielleicht), aber tröste Dich, mein Brief an Erika, den ich soeben schrieb enthält auch so eine Berichtigung; nachstehend Erikas Adresse, falls Du sie nicht mehr weißt: E. Trennert bei Familie Krey, Erfurt, Burgstraße 12. Deine Adresse habe ich Erika auch mitgeteilt. – Ich habe doch am heutigen Sonntag besonders oft an Dich denken müssen. Nun bist Du ganz auf Dich gestellt. Denke bei allem was Du tust an die Folgen, meide schlechten Umgang im Übrigen aber nutze Deine Freizeit recht aus. Dass Du schon im Strandbad warst hat mich gefreut, über Deine muntere Reiseschilderung habe ich mich gefreut. Kümmern sich die Lehrer auch in der Freizeit um Euch? Hat die Pflegemutter Kinder? In Deinem nächsten Brief erfahre ich hoffentlich, wie Du den heutigen Samstag zugebracht hast. Bis gestern Abend hatten wir sehr heißes Wetter. In der Stadt ist ein Gewitter niedergegangen und heute regnet es den ganzen Tag, augenblicklich, es ist fast 10 Uhr abends, klatscht der Regen nur so. Hoffentlich haben wir aus diesem Grunde auch Ruhe vor den Engländern. Wie steht es bei Euch mit dem Alarm? Ernst August wandelt noch allein auf weiter Flur, er hat sich heute ein Buch geliehen und brachte mir die Nachricht, dass Horsts Brief auch zu Hause angekommen sei. Ich selbst habe Isenbergs noch nicht gesprochen.- Wäre es für Dich nicht zweckmäßiger gewesen, Du wärest mit einem Schüler der Klasse VI zusammen. In absehbarer Zeit besuche ich Dich und Erika und überzeuge mich dann persönlich über Euer Ergehen! Jetzt will ich schließen, weil ich an Harald auch noch schreiben will.

Sei herzlich gegrüßt und geküsst

von Deiner Mutter

Viele Grüße auch an Deine Pflegemutter

Gera den 23.8.1943

Gestern standen wir um 8.00 Uhr auf. Zum Frühstück gab es Kuchen. Danach gingen wir zu Rolf Deppe. Er ist großartig untergebracht. In der Hinsicht sind wir Waisenbrüder gegen ihn. Es wurde Sonntag schon um 12.00 Uhr zu Mittag gegessen, weil Frau Gast nach Ronneburg zu ihren Eltern fahren wollte. Um 1.30 Uhr waren wir im Strandbad. Wir, Horst und ich konnten sofort den schon vorher gemieteten Schrank benutzen. Wir hatten bis 7.00 Uhr Eintritt bezahlt. Einige Mädchen kannten wir schon vom vorigen Mal. Edeltraut, ein schönes Mädchen, war neu. Es wirkte ein wenig lächerlich. Das Mädchen konnte einen zackigen Kopfsprung vom 3 und 5 Meterbrett und konnte schneller schwimmen als ihre beiden Verehrer. Ein wahrlich komisches Bild. Horst traf am Abend um 8.00 Eva. Er empfing den ersten Kuss und ist ganz selig. Heut soll er über 10 bekommen. Da es aber heute regnet, ist das noch etwas zweifelhaft. Um 2 müssten wir zum ersten Mal zur Schule. Den Aufsatz, den wir aufhatten, habe ich schnell noch 24zeilig hergestellt. Punkt für jetzt.

Um 4.00 Uhr war die Schule aus. Fredi ist unser Ordinarius. Wie es nun werden soll, weiß ich nicht. Klasse 6, 7 und 8 in einer Klasse! Fez gibt es jedenfalls. Ein schönes Mädchen habe ich noch immer nicht gesehen, beziehungsweise angesprochen. Ich weiß nicht, ist es nun gut, wenn man so dreist ist wie zum Beispiel mein Kumpan Horst oder bin ich besser wie ich bin? Wer weiß das? Wer weiß was des Geschickes unberechenbare Mächte mir einmal zutreiben? Hoffentlich was Gutes und bald! Herr, vergiss es, ich bin ein Barmer!

Das Wetter scheint wieder schön zu werden. Hoffentlich! Dann geht’s morgen ins Strandbad und Horst bekommt über 10 Büsse.

Das Radio spielt gerade den „Japanischen Laternentanz“ [Anm.: Japanischer Laternentanz, 1925, Yoshimoto, d. i. Carl Zimmer, 1869-1935]. Bei der Melodie sehe ich durch die halbgeschlossenen Lieder an der Tapete abscheuliche Figuren tanzen. Tellerartige Hüte, lange, groß geblümte Kleidung. Katzenartig biegen sich die Körper, mehr schlangenartig. Bunt wirbeln die Leiber durcheinander. Sie vereinigen sich zu einer kompakten Masse, aus der ein Gesicht entsteht, eine Fratze mit aller Hässlichkeit und Unentzifferbarkeit der mongolischen Rasse. Dann verstummen die Melodien. Das Gesicht verschwindet und mir entgegen starrt wieder die eisblumig gemusterte Tapete. Das Gehörte und Gesehene aber klingt eigenartig in mir nach, so dass ich es für richtig hielt, es niederzuschreiben.

Gera den 24.8.1943

Liebe Mutter

Gerade erhielt ich Deinen Brief vom 22.8. Sorge brauchst Du Dir nicht zu machen. Die unliebsamen Insekten, wie Du sie nennst sind zwar noch nicht aufgetaucht, aber das Zimmer, aus dem der Schrank kommt, war bevölkert. Was in meinem ersten Brief hiervon stand, weiß ich nicht mehr genau, bin aber der Ansicht, dass ich das Vorhandensein im Kleiderschrank nicht bestätigt, sondern vermutet habe. Satt werden wir und mit der Marmelade bringst Du mich höchstens in Verlegenheit. Wir bekommen jeden Morgen Brötchen, Marmelade, Honig, Brot. Unterricht haben wir zum ersten Mal heute richtig gehabt. Dass Du mich auf die Fehler aufmerksam machst, ist ja sehr schön. Es stört aber den guten Ton des Briefes. Die Fehler rühren hauptsächlich davon her, dass ich den Brief in einem Zug durchgeschrieben habe. Da kann ich auf Rechtschreibung nicht so genau achten. Ich hatte vergessen, den Brief durchzulesen und deshalb waren die Fehler eben drin.

Das „auf sich gestellt sein“ fällt mir bis jetzt nicht schwer. Schlechten Umgang habe ich bis jetzt nicht. In der Freizeit waren wir bis jetzt meistens im Strandbad, so 4-5 mal. Kinder hat die Pflegemutter keine. Sonntag war ich fast den ganzen Tag im Strandbad. Geregnet hat es nur Montag und in der Nacht von Sonntag auf Montag war ein Gewitter. In der Nacht vom 23. zum 24. hatten wir zum ersten Mal Alarm. Die Sirene haben wir nicht gehört. Frau Gast musste uns wecken. Wir sind aber liegen geblieben und sofort wieder eingeschlafen.

Ich habe gerade zu Abend gegessen und schreibe nun weiter. Ob es besser wäre, wenn ich mit einem der Klasse 6 zusammen bin, kann ich nicht beurteilen. Dass Du einmal kommen willst, ist ja sehr nett. Lieber hätte ich Dich ja da, wenn ich einmal Heimweh bekäme.

So, nun habe ich den ganzen Brief fast nichts Anderes getan, als alle Deine besorgten Fragen beantwortet. Ich kann nichts Anderes scheiben, als dass es mir bis jetzt gut geht. Die Unsauberkeit in punkto Honig und Spülstein usw. hat wahrscheinlich daran gelegen, dass Frau Gast von einer 6-wöchigen Reise zurückkam. Es ist nicht nötig, dass Du alle meine Berichte Frau Isenberg und Co. erzählst. Damit Du siehst, dass ich auch noch etwas Anderes tue als ins Strandbad gehen: ich lese Storm und habe schon 11 Seiten meines Tagebuchs voll. Es ist allerdings nicht für andere Augen als die meinen bestimmt.

Zu essen gab es so im Allgemeinen Kartoffel, Sauce, Gurkensalat, Klöße (Thüringer), Suppe mit Brechbohnen, Brot, Teilchen, Tomaten, Eibutterbrot.-Nun will ich den Brief noch nach Fehlern durchsehen. Sollten sich doch noch welche in ihm befinden, so verschone mich fleißigen Briefschreiber mit langwierigen Korrekturen. Ich könnte nämlich sonst das Briefeschreiben Leid werden. Das war ein Wink mit dem Besenstiel.

Es grüßt Dich herzlich aus Gera Dein Guntram

Grüße auch an Tante Liddi, Onkel Hans, Onkel Moritz und Ernst August, falls er noch da ist.

Radio vorhanden. Ganz modern.

Gera den 25.8.1943

Gestern Morgen waren Horst und ich im Strandbad, es war ziemlich kalt, wenn man nicht in der Sonne stand. Los war nicht viel. Um 12.30 waren wir wieder in der Sedanstraße 24. Um 1 wurde gegessen. Dann gingen wir in die Schule. Frau