Mein Wunsch für dich - Michelle Adams - E-Book
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Mein Wunsch für dich E-Book

Michelle Adams

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Beschreibung

Sie lieben sich seit einem halben Jahrhundert, doch das Leben hatte andere Pläne ...

Den ganzen Tag zusammen im Bett verbringen. Champagner zum Frühstück trinken. Gemeinsam eine Familie gründen. Jedes Jahr am 7. September liegt vor Elizabeths Tür ein blauer Krokus und eine Karte mit einem Wunsch. Ihre große Liebe Tom platziert sie dort – seit neunundvierzig Jahren. Es sind Wünsche, die sich die beiden nie erfüllen konnten, seit das Leben sie vor einem halben Jahrhundert auseinandergerissen hat. Doch sie haben nie aufgehört, sich zu lieben. Als Elizabeth ausgerechnet am fünfzigsten Jahrestag ihrer Liebe keine Blume und keinen Wunsch vorfindet, beschließt sie, sich auf die Suche nach Tom zu begeben. Sie muss herausfinden, warum Tom vor fünfzig Jahren aus ihrem Leben verschwunden ist. Denn auch wenn ihr nicht mehr viel Zeit bleibt: Für die große Liebe ist es nie zu spät.

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Seitenzahl: 440

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Das Buch

1968. Als Elizabeths Mutter eines nachts ins Meer stürzt, rettet der junge Fischer Tom ihr das Leben. Bei seinem Anblick schlägt Elizabeths Herz sofort schneller. Doch sie ist bereits dem Arzt des Fischerdorfs versprochen, und die gestohlenen Momente mit Tom beim alten Leuchtturm bleiben nicht unbemerkt …

2020. Vor fünfzig Jahren haben sich Elizabeths und Toms Wege für immer getrennt. Vergessen haben sie sich jedoch nie, und jedes Jahr legt Tom einen Krokus und eine Karte vor Elizabeths Tür. Doch als Elizabeth am fünfzigsten Jahrestag keine Blume vorfindet, ahnt sie, dass Tom etwas zugestoßen sein muss. Sie beschließt, dass es höchste Zeit ist, sich auf die Suche nach ihm zu begeben und herauszufinden, ob das düstere Geheimnis, das sie damals trennte, immer noch zwischen ihnen steht …

Die Autorin

Michelle Adams wuchs in England auf und lebt mit ihrer Familie auf Zypern. Sie hat Medizin studiert und als Kardiologin gearbeitet, bis sie ihre Liebe zum Schreiben entdeckte. Heute verbringt sie den Großteil ihres Tages mit der Arbeit an ihren Romanen, wenn sie nicht gerade für einen Marathon trainiert. Nach Ausflügen in die Science-Fiction und die Psychologische Spannung hat Michelle Adams mit »Mein Wunsch für dich« das perfekte Genre für sich entdeckt: Große Liebesgeschichten, die zu Tränen rühren, das Herz wärmen und unseren Blick auf das Leben für immer verändern.

MICHELLE ADAMS

Mein

Wunsch

für dich

ROMAN

Aus dem Englischen von Ulrike Brauns

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe LITTLE WISHES erschien erstmals 2020 bei Trapeze, The Orion Publishing Group, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 10/2020

Copyright © 2020 by Michelle Adams

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Kerstin von Dobschütz

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design unter Verwendung von Shutterstock (Lina_Lisichka, Melissa Kolesnik, ann.kkos, Niko28, Ekaterina Barinova)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-26402-4V003www.heyne.de

Heute

An ihrem Lieblingstag des Jahres wachte Elizabeth Davenport allein auf, wie an den meisten Morgen der letzten fünf Jahrzehnte. Ihr Zuhause war ein kleines Cottage an der Spitze der Küste Cornwalls, nördlich von Land’s End und südlich von fast ganz Großbritannien. Betrachtete man das Cottage von außen, und sie bezweifelte, dass viele Menschen dies taten, konnte man sich kaum vorstellen, dass es über zwei Stockwerke verfügte und eine Treppe, die mittig in die erste Etage führte. Es schien fast an der Küste zu kauern, besorgt, es könnte sonst von der Strömung des Atlantiks mitgerissen werden. Aber es bot Elizabeth mehr Platz, als sie brauchte, und eine idyllische Aussicht, die sie malen konnte, ohne überhaupt die Tür aufmachen zu müssen. Es gab kaum noch Anlässe, weite Wege auf sich zu nehmen, und großes Interesse an der Außenwelt hatte sie auch nicht mehr. Nur der heutige Tag stellte eine Ausnahme dar. Heute interessierte sie sich für das, was dort draußen wartete, weil es der eine Tag im Jahr war, an dem Tom zurückkehrte.

Ihre Augen gewöhnten sich an das Sonnenlicht, das durch die Spitzenvorhänge fiel, und sie hörte fröhliche Menschenstimmen, die das Meeresrauschen übertönten. Vorsichtig, damit die warme Decke nicht verrutschte, ließ sie ihre Hand zur leeren Seite des Bettes wandern und strich über das bügelfrische Laken. Weil Tom nie in diesem Bett geschlafen hatte, überraschte sie das Gefühl, wie sehr er hier fehlte. Und obwohl sein Fehlen eine Lücke hinterlassen hatte, die ihr Leben lang bestand und sich niemals füllen ließ, war es ein Trost, wenn er einmal im Jahr nach Porthsennen kam, um einen blauen Krokus vor ihre Haustür zu stellen, und am Topf hing mit einem Stück Gartenschnur befestigt ein Wunsch. Wie sie diesen Tag verbringen könnten, wären sie zusammen: im Bett faulenzen, essen gehen oder der Familie beim Heranwachsen zusehen. Und obwohl sie keinen dieser Wünsche je in die Tat umsetzten, überschnitten sich ihre Leben an diesem Tag für einen kurzen Moment. Alles fühlte sich richtig an, sie fühlte sich richtig an, was sie an den anderen dreihundertvierundsechzig Tagen des Jahres nicht behaupten konnte. Und Elizabeth wusste, und diese Gewissheit ließ ihr Herz beim Anblick der kleine blauen Blüte jedes Mal schneller schlagen: Jemand, der diese Tradition so viele Jahre ohne Unterlass pflegte, bewies damit, dass sie sich noch immer genauso sehr liebten wie an dem Tag, als sie sich zum ersten Mal geküsst hatten. Den Kopf noch in den Kissen, die Augen geschlossen, rief sie sich seine erste Botschaft ins Gedächtnis: 1969: Ich wünschte, den heutigen Tag könnten wir faul im Bett verbringen und dem Wellenrauschen lauschen.

Nach einer Weile stand Elizabeth auf, ihre Füße kalt auf dem nackten Holzfußboden. Lächelnd griff sie nach dem rosafarbenen Seidenmantel an der Tür und zog ihn über. Manchmal hinterließ Tom neben dem Krokus noch ein weiteres Geschenk. Einmal war es ein Paar Wanderschuhe, ein andermal eine Flasche Sekt, um ein Jahrzehnt der Liebe zu feiern. Mittlerweile waren so viele Jahre vergangen, dass sie gar nicht mehr wusste, wann genau er ihr den Seidenmantel geschenkt hatte, aber getragen hatte sie ihn seither jeden Tag. Und heute waren es genau fünfzig Jahre, seit er ihr versprochen hatte, sie für den Rest seines Lebens zu lieben, und sie den ersten Krokus geschenkt bekam. Beim Gedanken daran, was er an diesem besonderen Tag bringen würde, flatterten Schmetterlinge in ihrem Bauch.

Vorsichtig nahm sie die Stufen ins Erdgeschoss und zog die Vorhänge auf. Licht erfüllte das kleine Wohnzimmer, und vor dem Alkovenfenster erstreckte sich die Whitesand Bay. Über die Dächer der alten Angelläden hinweg konnte sie das Grau des Atlantischen Ozeans erkennen, der den Gezeiten folgend näher kam oder sich wieder zurückzog. Die Seebrise trug den Geruch der Gischt heran, und Elizabeth konnte hören, wie die hölzernen Fischerboote von den Wellen gegeneinander gestoßen wurden. Cookie, ihr Britisch Kurzhaar, forderte schnurrend nach seinem Frühstück, während er ihr um die Beine strich. Einen Kater aufzunehmen, gehörte eindeutig zu Toms besten Wünschen. Elizabeth und Cookie hatten nun bereits siebzehn gute Jahre zusammen verbracht, und seine Anwesenheit war oft das Einzige, was gegen die unbarmherzige Einsamkeit half.

Ein Sonnenstrahl traf auf den Bilderrahmen, der auf der Fensterbank stand. Kates Gesicht aus Kindertagen schaute sie an. Es war eine bittersüße Erinnerung an glücklichere Zeiten mit ihrer Tochter, aber es war auch schmerzhaft, darüber nachzudenken, wie viel Zeit vergangen war, seit sie zuletzt miteinander gesprochen hatten. Wie sehr sie ihr fehlte. Einen Moment lang war sie ergriffen, dann wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel und fragte sich, wie sie ihre Tochter dazu bewegen konnte, ihr den schlimmsten Fehler zu vergeben, den sie je als Mutter begangen hatte.

»Hast du wohl Hunger?«, fragte Elizabeth schließlich, dankbar für die Ablenkung durch das flauschige Tier zu ihren Füßen. Cookies Schwanz reckte sich senkrecht in die Höhe, als Elizabeth ihrem Kater über den Rücken streichelte. Dann stellte sie ihm einen Teller mit Fisch auf den Boden und holte die kleine Sektflasche aus dem Kühlschrank, die sie am Vorabend bereits vorfreudig dort platziert hatte. Sie hatte sich nie überwinden können, die Flasche zu öffnen, die Tom viele Jahre zuvor auf der Türschwelle hinterlassen hatte, aber jedes Jahr kaufte sie ein Ersatzexemplar, um allein, dennoch feierlich, auf sie beide anzustoßen. Die Arthritis erschwerte das Unterfangen zwar, trotzdem gelang es ihr, den Korken mit einem lauten Knall quer durch die Küche zu schicken. Cookie zuckte nicht einmal. »Du bist wohl langsam schwerhörig«, sagte sie zu ihm und lachte, während sie sich selbst einschenkte. Eigentlich war es zu früh für ein Gläschen Sekt, außerdem vertrug sich der Alkohol nicht mit ihrem Blutdruckmittel, aber einmal im Jahr gönnte sie sich eine Ausnahme. So fing ihre besondere Tradition an, und sie erinnerte sich an die Botschaft von 1978: Ich wünschte, wir könnten zusammen Sekt zum Frühstück trinken und aufs Meer schauen. Jedes Jahr versuchte sie, Toms Wünsche in die Tat umzusetzen, allerdings gelang es bei manchen leichter als bei anderen.

Der Sekt prickelte im Glas, als das Wasser auf dem Herd langsam zu kochen anfing. Schon bald stand ein Teller mit pochierten Eiern auf Toast vor ihr. Sie holte den kleinen Weidenkorb aus dem Schrank neben dem Kamin und stellte ihn zusammen mit ihrem Frühstück auf den Tisch. Als sie sich hinsetzte, startete eine alte Elvis-Presley-Platte – eine knisternde Version ihres Lieblingslieds, die sie nur an diesem Tag auflegte.

»Oh, ja«, sagte sie laut und wühlte mit dem Finger durch die kleinen blauen Zettel in dem Korb, bis sie einen fand, den sie mochte. »Das war eine gute Idee, nicht wahr?«

Darauf stand: 1993: Ich wünschte, du würdest mein Tagebuch lesen, damit du weißt, dass ich an jedem Tag des vergangenen Jahres an dich gedacht habe. Das Tagebuch lag im Schrank, ganz wie der ungeöffnete Sekt, denn es hatte seine kleine Botschaft begleitet. Und tatsächlich handelte jeder Eintrag davon, wie sehr er an sie dachte. Achtundvierzig weitere Wünsche lagen in dem Körbchen, gut verschlossen, jeder einzelne ein Zeichen für etwas, das sie verpasst hatte, für einen Teil ihrer Leben, den sie nie hatten teilen können. Nachdem sie sein Tagebuch gelesen hatte, wollte sie ihn suchen und ihm erklären, was für ein Fehler es war, dass sie nicht zusammen waren. Aber die Realität hatte sie davon abgehalten, denn das wäre nicht gerecht gewesen, für keinen von ihnen. Er war verheiratet, und gewissermaßen war sie das auch, sodass sie unmöglich zusammen sein konnten. Dennoch war der Gedanke daran, was sie alles verpasst hatten, mit dem Wissen um die Hingabe, mit der er jedes Jahr seinem Versprechen nachkam, schwer zu ertragen. All die Wünsche und Geschenke regten ihre Fantasie so sehr an, dass sie sich fragte, wie ihr Leben ausgesehen hätte, wenn sie zusammengeblieben wären.

Tom war ihre erste Liebe gewesen, ihre einzige Liebe und ein Mann, den sie nie vergessen sollte. In seiner Nähe hatte sie sich vollkommen gefühlt, deshalb war ihr jedes Mal, wenn er ging, so gewesen, als hätte er einen Teil von ihr mitgenommen. Und genau deshalb freute sie sich so sehr auf diesen Tag, denn seine alljährlichen Geschenke erweckten diesen Teil in ihr wieder zum Leben, und für einen kurzen Augenblick war sie wieder das Mädchen, das sich vor so vielen Jahren verliebt hatte.

Sie schob den nun leeren Teller beiseite und stand auf, der Kopf leicht von Sekt und Aufregung. Cookie kehrte an seinen Lieblingsplatz zurück, ein kleiner Korb auf der Fensterbank, von dem aus er, sollte ihm danach sein, davon träumen konnte, einen ganzen Schwarm Möwen aufzuscheuchen, ohne sich auch nur ein Stück bewegen zu müssen. Gerade schien er aber nach einer ausgiebigen Morgentoilette mit einem Schläfchen zufrieden zu sein. Elizabeth legte den Zettel zurück ins Weidenkörbchen und hob das Glas.

»Auf uns«, sagte sie, schaute zu Cookie und dachte an Tom. Ihr Blick wanderte zur Haustür. Sollte sie schon nachschauen? Die Aufregung wuchs in ihr wie ein großer Luftballon. Obwohl sie wusste, dass ein Wiedersehen undenkbar war, fragte sie sich doch, ob er nicht eines Tages einfach anklopfen würde, den Krokus in der Hand statt auf der Schwelle. Besonders in diesem Jahr, schließlich war es der fünfzigste Jahrestag und deshalb der wichtigste. Das wäre ihr Wunsch in diesem Jahr, dachte sie: ihn zurückzuhaben. Aber wenn ihnen nichts als diese Wünsche blieben, genügte ihr das Wissen, dass sie ihm noch wichtig genug war, vorbeizukommen. Und wenigstens hatten sie so nie die schwierigen Ehejahre durchstehen müssen, die Streitereien und Enttäuschungen, die jedes Paar, das sie kannte, irgendwann durchlebt hatte. Stattdessen blieben sie immer jung, ihre Beziehung voll unendlicher Hoffnung.

Sie stellte das leere Sektglas auf den Tisch und ging zur Tür. Die Vorfreude hatte sie übermannt, sie konnte nicht länger warten. Der Schlüssel drehte sich mit einem Klacken, die Klinke knarzte, als sie darauf drückte. Ein Windstoß hob den Saum ihres Morgenmantels, als sie öffnete, die Kälte raubte ihr kurz den Atem, während sie den Blick auf die Stufe senkte. Aber trotz all des Hoffens, Wartens und all der anderen Regungen, mit denen sie die Ankunft seines Geschenks herbeigesehnt hatte, war da keine kleine Pflanze, kein Wunsch, der auf sie wartete. In diesem Jahr war die Stufe leer.

Damals

Das Erste, das Elizabeth verriet, dass etwas nicht stimmte, waren die dumpfen Schritte ihres Vaters, der mit schweren Stiefeln die Treppe hinunterpolterte und sie damit weckte. Am dunklen Himmel schimmerte der Mond, der sich durch eine Lücke in der dichten Wolkendecke zwängte. Die Uhr neben ihr tickte und verriet, dass es kurz nach ein Uhr war. Irgendwo in der Ferne schlug eine Tür zu, gefolgt von einem leisen Klingeln. Konnte sie nicht außerdem eine Stimme hören, die um Hilfe rief? Sie schob die Decke beiseite, sprang aus dem Bett und trat ans Fenster. Dort unten erkannte sie ihren Vater, der von ihrem Haus weglief Richtung Meer. Seine Schuhe waren nicht zugebunden, sein blau-weißer Schlafanzug blitzte unter dem Mantel hervor. Es hatte in der Vergangenheit bereits Fälle von großer Dringlichkeit gegeben, aber selbst in der ärgsten Not hatte ihr Vater sich stets noch die Zeit genommen, sich anzukleiden. Das Haus in einem Pyjama zu verlassen, war undenkbar.

Elizabeth steckte die Füße in ihre Hausschuhe und öffnete die Zimmertür. Wenn ihr Vater fort war, trug sie die Verantwortung für ihre Mutter. Selbst mit ihren siebzehn Jahren wusste sie, dass diese nicht allein aufwachen sollte. Die Tür zum elterlichen Schlafzimmer stand einen Spaltbreit offen, ein schmaler Lichtstreif fiel heraus in das sonst dunkle Haus.

»Mum«, sagte Elizabeth, während sie den Flur durchquerte. Sie versuchten, ihr durchgängig Gesellschaft zu leisten, seit vor etwa einem Jahr die grausame Verwirrung eingesetzt hatte, trotzdem gab es immer mal wieder Gelegenheiten wie diese, in denen sie alleine bleiben musste. Alzheimer hatte ihr Vater es genannt. Die Bezeichnung sagte Elizabeth nicht viel, was sie die Krankheit nicht weniger hassen ließ. Erst vergangenen Monat hatten sie die Mutter am Ufer gefunden, als sie mit dem Boot hinausfahren wollte, ohne eigentlich zu wissen, wo sie war, und darüber hinaus verheerend schlecht auf jedwede Eventualität vorbereitet. Ihre Verfassung verschlechterte sich kontinuierlich, jeden Tag etwas mehr; ihr Anteil am Familienleben war wie ein Stein, der von der Kraft der Gezeiten permanent weiter rund geschliffen wird.

Als sie die Tür ganz aufdrückte, präsentierte sich ein leeres Bett, die Decken nach rechts und links aufgeschlagen. Elizabeth war, als hätte sie ein Geräusch gehört, vielleicht aus der Küche. Ihre Mutter musste schon unten sein. Da sie sich schnell umdrehte, um das Zimmer zu verlassen, hätte sie ihn fast übersehen, aber dort, neben der Kommode, stand der schwarze Arztkoffer ihres Vaters. Neue Sorge überkam sie; er konnte ohne seinen Koffer nicht arbeiten, und wenn es einen Notfall gab, der so drängte, dass ihm nicht mal die Zeit zum Ankleiden blieb, musste Elizabeth etwas unternehmen. Seit er das Haus verlassen hatte, war nicht viel Zeit verstrichen, dachte sie, und fragte sich, ob sie ihn noch erreichen konnte. Sie griff nach dem Arztkoffer und eilte hinunter. »Ich bin so schnell ich kann wieder zurück, Mum«, rief sie und schloss die Haustür hinter sich ab.

Die gewundenen Wege ihres kleinen Heimatdorfs hatten sich tief in ihr Gedächtnis geprägt, und sie nutzte dieses Wissen aus verspielten Kindertagen, um so schnell wie möglich an die Küste zu gelangen. Der Wind biss ihr in die Ohren, und mit jedem Schritt durch die dichte Dunkelheit wurden die Wellen lauter, die sich an der Küste brachen. Dann erfüllte das grelle Licht einer Signalrakete die Nacht; es beschrieb einen Bogen wie ein Komet, gefolgt von einem weinroten Schweif, denn ein Rettungsboot hatte es abgeschossen. Als ein halb angezogener Mann an ihr vorbeirannte, der dem Hilferuf des Rettungsboots nachkam, verstärkte sich ihre Angst. Sie folgte dem Klang der aufgeregten Stimmen und setzte ein kurzes Stück vor der Rettungsstation den ersten Fuß in den Sand. Und da hörte sie den durchdringenden Schrei ihres Vaters, der am Ufer stand.

Arme rangelten, als eine kleine Menschenmenge versuchte, ihn zurückzuhalten. Mr. Bolitho und ein weiterer Mann, dessen Namen sie nicht kannte, stürzten sich in die Fluten, beide ebenfalls nur mit dem Nötigsten bekleidet. Im Lichtkegel einer Taschenlampe tauchte eine Gestalt auf, die einen Menschen aus dem Wasser zog, eine reglose und schwere Silhouette, die wie eine nasse Puppe an der Seite ihres Retters hing. Sein Gesicht kam ihr bekannt vor, es war ein junger Mann namens Tom, der mal mit ihr zur Schule gegangen war. Er hatte sich verändert, hatte breite Schultern bekommen. Ganz anders als der Junge, den Elizabeth gekannt hatte. Dann wanderte ihr Blick zu dem Körper, der schlaff in seinem Arm hing. Der Arztkoffer ihres Vaters glitt aus ihren Händen in den Sand, als sie sah, dass sich ihre Mutter aus Toms Umklammerung löste und leblos auf dem Sand zusammensackte.

Vorwärtsstolpernd sah sie, dass Tom seinen Mund auf den ihrer Mutter presste, ihre Lunge mit seinem Atem füllte. Ihr Vater schrie noch immer, hilflos auf eine Art, die sie noch nie zuvor bei ihm erlebt hatte. Wieso tat er nichts? Sie kniete sich gerade neben ihrer Mutter in den nassen Sand, als Wasser aus ihrem Mund sprudelte.

»Oh, Catherine«, rief ihr Vater und bahnte sich den Weg zu ihr. Eis musste sie berührt haben, denn ihre Haut schimmerte gletscherblau im faden Mondlicht.

»Wird sie überleben?«, fragte Elizabeth, die die Hand ihrer Mutter genommen hatte, die so kalt war, dass es fast wehtat. Sie hob den Blick und suchte in den verzweifelten Gesichtern nach einer Antwort.

»Sie wird überleben, Miss«, sagte Tom. Er streckte den Arm aus und legte eine nasse Hand auf ihre Schulter. Dann hüllte jemand erst ihn in eine Decke, dann ihre Mutter. Sein Atem war warm, als er sich zu ihr lehnte. »Aber wir brauchen Dr. Warbeck.« Dr. James Warbeck war Elizabeths Verlobter, sie würden kommendes Jahr heiraten. Tom schaute kurz zu ihrem Vater, dann senkte er die Stimme zu einem Flüstern. »Dein Vater steht unter Schock. Er ist gerade keine Hilfe.«

Dr. Warbeck war schon unterwegs, der Knall der Signalrakete hatte ihn geweckt. Er musste sich noch an das Küstenleben gewöhnen, aber es war ein geschäftiger Sommer für die Seenotrettung gewesen, weshalb ihm die Dringlichkeit eines Notrufs mittlerweile dennoch so vertraut war wie das Brummen der Busse unterhalb seines Fensters, als er noch in London lebte. Er sprang auf den Strand, Sand drang in seine Schuhe, während er zu der kleinen Menschenmenge eilte, unsicher, was ihn erwartete. Wenige Augenblicke später erkannte er Elizabeth, dann ihren Vater, beide neben ihrer Mutter, die am Ufer lag. Elizabeth war genauso außer Atem wie er.

»James, tu doch etwas«, flehte sie.

»Sie ist sehr kalt«, stellte er fest, nachdem er Catherine untersucht hatte. »Lizzy, lauf schnell nach Hause und mach Feuer. Und Sie«, er wandte sich an Tom, »leiden sicher ebenfalls durch das unfreiwillige Bad. Gehen Sie mit ihr. Die Bewegung wird Ihnen guttun. Nun zu Ihnen, Gentlemen«, sagte er zu den umstehenden Fischern, die zu Hilfe geeilt waren. »Wir müssen diese gute Frau zurück in ihr warmes Heim bringen. Wer hilft mir, sie zu tragen?«

Elizabeth stürmte durch die Haustür und blickte sich wild in alle Richtungen um, als wäre sie noch nie hier gewesen. Ihre Beine fühlten sich noch immer kalt und klamm an, als sie sich vor den Kamin kniete, ohne zu wissen, was sie als Nächstes tun sollte. Die Scheite waren zu schwer, die Kohle unzureichend bei ihrem Versuch, ein Feuer zu entfachen. Obwohl dies eine Aufgabe war, die sie sonst gut beherrschte, schien all ihr Wissen durch die Aufregung der Nacht abhandengekommen. Was immer sie versuchte, die Flamme erstickte.

»Lass mich mal«, sagte Tom und nahm ihr die Schachtel aus den Händen, als das dritte Streichholz erlosch. Seine Stimme durchbrach die Stille und erinnerte Elizabeth daran, dass sie nicht allein war. Die Wärme seines Körpers direkt neben ihr rief ihr ins Gedächtnis, wie kalt ihre Mutter sich angefühlt hatte.

»Glaubst du wirklich, sie wird überleben?«, fragte Elizabeth, als das Holz die ersten Funken schlug. Doch bevor er antworten konnte, hörten sie die Männer, die ihre Mutter hereintrugen. Das Türschlagen, das Schlurfen von Stiefeln. Als sie sie in den Sessel setzten, züngelten die ersten Flammen eines ordentlichen Feuers im Kamin.

Elizabeth machte Platz, damit James ungehindert arbeiten konnte, und beobachtete ihn dabei, wie er den Blutdruck maß und die Lunge abhörte. Ihr Vater war bei ihr, Tränen in den Augen, die Wangen rosa vom Feuer. Elizabeth sah ihn zum ersten Mal so hilflos. Eine Träne löste sich aus seinem Auge und lief über seine faltige Wange. Alle im Wohnzimmer waren still, auch ihre Mutter, während sie auf James’ Urteil warteten.

»Miss?«, flüsterte jemand hinter ihr. Tom stand allein, etwas abseits, Salzwasser tropfte von seinen nassen Sachen auf die Holzdielen. »Es tut mir sehr leid zu fragen«, sagte er und schob sich das feuchte Haar aus dem Gesicht, »aber hast du vielleicht ein Handtuch für mich?«

Da James sich um die medizinischen Belange kümmerte, war das Beste, was sie tun konnte, dem jungen Mann zu helfen, der ihre Mutter gerettet hatte. »Komm mal mit«, sagte sie und ging voran zur Treppe.

Unter normalen Umständen wäre es unangemessen gewesen, zusammen die Treppe hinaufzugehen. Augenbrauen wären gehoben worden, denn zwei junge Menschen entfernten sich nicht einfach so, besonders nicht in Porthsennen. Doch in dieser Nacht bemerkte niemand, dass er ihr schweigend folgte. Er wartete am oberen Treppenabsatz, während Elizabeth den Schrank ihres Vaters durchwühlte. Wenig später erschien sie mit einem abgetragenen Pullover und einer Anzughose, die zum Fuß hin spitz zulief.

»Danke«, sagte er, als sie ihm außer den Kleidungsstücken noch ein Paar brauner Arbeitsschuhe reichte, von denen Elizabeth wusste, dass ihr Vater sie nicht mehr trug.

»Ich habe zu danken«, sagte sie und trat zurück. »Für das, was das getan hast, meine ich. Du hast meiner Mutter das Leben gerettet.«

»Das hätte jeder getan, Miss.«

Elizabeth gingen so viele Fragen durch den Kopf. Sie wollte wissen, was er gesehen hatte und wieso ausgerechnet er geholfen hatte. Wie ihre Mutter ins Wasser gefallen war. Aber sie wusste nicht, wo sie ansetzen sollte, denn sie war sich sicher, dass sie schon die Antwort auf mindestens eine ihrer Fragen kannte. Und ihr Vater hatte sich sehr klar ausgedrückt; sie durfte nichts über die Krankheit ihrer Mutter preisgeben, kein Wort über ihre Gedächtnisprobleme oder die seltsamen Dinge von sich geben, die sie manchmal daheim anstellte. Sie wollte nicht, dass ihre Neugier wilde Spekulationen befeuerte.

»Vielleicht«, sagte sie schließlich zustimmend. »Aber es warst nun mal du. Ich möchte dir meinen Dank aussprechen.«

»Ich habe es gern getan.« Wieder senkte sich Stille über sie. Tom schaute zu der Pfütze, die sich unter ihm bildete. »Wo kann ich mich umziehen?«

Die Holzdielen knarrten, als sie ihm den Weg zum Bad wies, die Rohre dröhnten, während sie warmes Wasser zum Waschbecken beförderten. Tom zögerte, ihr zu folgen, aber als sie aufschaute und bemerkte, dass er nicht bei ihr war, machte sie Platz für ihn. Einen Augenblick lang konnte sie ihn nur anstarren, dort im Türrahmen zum Bad, den Mann, der ihre Mutter gerettet hatte. Dankbarkeit wuchs in ihr, und sie fragte sich, was man tun konnte, um jemanden zu entlohnen, der einem anderen Menschen das Leben gerettet hatte. »Es gibt viel warmes Wasser. Seife ist in der Schale«, sagte sie nach einer Weile. »Lass dir so viel Zeit, wie du willst.«

Als Tom das Bad betrat, wandte Elizabeth den Blick ab, weil ihr plötzlich bewusst wurde, wie nah sie sich in dem kleinen Raum waren. Sie schob sich an ihm vorbei zur Tür. Gerade als sie die Tür schließen wollte, hielt er Kleidung und Schuhe hoch und sagte: »Danke nochmals. Ich weiß das zu schätzen, Miss.«

Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, zu ihm zu laufen und ihn zu umarmen, aber sie unterdrückte es, lächelte stattdessen und deutete zum Waschbecken. »Wasch dich, und zieh dich an, bevor du dich noch erkältest. Und dann komm nach unten, wenn du fertig bist.« Dampf waberte durchs Bad, als er den Hahn aufdrehte. »Bevor ich gehe, möchte ich dich aber noch um einen Gefallen bitten.« Es fühlte sich falsch an, dass jemand, der etwas derart Großartiges geleistet hatte, sie so förmlich ansprach. »Würdest du aufhören, mich Miss zu nennen? Ich heiße Elizabeth.«

Tom lächelte und nickte. »Das ist mir bekannt«, sagte er, bevor er die Badezimmertür schloss.

Elizabeths Finger kribbelten, als sie die heißen Tassen mit Tee verteilte, den sie für die Männer gemacht hatte, die noch geblieben waren. Kaum waren die Getränke in den Händen der Helfer, holte sie einen Lappen unter der Spüle hervor und wischte die Meerwasserpfützen auf, die Tom hinterlassen hatte. Dann fegte sie den Sand zusammen, der bei jedem Schritt unter den Schuhen knirschte. Es dauerte eine weitere Viertelstunde, bis die Männer aufbrachen, ermutigt durch die Tatsache, dass Catherine Davenport im Bett und nicht mehr in Gefahr war. Elizabeth kehrte in ein fast leeres Wohnzimmer zurück.

»Du gehst?«, fragte sie James, der seinen Mantel zuknöpfte. Ihr Vater leerte ein großes Glas Brandy. Seinen rosigen Wangen nach zu urteilen, war es nicht das erste. Seine Augen waren noch immer rot und geschwollen von den Tränen.

»Ja, ihr müsst euch erholen«, sagte James und strich über Elizabeths Wange.

»Wir brauchen Schlaf«, sagte ihr Vater, stand auf und stellte das Glas auf den kleinen Tisch. Elizabeth konnte gar nicht darüber nachdenken, wie schlimm das alles für ihn sein musste. Er nahm sie fest in den Arm. »Mach dir keine Sorgen, ja? Alles wird gut.« Nirgends sonst hatte sie sich je sicherer gefühlt als in seinen Armen, dennoch nickte ihr Vater James zu, der neben ihnen wartete. »Sag es ihr. Dir wird sie glauben.«

»Dein Vater hat recht, Lizzy. Alles wird gut.« Als James gerade weitersprechen wollte, hörten sie ein Knarzen auf der Treppe, gefolgt von schweren Schritten. Sie alle wandten sich Tom zu, der im Flur auftauchte. Elizabeths Vater ging auf ihn zu, streckte seine Hand aus.

»Hallo, junger Freund. Oder sollte ich sagen: Held der Stunde. Ich nehme an, Sie sind der Mann, der meine Frau gerettet hat?«

Tom nickte.

»Ich kann Ihnen gar nicht genug danken«, fuhr ihr Vater fort. »Bitte, sagen Sie mir, wie Sie heißen.«

Tom blieb still, seine Finger spielten mit einem losen Faden am Saum des Pullovers.

»Das ist Thomas, Daddy«, warf Elizabeth ein. »Wir waren zusammen in der Schule.«

»Wir sind Ihnen sehr dankbar, Thomas«, sagte ihr Vater. »Aber es erstaunt mich, dass Sie mit Elizabeth in der Schule waren. Sie wirken viel älter.«

»Nur etwas, Sir.«

»Das heißt, Sie arbeiten jetzt?«

»Wenn ich kann. Hauptsächlich fange ich Seelachs und Makrelen, aber auch den einen oder andern Flusskrebs.« Fischer waren seit Generationen in Toms und Elizabeths Stammbaum fest verankert. »Ich arbeite seit drei Jahren für Mr. Cressa und im Winter überall da, wo ich Arbeit finde.«

»Drei Jahre?« Ihr Vater wechselte einen Blick mit James. »Wie alt sind Sie? Einundzwanzig? Zweiundzwanzig?«

»Achtzehn, Sir.«

Elizabeths Vater wirkte verwirrt. »Dann haben Sie Ihre Schulausbildung nicht abgeschlossen?«

Tom konnte seinem Blick nicht standhalten. »Ich habe gelernt, was ich musste, Sir. Jetzt unterstütze ich meine Familie.«

»Nun«, sagte Dr. Davenport und klopfte Tom auf die Schulter. »Das ist sehr bewundernswert. Nennen Sie mir doch bitte den Namen Ihres Vaters, damit ich ihm herzlich gratulieren kann, was für ein feiner junger Mann sein Sohn ist.«

»Pat Hale«, sagte Tom.

Ihr Vater schwieg einen Moment, atmete dann schwer. »Pat Hale, ja? Sie sind sein ältester Sohn?«

»Sein einziger Sohn, Sir.«

»Ja, selbstverständlich. Ich erinnere mich an den bedauernswerten Tod Ihres Bruders. Es tut mir sehr leid, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe.«

Elizabeth betrachtete ihren Vater, dessen Gedanken nun ganz woanders waren.

»Nun, ich hoffe, dass Ihr Vater in einem nüchternen Moment die Zeit findet, stolz auf Sie zu sein.«

Elizabeth sah, wie Tom die Röte ins Gesicht stieg, weshalb sie sich fragte, was damals passiert war und wieso ihr Vater etwas so Herzloses gesagt hatte.

»Wenn Sie uns nun entschuldigen würden, Thomas.« Er klopfte ihm auf die Schulter und begleitete ihn zur Haustür. »Wir sollten schleunigst ins Bett gehen. Vielen Dank nochmals.«

James folgte Tom, gab Elizabeth vorher jedoch noch einen Kuss auf die Wange. Es war eine Erleichterung, als ihr Vater die Tür hinter ihnen schloss.

Als alle Besucher fort waren, führte Dr. Davenport seine Tochter zurück ins Wohnzimmer, wo sie in einem der Sessel Platz nehmen sollte. Sie schwiegen, bis ihr Vater das Wort ergriff. »Ich halte es für wichtig, dass wir über das sprechen, was heute Abend passiert ist, Elizabeth.«

»Aber es ist doch offensichtlich, oder?«

Er nickte. »Bedauerlicherweise ja. Aber wir wollen die Gerüchteküche nicht unnötig aufheizen, nicht wahr?«

Die Leute redeten schon. Selbst beim Einkaufen vergangene Woche hatte sie das Getuschel bemerkt und gewusst, ohne auch nur ein Wort zu verstehen, dass es um ihre Familie ging. »Schlafwandeln wäre für alle Beteiligten eine viel angenehmere Erklärung als die Wahrheit.«

»Natürlich, Daddy. Aber …«, setzte sie an, besann sich dann aber eines Besseren.

»Was denn, Elizabeth?«

»Ach, einfach …« Sie zögerte, leckte sich die salzigen Lippen. Das Meer dröhnte noch immer im Hintergrund, klang jetzt bedrohlich. »Besser als heute wird es ihr nie wieder gehen, oder?«

Er seufzte schwer, bis keine Luft mehr in ihm zu sein schien, und für einen Moment wünschte Elizabeth, sie könnte ihre Frage zurückziehen. Sie lastete schwer auf ihr, aber sie wollte eben auch wissen, worauf sie sich einstellen musste.

»Alzheimer kommt und geht – wie die Gezeiten, Elizabeth. Es wird gute Tage geben und schlechte. Aber wenn du von Menschen umgeben bist, die dich lieben, kannst du die Kraft für alles finden. Wo Liebe ist, findet sich immer ein Lichtstreif im Dunkel, egal, was von dir erwartet wird.« Seine Hand fuhr ihr schwer über die Schulter. »Und jetzt geh schlafen, Elizabeth. Das war eine lange Nacht.«

Mondlicht erhellte die Treppe, als sie die Stufen hinaufging, ihre Hand blass und kühl im grauen Licht. Zufrieden über das Fehlen eines Verlobungsrings und in Gedanken an Tom. An diesem Abend war ihr bewusst geworden, dass sie noch nie dankbarer für einen Menschen gewesen war. Das Bild von ihm vor ihrem inneren Auge, wie er aus dem Wasser kam, ihre Mutter im Arm. Der Retter eines der Menschen, die sie am meisten liebte. Sie dachte noch immer an ihn, als sie unter ihre Bettdecke kroch, als sie die Augen schloss und schließlich vom Schlaf übermannt wurde. In dieser Nacht träumte sie, dass sie es war, die in den Wellen kämpfte und um ihr Leben rang, und dass Tom kam, um sie zu retten.

Heute

Elizabeth saß nun schon eine Weile am Tisch und starrte auf das Körbchen mit den früheren Wünschen. Neunundvierzig Jahre lang hatte er sein Versprechen gehalten, hatte immer etwas vorbeigebracht. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Minuten stand sie auf, um zu prüfen, ob sie wirklich nichts übersehen hatte. Vielleicht hatte es in der Nacht gestürmt, vielleicht war der Blumentopf davongeweht worden. Aber damit ließ sie außer Acht, wie Tom in all den vorangegangenen Jahren dafür gesorgt hatte, dass seiner kleinen Gabe nichts passierte, indem er sie direkt hinter dem Blumentopf mit der großen Rose auf der obersten Stufe deponiert hatte. Kein einziges Geschenk war je verloren gegangen. Kein einziges Mal hatte er ihren Tag vergessen.

Konnte sie sich geirrt haben? Der Kalender hing an einem Nagel über ihr an der Wand. Sie fuhr mit der rauen Fingerspitze entlang der Reihe, bis sie das richtige Datum fand. Siebter September. Da war er, der kleine blaue Krokus, den sie voller Vorfreude in das Kästchen gemalt hatte. War ihr vielleicht beim Datum an sich ein Fehler unterlaufen? So etwas passierte ihr in letzter Zeit hin und wieder, häufiger als ihr lieb war. Erst vorige Woche war sie zum Lokschuppen gegangen, der Galerie in Porthsennen, um nachzufragen, ob eins ihrer jüngsten Gemälde verkauft worden war. Nachdem sie fast eine Stunde davor gewartet und die Wellenreiter beobachtet hatte, wie sie immer wieder zum Strand glitten und hinauspaddelten, war der Enkel vom alten Cressa vorbeigekommen.

»Genießen Sie das letzte bisschen Spätsommer?«, hatte er ihr zugerufen, während sein kleiner Cockerspaniel eifrig am Boden schnüffelte.

»Ich warte darauf, dass sie endlich öffnen«, sagte sie, deutete zur Galerie und tippte dann auf ihre Armbanduhr. »Bin ich zu früh dran oder die zu spät? Laut meiner Uhr ist es fast zehn.«

»Ich würde sagen, Sie sind etwa dreiundzwanzig Stunden zu früh«, sagte er und lachte. »Heute ist Sonntag.«

Wie dumm sie sich vorgekommen war, nicht nur weil sie am falschen Tag dort gewartet hatte, sondern auch wegen seines Lachens. Wäre sie selbst noch jung, wäre dies als simpler Fehler gewertet worden, aber wenn man siebenundsechzig ist, dachte sie, wird es sofort aufs Alter geschoben. Jetzt, in ihrem Morgenmantel am Frühstückstisch, wo sie sich gedanklich so sehr an eine unerfüllte Liebe klammerte, kam sie sich sogar noch dümmer vor. Was stimmte bloß nicht mit ihr? Wem machte sie eigentlich was vor?

Den Sekt empfand sie plötzlich wie eine Kränkung, also kippte sie den Rest weg und stellte den dreckigen Teller in die Spülmaschine. Das Körbchen mit den Wünschen wirkte nun auch eher bedauernswert, sodass sie es schnell mitsamt der ungeöffneten Sektflasche, seinem Tagebuch und den anderen Geschenken, die er ihr über die Jahre hinterlassen hatte, im Schrank verstaute.

»Wieso guckst du denn so?«, fragte sie Cookie, der sie beobachtete. »Hier sitzt doch nur eine alberne Törin«, antwortete sie sich leise selbst. Eine einzelne, dicke Träne tropfte auf ihren Morgenmantel, die Seide färbte sich so dunkel, wie ihre aktuelle Stimmung war. »Was ist aus dir doch für eine sentimentale, alte Frau geworden, Elizabeth!«

Die Fotos von Kate schauten sie vorwurfsvoll aus allen Ecken an. Eins stach besonders heraus. Auf dem Bild war Kate gerade mal zwanzig Jahre alt, um ihre Füße lag eine Art Geschirr und sie hatte die Arme ausgebreitet. Sie stand umgeben von Dschungelgrün am Rand einer Klippe. Einen Augenblick nachdem diese Aufnahme entstanden war, hatte sie sich von besagter Klippe gestürzt, gesichert durch nichts als das Bungeeseil und einem großen Batzen Vertrauen. Schon mutig zur Welt gekommen, hatte Elizabeth immer über sie gesagt. Selbst als Kind kannte sie keine Furcht vor Neuem. Sie kam weder dem Aussehen noch dem Charakter nach nach Elizabeth sondern nach ihrem Vater. Kate hätte niemals herumgesessen und auf Geschenke von einem Mann gewartet, der sie verlassen hatte. Wenn sie das Gefühl hatte, dass etwas vorbei war, dann war es das auch. Deshalb sprach Kate auch seit letztem November nicht mehr mit ihr. Fast ein ganzes Jahr war nun ohne ein Wort verstrichen, nicht mal ein simples Hallo. Elizabeth fehlte ihre Tochter sehr, genauso ihre Enkel. Die beiden Jungs mussten wahnsinnig gewachsen sein, seit sie sie zuletzt gesehen hatte. Elizabeth wünschte, sie könnte zurücknehmen, was sie gesagt hatte, aber so funktionierte das Leben leider nicht. Ganz gleich, wie oft sie anrief, wie viele Nachrichten sie hinterließ, wie häufig sie um Vergebung bat, die Uhr konnte sie trotzdem nicht zurückdrehen.

Sie stellte sich ans Fenster und zog den Vorhang beiseite, um den Blick an der Küste entlang bis zum Aussichtspunkt wandern zu lassen. Ein Spaziergang dort hinauf hatte heute ganz oben auf ihrem Plan gestanden, danach hatte sie nach Penzance ins Theater fahren wollen. Das war 1982 Toms Wunsch gewesen: Ich wünschte, ich könnte dich zu einem Musical ins West End einladen. Cats war wirklich gut. Ich bin mir sicher, es hätte dir gefallen. Heute wollte sie eigentlich einer Frau beim Singen lauschen, die von einer Akustikgitarre begleitet wurde. Näher war sie der Erfüllung seines Wunsches nie gekommen. Aber sie wusste schon jetzt, dass sie doch zu Hause bleiben würde. 1982 war lange vorbei und Penzance nicht das West End. Wessen Leben sie da auch all die Jahre zu leben versuchte, ihres war es nicht. Es gehörte zu einem Mädchen, das vor vielen Jahren zu existieren aufgehört hatte – an dem Tag, als Tom aufbrach.

Elizabeth kehrte ins Schlafzimmer zurück, setzte sich aufs Bett und zog die Nachttischschublade auf. Unter einer Taschentuchpackung zog sie ein Schwarz-Weiß-Foto von Tom hervor, auf dem er oberkörperfrei zu sehen war, die Hände in die Seiten gestemmt. Das Schwerste war nicht das Wissen, dass er nicht länger so aussah, sondern das Nichtwissen, wie er jetzt aussah. Die Gewissheit, dass er sich verändert hatte, sie aber keine Ahnung hatte, wie genau. Finger, die so alt waren, dass sie sie kaum wiedererkannte, streiften über das Foto, bevor sie es zurück unter die Taschentuchpackung schob. Manchmal war es besser, nicht hinzusehen.

»Jetzt reiß dich zusammen, Elizabeth«, mahnte sie sich. Dann bediente sie sich eines alten Tricks und kniff sich mehrmals in die Wangen, um sie rosiger zu machen, richtete ihre Frisur und holte eine Wanderhose und einen dicken Fleecepullover aus dem Schrank, die sie sogleich anzog. Sie nahm den Morgenmantel vom Bett, und nach kurzem Zögern knüllte sie ihn zusammen und warf ihn in den unteren Teil des Schranks. »Du benimmst dich wie ein dummes Kind«, sagte sie und schlug die Hände zusammen, als hätte sie gerade eine wichtige Aufgabe erledigt.

Erst als sie draußen war, wurde ihr bewusst, dass perfektes Küstenwetter herrschte. Hell und sonnig mit einer leichten Brise. Über ihr jagten sich die Wolken am Himmel, und über dem Wasser türmten sie sich grau und schwer, kündeten von baldigem Regen. Es fiel ihr nicht leicht, den Aussichtspunkt zu ignorieren, zu dem sie und Tom immer gegangen waren. Als sie zuletzt die vielen Stufen hinaufgestiegen war, hatten ihre Knie laut geklagt. Aber war es so töricht, dort jetzt hinzuwollen? Sie zögerte und schaute zu dem kleinen Gebäude am höchsten Punkt des grünen Hügels. Was ließ sie zögern? Ein Anflug von Reue vielleicht – oder kam sie sich einfach nur dumm vor? Was immer der zugrunde liegende Impuls war, er führte sie jedenfalls die Straße entlang, während sie sich erneut daran erinnerte, wie sinnlos es war, in der Vergangenheit zu leben.

Nachdem sich all ihre Pläne nun zerschlagen hatten, steuerte sie einfach das nächstbeste Café an und bestellte sich einen Tee, den sie an einem der kleinen Außentische trank, von dem aus sie auf das Meer schauen konnte.

»Was machst du denn hier draußen?«

Elizabeth schaute auf und sah ihre älteste Freundin Francine auf sie zusteuern, eine Tagezeitung unter den Arm geklemmt. Francine war sehr langsam unterwegs, da sie gerade erst eine neue Hüfte bekommen hatte. Sie stützte sich auf dem Tisch ab, während sie ihren Gehstock sicherte, dann setzte sie sich zu Elizabeth.

»Ich gönne mir nur eine Tasse Tee«, sagte Elizabeth. Der Gedanke, ihr den wahren Grund zu erzählen, trieb ihr die Röte ins Gesicht. Ihr wurde so warm, dass sie den Reißverschluss des Fleecepullovers ein Stück aufzog.

»Du verschwendest doch sonst keine Zeit«, sagte Francine und genehmigte sich einen Schluck von Elizabeths Tee. »Wieso malst du nicht?«

»Ach, du weißt schon.«

Francine schüttelte den Kopf und wartete auf eine richtige Antwort.

»Mir war nicht danach.«

Ihre Freundin riss die Augen auf. »Was hast du mit meiner Elizabeth gemacht?« Francine kicherte und schaute dann demonstrativ zu den Wolkenbergen am Horizont. »Ich hätte erwartet, dass so ein aufziehender Sturm unwiderstehlich ist für dich. Was ist denn los? Hat es wieder mit Kate zu tun?«

Elizabeth liebte ihre Freundin, und seit sie sie kannte, hatte sie sich kein bisschen verändert. Möglich, dass die eine oder andere Falte dazugekommen war, aber ihre Haare hatten immer noch denselben schokoladenbraunen Ton, ihre Lippen waren immer noch rot wie Erdbeeren. Selbst ihre Finger waren perfekt manikürt. Wenn man genau darüber nachdachte, hatten sie eigentlich nichts gemeinsam, außer dass sie die Höhen und Tiefen des Lebens geteilt hatten. Elizabeth hatte schon früh erfahren, dass sie sich auf Francine verlassen konnte, und vergessen hatte sie es nie. Aber auch wenn sie Francine ein paar ihrer größten Geheimnisse erzählt hatte, so wusste sie doch nichts von der bestehenden Verbindung zu Tom und den Geschenken, die er ihr jedes Jahr hinterließ.

»Kate spricht noch immer nicht mit mir, aber daran liegt es nicht.«

»Woran denn dann?«

»An Tom«, sagte Elizabeth.

Der Name erforderte keine weitere Ausführung. »Thomas Hale?«, fragte Francine lächelnd.

Elizabeth gefiel dieses Lächeln ganz und gar nicht.

»Na, das ist mal ein Name aus der Vergangenheit. Was hat es denn mit ihm auf sich?«

Wollte sie das wirklich zugeben? Francine würde sie doch auslachen, oder nicht? Ihre Verbindung war gewissermaßen ein Konzentrat bestehend aus neunundvierzig Wünschen, von denen kein einziger je wahr werden würde. Wie lächerlich ihr das jetzt vorkam, als sie darüber nachdachte, es laut auszusprechen.

»Heute ist es auf den Tag genau fünfzig Jahre her, dass wir uns zum ersten Mal geküsst haben. Damals hat er mich mit dem Boot zu den Brisons gebracht.«

Francine lächelte bei der Vorstellung. »Ich hätte dich nie für so nostalgisch gehalten. Wie kommst du da jetzt so plötzlich drauf, nach all den Jahren?«

Elizabeth schüttelte den Kopf. Auf einmal fiel ihr das Atmen schwer. »Ich denke jedes Jahr daran.«

Francine schaute auf ihre Hand, drehte mit dem Daumen ihren Ehering, der locker an ihrem schmaler werdenden Finger saß. »Eine Liebe, die nie ganz verschwindet, auch wenn er genau das getan hat, nicht wahr?«

»So was in der Art.«

Francine streckte den Arm aus und nahm Elizabeths Hand. »Du hältst mich jetzt sicher für verrückt.«

Offenbar musste sie über ein paar Erinnerungen lachen. »Ich hab dich schon immer für ein bisschen verrückt gehalten, Elizabeth, aber das hat ganz sicher nichts mit Tom zu tun.« Ihr Lächeln verriet, dass sie scherzte. »Ob er wohl auch noch an dich denkt? Ich möchte es wetten.«

»Ich weiß, dass er es tut«, sagte Elizabeth, bevor sie es verhindern konnte. »Zumindest hab ich das immer geglaubt.«

»Was meinst du?«

Also dann, dachte sie. »Weil er nie wirklich verschwunden ist. Er kehrt jedes Jahr zurück.«

Francine schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie bitte? Hast du jetzt endgültig den Verstand verloren?«

»Das ist mein Ernst.«

»Elizabeth, meine Liebe, wir haben ihn jetzt sicher …« Sie dachte nach. »Sicher fünfzig Jahre nicht gesehen.«

»Das stimmt, trotzdem kommt er jedes Jahr her. Ich weiß, dass er es ist. Er legt mir immer ein Geschenk vor die Tür.«

Francine schwieg, dachte wohl darüber nach, was sie da gerade gehört hatte. »Was schenkt er dir denn so?« Ihr Ton verriet, dass sie ihr nicht glaubte, das Spielchen aber mitspielte.

»Frag nicht so, als hätte ich mir das nur ausgedacht. Jedes Jahr bringt er mir einen blauen Krokus, ganz wie er versprochen hat. Dazu schreibt er einen Wunsch, etwas, das wir zusammen machen könnten. Wenn du mir nicht glaubst, dann kann ich sie dir zeigen. Ich hab jeden einzelnen dieser Wünsche zu Hause. Ich schwöre, es ist Tom. Ich habe ihn sogar ein- oder zweimal gesehen.«

Als Francine bemerkte, dass Elizabeth das alles ernst meinte, änderte sich ihr Ton. »Okay, okay«, sagte sie. »Ich glaube dir.«

»Gut.«

Francine lehnte sich zurück, ihr Mund hing vor Unglauben offen. »Hat er nicht geheiratet?«

Elizabeth schloss die Augen, weil sie den üblichen Stich aus Eifersucht und schlechtem Gewissen spürte, der sie beim Gedanken an seine Frau traf. »Hat er.«

»Und trotzdem hält er dich warm?«, fragte sie, eigentlich an niemanden gerichtet. »Ganz schön schlimmer Finger.«

»Nein, so ist das gar nicht.«

»Tja«, sagte Francine und schien alles andere als glücklich über das, was sie da gerade erfahren hatte. »Das kann ich natürlich nicht beurteilen, ich sehe dir nur an, wie sehr es dich mitnimmt.«

Elizabeth holte ein Tuch aus ihrer Tasche und tupfte sich die Augen ab. »Ich bin doch gar nicht aufgewühlt, weil er mir jedes Jahr ein Geschenk bringt.«

»Sondern?«

»Weil er es dieses Jahr vergessen hat.«

Francine trommelte mit den Fingernägeln auf den Metalltisch. Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf. »Also, das kann ich mir nicht vorstellen, wenn er es in keinem anderen Jahr vergessen hat. Elizabeth, ich werde ungern so deutlich, aber wir werden alle nicht jünger. Ich habe gerade eine neue Hüfte bekommen, und von deinen arthritischen Fingern will ich gar nicht erst anfangen.«

»Was willst du damit sagen?«

»Dass man nicht neunundvierzig Jahre lang einem Mädchen Geschenke vor die Tür legt, in das man mal verliebt war, nur um es beim fünfzigsten Mal zu vergessen.«

Elizabeth war so sehr in ihrem Schmerz versunken, dass es ihr gar nicht erst in den Sinn gekommen war, darüber nachzudenken, warum Tom in diesem Jahr kein Geschenk vorbeigebracht hatte. »Du meinst aber nicht …« Ihre Nackenhaare stellten sich auf, als ihr die Tragweite bewusst wurde. Sofort war ihr Mund so trocken, dass sie nicht weitersprechen konnte. Bis zum heutigen Tag sah Tom vor ihrem geistigen Auge aus wie der junge Mann auf dem einzigen Foto, das sie von ihm besaß, dabei war er mittlerweile achtundsechzig. Bekannte von ihr waren in jüngerem Alter gestorben.

»Gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden«, sagte Francine. »Wieso nimmst du nicht einfach Kontakt zu ihm auf?«

»Ich habe seine Telefonnummer, aber was mache ich, wenn seine Frau ans Telefon geht? Oder seine Tochter?« Elizabeth hatte seine Adresse und Telefonnummer aufgeschrieben, aber sich nie bei ihm gemeldet, weil er eine Familie hatte. »Was soll ich denn sagen, wer ich bin?«

»Das ist doch eigentlich egal. Sag ihnen einfach, du bist eine alte Bekannte aus Porthsennen.«

Mit Bedauern wurde Elizabeth bewusst, dass das der Wahrheit gar nicht so fern war.

Ihr Herz raste, als sie zur ihrem Cottage zurückeilte, ihr Schlüsselbund klimperte, während sie mit nervösen Fingern danach suchte. Cookie erwartete sie schon an der Tür, angelockt vom Klacken des Schlosses, sein Fell warm und sein Schnurren laut, als er ihr um die Beine strich.

»Ich habe gerade keine Zeit für dich«, sagte sie und schob ihn beiseite. Ihre Finger wollten sich nicht um den Griff des Schranks neben dem Kamin schließen, zu steif durch die Kälte, zu arthritisch durch ihr Alter. Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen, konzentrierte sich, und dann gelang es ihr endlich, die Tür zu öffnen und das Körbchen mit jedem von Toms Wünschen herauszuholen. Sie verteilten sich wie Herbstlaub über den Boden. »Was bin ich dumm«, sagte sie zu Cookie. »Wieso bin ich selbst nicht darauf gekommen?«

Ihr Leben lang hatten sie Was-wenn-Gedanken geplagt. Was, wenn sie zusammen hätten sein können? Was, wenn sie an jenem Abend nicht gestritten hätten? Was, wenn Tom nicht zum Leuchtturm gegangen wäre? Jetzt zählte nur noch ein einziges Was-wenn, was, wenn ihm etwas zugestoßen war? Sie hätten so viele Möglichkeiten gehabt, alles zum Guten zu wenden, doch genutzt hatten sie keine. Wie dumm sie gewesen waren. Panik stieg in ihr auf, als sie die kleinen blauen Zettel durchwühlte, ohne zu finden, was sie suchte. Und dann, schimmernd wie ein Edelstein im Dreck, entdeckte sie das weiße Blättchen mit seiner Adresse und Telefonnummer. Sie nahm es in die verschwitzte Hand und durchquerte das Zimmer zum Telefon.

Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer, betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, während sie darauf wartete, dass die Verbindung sich aufbaute. Sie hatte sich so sehr verändert, war so alt geworden. Wieso hatte sie ihrem Gefühl nicht getraut, diesem inneren Verständnis, dass er sie nie enttäuschen würde? Nach einer Weile wurde ihr bewusst, dass sie noch immer auf den Freiton wartete. Sie schaute auf den Zettel und erkannte, dass die Nummer aus den Siebzigern stammte, also holte sie das Telefonbuch hervor, um die neue Vorwahl Londons nachzuschlagen, bevor sie erneut wählte. Immer noch kein Freiton, also rief sie die Auskunft an.

»Auskunft, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Hallo«, fing Elizabeth an. »Ich versuche, jemanden zu erreichen, aber die Verbindung baut sich nicht auf. Könnten Sie die Angabe einmal für mich prüfen?« Elizabeth gab die Nummer durch und wartete dann ab, während der Mann am anderen Ende alles prüfte. Sie ließ den Blick durch das Zimmer wandern und sah ihre Vergangenheit, spürte die Kälte jener ersten Nacht, in der sie mit Tom ins Cottage gekommen war, dachte an die Dinge, die sie in seinem Zimmer getan hatten. Die Erinnerung war so schmerzhaft, dass ihr die Tränen in die Augen traten und sie sie schließen musste. Dann ein Geräusch im Hörer.

»Es tut mir sehr leid, aber die Nummer ist nicht mehr in Gebrauch.«

»Kann ich Ihnen die Adresse nennen?«

»Das können Sie gern tun, ich schaue mal, was ich herausfinden kann.« Elizabeth nannte die ihr vorliegende Adresse von Tom, obwohl sie nicht wusste, ob er überhaupt noch dort wohnte. Was blieb ihr sonst übrig? Wenn ihre Tochter noch mit ihr spräche, könnte sie sie bitten, mal in diesem Internet für sie zu suchen, aber ohne Kates Hilfe war dies eine Sackgasse. »Es tut mir sehr leid«, sagte der Mann. »Die Nummer, die zu diesem Anschluss gehört, ist geheim. Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen, tut mir leid.«

Sie sackte im nächstbesten Sessel zusammen, den Hörer noch in der Hand. Zu viel Zeit war vergangen, zu viel Leben getrennt gelebt. Cookie schaute träge zu ihr herüber, an ihrem Leid nicht interessiert. Sie fand es immer leicht, hier am untersten Ende Großbritanniens zu leben, so viele Kilometer von Tom entfernt, während sie wusste, dass er zurückkommen würde, wenn auch nur einmal im Jahr. Aber jetzt? Dass er nicht hier gewesen war, hieß doch, er käme nie wieder zurück. Seine Abwesenheit deutete daraufhin, dass er schon … »Nein«, sagte sie zu sich selbst und schüttelte den Kopf. »Fang gar nicht erst an, so zu denken.« Denn das hätte sie sicher gespürt, hätte gemerkt, wenn er gestorben wäre. Und weil sie kein solches Gefühl gehabt hatte, gab es die Chance, dass sie ihn finden konnte. Sie hatte ihn schon einmal gefunden, wieso nicht ein zweites Mal?

Ihre Schritte donnerten auf den Holzstufen, weil sie schneller hinauflief als seit Jahren. Sie zog ihren muffigen Koffer unterm Bett hervor, der Staub ließ sie niesen. Sie hatte ihn über ein Jahr nicht benutzt, seit ihrem letzten Besuch bei Kate. Als sie ihrer Tochter die Wahrheit erzählt hatte. Nach dem anfänglichen Herumwirbeln fand sie sich schon bald atemlos auf der Bettkante wieder, umgeben von Kleidungsstücken und Hygieneartikeln, die wild durcheinanderlagen. Kurz meldete sich die Frage, ob sie etwas Dummes tat, aber sie schob sie schnell beiseite.

»Reiß dich zusammen, Elizabeth«, sagte sie sich. »Sonst schaffst du es gar nicht erst nach London.«

Als sie das Cottage verließ, war es wärmer. Sie nahm ein Taxi zum Bahnhof, und obwohl sie erleichtert war, endlich unterwegs zu sein, jagte ihr der Gedanke, was sie dort vorfinden konnte, etwas so Furchteinflößendes ein, dass sie fast wieder umkehrte. All die Male, als sie sich vorgenommen hatte, an der Tür zu warten, als er den Krokus brachte. All die Male, als sie es nicht getan hatte. Dieselbe Angst ergriff sie, was, wenn es nicht mehr so war wie früher? Wenn sie nicht dasselbe fühlte? Was, wenn längst so viel Zeit verstrichen war, dass keine mehr blieb? All diese Ängste gab es noch, doch jetzt wurden sie von einer neuen Idee überlagert, die sie antrieb. Was, wenn sie tatsächlich ihr Leben geteilt hätten? Was, wenn er sie trotz allem noch liebte? Und, vielleicht die wichtigste Frage von allen: Was, wenn ihnen noch Zeit für einen weiteren Wunsch blieb?

Damals

Sie erwachte aus unruhigen Träumen, lange bevor die Sonne anfing, das tiefe Blau des Nachthimmels zu vertreiben, und verließ ihr Zimmer, nur um festzustellen, dass eine Wolke des Kummers über dem Haus lag. Sie war schwerer als der winterliche Nebel, der schon bald wieder die Küste umfangen würde. Ihre Eltern waren noch im Bett, aber sie merkte, dass sie nicht allein sein wollte. Also griff sie nach ihrem Mantel und der Tasche und verließ das Haus, um zum Meer zu gehen.

Das schier endlose Schwarz, das nur wenige Stunden zuvor versucht hatte, ihr die Mutter zu entreißen, begrüßte sie in ganz anderem Gewand. Erste Sonnenstrahlen bahnten sich den Weg durch die Dunkelheit und liebkosten die Küstenstraße mit ihren reetgedeckten Cottages. Möwen flogen und kreischten über ihr und über den Fischerbooten, in denen Seelachs und Makrelen eingebracht wurden. Rauch stieg aus den Schornsteinen der Häuser, in denen die Frauen der Fischer Feuer gemacht hatten, um ihre Männer mit Wärme zu empfangen.

»Miss Davenport, würden Sie einem alten Mann einen Gefallen tun und einmal herkommen?« Elizabeth schaute auf und erkannte den alten Cressa. Er stand in seinem Boot, der Princess of the Sea. Es war ein kleines Boot, gemacht für einen Menschen. Ein Leben der frühen Morgen, denn sein Arbeitstag war vorbei, bevor die meisten anderen überhaupt begonnen hatten. Zwei seiner Frontzähne fehlten, sein Lächeln bestand also nur aus den beiden verbliebenen Schneidezähnen und dem wilden Vollbart, der ihm bis zur Brust reichte. »Ich habe gehört, was gestern Nacht passiert ist«, sagte er und schüttelte den Kopf. Seine Stimme hatte einen sanften Ton, der sogar noch sanfter wurde, als er fragte: »Wie geht es Ihrer Mutter denn heute?«

»Viel besser, vielen Dank. Sie hat gerade Fieber, deshalb ist sie schlafgewandelt.« Er nickte, schien ihre Lüge zu schlucken. »Waren Sie erfolgreich heute Morgen?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.