Meine Familie und ihr Henker - Niklas Frank - E-Book

Meine Familie und ihr Henker E-Book

Niklas Frank

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Beschreibung

Hans Frank, genannt "Der Schlächter von Polen", war Angeklagter im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, wo Tag für Tag die entsetzlichsten NS-Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt wurden. Am 1. Oktober 1946 verurteilte das Gericht ihn zum Tod durch den Strang. Plötzlich waren die Franks herausgerissen aus Reichtum und Selbstherrlichkeit, in Armut und Verachtung gestürzt. Wie ging die Familie damit um? Und wie ging der daran Hauptschuldige Hans Frank damit um? Erstmals wird durch seinen Sohn Niklas die private Seite dieses Prozesses aufgezeigt, der die Weltgerichtsbarkeit auf eine neue Stufe stellte. Dieses Buch enthält den einzigartigen Briefverkehr zwischen der Gefängniszelle 15 in Nürnberg und den "Lieben daheim". Es zeigt der Welt, wie verlogen, sentimental, berechnend, kalt, grausig, aber auch liebevoll, verzweifelt, grotesk und auf schaurige Weise komisch Hans, Brigitte und ihre gemeinsamen fünf Kinder, dazu Omas, Opas und sonstige Verwandte mit den Folgen des Holocausts umgingen – und ihn verdrängten. Für Niklas Frank, das jüngste Kind, war der Tod seines Vaters am Galgen ein Lebenselixier: "Er konnte mir mein Hirn nicht mehr vergiften!"

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Seitenzahl: 435

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Niklas Frank

Meine Familie und ihr Henker

Der Schlächter von Polen, sein Nürnberger Prozessund das Trauma der Verdrängung

Die Bilder malte Niklas Frank als Jugendlicher zwischen 1955 und 1957.

Niklas Frank

geb. 1939, war über zwei Jahrzehnte Reporter beim STERN und vollendete nach zwei Büchern gegen seine Eltern (»Der Vater – Eine Abrechnung« und »Meine deutsche Mutter«) mit »Bruder Norman!« eine schonungslose Trilogie über seine Familie, die dank Hitler aufstieg.

Im SPIEGEL-Bestseller »dunkle Seele, feiges Maul« setzte er sich mit der Entnazifizierung auseinander. In »Auf in die Diktatur« zog er erschreckende Parallelen im Verhalten und in der Rhetorik heutiger Politiker zur NS-Zeit.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-7034-6 (E-Book)

ISBN 978-3-8012-0610-9 (Printausgabe)

1. Auflage 2021

Copyright © 2021 by

Verlag J. H.W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Lektorat: Gabriela Ratajszczak

Umschlag: Hermann Brandner, Köln

Satz: Petra Strauch, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

Aus bangem Herzen für meine Mutter und meine ebenso toten Geschwister

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Zelle mit Türguckerl

Sadist und fromme Helene

»Ich klage nicht, ich warte«

Brigittes Verrat

»Heil Hitler« zum Ärgern

Feinstaub und die vertauschte Gitti

»Frau Minister« sind unzufrieden

Die Schuld der rauen Preußin

Der Tiefpunkt einer hohen Liebe

Noch einmal die Sau rauslassen

»Rache für unsere Grausamkeiten«

Sehnsucht nach Unschuld

Die letzte Gehaltszahlung

Tränen beim Verhör

Wiederentdeckung der Familie

»Eine Seele voll Zuversicht«

»Hoventlich komst du balt wieter«

»Schmalhans Küchenmeister«

Die brotlose Kunst des Bettelns

Sehnsucht nach Nähe

Sohnes Stolz auf den Massenmörder

Göring wird abgehängt

Aus Honiglatschen in Militärstiefel

1946 – Tod und Verdrängung

Polentransport

Die Tippse und ihr Hengst

In Polen alles gestohlen

»Das Mundwerk von Goebbels«

Getrennter Hochzeitstag

Hans, der schönste Angeklagte

Schuldeingeständnis als Trick

Hansimuckerls Hexenmutter

»Die Macht des Siegers«

»Aus der reineren Welt«

Tabak als Reliquie

Unschuldiger 165-Pfünder

Mit Messer in die Ohnmacht

Der große Bruch

Zusammen gerauft – zusammengerauft

Eros und wachsende Grausamkeit

Hans Franks letzter Diebstahl

»Kopf hoch, Herz stark«

Das Urteil

Gefesselt hinter Glas

Der düstere Witwentitel

Von Deserteuren und Denunzianten

Gnädige Vergebung vom Täter

Benutzte Literatur

Abbildungen

ZELLE MIT TÜRGUCKERL

Meine Zelle, in die mich unser Oberst Lagerkommandant persönlich mit einer kleinen Anrede führte, ist verhältnismäßig groß und licht. Bayrische Heimatluft dringt von dem Tag und Nacht von mir halboffen gehaltenen Oberlichtfenster herab ein in den durch eine kapellenartige Runddecke gehobenen Raum. Als ich gestern das erste Frühstück (Malzkaffee) durch das Türguckerl gereicht bekam, war ich geradezu frohgemut. Zur Heimatluft gab es endlich wieder einmal das schwarze Brot unseres Landes mit der unserem Geschmack eben entsprechenden landläufigen Wurst. Ich habe dieses erste Stück Brot gestern in tiefer Ergriffenheit als ersten Heimatgruß geküsst. Das Brot war der Bote Bayerns, meines Landes, meines urdeutschen Landes, und gut war sein Charakter. Sein Geschmack war etwas »kriegerisch«, aber essen es nicht all meine deutschen Landsleute in unserem zerfetzten Vaterland? Und ich war also auch um dessen Willen froh, da ich wieder im Nahrungsschicksal ihnen gleich bin.

Da sitzt er also in Zelle Nr. 15: Hans Frank, nein: Dr. Hans Frank, Doktor der Jurisprudenz, vom Führer abgesetzter Reichsleiter, aber bis Kriegsende im (hohlen) Amt verbliebener Reichsminister ohne Portefeuille, und im blutigen des Generalgouverneurs von Polen. 45 Jahre ist er alt. Abgenommen hat er. Auch an Haupthaar. Seine linke Hand zittert, Folge seiner zwei Selbstmordversuche nach seiner Verhaftung im Mai 1945. Seine Zähne sind ohne Befund. Er wiegt bei einer Größe von 1,76 Meter 83,44 Kilogramm. Sein Body-Maß-Index ist mit 27,1 – wie die Berechnung im Internet zeigt – für sein Alter nicht ganz perfekt. Aber: Mit einer gesunden und ausgewogenen Ernährung und regelmäßiger Bewegung kann Vater sein Gewicht langfristig reduzieren.

Schwierig für den Zelleneinsitzer.

Neben dem BMI stimmt es seit seiner Verhaftung auch mit seinem Hirn nicht mehr so ganz. Denn der kauende Liebhaber bayerischen Brotes weiß nun, dass Wirklichkeit werden kann, was er eher spöttisch zwei Jahre zuvor seinem Jugendfreund prophezeite: »Du wirst Professor, und mich wird man hängen. »Vater unser muss um seinen Kopf kämpfen. Von Schlössern, Burgen, Villen und gepanzerten Mercedes-Karossen, den Gemälden wie Leonardo da Vincis »Dame mit dem Hermelin«, den zwei Rembrandts, Raphaels »Bildnis eines unbekannten Jünglings«, seiner penibel zusammengestellten Bavarica-Bibliothek ist nicht viel geblieben: Meine ganze mir verbliebene Habe geht in einem kleinen Karton unter, wo ich die mir von den Amerikanern gegebenen Wäschestücke verwahre. Aber welche Bedeutung kommt ihnen zu: Nicht nur in Bezug auf ihre mir zur Verfügung gehaltene Existenz überhaupt, vor allem ihren Zustand betreffend. Meine Hemdjacken, Taschentücher, Socken und Unterhosen immer wieder waschen und trocknen zu können, ist eine wirkliche Frage.

Hans Frank nach seinem Selbstmordversuch, Mai 1945.

Seit seiner Verhaftung am 4. Mai 1945, vier Tage vor dem offiziellen Kriegsende, hat er keine Verbindung mehr zu seiner Familie.

Will er die überhaupt?

Mit dieser verfluchten, raffinierten, ihm heillos überlegenen Ehefrau Brigitte, die ihm sein Liebesleben vergällte?

Mit dieser eitlen, selbstgefälligen und urfaulen ältesten Tochter Sigrid?

Brigitte 1946, unter dem Bild ihres Hans, gemalt 1939 von H. Barrenscheen.

Mit diesem verdrucksten, miserabel desinteressiert Latein paukenden ältesten Sohn Norman?

Mit dieser ihn anhimmelnden und ihm zu süßlich tuenden nächsten Tochter Gitti?

Diesem mit einer fiesen Hasenscharte geborenen zweiten Sohn Michel und diesem ewig stumm dreinglotzenden Niki, dem jüngsten Knaben, der ihm noch im Februar einfach seine Lesebrille zerbrochen hat, ihn dabei blöde von unten her anstarrte, und von dem er nicht mal sicher ist, ob diese rothaarige Hässlichkeit überhaupt sein Sohn ist?

Oder mit seiner eigenen Mutter, Tochter eines Münchener Kolonialwarenhändlers mit popeligem Tante-Emma-Laden? Die war erst wieder in seinem Leben aufgetaucht, als er Karriere gemacht hatte, um auf seinem Schloss Kressendorf oder auf seiner Burg in Krakau als Königsmutter zu posieren.

Oder mit seiner ewig nervenkranken, grauslig anzusehenden Schwester Lilli! Was hatte er doch mit ihr für Scherereien gehabt! Und wie peinlich, als die sich zu Amon Göth in dessen KZ-Lager Plaszow fahren ließ, um von den todesnahen Juden noch Schmuck ergattern wollte, indem sie ihnen vorgaukelte: »Ich bin die Schwester des mächtigen Generalgouverneurs – vielleicht könnte ich Ihnen ja helfen?« Oder mit seinem Vater, diesem aus der Anwaltskammer geflogenen Rechtsanwalt und Heiratsschwindler, der ihm doch tatsächlich am 15. März 1942 brieflich für seine Gebisserneuerungskur um die Zusendung von 15 Gramm Gold anbettelt und mit Heil Hitler unterschreibt? Woher nehmen und nicht … ach richtig, Brigitte konnte ja wirklich eines ihrer tausend Schmuckstücke hergeben, die sich in Polen so sehr vermehrt und schon zu Gerede in Berlin geführt hatten.

Oh Herr, was für eine Familie habe ich da um mich!

Selbst die große Liebe seines Lebens, Elisabeth Karoline Sophie, genannt Lilly, in die er sich schon als Kind verknallt hatte, und die 1942 wieder aufgetaucht war, konnte er in den letzten Monaten seiner Freiheit nicht mehr in himmeljauchzender Gier küssen, beschlafen und mit ihr die gemeinsame Zukunft gegen Brigitte planen.

Über drei Monate saß er mit den letzten Getreuen in seinem neuen Amtssitz in Neuhaus am Schliersee. »Haus Bergfrieden«, früher ein Café, war ihm zugewiesen worden. Was für ein lausiger Ersatz für seinen Dienstsitz, den Wawel, die Burg in Krakau!

Doch jetzt sein allerlausigster Umzug: in eine Zelle des Gefängnistrakts im Nürnberger Justizpalast.

Allein.

Als ich monatelang dieses Buch vorbereitete, versetzte ich mich immer rückhaltloser in seine wachsende Klaustrophobie. Tag und Nacht wird er von einem amerikanischen Wachtposten durch die Türluke beobachtet. Ganz für sich allein ist er nur auf seiner Toilette, gleicht rechts vom Eingang. Schlafen muss er auf dem Rücken, die Hände oberhalb der Decke. Das Licht wird des Nachts nur gedämmt, nie ganz ausgeschaltet. Einmal am Tag ist ihm eine Stunde Spaziergang im Gefängnishof erlaubt, gemeinsames Mittag- und Abendessen mit den anderen Angeklagten, Besuche in der Zelle nur von den Psychologen Douglas M. Kelley, Gustave M. Gilbert und Leon Goldensohn. Einmal in der Woche ein Bad nehmen, täglich morgens eine kalte Dusche.

Noch hat der Prozess nicht begonnen. Seinen Verteidiger hat er allerdings schon: Dr. Seidl, aus München, so kurz gewachsen, dass der Mitangeklagte Herrmann Göring über ihn spottet: »Der kann ja kaum übers Rednerpult schauen!«

Mein Vater mag Dr. Seidl. Der ihn weniger. Als ich ihn Jahrzehnte später interviewte, wollte er viel lieber über seinen anderen Mandanten, den Wirrkopf Rudolf Heß, sprechen. Ich vermute, Seidl konnte meinen Vater wegen seiner immer stärker werdenden Frömmelei nicht leiden.

Die Frank-Kinder: Norman, Michel, Niklas (»Niki«), Sigrid, Gitti, Schoberhof 1941.

»Haus Bergfrieden«, in dem er bis zu seiner Festnahme sein Büro hatte, liegt im Neuhauser Ortsteil Josefstal. Dort schlief er auch. Nur hin und wieder besuchte er in den drei Monaten zwischen Flucht und Verhaftung den Schoberhof, einen umgebauten Bauernhof, in dem seine Ehefrau Brigitte mit uns fünf Kindern lebte. Die ältesten Drei, Sigrid, Norman und Gitti, haben unter der Trennung ihrer Eltern schwer gelitten. Am meisten Gitti, damals 10 Jahre alt. Michel und ich sicher auch, wenn auch zunächst nicht den Tag bestimmend: Zu spannend war die Zeit des Untergangs des Dritten Reiches!

Da die Eltern die meiste Zeit ihres Lebens während der Naziherrschaft außer Haus ihrem Vergnügen des Einkaufens und Mordens frönten, blieb die Erziehung in Händen von Hilde, einer wunderbaren, lustigen, herzlichen Frau von Mitte Zwanzig. Alles, was an den Frank-Kindern humorvoll, menschlich, mitfühlend war, stammte von ihr.

Als ich sie für mein erstes Buch besuchte, damit sie mir all die merkwürdigen Erinnerungsblitze, die ich mit mir herumtrug, in einen aufklärenden Zusammenhang brachte, war sie schon total verkrebst, hatte aber noch immer ihr herzliches Lachen und gestand mir zum Schluss, dass unser Koch auf dem Schoberhof einmal aus Ärger über »Frau Reichsminister«, die gegenüber ihren Angestellten wieder einmal beinhart gewesen war, in der Küche auf einen Stuhl stieg und in die Suppe pieselte, bevor sie serviert wurde.

»Und weißt du, Niki, was deine Mutter danach beim Raustragen der Teller zur Serviererin gesagt hat? ›Bestellen Sie bitte dem Koch: Die Suppe war köstlich!‹«

Bei diesem Herrschaftsessen für die ortsansässigen Nazi-Honorablen war Vater nicht anwesend. Weswegen er auch nicht wie sein inzwischen uralter jüngster Sohn über diese Szene schmunzeln kann. Am 26. August 1945 beschreibt er weiter sein Leben in der Zelle: Ich blicke in den Abdruck des Kopfes des heiligen Florian unseres berühmten Meisters von Kefermarkt, eines prachtvoll ernsten Mannesantlitzes, das in Erz dem innen gerichteten Blicke des um seine Leidensberufung Wissenden ergreifende Wirkung bietet. Es ist der künstlerische Schmuck der Zelle des Nürnberger Gefängnisses, die nun die mir verbliebene irdische Zone umfasst. Ich habe dieses Blatt aus einem deutschen Zierkalender mitgebracht, der uns in dem Luxemburgisch-Mondorfschen Palasthotel gegeben worden war, um in ihm mit Lust und geistiger Angeregtheit den Ablauf unserer Interniertenlaufbahn zeitlich registrieren zu können. Über drei Monate weilte ich da im Kreise all der Männer, die man aus der Epoche Adolf Hitlers kannte, und die da eingefangen vom Sieger hinter Gittern gepackt wurden. Über vierzig Männer weilten dort in leidlich erträglichen äußeren Umständen, sehr anständig behandelt und gepflegt. Das Hotel in Mondorf machte ein etwas gequältes Gesicht zu der ihm zugemuteten Aufgabe, Behältnis für politische Männer zu sein, die von ihren siegreichen Feinden als Verbrecher bezeichnet werden.

Im Juli 1945 hatte der deutsche Journalist und Schriftsteller Walter Hasenclever die Inhaftierten in Mondorf besucht und einen ganz anderen Hans Frank erlebt, dessen Verhalten einen zum Fremd-Schämen, in meinem Fall zum Familien-Schämen bringt: »Generalgouverneur Hans Frank hatte in Mondorf eine besondere Nische. Er tat sich mit keinem zusammen; von morgens bis abends, wenn er nicht gerade beim Essen oder beim Verhör war, wandelte er auf der Terrasse vor dem Hotel mit einem Gebetbuch auf und ab und tat Buße. Er murmelte Gebete, sprach den Rosenkranz und widmete jede freie Minute der Selbstzerknirschung. Er war allerdings auch sorgfältig darauf bedacht, bei diesen Übungen von allen gesehen zu werden. Seinen Mitgefangenen war er lästig, und sie ließen es in ihren Gesprächen nicht an Seitenhieben auf diesen neugebackenen Büßer fehlen, aber sie konnten ihn in seiner neuen Rolle nicht irre machen.«

SADIST UND FROMME HELENE

Diese Zurschaustellung seiner neu gefundenen Religiosität erinnert mich immer an Wilhelm Buschs »Fromme Helene« und macht mich schaudern.

Es folgt Hasenclevers vernichtendes »Lippen«-Bekenntnis: »Er war eigentlich ein gutaussehender Mensch. Er hatte ein kluges und man könnte beinahe sagen, feines Gesicht mit einem sinnlichen, sehr weichen Mund, der ahnen ließ, dass er vielleicht mehr konnte als trutzige Phrasen von sich geben. Tatsächlich war Frank ein musischer Mensch. Zugleich aber war er, was man dem Mund auch ansah, ein Sadist. In der Weichheit dieses Mundes lag eine deutliche Grausamkeit, die er auch in Polen ungehemmt walten ließ.«

Die »Time« schrieb unter das Gruppenfoto der in Mondorf Inhaftierten: This remarkable group portrait, which looks at first glance like members of a select club, in fact just that: these are most of Nazi Germany’s leaders. Neurotic Göring, undergoing a morphine cure, had lost 30 of his 270 Ibs., but looked fairly well when he took his front-&-center seat. Jewbaiter Streicher had wept and beaten his breast with shame because a U.S. Jewish sergeant gave him a gift of cocoa and crackers. Butcher Frank (of Poland) had arrived hysterical and clad only in lace panties.

Demnach war der »Schlächter von Polen« in Unterhosen in Mondorf eingeliefert worden. Er, der immer tipptopp gekleidet war, seine 110 Uniformen verehrte – und sich selbst in ihnen –, wankt oder wandelt in Unterhosen durch die Gänge des zum Gefängnis umgepolten luxemburgischen Palasthotels! Vielleicht ließ Gefängnisdirektor Burton C. Andrus ihn auch bewusst zunächst ohne Hosen, um die Verachtung der Amerikaner für den Butcher of Poland deutlich zu machen, der schon weit vor Kriegsende von der »New York Times« auf ihrer Kriegsverbrecherliste als Nummer 1 geführt worden war.

Nun in Nürnberg, schreibt Hans Frank weiter, sind wir ein wesentlich reduzierter Kreis unter erschwerten äußeren Lebensbedingungen. Der Lebensstil ist der eines Gefängnisses mit den durch die besondere Art der Inhaftierten und ihrer militärischen Verwahrer gegebenen Abweichungen.

Neben meinem Florian-Platz habe ich noch drei Bücher in treuer Gefolgschaft: die Bibel in der Übersetzung Martin Luthers wurde vermittelt durch die Kriegsgefangenenhilfe; dann die »Einführung in die Philosophie« von Dr. Max Apel und endlich »Die kleine Chronik der Anna Magdalena Bach«, der Frau Johann Sebastians, ein reizend liebes Buch der Engländerin Esther Meynell, die auch den Zensor vermochte, in das Buch ein liebesrotes Mal zu stempeln, dass in seinem Wortlaut ›passed by examiner‹ die Musikalität unserer modernen Militärs allerorten bestätigt.

Bitternis klingt durch den Text: Wie kann man so hochgestellte Persönlichkeiten eines Reiches so behandeln!

Ironie folgt: Mein Bettgestell aus Eisen hat eine Matratze, und 5 Wolldecken wurden mir in aller Fürsorge daraufgelegt. Ein Tisch und ein Stuhl vervollständigen die Einrichtung, die ich, wenn ich als bayrischer Justizminister, dem alle Gefängnisse des Landes unterstanden in den Jahren 1933 – 38, hätte es ahnen können, dass sie mir einmal dienen würde, wesentlich komfortabler gestaltet hätte.

Dass er nur durch die undemokratische Regierungsübernahme seiner Nazis am 10. März 1933 Bayerischer Justizminister geworden war, ist für ihn nicht erinnerungswürdig. Auch nicht, dass er anstatt die Zellen aufzumöbeln, als eine seiner ersten Amtshandlungen jüdischen Anwälten verbot, weiterhin vor Gericht aufzutreten.

Über drei Monate bin ich nun in der Gefangenschaft. Nicht mehr Herr meines Lebens, sondern Sache der Planung anderer. Das Schicksal fügt es so.

Hier taucht zum ersten Mal das Wort Schicksal auf. Es wird ihn und seine Ehefrau durch den ganzen Prozess begleiten: Gegenseitig werden sie sich zahllose Male versichern, dass es allein das Schicksal war, das ihn ins Gefängnis und sie in totale Armut gebracht hat. Beide können nichts dafür. Er nicht, obwohl er per Reichsgesetzblatt als Stellvertreter Hitlers politisch für jeden Mord im Generalgouvernement verantwortlich war, sie nicht, obwohl sie an seiner Seite gnadenlos ein Luxusleben auskostete. In jener Zeit kam nie von ihr ein: »Hans, wie kannst du nur! Zieh dich sofort zurück! Das ist ein Verbrecher-Regime, dem du dienst! Außerdem riecht Hitler aus dem Mund!« Da kam nie von ihm ein: »Wie kannst du nur in meinen Ghettos zu selbst gesetzten Preisen einkaufen fahren? Im Übrigen: Ich schmeiß’ hin! Ich lass’ mir jetzt vom Arzt ein Attest geben, dass ich körperlich und geistig nicht mehr in der Lage sei, meinem geliebten Führer zu dienen!«

Stattdessen stützt Hans Frank jetzt in seiner Zelle weiterhin philosophisch seine Unschuld ab: Wenn man die Mächte des Werdens und Vergehens nicht vernunftgemäß erschließen kann, bleibt nur der ahnungsvolle Glaube, der wie ein magischer Nebel die grauenvolle Kantigkeit umsamtet: Dass die Schlüsse zu einem Anfang gehören, der außerhalb unserer Zonen liegt. Gleich der Wirkung der Sonne etwa, die auch all das Treiben auf der Erde erzeugt, ohne von da aus erreichbar zu sein. Drei Monate – schon! – erst! Wer weiß?

Grabe ich mich mit ihm in seiner Zelle ein, sitze mit dem gleichen Bleistift vor dem gleichen Stück Papier und schreibe, dann fühle ich in mir selbst dieses entsetzliche Hin und Her zwischen Hoffnung und Todesangst. Dieses Gefühlschaos funzelt auch durch seine nachfolgenden Sätze: Das Denken erlahmt. Man hat eine Art von automatischer Denkpolizei in sich, die verhindert, dass farbige Bilder milde lösend durch Dich dahingleiten – Dich streicheln, Dich kosen, und das Tränennass ist der Fluss, über den es kein Zurück mehr gibt zu all’ dem, was Dein war, zu all’ denen, die Dein sind und waren.

»Dein« war einst Brigitte, als ihr Hans sie noch liebte, wie offensichtlich in seinem Brief vom 20. Februar 1930: Herzliebes Weibelen – beide schreiben einander immer Weibelen statt Weibilein, vermutlich ein Schreibfehler von Muttern in ihrer glücklichen Frühzeit, der zur privaten Gaudi kultiviert wurde – Schau, ich habe Dich doch so lieb und leide nur, wenn Du so preußisch-rau-kalt und oft auch direkt lieblos bist. Ich brauche viel Liebe und möchte auch viel Liebe geben. Ich bin so glücklich in dem Gedanken, dass ich Dich habe und Du schöne, liebe Frau allein mein bist, ich möchte noch 16 Kinder von Dir. Aus der Niederung unserer minderwertigen Gegenwart soll gerade unser beider Bund aufragen. So tief, so ewig, so schlicht und wahr liebe ich Dich.

Ewig Dein

Hans

Brigitte Frank um 1942.

Hätte er damals statt seines Unterleibs seinen Verstand aufgepumpt, wäre er auf und davon von dieser rau-kalten Preußin Brigitte!

Der Gefangene, sinniert Hans Frank in seiner Zelle, ist nicht nur der Freiheit beraubt, sondern damit der wesentlichsten Grundlage des Lebens. Deshalb sind seine Gedanken so mühevoll, so wurzellos und gärend verwirrt, weil er hilflos ist, all’ dem Sehnen und Pochen gegenüber, das in ihm sprudelt, das ihn quälend lockt in Betrachtungen der Sehnsucht, der Reue, der Hoffnungslosigkeit.

Fällt ihm bei Sehnsucht sein Brief von 1942 an die wiedergefundene große Liebe Lilly G. ein?

Meine Lilly!

Ich bin so strahlend frisch und froh und stark und glücklich und beschwingt und selig, dass ich weiß, wie alles gut gehen wird. Ich liebe Dich, meine Lilly – mit gottgewollter Innigkeit und schwöre Dir meine Treue und Hingabe bis ins letzte Pianissimo meines Lebens. – Ich strahle Dich an frohgemut – das Neue Leben beginnt. Gott segne meine Lilly und mich! Auf Wiedersehen. –

Ganz herzlichst,

innigst Dein Hans

Doch zu Hause warteten Ehefrau und ein Stall voll Kinder!

Fällt ihm bei Reue sein letztes Telegramm vom 24. Dezember 1944 an Hitler ein?

mein führer

die deutschen krakaus aus allen bereichen und dienststellen

versammelten sich am weihnachtsvortag zu einer kundgebung, in

der in stürmischer begeisterung die treue und hingebungsvolle

dienstbereitschaft zu ihnen, mein führer und ihrem grandiosen

werk machtvoll ausdruck erhielt. Wir beten zu gott,

dem allmächtigen, der sie in so wunderbarer weise in

diesem jahre vor der tücke gemeiner verbrecher bewahrte,

im kommenden jahre ihren waffen den sieg zu verleihen.

heil, ihnen, mein führer.

frank

Ja, vielleicht hat Hans Frank wirklich Reue empfunden, aber die wurde ihm von seiner Gedankenpolizei offensichtlich immer wieder sofort verboten.

Und was fällt ihm bei Hoffnungslosigkeit ein? Da braucht er nicht nachzudenken: Die erlebt er gerade. Sekunde um Sekunde. Tag um Tag. Monat um Monat.

An seinem wackeligen Zellentischchen schreibt er weiter: Und doch! Wären diese Gedanken nicht, dann wäre alles dahin. Nur sie sind es ja, die den Gefangenenzustand vom Tod noch unterscheiden, abgesehen vom rein animalisch-organischen Vegetieren. Oh, Du Gedanke des Alls, das Urgeheimnis und letzten Bewusstseinspunkt verbindet – Du bist das geistige Fundament der inneren Souveränität, die bleibt, wenn die äußere der Persönlichkeit genommen ist.

Mein Vater eine Persönlichkeit? Die hätte doch etwas mit Seriosität, Ehrlichkeit, Empathie und entschlossener Handlungsdynamik zu tun.

Das sieht auch Psychologe Kelley so: »Je bedeutender Franks Stellung wurde, desto anmaßender benahm er sich. In seinem eigenen Fach erwuchsen ihm viele Gegner, denn er war im nationalsozialistischen Staat das Werkzeug der Zerstörung altüberkommenen Rechts. Frank war es, der am meisten dazu beitrug, die These zu begründen, dass das ›Deutsche Recht‹ nicht das Individuum zu schützen, sondern der Nation zu dienen hätte – nämlich Hitler und seiner Partei.«

Dabei hatte er noch in der Weimarer Republik Jura studieren können, das deutsche Recht, das aus dem römischen entstanden war.

»ICH KLAGE NICHT, ICH WARTE«

Statt sich schriftlich über seinen Verrat am Recht Gedanken zu machen, philosophiert er voll des Selbstmitleids weiter: Der Gefangene ist die Antithese Gottes: der der Freieste aller ist und daher ein Widerspruch zur Schöpfung. Die Gefangenschaft ist auch zu allen Zeiten nicht Gottes, sondern der Menschen Werk. Was die Feinde über uns noch alles verhängen werden, weiß ich nicht. Unschuldig, wie ich mich fühle und bin, sehe ich mit Gottes Trost allem entgegen. In Essen steht ein Denkmal, es ist den in den Ereignissen des Jahres 1923 gestorbenen Ruhrarbeitern gewidmet, darunter steht: »Deutschland! Wehe denen, die Dich lieben!«

Das ist es wohl.

Das ist es wohl bei ihm: Noch kein Prozess, noch keine vorgelegten Beweise für seine Verbrechen, aber schon das Endurteil gesprochen: Unschuldig, weil Deutschland liebend.

Meine Kleidung ist interessant und zeigt mir die ganze Gutmütigkeit mancher amerikanischen Männer, die um mich in diesen Monaten besorgt waren. Ich trage ein amerikanisches Soldatenjackett, eine amerik.Militärhose und feste deutsche Militärstiefel, an deren Stelle ich bei leichtem Sommerwetter ein Paar amerikanischer Militärschuhe mit Gummisohlen trage.

So wäre mein Leben schön und ruhig. Denn wer ist so umsorgt, so umwacht wie wir? Ich denke immer an den Fidelio Beethovens. Man ist entweder ein ganz schlimmer Verbrecher, oder man hat mächtige Feinde, das kommt auf dasselbe heraus.

Ich klage nicht. Ich harre und warte.

Und indem ich dieser Gedanken Fäden langsam durch mein Bewusstsein fließen lasse, bin ich ganz ruhig. Wie in Gottes Schoß geborgen. Glaubst Du an Gott: Wohl denn. Er wird Dir plötzlich zum Zimmergenossen! So vertraut bist Du ihm! So direkt körperlich nah, wie einem guten Freunde, der bestimmt alles für Dich tun wird, und Du ertappst Dich bei Ahnungen seiner Gegenwart von solcher Intensität, dass die Wände gefallen scheinen.

Mit Gott durch die Wand! Den hat er aus Mondorf mit in seine Nürnberger Zelle überführt. Er wird neben »Schicksal« zum zweiten Schuld-Tilger berufen.

Gott und Schicksal anstatt sich zu fragen: Was habe ich wirklich getan? Und warum, um Gotteswillen?

Norman, mein ältester Bruder, sagte zu Vaters wachsender Religiosität: »Der suchte nach Hitlers Selbstmord einfach einen neuen Gott.«

Fühle ich mich in seine Zellensituation hinein, kann ich es nachvollziehen: Wen gibt es noch, der dich nicht sofort schuldig spricht? Da bleibt ja nur der liebe Gott, wenn du dich dir selbst nicht stellen willst!

Vergeblich beschwört er beim Weiterschreiben: Man lernt sich kennen, nur in der Gefangenschaft. Gibt aber sofort auf: Im Grunde begreift man nichts um einem, und Unwirklichkeit, unfassbare Traumverzerrung, scheint die Wirklichkeit der Gefangenschaft zu sein. Und dann ist all’ dies Wähnen und Denken weg. Und es kommt das Sinnen über Deine Kinder, Dein Zuhause, Deine Jugend, Deine Lebensentwicklung – und dann bist Du ein kleiner, weinender Mensch, müde, nervös, abgespannt, verzerrt und gejagt – und Du rollst Dich in einem Elendspfuhl und rufst um Schlaf, den gnadenreichen Unterbrecher des Bewusstseins, die Erlösung, die Erholung – ja, so ist es. Die einsame Kreatur kniet vor Gott im Staub.

Auch diesen Elendspfuhl kann ich nachfühlen. Ich habe mehrmals im Nürnberger Gefängnis eine Zelle besucht, die der seinen völlig gleich ist. Der Original Trakt, in dem die Nazi-Verbrecher einsaßen, war bald nach Prozessende abgerissen worden, doch die baugleichen anderen Flügel bestehen bis heute. In dieser Zelle zu stehen, zu sitzen, sich hineinzuversetzen in meines Vaters Einsamkeit, ließ auch dort wieder die Wut in mir aufsteigen: Warum hat er da mitgemacht? Er wusste, dass er ein Verbrechen ums andere mit angeschoben hat! Dass er Sätze wie diesen plärrte: »Mit den Juden, das will ich Ihnen ganz deutlich sagen, muss so oder so Schluss gemacht werden.« Oder: »Wenn ich für je sieben Polen, die ich erschießen lasse, Plakate kleben ließe – die Wälder Polens würden nicht ausreichen, um all das Papier herzustellen.«

Er unterdrückte, was schmerzhaft, aber richtig gewesen wäre: Selbsterforschung. Stattdessen schreibt er weiter: Am 4. Mai abends wurde ich in der Geschäftsstelle meines letzten Amtes in Neuhaus am Schliersee in Oberbayern von den Amerikanern verhaftet. Meine Familie befand sich in unserem Schoberhof, der in Fischhausen am Schliersee, kaum 2 km von der Dienststelle meiner Abführung entfernt, ist. Ich war, seit ich von Krakau am 17. Januar 1945 weggefahren war, meist bei meiner Familie gewesen, und noch am Nachmittag hatte ich etwas Brot auf dem Fahrrad zum Schoberhof gefahren.

Was für ein erstaunlicher Lügenbold offenbart sich da mal wieder. Mitnichten hatte er bei uns gewohnt! Für wen schreibt er denn seine Gedanken und Erlebnisse nieder? Vermutlich doch für ein geneigtes Publikum.

Nur manchmal tauchte er bei uns im Schoberhof auf. Sehnlichst erwartet von den vier Kindern. Ich, das fünfte und jüngste, kann mich aus dieser Zeit vor seiner Verhaftung nur daran erinnern, dass ich ohne Anlass in unserer Halle, früher war’s der Kuhstall des Schoberbauern, von einer Kommode seine Lesebrille genommen und beide Bügel nach außen gebrochen habe. Dabei lugte ich von unten zu ihm hoch. Noch heute sehe ich sein entsetztes Gesicht, denn selbst für ihn, den Nazi-Bonzen, war es in dieser Endzeit des Reichs schwer, eine Brille repariert zu bekommen. Er gab mir eine Ohrfeige. Die tat nicht weh. Er war eh sehr unsportlich. Von richtiger Hebelwirkung wusste er nichts.

In jener Zeit, als er starr auf seine Verhaftung wartet, hin und wieder seine Lilly in Bad Aibling besucht, telefonieren Brigitte und Hans allenfalls oder giften einander offen und versteckt per Brief an. So empfindet Brigitte sicher klammheimliche Freude, als sie ihm dies zur Übergabe unseres Hundes schreibt: Lieber Hans! Durch Peter schicke ich Dir Tommi mit. Dort gibt es sicher eher für ihn eine Fütterungsmöglichkeit. Außerdem ist gestern Götz wieder zu Norman gekommen, der rührend an ihm hängt. Beide Hunde vertragen sich nicht. Wir können sie wirklich nicht noch füttern.

Es war eben ohne den gewohnten köstlichen Nachschub aus dem Generalgouvernement schwierig geworden, die eigene Brut zu nähren – geschweige denn obendrein noch einen Hund!

Der Herr Generalgouverneur hatte plötzlich in seiner Dienststelle einen Köter!

Früher waren es der gepanzerte Mercedes, seine Adjutanten, Staatssekretäre, Geliebten, die polnische Gräfin, die nackt vor ihm tanzen durfte, und jetzt nur noch dieses Hundsviech!

Endlich bist du auf den Hund gekommen, wird sich Mutter bei ihrer fellsinnigen Übersendung gedacht haben.

Ich freue mich noch heute darüber.

Er schreibt weiter in seiner Zelle: In der allgemeinen Aufregung und Unruhe hatte ich mich noch allein in mein Arbeitszimmer in der Höhe des Schoberhofs begeben und in Vorahnung des Kommenden – denn der Einmarsch der Amerikaner in das Schlierseetal stand unmittelbar bevor – Abschied, ja Abschied fürs Leben von all’ dem dort Vorhandenen, für mich so werten und würdigen Gut genommen. Da saß ich oben in meinem Speicherstübchen gegenüber dem Harmonium, schaute über den Fauststuhl und den langen in Mitten des Raumes stehenden Schreibtisch auf das Fischhauser Kirchlein hinaus und ging dann feierlich meine Bücher ab. Meine Monacensia-Bavarica Sammlung vor allem. Welch ein Reich haben wir Deutschen nicht in über 1000 Jahren errichtet und immer wieder verloren. Was ist mit uns? Für die Politik nicht geschaffen, gewogen und zu leicht befunden. Und wieder einmal ein Reich dahin – für immer, wieder einmal alles an Einheit verloren, den Krieg verloren, die Ideenkraft verspielt, der Führer tot, das Heer dahin, die Städte zertrümmert, die Jugend dahingemordet. Grauenvoll zu denken und sich vorzustellen, was in der Seele wogt, nennt man vor sich nur Deutschland. So dachte ich und war des Lebens müde. Wozu weiterleben? Ich grüßte all’ die Erinnerungen meines Lebens in meinem Raum und ging dann noch zu Weib und den Kindern. Alles war sehr erregt, denn es schoss immer noch, und so begab ich mich ohne größeren Abschied gegen Abend zurück in das Diensthaus, um dort alles abzuschließen.

Seinem Weib steckte er damals – beobachtet von Norman – 5000 Reichsmark zu. »Wie einer Nutte!«, fügte Norman Jahrzehnte später bitter hinzu.

Warum hat er es nicht insgeheim ohne Zeugen übergeben? Kleine Rache für den übersandten Köter? Oder Rache für sein durch Brigitte verpfuschtes Liebesleben? Oder wollte er tatsächlich vor Norman den Eindruck erwecken, er bezahle eine Dirne? Denn Brigittes Affären waren auch ihm bekannt.

Norman hat unter dieser Geldübergabe sein Leben lang gelitten. Gegen 8 Uhr kamen noch Sigrid und Norman dorthin (in seine Dienststelle im Josefstal), blieben eine Weile und berichteten über den Einmarsch der Amerikaner. Die Kinder waren begeistert über Haltung und Verhalten, Auftreten und Ausrüstung der amerikanischen Soldaten. So plauderten wir, sie verabschiedeten sich und ich sagte noch, dass ich später nachkommen wollte.

Da geschah meine Verhaftung etwa eine Stunde später durch zwei Offiziere mit Auto, die offenbar überrascht waren mich überhaupt anzutreffen. Ich gab ihnen, was ich hatte an Waffen und derlei, machte sie auf die Kunstschätze und Akten aufmerksam. Da sagte der eine: ›Sie brauchen nicht viel mitnehmen an Kleidern, denn morgen kommen sie wieder hierher zurück. Sie brauchen auch heute nicht mehr zu Hause Abschied nehmen, denn das können Sie morgen tun!‹ Ich verließ mich darauf und fuhr mit.

BRIGITTES VERRAT

Es ist nicht so recht glaubhaft, dass die zwei Offiziere überrascht waren, als sie ihn in seiner »Außenstelle Generalgouvernement« antrafen, denn Jahrzehnte später meldete sich bei mir der Enkel von einem der beiden Offiziere und schilderte Wundersames: Sein Großvater und dessen Kollege hätten als Adresse des gesuchten »Schlächters von Polen« nur den Schoberhof gehabt. Also sind sie zunächst dort hingefahren und trafen eine »elegant angezogene Dame« an. Es war Brigitte Frank. Nach der höflichen Begrüßung fragten sie, ob denn ihr Gatte anwesend sei.

Mutter hatte eine Art – das lange Brotmesser sinnend und kalt lächelnd vor sich haltend –, an der Küchenanrichte zu lehnen, mich oder uns ermahnend oder scharf ausfragend, dass ich mir diese Pose auch bei ihrer Antwort wünsche. Sie hatte es in der Hand zu sagen: »Oh, das wüsste ich auch gerne! Ich weiß nur, dass er über Österreich nach Italien wollte. Das war schon im Februar. Bitte geben Sie mir Bescheid, wenn sie ihn finden!«

Sie hätte auch listig sagen können: »Folgen Sie der Spur des Hundes. Tommy heißt er.«

Nein, Brigitte muss diesen letzten Sieg über ihren Hans genossen haben und sagte: »Sie finden meinen Mann in seiner Dienststelle im Josefstal, im ›Café Bergfrieden.‹« Dann beschreibt sie noch genau den Weg dorthin.

Meine Mutter hat ihn tatsächlich verraten. So, wie mein Vater sie zuvor vielfach verraten hatte. Zum Beispiel, als er Hitler wissen ließ, er müsse sich von Brigitte scheiden lassen, weil sie überhaupt nicht nationalsozialistisch eingestellt sei und darum seiner nicht wert.

Die beiden Offiziere bedankten sich, bestiegen ihren Jeep, fuhren am »Café Bergfrieden« vor, stiegen aus, gingen in den großen Gastraum, wo sich die Runde der letzten Getreuen versammelt hatte, und einer der beiden fragte in die Runde: »Wer von Ihnen ist Frank?«

Das wiederum weiß ich von Helene Kraffczyk, seit 1939 treue Privatsekretärin meines Vaters und letzte Zwischendurch-mal-Geliebte. Sie wurde später als Zeugin für den Prozess verhaftet und hielt, im Gegensatz zu seiner großen Liebe Lilly, treu und liebestoll lügend zu ihm. Das beschreibt so auch Major Kelley, allerdings in schäbiger Macho-Manier: »Franks Sekretärin, ein ausgelaugtes, ältliches Frauenzimmer, das sich sehr bemühte, ihm bei seiner Verteidigung behilflich zu sein, behauptete mit großem Nachdruck, dass seine Ernennung in Polen keine Beförderung, sondern eher eine Degradierung bedeutete, die auf den Druck seiner Gegner in der Partei zurückzuführen war. Frank war zum Teil der gleichen Meinung. Um Hitlers Gunst in vollem Masse wiederzugewinnen, konzentrierte Frank in Polen seine ganze Energie auf die Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung.«

Sigrid und Brigitte Frank im Musikzimmer der Krakauer Burg.

Selbst nach der gemeinsamen Flucht aus Krakau, konnte Helene Kraffczyk nicht von Hans Frank lassen, schreibt ihm stattdessen am 2. Februar 1945 aus ihrem Heimatort Amberg den letzten Lobesbrief, den Hans Frank wohl erhalten hat:

Hochverehrter Herr Generalgouverneur!

Es ist mir heute noch nicht glaubhaft, dass das liebe Krakau, das Sie uns zur Heimat gemacht haben, nicht mehr unter Ihrer Führung ist. Aber das, was im Generalgouvernement durch Ihre Initiative aufgebaut, gearbeitet und geschaffen wurde, wird nicht nur in der Geschichte des deutschen, sondern auch des polnischen Volkes einen Höhepunkt bedeuten.

Die schönen Stunden, die ich bei Ihnen auf der Burg, oft in Ihrer unmittelbaren Umgebung, erleben durfte, werde ich bis ins Einzelne ewig im Gedächtnis behalten. Ich glaube, es gibt keinen Menschen mehr auf der Welt, der es so versteht, nicht nur alles Schöne so intensivst zu erleben, sondern auch allen Mitmenschen unvergessliche Feierstunden zu bereiten. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für alles das, was Sie im Laufe der Jahre in verschwenderischer Fülle in mich hineingelegt haben.

Der letzte Satz schweift schon stark ins Doppeldeutige ab, was mein Vater sicher voll Wollust als eindeutig auffasste: Prompt stellte er das erinnerungsselige Fräulein wieder ein, weil Helene in seinen Augen wohl als einzige sein segensreiches Wirken als Generalgouverneur erkannt hatte. Sie begab sich direkt ins Josefstal und dort in seine Arme.

Am 25. September 1946 wird er ihr in einem Brief für ihre Hingabe danken und noch einmal ein bisschen eitel darauf hinweisen, wie bedeutend seine innere Umwelt ist: Meine herbstlichen Gedanken sind klar wie goldener Wein und ich genieße die Abendstunden meines Lebens wie reife Früchte aus dem Wundergarten des Daseins. Und alle die guten großen Geister der herrlichen Jahrhunderte unseres Volkes sind um mich – oh, welch’ herrliche, unzerstörbaren Reichtümer haben wir gesammelt in Musik, Literatur und Weisheit: Bleiben Sie in diesem Reich, mein liebes Fräulein! Denn sehen Sie, dort werden Sie auch mich immer wieder treffen – wenn längst der Tag schwand.

Brigitte Frank mit ihren Kindern während des Prozesses, Frühjahr 1946.

Haarklein erzählte mir sein liebes Fräulein alles über Vaters Verhaftung, auch dass er trotz ihres Flehens freiwillig den Offizieren seine Diensttagebücher aus dem Generalgouvernement übergab. Dann erwähnte sie noch eine funktionierende vergoldete Pistole, die den beiden Offizieren als Andenken offenbar bestens gefiel: Im Gegensatz zu seinen geraubten Kunstschätzen und seinen Diensttagebüchern wird sie nirgends von den Amerikanern aufgezeichnet.

Als ich sie fragte: »Warum hat er sich denn mit dieser Pistole nicht erschossen?«, lächelte sie mich mit dieser nur Frauen eigenen Gabe eines trotz Liebe gnadenlosen Sezierens ihrer Partner an und antwortete: »Niklas, dazu war Ihr Vater zu feige.«

Eine Giftpille muss er als Top-Nazi auch gehabt haben – und er hatte einen Pass auf den Namen »Fischer«. Nichts hat er benutzt. Ja: Aus Feigheit.

Bepackt mit den rund 40 Bänden »Diensttagebuch«, fahren die beiden mit Hans Frank nach Tegernsee. Die dort stationierten Amisoldaten hatten kurz zuvor Dachau befreit und waren ob der deutschen Verbrechen geschockt. Als sie nun hören, der »Butcher of Poland« wird geliefert, bereiten sie ihm den traditionellen Spießrutenlauf, bei dem nur das Gesicht des zwischen zwei Reihen von Soldaten durch getriebenen Delinquenten nicht verletzt wird. Sie dreschen ihn dermaßen zusammen, dass er Stunden später seinen ersten Selbstmordversuch verübt.

Jetzt, in seiner Zelle, schreibt er nur: Was in Tegernsee geschah, verdecke ein gütiger Nebel.

Die Einzelheiten über den Spießrutenlauf erfuhr ich von seinem Anwalt Seidl.

Norman, der jahrzehntelang in Schliersee lebte, überhöhte unseres Vaters Fahrt nach Tegernsee zum Gang eines unschuldigen Jesus nach Golgatha. Mit der Zigarette in der Hand starrte er bis zu seinem Tod 2009 immer wieder auf die Straße hinunter, die unser Vater damals am 4. Mai im offenen Jeep entlanggefahren worden war.

Ach, meine guten, lieben Kinder! In was für ein Elend reißt Euch das Schicksal! Wenn ich so die frischen amerikanischen Soldaten sehe, denke ich an meine beiden Größten. Ach, möge doch endlich, endlich Friede auf der Welt werden und bleiben. Meine gute tapfere Frau hat nun alles zu tragen. Sie wird es.

Gott hülle Deinen Mantel um uns und gib uns die Fahrt ins Licht.

Amen!

Zum ersten Mal wieder Sehnsucht nach der Familie! Er bestätigt sie in seinem Brief vom 24. August 1945:

Meine herzliebste Brigitte!

Mir geht es gut. Aber die Sorge um Euch ist mein Kummer Tag und Nacht. Wie geht es Euch? Wo seid Ihr? Von was lebt Ihr? Ich sehne mich sehr nach Euch, und meine heißen Wünsche für Euch verlassen unausgesetzt meine Seele. Gewaltig ist das Schicksal, doch gewaltiger sind die Menschen, die es tragen. Es werden wir mit Gottes Hilfe alles schaffen. – Seid Ihr alle gesund?

Da ist es ja wieder, dieses Mal sogar gewaltig, das Schicksal!

Die heiß bewünschte Familie hatte inzwischen einiges erlebt. Erst wurde der Schoberhof von den endlich befreiten Zwangsarbeitern aus Polen und der Ukraine geplündert, amerikanische Soldaten machten fröhlich trunken mit. Noch heute sehe ich vor mir einen von ihnen, der, beladen mit einem Teil von Mutters Puppensammlung, den Gartenweg entlang zum Jeep schwankte. Dazwischen wurden Mutter und wir drei Jüngsten auf dem Hof unseres Hauses versammelt, weil uns ein gleichfalls vom guten Wein aus Vaters Keller beschwipster Soldat erschießen wollte. Er hatte aber nicht mit der Unerschrockenheit meiner Mutter gerechnet. Die kanzelte ihn eiskalt und laut, aber kein bisschen hysterisch, dermaßen ab, dass er erschrocken das Gewehr sinken ließ und von einem anderen, etwas nüchterneren Soldaten, weggeführt worden ist. Während Gitti und Michel neben der Mutter heulten, war ich seltsamerweise ruhig und dachte, dass der Ami mit dem Gewehr irgendwie Recht hatte, uns zu erschießen.

Natürlich klingt das unglaubhaft für einen damals 6-Jährigen. Ich hatte auch keine Ahnung, dass unser Vater ein Massenmörder war. Sicher auch noch keine rechte Vorstellung von Sterben und Tod. Vielleicht war es aber auch, dass ich den Grund erahnte: Wir sollten wegen Vati erschossen werden. Und dem hatte ich ja die Brille zerbrochen. Und er hatte mir eine Ohrfeige gegeben. Jetzt kann er dafür büßen, wenn er sieht, dass ich tot bin!

Wochen später verlangte ein Ami von meiner Mutter den Autoschlüssel, um uns den Maybach wegzunehmen. Mutter wehrte sich, wieder mit lauten Worten, wurde aber mit noch lauteren Worten im Befehlston ruhiggestellt. Ich ging mit dem Ami in unsere Garage und sah dann dieses wunderbare, verwunschene Dunkelgrün der Karosse dicht vor meinen Augen langsam an mir vorbeigleiten.

Geblieben war uns Mutters blaues Fahrrad. Das wollte ein polnischer Zwangsarbeiter vom Hof, wo es angelehnt stand, mitnehmen. Ich stand neben meiner Mutter in unserer Küche. Sie öffnete das Fenster, nahm wieder jenen Ton an, der zuvor den Ami am Schießen gehindert hatte, und erzielte den gleichen Erfolg. Als ob Mutter noch die volle Power einer mächtigen Frau Generalgouverneur hätte, lehnte der erschrockene Pole das Rad wieder brav an die Hauswand und ging.

Nachdem Mutter unsere Erschießung verhindert hatte und die Plünderung in vollem Gange war, eilte sie mit uns drei Kleinen ungefähr 300 Meter zu Frau von Langsdorf, direkt unten am Schliersee.

»Frau von Langsdorf, können wir über Nacht bei Ihnen bleiben? Der Schoberhof wird geplündert.«

»Ja, ich weiß. Meine ukrainische Magd plündert mit«, antwortete kühl die Ehefrau des ortsansässigen Arztes, der mir sechs Jahre später meinen Blinddarm entfernen und dabei eine 20 cm lange Narbe auf meinem Bauch hinterlassen wird, die Bruder Norman mir wenig hilfreich so erklärte: »Der Langsdorf braucht immer viel Platz, um einen winzigen Blinddarm zu finden.«

Jetzt allerdings überreichte Mutter dessen Gattin eine große, prall gefüllte Handtasche und bat sie, selbige für ein paar Wochen aufzubewahren. Frau von Langsdorf versprach es und sagte dann: »Frau Frank, Sie dürfen sich oben auf dem Speicher verstecken, müssen sich aber mit Ihren Kindern ganz ruhig verhalten, damit meine Ukrainerin nicht aufmerksam wird.«

Was für eine Umstülpung für die Herrenrasse! Eben noch oben auf, Vater stolz wie ein Goldfasan, dass er über eine Million Zwangsarbeiter ins Reich deportiert hatte, und jetzt diese Angst der Deutschen vor den eben noch als Untermenschen Behandelten!

Wir verbrachten die Nacht mucksmäuschenstill auf dem Dachboden, schlichen uns morgens leise aus dem Haus, offensichtlich schlief die vom Plündern des Schoberhofs ermattete Ex-Zwangsarbeiterin noch.

Wochen später erbat Mutter die Tasche zurück. Frau von Langsdorf gehorchte, war aber Gott sei Dank neugierig genug, einen kurzen Blick hineinzuwerfen: Sie war vollgepackt mit Schmuck!

Er wurde Mutters Rettung. Allerdings war sie raffiniert genug, diesen sicher von Polen und Juden geraubten Schatz erst einzusetzen, als ihr Mann schon hingerichtet und über zwei Jahre ins zerbombte Land gegangen waren. Dann erst wagte sie, auf ihrem blauen Fahrrad mit ein oder zwei Ringen oder Armbändern zu einem Heim für »Displaced Persons« zwischen Schliersee und Neuhaus zu fahren, um dort bei Juden den Schmuck gegen Lebensmittel einzutauschen. Zwei von ihnen erkannten sie wieder von ihren Raubzügen durchs Krakauer Ghetto und nannten sie weiterhin ironisch »Frau Minister«. Sie machten ein kleines Vermögen, und wir mussten nicht mehr hungern.

Von all dem wusste Vater nichts. Und wir nicht, wo er abgeblieben war. Mir ging »Vati« in der Erinnerung nicht ab. Den älteren Geschwistern sehr. Michel und ich lebten die neue Freiheit aus. Unsere ach so tapfere und saubere deutsche Armee war auf einen Haufen Herumtreiber zusammengeschmolzen, die sich in den letzten Apriltagen von 1945, als Vater noch starr im Josefstal saß, im Schoberhof einquartiert hatten. Sie versuchten, aus ihren Uniformen Zivilkleidung zu machen und ihre Waffen loszuwerden. So hatten Michel und ich neben Pistolen auch Handgranaten, Gewehre und jede Menge Munition. Geschossen haben wir allerdings nicht. Dafür schlug ich mit einer Zaunlatte meinem Vetter von hinten dermaßen ins Genick, dass der heulend zu seiner Mutter lief. Noch heute sehe ich das runde Loch an seinem Hals, denn am Ende der Zaunlatte lugte ein verrosteter Nagel hervor. War das doch eine Reaktion von mir auf den äußeren Abstieg, das Verschwinden des Vaters, des Maybach, unserer ausländischen Bediensteten?

»HEIL HITLER« ZUM ÄRGERN

War das auch der Grund, warum Michel und ich unsere Cousine, die uns nichts getan hatte, auf ein von der Wehrmacht zurückgelassenes Pferd setzten, selbigem auf die Flanken hieben, sodass es wie wild losgaloppierte und die Cousine in den Straßengraben direkt vor dem Schoberhof warf? Ohnmächtig blieb sie liegen. Ihre Mutter kam schreiend herbeigelaufen.

Michel und ich verzogen uns umgehend, analysierten aber mitnichten, warum wir plötzlich diese nachgerade mörderisch aggressive Art entwickelt hatten, sondern grinsten nur erleichtert, weil wir nicht in Mutters Besenkammer gesperrt wurden. Auch diese Begebenheit erfuhr Vater nicht, ebenso wenig, dass Michel und ich die Volksschulleiterin, Frau Hosp durch das Gartentor mit laut geplärrten »Heil Hitler« Grüßen und mit hoch gerissenem rechten Arm erschreckten. Denn das hatten wir mitbekommen: Seit die Amis einmarschiert waren, sagte kein Mensch mehr die zwei Worte oder riss den Arm hoch. Frau Hosp ließ sich unsere Verhohnepiepelung nicht gefallen, öffnete das Gartentor, wir stoben davon, sie beschwerte sich bei Mutter, und jetzt landeten wir wirklich in der dunklen, stickigen Besenkammer. Mutters Pädagogik war schlicht, aber wirksam.

Auch sonst veränderte sich das Verhalten der Neuhauser nach Kriegsende erheblich. Ehrerbietung vor der Top-Nazi-Familie war plötzlich nicht mehr in Mode. Die Nachbarbäuerin unterhalb des Schoberhofs ließ einmal ihre neue demokratische Wut an mir aus, putzte mich als verlogenen winzigen Großkopferten, der jetzt gar nichts mehr sei, runter. Das tat weh. Als Tage später ein Jeep hielt und mich der Fahrer fragte, wo’s hier Eier gibt, führte ich ihn zum Eierversteck der Bäuerin unterm Heu, sodass er sich mit Dotter ohne Bezahlung eindecken konnte. Er schenkte mir für meinen Verrat eine der von uns heiß begehrten Ami-Schokoladen. Ich fühlte mich im Recht, weil gerächt.

In der Schule schrie mir ein Klassenkamerad mal hinterher: »Minister, Minister, Benzinkanister!«

Der Satz brannte sich mir ein, weil er Verachtung pur war.

Bruder Norman wurde von einem Bauernburschen, mit dem er noch Monate zuvor fröhlich auf einer selbst gebauten Schanze hinter unserem Haus Skispringen geübt hatte, angeschrien: »Was bist’n Du? Nix bist! Nur a depperter Ministerbankert!« Bankert ist das bayerische Wort für uneheliches Kind. Was nun Norman ganz bestimmt nicht war. Das galt eher für mich.

Gitti hatte eine gleichfalls zehn Jahre alte beste Freundin namens Inge, zu der sie öfters zum Spielen ging. Ein Nachbar aus der Dürnbachstraße kam hinzu und sagte zum Vater ihrer Freundin: »Das ist aber kein rechter Umgang für deine Tochter!«

Der Vater antwortete großartig: »Kinder sind immer unschuldig!«

Offenbar der erste Demokrat mit Empathie im Schlierseer Tal.

Inges Bruder Wolfgang Hahn, von dem ich diese Erinnerung habe, setzte hinzu: »Über diese kurze Antwort war der Herr Lössel doch a bisserl verschnupft.«

Das war ich auch, zumindest als es darum ging, wer auf die riesige grüne Schultafel ein ebenso riesiges Hakenkreuz mit Kreide hingequietscht hatte. Der Deckert Schorsch, Hausmeister, nahm mich auf Anordnung der Lehrerin, die in mir den Schmierer entdeckt haben wollte, an der Hand, um mich bis runter zum See zur Schulleiterin, eben jener Frau Hosp, zu bringen. Ich heulte, während wir über die Straße gingen. Zu meinem Glück und zum baldigen Erschrecken vom Deckert Schorsch kam genau in diesem Augenblick meine leicht o-beinige Mutter vom Einkaufen hochgehaatscht. Sie sah ihren Jüngsten heulend im Schraubgriff des Hausmeisters, nahm sofort ihre Nicht-Erschießen- und Nicht-Fahrrad-Klauen-Stimme an und putzte den Deckert Schorsch so zusammen, dass der mich erschrocken zurück in die Klasse brachte. Ich hatte tatsächlich nichts mit diesem Hakenkreuz zu tun.

In der Hohen Zeit: Hans und Brigitte Frank bei einem offiziellen Empfang.

Michel hingegen schon, denn der malte mit Tinte unten beim Schnapperwirt, wo seine Klasse unterrichtet wurde, auf das Hemd des Knaben in der Bank vor ihm ein solches, nunmehr als verbrecherisch eingestuftes Hoheitszeichen. Mutter musste ein neues Hemd bezahlen, Michel bekam als Ausgleich eine Tracht Prügel. Die vollzog unsere Mutter immer mit dem hinteren Ende eines Teppichklopfers, dort, wo ein runder Blechpfropfen die einzelnen Baststränge zusammenhielt.

Einige Wochen nach Hans Franks Verhaftung wurde auch Norman verhaftet. Mutters Lieblingskind und unser bester Freund, der mit uns im Winter immer »Stalingrad« gespielt hatte. Michel und ich bauten Schneeburgen und verschanzten uns darin. Norman machte aus Schnee riesige Minen und zerbröselte damit unseren Unterstand. Obwohl Jahre älter als wir, entwickelte Norman die Tendenz, nicht älter werden zu wollen. Und war es dann doch plötzlich in bewundernswerter Manier. Er wurde in ein Gefangenenlager hinter Rottach am Tegernsee gebracht. Die Amis standen als Wache davor. Das Lager war nicht mal eingezäunt. Die Sieger kannten den kriecherischen Charakter deutscher Soldaten, denn die gehorchten der deutschen Lagerleitung aufs Wort. Norman ging wie befohlen zum Lagerleiter, einem deutschen Offizier, der ihn im Schnauzton mit den Lagergesetzen vertraut machte. Mein Bruder war genervt: Geht man so mit dem Sohn eines Mannes um, der gerade noch mächtig war und jetzt immerhin von den Amis persönlich im Jeep abgeholt worden war? Er sah sich um, entdeckte, dass das Lager nach hinten ohne Stacheldraht in eine Wiese überging, überredete einen anderen, ebenso jungen Gefangenen, und beide stolzierten in aller Ruhe hinten wieder aus dem Lager raus und wanderten über die Bodenschneid zurück zum Schoberhof.

Ich spielte gerade im Garten, als ich ihn kommen sah, lief ins Haus und schrie: »Mutti, Mutti, der Norman ist da!«

Nie habe ich meine Mutter glücklicher gesehen. Sie lief ihm entgegen, umarmte ihn. Das erstaunte mich sehr, denn Umarmen waren wir von ihr nicht gewohnt. Er war wirklich ihr Lieblingssohn, wogegen wir nichts hatten, weil auch wir ihn liebten. Obwohl er ein so hundsgemeiner Kerl sein konnte. So hatte ich von irgendeinem Fest noch eine Tafel Schokolade übrig, saß in unserer Bauernstube und machte mich egoistisch daran, sie zu vertilgen. Da kam Norman, legte sich eine Decke um die Schultern, kniete sich vor mich hin und jammerte: »Ich bin so ein armer Bettler, und ich habe solchen Hunger. Seit Tagen habe ich nichts mehr gegessen.« Dann streckte er eine zittrige Hand vor, und ich Depp heulte los und gab ihm meine Schokolade. Obwohl ich wusste, dass es der Norman war!

Was sich so alles einbrennt in einem Kinderhirn. Michel wird in späteren Jahren nie mit mir über seine Brandmale aus jener Zeit reden, als die Franks plötzlich nichts mehr waren. Sigrid, die Älteste von uns Fünfen, lässt sich auf den Seitz Hansi ein. Das ist der jüngere Sohn von Franz Seitz, einem bayerischen Filmregisseur, der einen so widerlich anschleimenden Nazifilm gedreht hatte, dass ihn hinfort sogar die NSDAP selbst schnitt: »SA Mann Brandt« heißt der Streifen. Unsäglich! Hansi ist schon in der Hohen Zeit der Franks in Sigrid verliebt, überredet sie, weil der Generalgouverneur gegen diese Verbindung ist, sogar zum gemeinsamen Selbstmord – und schneidet ihr die Pulsadern auf. Bei sich selbst war dann wohl das Messer zu stumpf. Sigrid wird nahezu blutleer gerettet. Als sie, zumindest körperlich gesund, wieder nach Hause kommt, ist sie von sich begeistert: »Mutti, findest du nicht, dass ich jetzt wieder so bin, wie ich es früher – vor Hansi – immer war? Es war mir so, als wenn einer einen Strick um einen immer fester und enger schnürt, und plötzlich fühlt man, man bekommt keine Luft mehr, und es bleibt einem keine Möglichkeit mehr, weiterzuleben.«

Jetzt allerdings, wo ihre Familie einen ganz niedrigen Status verpasst bekommen hat, erkennt sie, dass ein Strick vom Hansi doch nicht das Schlechteste ist. Da muss sie nicht um ihr täglich Brot fürchten. Also lässt sie Hansi gewähren. Obwohl der ihre und unsere Mutter schriftlich erpresst hatte: Wenn sie ihm nicht 50 000 Reichsmark gäbe, würde er den Amis das Versteck ihres Schmucks verraten. Mutter bleibt hart, Sigrid lässt sich schwängern, entflieht der runtergekommenen Familie und setzt ihr stinkfaules Leben fort. Das wird in Südafrika enden, wohin sie mit ihrem zweiten Ehemann auswandert, weil sie die Apartheid sehr schätzt. Wenigstens dort kann sie wieder auf Untermenschen herabsehen.

Am 25. August 1946 schreibt Brigitte ihrem Hans über uns Kluges: Auch Sigrid ist ja letzten Endes ein Opfer der Verhältnisse, der unglückseligen, geworden. Alle haben wir einen Schock erlitten durch die Plötzlichkeit, mit der das Unheil kam. Aber man muss doch wieder einen Weg zu den Wirklichkeiten des Lebens, zu sich selber und den wahren Werten des Lebens finden. Norman, der ja jünger ist, hat ihn gefunden, und er war wirklich welt- und lebensfremd. Vielleicht hat ihn die Erkenntnis der Erbärmlichkeit des äußeren Scheins noch tiefer getroffen. Und Norman hat auch die Führung des Vaters entbehren müssen zu einer Zeit, wo er Dich am dringlichsten gebraucht hätte resp. braucht.

Auch ich hatte einen Schock. Den wollte ich nie wahrhaben – dank meiner immer größer werdenden Wut auf unseren Vater, je erwachsener ich wurde. Doch dann entdeckte ich über 60 Jahre nach meiner Kindheit jene Bilder wieder, die im Umschlag farbig zu sehen sind. Da hatte ich als 16- bis 18-Jähriger meine Seele geöffnet. Zuvor, als Kind, habe ich wie Michel den Schock weiter in Aggression umgesetzt. So erschoss ich mit meinem Luftgewehr den zahmen Igel eines Nachbarjungen durch die Hecke hindurch. Irgendwie hatten mich der Typ oder der Igel geärgert. Vielleicht war auch das Rache am Vater, weil ich vielleicht damals schon wusste, dass er als 14-Jähriger selbst einen Igel besessen hatte. Schreibt er doch in seinen privaten Erinnerungen am Tag, als er von der Ermordung des österreichischen Kronprinzenpaars in Serbien erfahren hatte: Mir war einfach unvorstellbar, dass es solche Mordtat auf Gottes schöner Welt geben sollte. Ich hatte an diesem Tage einen Igel gefangen, den ich dann auch glücklich nach Hause brachte, dort aber wenig Freude damit verursachte.

Oder ich schlug einem Schulkameraden auf der Wiese hinter der Leonhardi-Kirche einen Milchzahn aus. Der heulte los und wollte es seinem Papa sagen. Auch das hat sich mir eingebrannt.