Mein Visum war ein Witz - Serhat Dogan - E-Book

Mein Visum war ein Witz E-Book

Serhat Dogan

0,0

Beschreibung

Nach Deutschland mit dem Comedy-Visum – eine verrückte Einwanderungsgeschichte, ungewöhnlich und sympathisch. Mit Einfallsreichtum und Humor findet der Autor seinen Weg aus der Türkei auf die deutschen Brettlbühnen. Eine witzige Autobiografie, notiert von einem kongenialen Autorenduo. Serhat Dogan steht mittlerweile seit vielen Jahren auf deutschen Kleinkunstbühnen, tritt in Fernsehsendungen und Comedyshows auf. Und inzwischen macht ihm das auch Spaß und er versteht, warum die Leute lachen. Als er 2004 aus der Türkei nach Deutschland kam, sah das noch anders aus. Nach dem Sportstudium sollte er seinen Wehrdienst leisten, doch zur türkischen Armee wollte er auf keinen Fall. Sein deutscher Schwager in spe, niemand Geringeres als Bestsellerautor Moritz Netenjakob, hatte die rettende Idee: Er schrieb Serhat ein kleines Comedyprogramm, das dieser auf dessen Hochzeit aufführte – ohne auch nur ein Wort davon zu verstehen. Der Auftritt wurde ein voller Erfolg, und mit einiger prominenter Unterstützung gelang es Serhat Dogan, in Deutschland bleiben zu dürfen – unter der Voraussetzung, dass er hier als Comedian arbeitet. Gemeinsam mit seiner Kollegin Käthe Lachmann erzählt Dogan die Geschichte einer ungewöhnlichen Bühnenkarriere: sympathisch, offenherzig und – natürlich – sehr komisch. »Mit herzerfrischender Ironie zeigt er die Kulturunterschiede aus Sicht eines Deutschtürken. Seine Pointen sitzen, seine charmante Ratlosigkeit ist liebenswürdig.« Neue Osnabrücker Zeitung über Serhat Dogan

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Serhat Doganmit Käthe Lachmann

MEIN VISUM WAR EIN WITZ

Mein Weg auf deutsche Bühnen

Serhat Dogan wurde 1974 in Köln geboren und zog 1980 mit seinen Eltern nach Izmir. Er schwamm für die türkische Nationalmannschaft und kehrte 2004 nach einem Sportstudium nach Köln zurück.

Er tritt mit seinen Bühnenprogrammen bundesweit auf, wurde für zahlreiche Kleinkunstpreise nominiert und ist in Fernsehshows ein gern gesehener Gast, u. a. war er schon bei »Rent a Pocher« (ProSieben), »Müller & Friends« (SWR) sowie in den WDR-Produktionen »NightWash«, »Funkhaus«, »Stratmanns« und »Für heute danke« zu sehen.

Käthe Lachmann wurde 1971 in Reutlingen geboren und zog 1992 nach Hamburg, wo sie Philosophie, Soziologie und Neuere Deutsche Literatur studierte. Ab 1995 war sie als Comedienne mit ihren Soloprogrammen bundesweit unterwegs und wurde mit dem »NDR-Comedypreis«, dem »Prix Pantheon« und dem »Deutschen Kabarettpreis« ausgezeichnet.

In verschiedenen großen Verlagen veröffentlichte sie Romane, Kurzgeschichten und erzählende Sachbücher.

E-Book-Ausgabe April 2023

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2023

www.satyr-verlag.de

Cover: Satyr Verlag unter Verwendung von Bildmaterial von Britta Schüßling

Alle Privatfotos in diesem Buch: Archiv Serhat Dogan

Foto im Kapitel »Damenwahl«: Johannes Boventer

Serhats Comedytexte (eingerückt): Moritz Netenjakob

Korrektorat: Jan Freunscht

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

E-Book-ISBN: 978-3-947106-98-1

Inhalt

Mein Tagebuch

Köln ist in der Türkei

Experimente

Kinder, Kinder!

Izmir fremd

Nebenjob: Animateur

Romantik auf Türkisch

Militär

Hochzeitspläne

Lustig, lustig, nicht mehr da?

Die Hochzeit

Zweifel

Witziges Visum

Wieder da

Das bisschen Haushalt

Frühling

Unterschiede passen gut

Machofrauen

Üben, üben, üben

Den kenn ich aus der Glotze!

Helmut Kohl im WDR

Alohol

Wer bin ich?

Gastarbeiter?

Damenwahl

Messefieber

Serhat auf dem Schiff

Danke & Teşekkürler!

Mein Tagebuch

Montag, 8. April 2004, 12 Uhr 30: In Deutschland gelandet. Himmel ist grau. Gehe durch München. Habe mir die Stadt schöner vorgestellt. Und wo ist Hofbräuhaus?

14 Uhr: Das ist gar nicht München, das ist immer noch Flughafen.

14 Uhr 30: Ich will Fahrkarte kaufen. Frau am Schalter sagt: »Grüß Gott.«

Na bravo! Mein erstes Gespräch in Deutschland und sie will über Gott reden.

Ich sage: »Tut mir leid, ich bin Moslem. Wir sagen ›Grüß Allah‹.«

Frau guckt mich komisch an. Dann redet sie in Sprache, die ich noch nie gehört habe. Ich frage: »Sprechen Sie Deutsch?«

Sie nickt.

Ich frage: »Warum sprechen Sie dann nicht Deutsch mit mir?«

Die Frau guckt sehr beleidigt.

Es gefällt mir, dass ich trotz des grellen Lichtes die Leute zumindest in den ersten Reihen sehe. Nur in ein schwarzes Loch zu gucken, wie es auf manchen Bühnen der Fall ist, ist anstrengender für mich.

Die Scheinwerfer sind sehr heiß, ich schwitze, aber das ist, glaube ich, nicht dieses »Lampenfieber«, von dem die Kollegen manchmal erzählen. Sie sagen, dass sie aufgeregt sind, bevor sie auf die Bühne gehen, das aber ganz schnell weg ist, wenn sie anfangen zu spielen. Mir wird eigentlich erst auf der Bühne richtig heiß.

Aufregung ist mir ziemlich fremd, ich habe ja meinen Text auswendig gelernt und trage ihn vor und das war’s. Deswegen brauche ich doch nicht aufgeregt zu sein, ich bin ja Profi und weiß, was ich tue. Wobei, selbst als ich noch Anfänger war, war ich nicht sehr aufgeregt. Ich habe vorher einfach immer ein, zwei Bierchen getrunken, dann war ich entspannt.

Die Leute haben Spaß und kichern fast ununterbrochen. Immer wieder gucke ich hoch von meinem Text und tue so, als wunderte ich mich, dass die Leute lachen. Dann lachen sie noch mehr.

Das war früher noch anders. Da habe ich wirklich nicht verstanden, was ich da vortrage, und hatte echt keine Ahnung, warum gelacht wurde.

Eigentlich kann ich den Text auch schon lange auswendig, natürlich auf Deutsch, aber es kommt besser an, wenn ich vortäusche, ich würde es ablesen, schließlich ist es ja mein Tagebuch und ein Buch liest man.

Es ist Samstag und der Quatsch Comedy Club ist gerammelt voll. Das ist wieder so ein komischer Ausdruck, an den ich mich schlecht gewöhnen kann, davon gibt es viele im Deutschen. Wenn Hasen Sex haben, heißt das rammeln, habe ich gelernt – aber was hat das mit einem vollen Theater zu tun? Während ich darüber nachdenke, lese ich meine Tagebuchnummer weiter und mache Pausen, um die Menschen applaudieren und lachen zu lassen. Ich brauche heute besonders viel Zeit, weil den Leuten anscheinend sehr gut gefällt, was ich vortrage.

18 Uhr: Jetzt bin ich in München.

Himmel immer noch grau.

Deutschland hat viele Überraschungen: Alter Mann geht über Zebrastreifen und Auto bremst.

In der Türkei wäre er jetzt im Krankenhaus.

Unglaublich: Die Deutschen halten sogar an roter Ampel. Sie fahren einfach Auto und hinterher ist keiner tot!

Ja, das stimmt. Nach Deutschland wollte ich. Auch wenn die Deutschen manchmal sehr seltsam sind. So wie dieser Mann aus dem Publikum heute Abend:

Die Show ist vorbei, ich steige von der Bühne, freue mich auf ein schönes Bier, da kommt dieser Typ, geschätzt etwa so alt wie ich, auf mich zu. Natürlich kommen viele auf mich zu, aber dieser Typ ist besonders. Er will ein Selfie machen. Aber nur von mir! Also, eigentlich will er ein Foto von mir machen. Aber das mache ich nicht. Ich mache nur Fotos mit ihm und mir zusammen. Wer weiß, was der sonst mit dem Foto macht. Ganz ruhig erkläre ich ihm das, aber er versteht mich nicht. Vielleicht spricht er kein Deutsch. Am Ende habe ich ein schönes Foto von ihm auf meinem Handy, er ist überglücklich und ich weiß nicht, was wir gerade erlebt haben. Da geht er zu meinem Kollegen und sagt, er braucht von ihm dringend ein Bild. Toll. Ich dachte, er wäre mein Fan! Ich lösche sein Foto.

Zum Glück habe ich noch andere Fans. Ich liebe mein Publikum. Dass ich so was mal sagen würde! Dass ich überhaupt ein richtiges Publikum haben würde, hätte ich früher nie gedacht. Und jetzt bin ich hier und mache Comedy!

Ich frage am Hauptbahnhof: Wo geht es nach Deutschland? Der Mann lacht nur. Ich verstehe gar nichts mehr.

23 Uhr: Vor dem Hauptbahnhof steht eine sehr hübsche, blonde Frau mit kurzem Rock; fragt mich, ob ich mit ihr schlafen will. Wow! Bayern ist super.

In der Türkei musst du erst wochenlang anbaggern, dann schlägt dich ihr Bruder in die Fresse, dann musst du deine Eltern um Erlaubnis fragen, dann müssen deine Eltern IHRE Eltern um Erlaubnis fragen, dann musst du große Halle mieten für 500 Gäste, dann musst du zwei Stunden durch die Innenstadt Autokorso machen, dann musst du heiraten, dann musst du bis morgens 8 Uhr tanzen – DANN kannst du mit ihr schlafen.

Das dauert mindestens zwei Jahre und kostet 10.000 Euro.

In Bayern fünf Minuten und 100 Euro.

Dienstag, 9. April, 10 Uhr: Himmel immer noch grau.

11 Uhr: Hofbräuhaus gefunden. Kellner bringt ein Glas, so groß – kann ein Kind drin ertrinken.

Ich sage: »Tschuldigung, ich wollte ein Bier, aber kommt Aquarium.«

Kellner spricht auch kein Deutsch.

12 Uhr: Endlich! Der Himmel ist blau!

12 Uhr 05: Tschuldigung. Himmel ist immer noch grau. ICH bin blau.

Habe nämlich Aquarium ausgetrunken.

17 Uhr: Polizist öffnet die Tür und bringt mir neues deutsches Wort bei: »Ausnüchterungszelle«.

Wow! Deutsche Polizei ist aber nett! In der Türkei, wenn du so besoffen bist, schmeißen sie dich einfach ins Meer. In Deutschland kriegst du umsonst ein Hotelzimmer.

17 Uhr 10: Ich gehe nach draußen. Himmel grau.

Ich sehe in meinem Leben zum ersten Mal Sonnenstudio. Sehr lustig für mich. In der Türkei, wenn du Sonne haben willst, gehst du RAUS.

In Deutschland, wenn du Sonne haben willst, gehst du REIN.

18 Uhr: Endlich! Der erste Mann, der Deutsch sprechen kann. Er ist Zeitungsverkäufer. Hat aber nur eine Zeitung, steht drauf: »Erwachet!« Er sagt, die Welt geht bald unter.

Wow! Ich habe schon gehört, Deutsche sind bisschen pessimistisch, aber SOOO …

Na ja – eigentlich klar, wenn man nie die Sonne sieht …

Mittwoch, 11. April, 8 Uhr: Ich öffne den Vorhang. Hurra! Himmel ist weiß!!!

Ich spüre: Es geht bergauf. Heute ist mein Tag. Deutschland ist mein Land. Alles wird gut!

8 Uhr 01: Augen haben sich an Tageslicht gewöhnt. Himmel ist grau.

Für viele Kollegen ist es sehr aufregend, sie haben lange davon geträumt, endlich auf einer richtigen Bühne zu stehen, einer Bühne wie dem Quatsch Comedy Club. Sie haben davon geträumt, Leute zum Lachen zu bringen und mit dem, was sie erzählen, Geld zu verdienen.

Mein junger Kollege M., der heute zum ersten Mal hier spielt, hat mir von seinem langen Weg auf diese Bühne erzählt. Eigentlich hat er Jura studiert, aber seine Freunde haben ihm immer wieder gesagt, wie lustig er ist und dass er mit seinen Gags auftreten soll. Nach kleinen Einlagen auf Familienfesten hat er angefangen, auf offenen Bühnen für zehn Minuten etwas Lustiges zu erzählen. Auf einer offenen Bühne bekommt man meist kein Geld, nur manchmal geht ein Hut rum. Ein Hut mit (offenen) Beinen … Nein, Quatsch, jemand sammelt Spenden für die Leute auf der Bühne, aber besonders viel kommt dabei meist nicht zusammen. Auch Comedians, die schon eine ganze Weile dabei sind, probieren hier manchmal neues Material aus, feilen daran und gehen erst damit auf die große Bühne, auf der sie auch Geld verdienen, wenn alles stimmt.

M. hat seine Auftritte gefilmt und sich mit diesen Filmen beworben, er hat zwar noch kein ganzes Abendprogramm, aber etwa zwanzig Minuten Material. Und das ist so gut, dass er jetzt mit uns anderen hier auf den Brettern des bekanntesten Comedyclubs Deutschlands steht.

Und für ihn ist es sogar recht schnell gegangen, ältere Kolleginnen und Kollegen haben mir erzählt, dass sie jahrelang mit ihren Programmen durch die Provinz gefahren sind, bis sie in größeren, renommierteren Theatern spielen konnten. Und es ist überhaupt nicht schlecht und ich mag es, durch die Provinz zu reisen: Dort gibt es unheimlich viele tolle Bühnen und engagierte Menschen, die für sehr vielseitige Kultur in ihrem Ort sorgen. Man lernt eine Menge und bekommt immer mehr Sicherheit, je öfter man spielt.

Ich habe den Eindruck, heute wollen viele Kolleginnen und Kollegen, obschon sie gerade erst anfangen, sofort in großen Hallen spielen – und ins Fernsehen. Sie sind sehr ehrgeizig.

Das ist bei mir nicht so. Ich freue mich, dass es bei mir läuft, wie es läuft. Wenn mal ein Auftritt nicht ganz so gut war, bin ich kurz traurig, aber nicht wütend. Ich zweifle dann auch nicht sofort an mir, übe wie bekloppt oder stelle all meine Texte um und so was. Denn wenn ich das machen würde, wäre ich beim nächsten Mal angespannt, und ich weiß, dass ich besser ankomme, wenn ich locker bin. Deshalb versuche ich, es so gut zu machen, wie ich kann. Vielleicht bin ich nicht so ehrgeizig wie manche jungen Kollegen, aber dafür bin ich entspannter.

Es sind viele junge Kollegen auf deutschen Bühnen unterwegs, sie erzählen von Schwierigkeiten mit ihren Eltern, der Schule, Bartwuchs und Sex. Obwohl ich mir bei manchen nicht sicher bin, ob sie überhaupt schon welchen haben. Also Bartwuchs.

Auch M. träumt schon seit Jahren davon, endlich ein »richtiger« Comedian zu sein, mit seinem Programm durchs Land zu reisen, seine Plakate überall hängen zu sehen und nach der Show Autogramme zu geben.

Ich selbst habe nie davon geträumt, Comedian zu werden. Mein Traum war immer, Animateur zu bleiben, zu saufen und Spaß zu haben.

Nebenbei bemerkt: Die Deutschen sind wirklich komisch. Sie haben ein englisches Wort für einen deutschen Beruf. Oder ist Comedian gar kein Beruf? Wahrscheinlich schon, ich bekomme ja Geld dafür. Ich lebe gut davon, also sage ich mir: »Besser Comedian sein, als richtig zu arbeiten.« Aber richtig Spaß macht es mir noch nicht so lange, eigentlich erst seit ein paar Jahren.

Wie es dann überhaupt dazu kam, dass ich Comedy mache? Das will ich euch gerne erzählen.

Köln ist in der Türkei

Ich heiße Serhat Dogan und bei dem Namen hört man gleich: Ich komme aus Köln. Und zwar bin ich da geboren, 1974, als drittes von insgesamt fünf Kindern. Meine Eltern waren nach Deutschland gekommen, um zu arbeiten. Als Gastarbeiter. Seltsamer Ausdruck, Gastarbeiter. In der Türkei würde man seine Gäste nie arbeiten lassen. Im Gegenteil, man verwöhnt sie, kocht für sie und freut sich über ihren Besuch! Komisch, dass meine Eltern damals trotzdem nach Deutschland gegangen sind.

Mein Vater hat als Elektrotechniker gearbeitet und meine Mutter anfangs noch als Krankenschwester und Sängerin, bevor dann meine Schwestern, eine nach der anderen, auf die Welt gekommen sind.

Aber Mutter und Vater kamen nicht zusammen nach Deutschland, denn damals kannten sie sich noch gar nicht.

Von den Städten, die sich mein Vater angeguckt hat, München, Frankfurt und Köln, hat es ihm am Rhein am besten gefallen, weil die Leute dort so freundlich und offen sind. Ein weiterer Grund war, dass er als Muslim eigentlich, mit gelegentlichen Ausnahmen, keinen Alkohol trinkt, und in Köln wird auch praktisch keiner getrunken, nur Kölsch. Er hat hier gleich Arbeit gefunden und sich niedergelassen.

Ich habe das eben ein bisschen nebenbei reingeschmuggelt, dass meine Mutter Sängerin war. Sie war eigentlich sogar ziemlich berühmt, vor allem in der türkischen Community in Deutschland. Ständig hat sie Konzerte gegeben und ihre Landsleute mit türkischem Liedgut erfreut, sie heißt Asuman Çevikkalp, kennt ihr sie?

Kennengelernt haben mein Vater und meine Mutter sich, weil ein Fahrer gesucht wurde, der sie zu einem Konzert bringen sollte. Mein Vater machte damals manchmal mehrere Jobs gleichzeitig, er fuhr Taxi und arbeitete als Elektriker. Und er hatte einen großen Mercedes. So kam es, dass Bekannte ihn fragten, ob er nicht unsere Mutter abholen könnte, aus Andernach, wo sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester machte, und sie zu ihrem Konzert nach Köln bringen könnte. Obschon Andernach nicht gerade um die Ecke ist, sagte mein Vater zu. Er hatte natürlich schon von ihr gehört, da er aber immer schon recht bodenständig gewesen ist, beeindruckte ihn ihre Berühmtheit wenig. Er fuhr rechtzeitig los, damit er pünktlich um fünfzehn Uhr bei ihr war, damit sie es garantiert ohne Stress zum Soundcheck schaffen würde. Wie er uns erzählt hat, fragte er sich tatsächlich, was das wohl für eine Diva war, die sich von einem privaten Chauffeur abholen ließ. Aber schon als er bei ihr ankam und ihr die Tür aufhielt und ihm ein Hauch ihres orientalischen Parfums in die Nase stieg, merkte er, dass sein Herz schneller zu klopfen anfing. Im Wagen sah er in den Rückspiegel und verlor sich umgehend in ihren sanften Augen, die zugleich genau zu wissen schienen, was sie wollten. War das ein Prachtexemplar von einer Frau! Es dauerte nicht lange und es war um ihn geschehen. Und im Laufe der Fahrt stellte sich heraus: Er ließ auch sie nicht völlig kalt.

Allah, Allah, was soll ich sagen: Die Funken stoben zwischen ihnen, sie hätten eigentlich gar kein Benzin gebraucht, um nach Köln zu kommen! Ja, da guckt ihr Deutschen, hätten alle so ein feuriges Temperament wie wir Türken, bräuchtet ihr euch keine Sorgen um die Energieversorgung zu machen.

Hals über Kopf hatten sie sich verliebt, er vielleicht sogar noch etwas hals-über-kopfer. Ja, sie war eine elegante und selbstbewusste Erscheinung und sie imponierte ihm.

Allerdings waren die beiden sehr unterschiedlich: Er kam von der Schwarzmeerküste, sie aus Izmir. Das ist ungefähr so, als würde sich ein Bayer in eine Ostfriesin verlieben, nur schlimmer. Meine Mutter war sich sicher, dass das nicht gut gehen konnte, sie waren doch schon wegen ihrer geografischen Herkunft so verschieden, hatten ganz unterschiedliche Temperamente, wie ein Döner und eine Baklava, die isst man ja auch nicht gleichzeitig. Außerdem war sie noch sehr jung.

Sie versuchte, ihren Gefühlen zu widerstehen, wies ihn zurück und wollte ihn nicht heiraten.

Mein Vater, sechs Jahre älter als sie, blieb hartnäckig. Einmal lag meine Mutter mit einer Grippe im Krankenhaus. Als mein Vater das hörte, wollte er sie unbedingt besuchen. Mit einem riesigen Blumenstrauß marschierte er zum Krankenhaus, wurde aber von der Stationsschwester abgewiesen, denn meine Mutter wollte nicht, dass er sie besucht, sie wollte ihn ja auch nicht heiraten. Aber er blieb vor ihrem Fenster stehen, auch als es anfing zu regnen. Drei Stunden wartete er vor dem Fenster in der Hoffnung, sie doch noch sehen zu dürfen. Als die Krankenschwestern meiner Mutter erzählten, dass er seit drei Stunden im Regen auf sie wartet, durfte er kurz zu ihr und ihr die Blumen überreichen. Er war so hartnäckig, weil er sich sicher war, dass er mit ihr die Frau seines Lebens getroffen hatte, mit der er für immer zusammen sein wollte. Nach langem Hin und Her hatte er sie schließlich überzeugt und sie wurde seine Frau, mit gerade mal dreiundzwanzig Jahren.

Als – zwar untypischer, aber dennoch – Türke wollte er selbstverständlich nicht, dass sie weiterarbeitete, schließlich war er der Mann und ihm war es wichtig, für seine Frau und Familie zu sorgen. Wenn er es ihr auch nicht verboten hatte, so merkte sie doch deutlich, dass es ihm nicht recht war, dass sie weiterarbeitete. Außerdem war er ein bisschen eifersüchtig, weil sie in der türkischen Community in Deutschland ein richtiger Star war und viele – natürlich auch männliche – Fans hatte. Aus Liebe zu ihm hörte sie also auf, Krankenschwester zu sein, sang nur noch ab und zu auf Familienfesten und kümmerte sich ansonsten um die Familie, die sehr bald wuchs: Meine Schwestern kamen nacheinander auf die Welt. Zwei weibliche Kinder. Töchter. Mädchen. Die Enttäuschung bei meinen Eltern war riesig, als es beim zweiten Mal auch nicht richtig klappte. Sie wollten nach den Mädchen unbedingt einen Jungen.

Und dann, endlich, erblickte ich das Licht der Welt.

Natürlich war auch meine Geburt ein ganz besonderes Ereignis.

Mein Vater saß am 7. Juli 1974 wie die meisten Menschen nachmittags vor dem Fernseher. Er war sehr aufgeregt, schließlich gab es das Fußballweltmeisterschaftsfinale Deutschland gegen Holland! Jedem, der es hören oder nicht hören wollte, hatte er schon seit Tagen erzählt, dass er sicher war, dass Deutschland es schaffen würde, Deutschland würde natürlich Weltmeister werden, er würde höchstpersönlich durch seine Anwesenheit vor dem Fernseher dafür sorgen. Er hatte sich eine Mischung aus gerösteten und gesalzenen Pistazien, Kürbiskernen, Kichererbsen im Teigmantel, weißen Kichererbsen und Maiskörnern sowie einen kühlen Ayran bereitgestellt und die Sonne hinter fest zugezogenen Gardinen ausgesperrt. Aufgeregt saß er ganz vorne auf der Sofakante und schaufelte nervös Knabberkram in sich rein. Er hatte auf Durchzug geschaltet, als meine hochschwangere Mutter ihn fragte: »Kommst du mit uns? Hülya, Selda und ich wollen spazieren gehen. Vielleicht hat das Kleine dann endlich Lust, auf die Welt zu kommen. Ich mag nicht mehr schwanger sein, ich habe dicke Beine, mich nervt dieser riesige Bauch, etwas Bewegung lockt es vielleicht hervor. Was meinst du, mein Schatz?«

Baba grunzte nur.

»Ach, komm doch mit, es kann jeden Moment losgehen und dann bin ich froh, wenn du an meiner Seite bist, hörst du!« Stöhnend ließ sie sich neben ihm aufs Sofa fallen und blätterte abwesend im neuesten Quelle-Katalog. Er nutzte eine kurze Werbeunterbrechung, um sie zu fragen, was sie eigentlich wollte. Meine Mutter war zu müde, um genervt zu sein, ruhig erklärte sie ihm ein weiteres Mal, dass sie mit ihm und meinen Schwestern spazieren gehen wollte.

»Das geht auf gar keinen Fall, meine Liebste!«, erschrak Baba. »Das Spiel beginnt doch gleich und ohne mich können die auf keinen Fall gewinnen! Was, wenn ich auch nur zwei Minuten nach Anpfiff zurückkomme und dann schießen die komischen Käsefresser ein Tor? Meine Deutschen brauchen mich! Nein, bleib lieber schön hier neben mir sitzen und drücke die Daumen für unsere Mannschaft!«

»Aber vielleicht braucht unser Baby etwas Bewegung …«, seufzte Anne (Türkisch für »Mutter«).

»Du kannst mir noch einen Ayran bringen, das ist auch Bewegung, sei doch so gut, meine Liebe, und bring mir ein Glas!«

Sie gab auf, hievte sich hoch und schleppte sich zum Kühlschrank. Mit ihrem Mann Fußball gucken wollte sie nicht, also machte sie sich mit meinen Schwestern daran, das Abendessen vorzubereiten.

Doch plötzlich, sie hatte gerade noch das begeisterte »Jetzt geht’s los!« ihres Mannes gehört, durchfuhr ein stechender Schmerz ihren Unterleib. »Inşallaaaaaaaaaaaaaaaaah (so Gott will)!«, rief sie und eilte, so schnell sie konnte, zu ihrem Mann.

»Liebster, ich glaube, es ist tatsächlich so weit!«, rief meine Mutter ins Wohnzimmer, wo Baba sich schon die Seele aus dem Leib schrie, um »seine« Jungs anzufeuern. »Maier! Maier, den hältst du!«, brüllte er, um sich gleich darauf auf die Brust zu hämmern und zu klagen wie eine türkische Großmutter, die gerade erfahren hat, dass alle zehn Enkel gleichzeitig Zuhälter geworden sind. »Allah, Allah! Hıyarın oğlu (du Sohn einer Gurke)!«, beschimpfte er den Schiedsrichter.

Mein Vater hatte allen Grund, sich aufzuregen, lag doch die deutsche Mannschaft schon eineinhalb Minuten nach Spielbeginn 0:1 im Rückstand. Kein Wunder, dass er da nicht mitbekam, wie meine Mutter sich unter Schmerzen krümmte.

»Sevgilim (mein Schatz), die Wehen, das Baby kommt!«, presste sie hervor und ließ sich wieder stöhnend neben ihm aufs Sofa sinken.

»Canim (Liebste), halte noch durch, nur noch ein bisschen, wir liegen hinten, 0:1 Rückstand!«, keuchte mein Vater aufgeregt und tätschelte meine Mutter irgendwo, ohne hinzusehen.

Sie verzog das Gesicht und versuchte, ruhig zu atmen, mein Vater auch – wenn auch aus anderen Gründen.

»Es geht nicht mehr, wir müssen los!« und »Lieber Mann, bitte, bring mich ins Krankenhaus!«, jammerte meine Mutter in regelmäßigen Abständen und bekam ebenso regelmäßig zu hören: »Es geht noch nicht, noch nicht, Liebste!«

Als plötzlich das Spiel aufhörte, witterte Anne eine Gelegenheit: »Jetzt, fahr mich bitte jetzt sofort ins Krankenhaus, es ist höchste Zeit!«

»Nein, nein, das ist doch nur die Halbzeitpause, das hältst du noch aus, nur noch mal 45 Minuten gleich, Liebste!«

»Ich möchte bitte ins Krankenhaus, du liest doch morgen in der Zeitung, wer gewonnen hat!«

»Ha! Das ist doch nicht das Gleiche! Wieso muss das Baby ausgerechnet jetzt kommen, jetzt wo ich am Fernseher gebraucht werde? Ja, meine Mannschaft braucht mich! Wie soll sie ohne mich gewinnen? Haben wir Wein im Haus?«

»Wein? Wie kommst du denn darauf, du trinkst doch fast nie Wein! Außerdem musst du mich doch gleich in die Klinik bringen!«

»Nein, ich will ja gar keinen Wein, ich dachte nur, vielleicht machen wir bei dir einen Korken rein!«

Sie verdrehte die Augen: »Allah, Allah! Du und deine komischen Scherze!«

»Ich muss mich konzentrieren, es dauert nicht mehr lang, halte nur noch ein bisschen durch!«

Schnaufend und stöhnend schleppte sich Anne durch die Wohnung, schlurfte über Flokati und Linoleum in der Hoffnung, dass ich mir noch etwas Zeit lassen würde. Und, was soll ich sagen, ich war natürlich auch schon im Bauch Fußballfan und konnte meinen Vater sehr gut verstehen. Wer wusste schon, ob es im Kreißsaal einen Fernseher gab? So konnte ich den Spielverlauf wenigstens hören.

Und auch weil es gemütlich war und weil ich mir schon dachte, dass außerhalb des geschützten Raumes im Bauch meiner Mutter einiges auf mich zukommen würde, machte ich noch ein Nickerchen und ließ es ruhig angehen. Erst weit nach dem Spiel, am nächsten Tag früh morgens erblickte ich im Krankenhaus St. Vinzenz in Köln-Nippes das Licht der Welt.

Elhamdülillah (Gott sei Dank), endlich ein Junge! Und was für einer. Wie man sich denken kann, war ich ein besonders süßes Kind. Und noch dazu ein männliches. Zu Hause war ich also der Prinz, ach, was sag ich: der König!