Zum Ausrotten wieder bereit? - Niklas Frank - E-Book

Zum Ausrotten wieder bereit? E-Book

Niklas Frank

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ob Terrorismus wie in Halle und Hagen, ob Angriffe auf Synagogen, Gewalt gegen jüdische Menschen: Wir müssen endlich anerkennen, was da in uns existiert. Der Antisemitismus kriecht derzeit wieder aus allen Löchern der deutschen Gesellschaft, weil wir nichtjüdischen Deutschen ihn nie als Teil von uns gesehen und bekämpft haben. Allein 2022 gab es über 1.500 Straftaten gegen Juden und jüdische Einrichtungen – mehr als 5 pro Tag! Niklas Frank sammelt Belege, interviewt Menschen und macht seiner Fassungslosigkeit Luft: Wir Deutschen sind immer noch wackere Antisemiten, und Deutschland ist wieder ein Land, wo Juden um Leib und Leben fürchten müssen. Geben wir dies endlich zu! Denn sonst schaffen wir es nie, diese furchtbare Seite in uns wirklich zu ändern. Es darf nicht sein, dass 90 Jahre nach der „Machtergreifung“ Juden und Jüdinnen immer noch die Sündenböcke unserer Krisen, Ängste und Aggressionen sind. Es kommen zu Wort: Jaron Engelmayer, Felix Klein, Jörg Lauster, Meron Mendel, Robert Schindel, Volker Schlöndorff, Eva Umlauf und Michael Wolfssohn.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 284

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gewidmet der einen Million

deutscher DemokratInnen,

um ihre Wut anzustacheln,

und dem Rest als letzte Mahnung

zur Umkehr vom Wunsch

nach Ausrottung

NIKLAS FRANK

ZUM AUSROTTEN WIEDER BEREIT?

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-0661-1 [Printausgabe]

ISBN 978-3-8012-7053-7 [E-Book]

Copyright © 2023 by

Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Lektorat: Gabriela Ratajszczak

Umschlag: Hermann Brandner, Köln

Satz: Rohtext, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2023

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

DIETZ & DAS

Der Podcast zu Politik, Gesellschaft und Geschichte

Auf allen Podcast-Plattformen abrufbar.

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Zum Untergang eine Oper

Vom fröhlichen Entsorgen

Die tektonische Plattenverschiebung

Unfähige Politikerinnen

Knabbern an der Demokratie

Melancholisch abstürzen

Warte, warte nur ein Weilchen

Scheinheiliges Österreich

Die plietsche deutsche Jugend

Wetzt die langen Messer

Die AfD und ihre (Un)Kultur

Um sich greifendes Zuschlagen

Die Wonnen des Kahlschlags

Die armen Kinder der Partei

Tino braucht Handwérker!

Ab in die Schandgalerie!

Dank

VOM FRÖHLICHEN ENTSORGEN

Wie weit ist der ungeistige Weg dieser Partei vom »Entsorgen« zum Ausrotten, wenn Petr Bystron, Nummer 2 auf der EU-Wahl-Liste der AfD, seinem »Vogelschiss«-AfD-Ehrenvorsitzenden Gauland im Hinblick auf MigrantInnen beipflichtet: »Solche Menschen müssen wir selbstverständlich entsorgen.«

Sie alle haben offenbar Vaters Reden und Schriften auswendig gelernt, wandeln sie nur ins Moderne ab: »Wir sind uns klar«, sagte Hans Frank und ahmte dabei liebedienerisch Hitlers Knödelton nach, »dass dieser Mischmasch asiatischer Abkömmlinge am besten wieder nach Asien zurücklatschen soll, wo er hergekommen ist.«

Das Protokoll verzeichnete bei den deutschen Zuhörern Große Heiterkeit. Die erleben die AfDler auch miteinander, wenn sie gegen diesen Mischmasch loslegen. Hat sich denn gar nichts geändert in meinem Heimatland?

Eine alte deutsche Masche ist es, Menschen zu vertieren, um sie gewissenloser vernichten zu können. AfD-Humanist Thomas Göbel drückt das zielgerecht so aus: »Unser Deutschland leidet unter einem Befall von Schmarotzern und Parasiten, welche dem deutschen Volk das Fleisch von den Knochen fressen.«

Sich den werten Herrn Göbel voller Parasiten und vor allem rings um seinen bösen Mund angefressen vorzustellen, machen mir Parasiten und Schmarotzer sehr sympathisch. Ich würde ihm auf der Isolierstation Michel Friedmans Buch Fremd zum Zwangslesen überreichen lassen. Dort bekommt er vielleicht mit, wie es Menschen geht, die er sicher für Parasiten hält. So bezeichneten ja schon die Deutschen im Dritten Reich ihre jüdischen Nachbarn.

Hätte die AfD so glänzende Redner, wie es in Österreichs FPÖ Jörg Haider war oder jetzt Herbert Kickl ist, es hätten hierzulande schon bei den letzten Wahlen 40 bis 50 Prozent diese unselige Partei gewählt.

Zwei Mal begleitete ich für den Stern im österreichischen Wahlkampf den Charme-Champagner Jörg Heider. Beim dritten Mal streckte er auf Grund meiner Reportagen drohend seinen rechten Zeigefinger gegen mich aus und rief: »Mit Ihnen rede ich nicht mehr!« Was für eine Ehrung!

Schon regiert die FPÖ in drei österreichischen Bundesländern mit, die Proteste dagegen sind dünn, doch ahnt die AfD hierzulande, dass sie mit ihrem eigenen versteckten, aber für jeden durchschaubaren antisemitischen Kurs alsbald auch hier in eine erste Landesregierung eintreten wird – trotz des eher an Sauerbier gemahnenden Volksrednertalents. Was allerdings zündet, ist der Hass, den sie ausspeit. Der zeigt, was, einmal die Bundesregierung bildend, von ihr zu erwarten ist. Nach außen wird ihr Regierungsprogramm demokratisch daherkommen, doch wird Schrittchen für Schrittchen, Migrantchen für Migrantchen, Jüdchen für Jüdchen, für jeden Misserfolg verantwortlich gemacht werden. Dr. Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, sagt es genauso in der Welt am Sonntag für eine AfD-Bundesregierung voraus: »Sie will jüdisches Leben mit Anträgen erschweren, koscheres Schlachten zu verbieten.«

Sie folgt mal wieder meinem Vater auf dem Fuß. Der hat als frisch ernannter Generalgouverneur im von uns überfallenen Polen am 26. Oktober 1939 gleich diese Verordnung erlassen: »Ich verbiete daher mit sofortiger Wirkung das Schächten, d. h. die qualvolle, durch allmähliche Entziehung des Blutes herbeigeführte Tötung von Tieren zum Zwecke sogenannten koscheren Fleischgenusses.« Tja, Väterchen mein, die deutsche Seele ruht auch heute noch im Antisemitismus und nicht, wie es so viele Dichter beschworen hatten, im Rauschen unserer Wälder.

Die deutsche Seele wird im dann autoritär und antisemitisch regierten AfD-Deutschland sogar glücklich aufblühen, obwohl Dürre, Inflation, Arbeitslosigkeit, vertragliche Knebelung an Russland ausufern. Um das zu verheimlichen, wird eine AfD-Regierung – wie üblich bei jeder Diktatur – unsere freie Presse und unsere unabhängige Justiz abschaffen. Der verzweifelte Stoßseufzer »Wir konnten das nicht wissen« wird nicht gelten können: Wir können lesen und sehen, wie uns die noch freien und unabhängigen Medien den Untergang Deutschlands per Nachrichten, Artikel, Dokus, Features, Interviews mitteilen. Es gibt keinen Tag, an dem nicht neue antidemokratische Schmankerln der AfD abgedruckt werden, oder ganze Leserbriefseiten dazu veröffentlicht werden, wie zum Beispiel am 31. Juli 2023 der Miesbacher Merkur unter dem Titel Gründe für den Aufstieg der AfD. Da sitzen also die SchreiberInnen vor ihren Computern, hacken in die Tasten und sind eitel zufrieden, wenn ihre Meinung veröffentlicht wird. Damit hat es sich. Freuen sie sich, dass die bayerische Exekutive die Aktivisten der letzten Generation als »kriminelle Vereinigung« bespitzelt und als Verbrecher verfolgt? Sind sie nicht bald selbst dran, wenn die AfD die Regierung übernimmt? Denn die wird Bayerns Vorpreschen glücklich übernehmen und auf viele, unangenehme Berufsgruppen ausweiten. Das wird alles von der dann regierenden AfD-Regierung übernommen und dergestalt erweitert, dass die Klebe-AktivistInnen in Schutzhaft genommen werden. Die Leserbriefseiten des Miesbacher Merkur werden dann auch gleichgeschaltet sein und solche Aktionen der neuen Regierung mit dickem Lob mitten aus dem Volk versehen. In der gleichen Ausgabe werden dann auch Äußerungen vom neuen Spitzenkandidaten der AfD für die Europawahl abgedruckt.

Unsere noch freie und unabhängige Presse berichtet täglich über all die, die an der Demokratie knabbern oder sie schon einreißen. Selbst echte Demokraten und Demokratinnen knabbern schon mit, wenn sie sich zum Beispiel aufregen, weil Regierungskoalitionen öffentlich streiten. Streit gehört zur Demokratie, selbst in einer Koalition. Oder lugt bei meiner einer Million echter DemokratInnen auch schon die Sehnsucht nach der einzigen, alles bestimmenden Führungsfigur hervor? Ich fürchte ja.

Dann werden auch sie erleben, wie es in der kommenden AfD-Diktatur weitergehen wird. Für den immanenten wirtschaftlichen Niedergang braucht sie einen Sündenbock: Ein Jud muss her! Der ist es doch, der unser reines Wasser wegsäuft, mit unserem Geld spekuliert, unsere Industrie ausplündert und über geheime Wege jede Menge Flüchtlinge ins dadurch immer unreiner werdende Deutschland schaffen will! Es folgen unter neuem Namen (vielleicht »Geistiges Erholungscamp«?), was unter dem Begriff »Schutzhaftlager« den historisch Interessierten noch bekannt ist. Zunächst für Flüchtlinge und Migranten, dann aber auch für Jüdinnen und Juden und kurz darauf für alle deutschen Gojim, die noch trotzig für Demokratie kämpfen oder sich öffentlich kritisch äußern.

Die Mehrheit des deutschen Volkes wird diese Maßnahmen unterstützen, gibt dem Dämonischen in sich die Sporen und galoppiert wieder in Richtung Unmenschlichkeit: Das Volk fühlt sich endlich wieder frei!

An diese Freiheit tastet es sich derzeit heran. »Juden tratzen« nenne ich das. Zur Beruhigung: Juden tratzen liegt noch drei Stufen unterhalb unserer alsbald aufbrechenden dämonischen Lust am Morden. So verteidigen wir in dieser Vorstufe des Juden Tratzens keinen jüdischen Menschen, wenn er als solcher in Bahn, Bus, am Arbeitsplatz oder auf der Straße erkannt und attackiert wird. Zufrieden bleiben wir untätig. Warum auch nicht? Ist es doch feuchte Krume aus dem »Vogelschiss«, wie Alexander Gauland die Zeit der zwölf Jahre Nazi-Diktatur lauthals vor seinen AfD-Anhängern zusammenfasste.

Passendes Zitat dazu aus einer anderen Umfrage aus den letzten Jahren: Nachdem er*sie antisemitische Schmierereien auf Veranstaltungsplakaten rund ums eigene Büro den unmittelbar Vorgesetzten mitgeteilt hatte, wurde auf meine Meldung ans Dekanat weder von Seiten der Fachbereichsverwaltung noch von den Dekan*innen reagiert.

Warum denn auch? Dieser jüdische Unmensch klaut uns doch eh nur unsere genialen wissenschaftlichen Erkenntnisse!

In Berlin musste sich vor ein paar Jahren ein Jude im Kreis von Hochgebildeten diesen Satz anhören: »1942 war das beste Jahr der deutschen Geschichte.«

Was für eine Äußerung! Natürlich wurde, der das sagte, nicht von den ach so demokratisch Aufgeklärten aus dem Raum geworfen. Sie haben sich vielleicht gerade noch ein zustimmendes Kopfnicken verkniffen, das Lächeln oder Lachen sicher nicht. Ist ja nur fröhliches Juden tratzen, wenn man auf das Jahr hinweist, in dem unser Massenmord an jüdischen Kindern, Frauen und Männern so richtig Fahrt aufnahm.

Bald werden sicher auch bewundernd Sätze meines Vaters gegen die Juden – allein schon wegen ihres Sprachreichtums – zitiert, allerdings erst in Judentratz Stufe 2: »Diese krummnasigen Raubtierratten, diese Elendswichte und Nachtgaukler, das hat doch der Führer hinausgefegt aus Deutschland.«

So ein Führer wächst sicher in den Reihen der AfD heran.

In all den Umfragen zum Antisemitismus, die ich gelesen habe, kommt eines nicht zur Sprache, was mich mein Leben lang wütend macht: Die deutsche Mitleidslosigkeit!

Entstanden ist sie aus dem oben genannten Schweigen, Verschweigen nach Kriegsende. Dadurch entstand Gift. Nietzsche ließ das schon seinen Zarathustra treffend äußern: »Alle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig.« Dieses Gift der verschwiegenen Wahrheit über den Holocaust verdichtete sich von Generation zu Generation, bis die AfD entstehen konnte.

Im Netz lässt sie dann laut einer Zusammenfassung von faz.net zum Beispiel so die antisemitische Sau raus: Die Einträge sind eindeutig. »Schluss mit dem Gejammer«, »Es reicht«, »Wir haben mit dem Scheiß nix zu tun«, »Ich kann es nicht mehr hören«, »Müll«. Manche Kommentatoren werden noch deutlicher: »Immer diese Gelaber über die Juden, ich kann diesen Rotz nicht mehr hören.« Oder: »Das ist von den Juden so gewollt, sie sind die Staatsmacht.« Oder: »Sollte mal verboten werden, immer von Neuem zu erinnern.« Oder: »Den Holocaust gab’s doch gar nicht.« Solche Sätze lassen sich auf der Facebook-Seite der AfD hundertfach finden.«

Eine um die 70 Jahre alte Psychiaterin aus Düsseldorf sagte mir vor Jahren nach einer meiner Lesungen: »Seit vierzig Jahren betreibe ich meine Praxis. Wenn ich so alles zusammenrechne, würde ich sagen: 80 Prozent der Deutschen haben durch den Holocaust einen Hau weg.«

Dieser Hau wird wieder zum Hauen führen, zum Zuhauen, zum nächsten Morden. An wem? An den Juden, die für unser Scheiß Trauma verantwortlich sind! Wir müssen unbedingt wieder Fußballweltmeister werden!

Der Umgang mit unserer Vergangenheit macht meine Gegenwart hilflos. Ich sehe Deutschland durch die gehenkten Augen meines Vaters. Sie leuchten wieder hell auf, angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung.

Wir alle leben in unserer jeweiligen Blase: Die Wissenschaftler, die Bauern, die Künstler, die Arbeiter, die Angestellten – keiner von ihnen bemerkt diese tektonische Verschiebung, die unter ihren Füßen schon längst begonnen hat. Unsere Demokratie wird erst zur Autokratie, dann zur Diktatur verkommen, an deren Ende wieder ein Massenmord am Horizont aufsteigt wie eine blutige Sonne. Die beste Demokratie, die Deutschland je hatte, wurde auch von Nazis mit aufgebaut. Sie gehorchten genauso unterwürfig diesem neuen System, wie sie Hitlers Diktatur gehorcht haben. Doch sie brachten etwas mit hinein in die Bundesrepublik, was sie nicht ablegen konnten oder wollten: Den Antisemitismus. Der wucherte wie ein unterirdischer Pilz auf sehr fruchtbarem Boden weiter, bevor ihn die ersterbende Lust an der Demokratie aus dem Boden schießen ließ. Der Giftpilz nennt sich AfD. Arno Schmidt, der großartig dahindichtende Prosameister, sagte einmal: »Antisemitismus ist ein Unwort. Sie waren alles Verbrecher, mit denen man sich gut unterhalten kann.« Da hat er Recht. Die unsere Bundesrepublik mit Antisemitismus infiltrierenden Nazis waren alle gebildet, umgänglich und, was man nicht merkte, verlogen und weiterhin Verbrecher. Auch die Mitglieder der Ausrotterpartei AfD geben sich charmant, kommod, volksnah und sind doch giftig wie Kobras, deren Gift das demokratische Gewebe zersetzt.

Kleiner Einschub: Nd Journalismus von links berichtet, dass Sozialwissenschaftler Lars Rensmann StudentInnen Zitate vorlegt, und sie müssen raten, welche von Höcke, welche von Hitler stammen. Obwohl alle nur von Höcke stammen, ordnen die ProbandInnen einige Zitate auch Hitler zu.

Remko Lemhuis, Direktor des American Jewish Committee warnt: »Dem Antisemitismus der AfD wurde aus unserer Sicht bisher noch nicht ausreichend die gebotene Aufmerksamkeit zuteil.«

Die »gebotene Aufmerksamkeit« wird unter dem AfD-Knüppel umgehend zur »verbotenen Aufmerksamkeit« werden.

Nicht der Wald ist Brennpunkt der deutschen Seele, es ist der Antisemitismus

Überall in Deutschland finden sich Zeichen der Verrohung: Frau Seemann-Katz, Jüdin von Geburt, wird als Sprecherin des Flüchtlingsrats in Parchim auf der Straße gerne drohend »Wir wissen, wo Du wohnst!« nachgerufen. Ihr Großvater stellte während des Kriegs als Zwangsarbeiter in Osnabrück Waffen her.

Kein Mitleid. Wie üblich. Da war mein Internatsleiter Hans Lohmann, ein evangelischer Pastor, im Carl-Hunnius-Internat auf Föhr in den 1950er-Jahren doch viel freier. Er pflegte im spöttisch lustigen Ton zu rufen, wenn er stümperhaft Gespieltes von Internatlern oder aus dem Radio hörte: »Welcher Judenlümmel fiedelt denn da schon wieder?« Auch im Zuhause der Internatler ging es antisemitisch weiter. So erzählte mir ein früherer Schulkamerad, dass seine Oma regelrecht glühte, wenn sie von der ach so schlimmen Zeit mit den Juden erzählte, bevor wir sie ermordeten: »Wenn du damals in Berlin über die Friedrichstraße gegangen bist, zogen einen die Juden mit ihren Augen nackt aus.«

DIE TEKTONISCHE PLATTENVERSCHIEBUNG

Wer in unsere Gesellschaft hineinschnuppert, riecht diese tektonische Verschiebung.

Ohne sein Schnupperorgan zu benutzen ist es auch Robert Habeck: Der in seiner grünen Blase von Selbstüberheblichkeit tropfende Wirtschaftsminister peitscht sein Heizungsgesetz am Volk vorbei und hilft mit, dass die Deutschen keine Diskussionen mehr wollen. Sie wollen Diktatur pur. Natürlich, ohne sie so zu nennen.

Wie bei den Kontinentalplatten schiebt sich auch die antisemitische Platte über unsere demokratische. Die dadurch entstehenden Erdbeben nutzen die Rechten, um ihre Ideologie des Hassens in einer neuen Diktatur umzusetzen. Ihr folgen brav oder gezwungen Wirtschaft, Justiz, Medien und untertänig bettelnd die Kulturschaffenden, die ja so agieren, wie es schon Gotthold Ephraim Lessing wusste: »Die Kunst geht nach Brot.«

Wenn ich mir anschaue, wer an berühmten deutschen KünstlerInnen sich nicht zu schade war, meinen Vater, bei den Alliierten unter dem Spitznamen »Schlächter von Polen« berüchtigt, mit Konzerten in Krakau und Warschau anzuschleimen, weiß ich, dass von Kulturschaffenden kein Widerstand zu erwarten ist. Eine Sopranistin, eine Altistin und eine Pianistin schlüpften gar zu sogenanntem »einvernehmlichem Sex« mit Hansimuckerl, wie er von seiner Mutter genannt wurde, auf der Krakauer Burg oder in Schloss Kressendorf unter die damastene Bettdecke.

Was die Kulturschaffenden in einem AfD-Land erwartet, sagt sicher dieser für deutsche Kultur glühende AfDler namens Marc Jongen, der selbstverständlich einen Doktortitel trägt: »Es wird mir eine Freude sein, die Entsiffung des Kulturbetriebs in Angriff zu nehmen.«

Warum erinnert mich diese Aussage so sehr an das Telegramm meines Vaters, nachdem sein NSDAP-Genosse Wilhelm Frick 1930 zum Innenminister von Thüringen ernannt worden war: Namens aller nationalsozialistischer deutscher Juristen entbiete ich Ihnen herzlichste Heilsgrüße und innigste Glückwünsche. Ich persönlich freue mich ganz besonders über diese Ihre Berufung. Es wird sich nunmehr empfehlen, das Republikschutzgesetz vielleicht doch besonders für Thüringen in schärfster Weise zur Anwendung zu bringen, und ich schwelge indem Gedanken, einige jüdische Redakteure wegen Beleidigung des nationalsozialistischen Innenministers hinter Schloss und Riegel gebracht zu sehen.

Auf Marc Jongen umgemünzt wird der Text an entscheidender Stelle wohl so lauten: Ich schwelge in dem Gedanken, einige Journalisten und versiffte Kulturtreibende wegen Beleidigung der AfD hinter Schloss und Riegel gebracht zu sehen.

AfD-Parteifreund Heiko Heßenkemper ist schon auf dem Weg, allerdings nicht hinter Schloss und Riegel, sondern zu den freien Rundfunkanstalten: »Hier wird es ein wesentliches strategisches Ziel sein, mit dem ersten Ministerpräsidenten in einem Bundesland – und ich habe da Sachsen im Auge – den Rundfunkstaatsvertrag zu kündigen.«

Die Vorstufe des 4. Reichs mit den neuen Schutzhaftlagern haben wir mit dem Gendern erreicht. Gendern ist richtig und war längst überfällig. Doch gleichzeitig breitet sich hierzulande eine Überwachungsunkultur aus, die nicht nur Kinderbücher reinigt, den WDR bei Wiederholungen von Schmidteinander und Otto im TV vorwarnen lässt, weil da heute eventuell Anstößiges vorkomme und vor allem Angst gebiert, das Falsche zu sagen: Die Ursuppe jeder Diktatur! Warnen ARD und ZDF etwa vor Auftritten der AfD? Sind die nicht mehr anstößig? Warnen sie etwa vor ihren Berichten von den Parteitagen dieser Antisemitenpartei? Nein! Das sollen sie auch nicht. Aber da, wo es auf den Stolz von DemokratInnen ankäme, auf das Vertrauen in die Zuschauer, auf den Glauben an ihr Urteilsvermögen, da sind sie schon ganz im Unterwerfungsrhythmus einer autoritär regierten Medienlandschaft angekommen. Wieder mal dieser vorauseilende deutsche Gehorsam.

Das Ganze ist überpudert mit einer schon längst überwunden geglaubten neuen Prüderie. Die wiederum wird den Antisemitismus noch flammender werden lassen, denn hinter Prüderie lauert stets die Ideologie der Reinheit – der Reinheit der Rasse.

Übrigens wird in ihrer Diktatur die AfD den WDR gleich zum Vorbild nehmen und sämtliche Dokus über die Zeit des Nationalsozialismus wegen eventueller Anstößigkeit verbieten: So wird erfolgreich verhindert, dass den ZuschauerInnen Ähnlichkeiten auffallen.

Nicht nur der WDR, überhaupt unsere Politikerinnen und Politiker werden von der AfD nach rechts gejagt. Sie sagen es nie, sie handeln im Verborgenen. Noch hält der Schwur in unseren Landesparlamenten und im Bundestag, nie mit der AfD ein Regierungsbündnis einzugehen. Doch siehe Österreich, das von der Vogelschiss-Partei sehnsuchtsvoll beobachtet wird. So wie die FPÖ pflegt auch die AfD ihre Beziehungen zu Russland. Mitleidslos lässt sie nichts auf Putin kommen. Durch ihre Verteidigung dieses Verbrechers zeigt sie zugleich, wie sehr auch sie nach unfreier Presse, abhängiger Justiz und entmachteten Parlamenten lechzt. Jeder AfD-Wähler kennt diese Ziele, wünscht sich also die Diktatur als neue Regierungsform.

Haben sich diese WählerInnen schon mal darüber Gedanken gemacht, was so eine Diktatur in Deutschland bewirkt? Dass eine unserer unwertesten Charakterzüge, nämlich die Denunziation, wieder täglich Angst und Schrecken im Land verbreiten. Dass auch die glühendsten Anhänger der AfD nicht davor geschützt sind, denunziert zu werden?

Als ich meinen ausufernden Schinken über die Entnazifizierung in Deutschland nach 1945 schrieb und mir dafür in den Landesarchiven wahllos Akten von A bis Z geben gelassen hatte, entdeckte ich, dass Denunziation in Hitlers Reich das einzige Vergnügen für die Deutschen gewesen sein muss. Nicht mal Familienmitglieder waren voreinander sicher. Ich brauch schon nicht mehr schnuppern, so stark ist inzwischen wieder dieser Geruch allgemeiner gegenseitiger Bespitzelung.

Es gibt einen einzigen Vorteil, wenn die AfD ebenso gnadenlos herrscht wie die NSDAP: Es wird wieder wie damals quer durch die deutschen Lande gebumst! Verzweiflung stärkt die Lenden. Es wird der einzige Lustgewinn sein, den all die erst jetzt in einer gepeitschten Unterwerfungsgesellschaft wieder aufgewachten AfD-WählerInnen gewinnen können – trotz des sicher von der AfD-Regierung verhängten Verbots von Orgasmen außerhalb der Ehe.

Sehe ich das alles zu pessimistisch? Bau ich mir nur aus Greisenlangeweile ein Teufelsdeutschland auf, das zum Ausrotten wieder bereit ist?

Wer hilft mir, der ich in lebenslanger Schockstarre verharre?

Auf wen hoffe ich, mich da rauszuholen? Auf Jüdinnen und Juden! Früher, wenn ich auf sie traf, war ich gehemmt. Das hatte ich überwunden. Also stehe ich jetzt völlig losgelöst von Verklemmung vor der Münchener Haustür von Professor Dr. Michael Wolffsohn, weitum bekannter Publizist und Fernsehgast, dessen manchmal zu konservativen Ansichten mir hie und da gegen den Strich gehen. Meine linksliberalen ihm offensichtlich auch, doch schrieb er mir schon in seiner Zustimmung zum Interview: »Hauptsache, das Humanum stimmt.« Er hatte mich auch gebeten, bei der Anrede auf seine Titel zu verzichten. Also frage ich ihn noch vor dem offiziellen Interview ganz privat: »Herr Wolffsohn, als ich zum ersten Mal Fotos von Ihnen sah, war ich neidisch, denn mit Ihrem spitzen, schlanken Kopf müssen Sie doch unheimlich gut tauchen können?«

Verdutzt schaut er mich an, verneint dann: »Ich fahre gern Rad. Mit dem Schwimmen hatte ich es nicht so.«

»Radeln Sie als Jude in München unter Polizeibewachung?«

»Das nicht. Aber sagen wir es mal so: Ich stehe mit der Polizei in Verbindung.«

Gleich ergreift mich wieder die Wut: Wir haben wirklich nichts aus unseren Massenverbrechen gelernt!

Wir essen Blaubeerkuchen. Er lässt meine Wut dahinschmelzen.

Ich mache mein Handy aufnahmebereit. Professor Wolffsohns Ehefrau steigt im architektonisch äußerst geglückten Wohnraum die Treppe hoch, während ich beginne: »Jetzt geht es aber an die Fragen, Herr Wolffsohn! Meine erste: Was halten Sie von Ihrer Frau?«

Auf der Treppenmitte stoppt seine Frau überrascht. Auch des Gatten Augen schauen irritiert. Dann antwortet er: »Sehr viel, obwohl sie nicht jüdisch ist.«

Nach dieser ironisch-humorvoller Bemerkung über seine Frau löse ich lachend das Ganze als Gaudi auf: Ein hilfreicher Trick, um meine Beklemmung zu lösen, einem Juden gegenüber zu sitzen. Also zurück zum ernsthaften Grund meines Interviewwunsches:

»Herr Wolffsohn, wenn Sie in die deutsche Gesellschaft hineinschnuppern, merken Sie den immer stärker werdenden Antisemitismus?«

»Sie fragen mich persönlich, dann sage ich ja und nein, weil ich natürlich mit vielen Menschen zusammenkomme, aktiv in der Präsenz oder empfangend Post, E-Mails, Anrufe usw. Es ist ganz klar, dass ich dem Antisemitismus begegne. Jeder, egal ob Jude, Christ, Moslem oder was auch immer, der öffentlich sichtbar ist, bekommt Hasspost. Das ist das traurige Gesetz.«

»Sie verallgemeinern. Ich hatte gefragt: Wenn Sie in die Gesellschaft schnuppern?«

»Es kommt auf die Gesellschaft an.«

»Aber das ist wieder das Allgemeine.«

»Es gibt kein Allgemeines. Es gibt nur eine Addition von Gesellschaften, von Subkulturen. Es hängt auch, wenn ich Vorträge halte und Diskussionen mit den Anwesenden führe, von dem jeweiligen Publikum ab. Da gibt es zwar keinen für mich erkennbaren militanten Antisemitismus, aber eine deutlich erkennbare Distanz, manchmal auch Gegnerschaft, Feindschaft, den Juden als Kollektiv und dem Juden als Teil des Kollektivs gegenüber. Wir wissen, dass es seit Jahrzehnten ungefähr 20 bis 30 Prozent klar erkennbare Antisemiten gibt, aber 70 Prozent nicht. Die nächste Frage in dem Zusammenhang ist natürlich das heiße Thema Israel: Ist die in allen Kreisen, allen ideologischen Schichten erkennbare Israelfeindschaft zugleich auch Antisemitismus? Bei vielen ja, bei anderen nein. Also da muss man, um eine solche Frage zu beantworten, sehr genau differenzieren. Nicht als akademischer Selbstzweck, sondern als Analyseinstrument. Aber unterm Strich: Ja, es gibt diesen Antisemitismus. Ja, er ist sichtbarer, erkennbarer und demonstrativer geworden, und zwar in allen Schattierungen, die offene Judenfeindschaft ebenso wie die Distanz, und da ist das Spektrum breiter und erkennbarer und auch – ich würde mal sagen – offensiver.«

»Sind wir zum Ausrotten wieder bereit?« »Nein, ausrotten nicht, aber es gibt eine Distanz mit der Tendenz, die aber mit der Tatsache zusammenhängt, dass der Staat sagt, er sei wehrhaft, aber faktisch ist er es nicht. Er kann uns Juden schützen, nein, Entschuldigung, er will uns Juden schützen, aber er kann es nicht und deswegen – das ist meine Prognose für kommende Dinge – wird es in Deutschland, aber nicht nur hier, sondern in ganz Westeuropa, übrigens auch in den USA für Juden immer ungemütlicher. Meine Prognose: Es werden mehr Diaspora-Juden nach Israel gehen. Wenngleich umgekehrt aus Israel ein Exodus von der Bildungs- und Wirtschaftselite zu befürchten ist. Sie wird in die Diaspora gehen, aber dort einen wachsenden, auch militanten Antijudaismus feststellen, sodass auch diese Auslandsisraelis nach Israel zurückkehren werden. Allerdings in ein anderes, nämlich mehr religiös extremistisches, nationalistisches Israel.«

»Wollen Sie aus Ihrer deutschen Diaspora nach Israel?«