Meine Frau hat Demenz... Na und? - Frank Aicher - E-Book

Meine Frau hat Demenz... Na und? E-Book

Frank Aicher

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Beschreibung

14/24 Dieses Buch beschreibt 14 Tagelang den 24 Stunden Tag im Leben von Frank und dessen Frau Yasemin, die im Alter von 44 Jahren die Diagnose Demenz erhielt; inklusive aller Höhen, Tiefen und den Auswirkungen der Demenz von seiner Frau Yasemin auf ihrer beider Leben.

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Seitenzahl: 300

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich über das Leben mit einem Menschen mit Demenz schreiben soll. Sehr schnell kam ich zunächst zu dem Entschluss, daß ich an meiner Frau eine Art Verrat begehen würde, wenn ich darüber schreibe, wie das Leben mit einer Demenz so verläuft und was sie mit dem Betroffenen und dessen Partner so macht. Ich dachte, ich würde ihr damit weh tun, wenn ich über etwaige Probleme, die eine Pflege nun mal mit sich bringen, berichte. Daher beschloss ich, es zunächst zu lassen.

Fast ein ganzes Jahr später kam der Gedanke aber wieder in mir hoch. Das hat wohl damit zu tun, daß ich allzuoft über Probleme von Angehörigen im Umgang mit einem Menschen mit Demenz lese oder höre. Und obwohl sich seit der Diagnose-Stellung bei meiner Frau vor ziemlich genau 14 Jahren mittlerweile einiges in der Aufklärung getan hat, fühlt es sich noch immer an, als leben wir im Mittelalter. Mein Entschluss stand fest; ich wollte, nein ich musste etwas dagegen oder dafür tun. Aber nicht ohne das Einverständnis meiner Frau. Ich sprach mit ihr darüber, und sie war sofort begeistert und gab mir quasi ihren Segen dafür. Eine Bedingung knüpfte ich aber an mein Vorhaben; während ich meine Eindrücke aufschreibe, darf sie es nicht lesen. Erst wenn ich die 14 Tage niedergeschrieben habe, darf sie es lesen.

So soll es dann also sein. Ich schreibe nun 24 Stunden und 14 Tage ungeschminkt über das Leben mit einem Menschen mit Demenz. Ihr werdet also Zeuge sein, wie es ist, mit einem Menschen mit Demenz, der mittlerweile die Pflegestufe 4 hat, zu leben. Ihr werdet Zeuge aller Höhen und Tiefen. Erfahrt im Idealfall vielleicht, wie man mit gewissen Situationen umgehen soll oder vielleicht auch nicht. Vielleicht bekomme ich auch Rückmeldungen, daß ich das eine oder Andere vielleicht hätte besser machen können, oder das ihr es toll findet, daß jemand ungeschminkt über einen solchen Alltag berichtet. Ich selbst bin gespannt, was es mit mir in dieser Zeit der Niederschrift macht. Vielleicht lerne ich auch etwas Neues über mich oder meine Frau, wenn ich die nächsten Tage so noch einmal reflektiere und niederschreibe.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Tag 1

Tag 2

Tag 3

Tag 4

Tag 5

Tag 6

Tag 7

Tag 8

Tag 9

Tag 10

Tag 11

Tag 12

Tag 13

Tag 14

Schlusswort

Wissenswertes und Informatives

Überblick Demenz

Anlaufstelle Betreuungsservice

Widmung

Buddha

01.01.2022, Tag 1

Der Übergang vom alten Jahr 2021 ins neue Jahr 2022 verläuft zunächst wie all die Jahreswechsel in den letzten 6 Jahren. Wir sind alleine und lassen das alte Jahr gemütlich ausklingen. Ich habe, wie in den letzten Jahren auch, auf Wunsch meiner Frau am Vortag eine Früchte-Bowle angesetzt, die wir am Silvesterabend, während wir das Fernsehprogramm schauen, genüßlich trinken. Gegen 0 Uhr kommen dann bei meiner Frau die ersten Tränen. Tränen unter anderem darüber, das wieder ein Jahr ohne Kontakt zu ihrer Tochter vergangen ist. Ihre Tochter hatte vor ca. 3 Jahren den Kontakt zu uns komplett abgebrochen. Warum sie das tat, ist ihr Geheimnis. Aber zurück zu unserem Jahreswechsel. Wir stehen beide auf, umarmen uns und wünschen uns ein frohes neues Jahr. Beide bedanken wir uns für unser Miteinander und das wir froh sind, das wir uns haben. Meine Frau schaut dann vom Fenster im Schlafzimmer aus, ob sie vielleicht nicht doch etwas vom Feuerwerk erspähen kann. Sie liebt jegliche Art von Feuerwerk und ist dann immer ganz im Bann dieser bunten explodierenden Lichter am Himmel. Kurze Zeit später kommt sie zurück ins Wohnzimmer und wir schauen noch etwas Fernsehen. Es läuft Musik aus den Neunzigern. Gegen 2 Uhr beschließen wir dann, ins Bett zu gehen. Meiner Frau fällt es, wie schon seit einigen Monaten, schwer in den Schlaf zu kommen. Ich dagegen schlafe direkt ein, nachdem ich ihr eine Gute Nacht gewünscht habe. Ich schaffe es gerade noch, ihr zu sagen, wie sehr ich sie liebe. Sie erwidert dies. Ein Ritual, was wir seit einigen Monaten machen. Wann meine Frau letztendlich ihr Handy auf die Seite gelegt hat und eingeschlafen ist, bekomme ich nicht mit. Als ich die Aktivität neben mir bemerke, ist es auf meiner Uhr 4:32. Yasemin macht Anstalten, das Bett zu verlassen. Ich frage sie, wohin sie möchte. Sie antwortet nicht, weswegen ich meine Frage wiederhole. Sie antwortet mir nun, daß sie sich für die Arbeit fertig machen muss. Ich stehe auf, gehe um das Bett auf ihre Seite und spreche ruhig auf sie ein, indem ich ihr sage, das wir Wochenende haben und sie nicht zur Arbeit muss. Immer noch auf der Bettkante sitzend schaut sie mich irgendwie ungläubig an. So, als wenn sie mir nicht glauben würde. Ich setze mich neben sie auf die Bettkante, lege meine rechte Hand auf ihre linke und sage ihr erneut, daß sie heute nicht arbeiten muss, da wir Wochenende haben. Sie sagt ok, möchte dann aber jetzt Einkaufen gehen. Sie steht auf und ich tue es ihr gleich. Ich sage ihr, das die Geschäfte noch geschlossen sind und diese erst um 8 Uhr öffnen. Sie entgegnet mir, daß es doch aber schon hell draußen ist und die Geschäfte daher doch schon auf sein müssen. Ich gehe vor zur Tür und drücke den Schalter für die automatische Rollladenöffnung. Der Rollladen fährt augenblicklich nach oben. Ich gehe zu meiner Frau, die immer noch vor dem Bett steht und bitte sie, mir zum Fenster zu folgen. Geführt von meiner Hand folgt sie mir ans Fenster. Gerade ist der Rollladen in seine Endposition gefahren. Wir stehen am Fenster und schauen nach draußen. Es ist noch immer dunkel. Nur der Schein der gegenüberstehenden Laterne macht etwas Licht. Ich sage zu ihr:

„Siehst du, es ist immer noch dunkel draußen. Alle Menschen schlafen noch, weswegen auch die Geschäfte noch geschlossen sind.“

Sie schaut mich an und sagt:

„Tamam“, was im Türkischen soviel bedeutet wie ok.

„Lass uns wieder schlafen gehen Schatz. Und wenn es dann draußen hell ist, stehen wir auf, Frühstücken etwas und gehen danach gemeinsam Einkaufen.“

Wieder höre ich von ihr ein kurzes „Tamam“. Ich nehme sie wieder bei der Hand und führe sie zu ihrer Bettseite. Etwas schwerfällig legt sie sich schließlich wieder hin. Ich decke sie zu, küsse sie auf die Stirn und wünsche ihr noch eine gute Nacht.

„Wo gehst du hin?“

„Ich lege mich jetzt auch wieder Schlafen mein Schatz.“

Ich fahre noch kurz den Rollladen wieder nach unten und gehe zu meiner Bettseite, als mich meine Frau fragt:

„Du lässt mich aber nicht allein, oder?“

Während ich mich wieder ins Bett lege, sage ich ihr, daß ich sie niemals alleine lassen werde. Und wieder höre ich ein kurzes „Tamam.“ Ich drehe mich zu ihr und lege meine linke Hand auf ihre linke Hand. Mir ist schon länger aufgefallen, dass sie das beruhigt, wenn ich das tue. Es ist jetzt Uhr 5:21, als ich die Augen schließe. Von meiner Frau höre ich außer dem etwas schwerfälligen Atmen nichts mehr. Sie ist wieder eingeschlafen. Bei mir dauert es noch eine ganze Weile, bis ich wieder in den Schlaf finde. Beim letzten Blick auf die Uhr ist es mittlerweile Uhr 6:12. Als ich das nächste mal die Augen öffne, ist es Uhr 10:56. Ich muss zur Toilette, was bedeutet, daß ich danach keinen Schlaf mehr finde. Knapp 6 Stunden habe ich jetzt geschlafen. Es kommt mir aber vor, als wäre ich gerade erst zu Bett gegangen. Ich stehe also leise auf, während meine Frau noch selig vor sich hin schnarcht. Höchstwahrscheinlich werde ich jetzt die nächsten 3-4 Stunden noch für mich haben, um meine Morgentoilette zu erledigen und die anfallende Hausarbeit zu machen. So kommt es dann auch. Gegen Uhr 14:38 höre ich ein leises „Hallo“ aus dem Schlafzimmer. Ich rufe ein „Ja“ zurück, gehe ins Schlafzimmer, drücke den Schalter, um den Rollladen nach oben zu fahren und sage „Günaydın” (Guten Morgen) zu ihr. Sie schenkt mir ebenfalls ein „Günaydın”, und fragt mich, ob ich schon lange auf bin und ob ich gut geschlafen habe. Ich sage ihr, daß ich seit 11 Uhr wach bin und ich durchwachsen geschlafen habe. Ich frage sie, wie sie geschlafen hat. Sie sagt gut, aber das sie sich irgendwie kaputt fühlt. So, als wäre sie die vergangene Nacht aktiv gewesen. Ich sage nur zu ihr, daß das wohl so ist. Damit belassen wir es dann dabei. Ich werde nichts davon erzählen, was die vergangene Nacht war. Manchmal möchte sie es aber partout wissen, und dann erzähle ich es ihr auch. Heute fragt sie aber nicht nach. Sie bittet mich, noch fünf Minuten liegen bleiben zu dürfen, um richtig wach zu werden. Ich habe nichts dagegen und gehe wieder ins Wohnzimmer, setzte mich in meinen Sessel und schaue mir die neuesten Nachrichten an. 15 Minuten später macht meine Frau noch immer keine Anstalten, das Bett zu verlassen, weswegen ich mich auf den Weg ins Schlafzimmer mache, um nachzuschauen. Sie ist wohl wieder eingeschlafen. Ich gehe zu ihrer Bettseite, streiche ihr sanft über das Gesicht und rufe „aşkım” (auf Deutsch Schatz). Sie öffnet ihre verschlafenen Augen, schaut mich an und sagt, daß sie jetzt gleich aufsteht. Ich gehe zu meiner Bettseite und mache derweilen mein Bett. Als ich damit fertig bin, schlägt sie ihre Decke zur Seite und richtet sich etwas ungelenk auf, bis sie auf der Bettkante sitzt. Ich gehe zu ihr rüber, ziehe ihr ihre Socken an und stelle ihr die Pantoffeln vor ihre Füße. Sie schlüpft langsam hinein und ich helfe ihr, vom Bett aufzustehen. Noch etwas wacklig auf den Beinen schaut sie mich irgendwie fragend an. Eine Frage stellt sie aber nicht. Langsam setzt sie sich in Bewegung in Richtung Badezimmer. Ich laufe mit etwas Abstand hinter ihr her, um sicher zu stellen, das sie sicher im Badezimmer ankommt. Morgens, kurz nach dem Aufstehen, gleicht ihr Gang immer öfter dem eines Betrunkenen. Während sie auf der Toilette sitzt, gehe ich zurück ins Schlafzimmer, um ihr Bett zu machen. Danach öffne ich das Fenster, um frische Luft herein zu lassen. Ich verlasse das Schlafzimmer und frage meine Frau, was sie zum Frühstück möchte. Heute soll es ein Tee sein und ein Weißbrot mit Käse und Marmelade. Die Sorte der Marmelade ist ihr egal. Ich gehe in die Küche, um das Frühstück für uns zuzubereiten. Meine Frau nimmt während dieser Zeit einen ersten Teil ihrer morgendlichen Tabletten, die ich ihr Abends zusammen mit einem Glas Wasser auf das Schränkchen neben der Toilette stelle. Diese muss sie vor dem Frühstück nehmen.

Danach putzt sie ihre Zähne, wäscht ihr Gesicht und cremt dieses danach ein. Wenn sie fertig ist, ist in der Regel auch das Frühstück fertig. So auch heute. Sie setzt sich auf ihr Sofa und ich bringe ihr das Frühstück. „Danke mein aşkım” höre ich von ihr, worauf ich ihr ein „afiyet olsun” (Guten Appetit) entgegne. Ich hole mein Frühstück aus der Küche und setze mich ebenfalls ins Wohnzimmer. Aus dem Fernseher hören wir die aktuellen Nachrichten aus der Türkei. Das machen wir öfters, um auf dem Laufenden zu bleiben. Außerdem liebe ich in die türkische Werbung, die gefühlt alle 15 Minuten während einer Sendung gezeigt wird. Als wir mit dem Frühstücken fertig sind, ist es mittlerweile Uhr 16 Uhr. Yasemin bekommt noch ihre Schmerztropfen. Danach macht sie es sich gemütlich auf ihrer Couch und wünscht Freunden, Bekannten und der Familie ein frohes neues Jahr via ihrem Handy. Mit manchen telefoniert sie auch via FaceTime oder WhatsApp. Auch ich widme mich einigen Mitteilungen in den sozialen Medien. Nebenbei laufen weiterhin türkische Nachrichten im Fernsehen. Yasemin ist während ihrer Tätigkeit am Handy nicht sehr gesprächig. Da ich das aber von ihr bereits kenne, lasse ich sie auch in Ruhe. Sie hat diese Phasen immer wieder. Es sorgt mich nicht, da es auch Phasen intensiver Unterhaltung gibt. Gegen Uhr 19 stelle ich die Frage in den Raum, was sie zu Abend essen möchte. Keine Antwort. Das bedeutet, daß sie mal wieder keinen Appetit hat. Auch etwas, was immer mal wieder vorkommt. Sie lässt sich schließlich nach einer längeren Zeit des gut Zuredens darauf ein, daß ich ihr ein Brot mit Knoblauchfleischwurst mache. Ich mache mir ebenfalls zwei belegte Brote. Pünktlich zu einer neuen Folge des Traumschiffs essen wir zu Abend. Etwas später als sonst, was aber dem Umstand geschuldet ist, daß wir auch erst sehr spät gefrühstückt haben. Nach dem Traumschiff folgt noch eine neue Folge von der Hochzeitsreise, welche ebenfalls auf dem Traumschiff spielt. Die Handlungen beider Serien sind zwar mittlerweile mehr als dünn, was uns aber immer wieder begeistert, sind die Landschaften in den verschiedensten Ländern, die man auf den Reisen zu Sehen bekommt. Es ist Uhr 23:45, als Yasemin sich langsam Richtung Bett aufmacht. Die beiden Folgen des Traumschiffs sind zu Ende. Jetzt, im Schlafzimmer, ist es Zeit für ihre türkischen Serien. Nach Toilettengang und Zähneputzen begibt sie sich ins Bett. Ich decke sie zu und wünsche ihr viel Spaß bei ihrer Serie. Ich bekomme im Gegenzug einen Kuss zugeworfen. Nachdem ich ihr die Schmerztropfen für die Nacht gegeben habe, mache ich es mir auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich und schaue noch eine Folge meiner Serie. So ist der erste Tag im neuen Jahr fast um. Dem Jahreswechsel geschuldet, war an diesem ersten Tag eher wenig an Aktivität. Mal sehen, wie die zweite Nacht wird und was uns der nächste Tag bringt. Gegen Uhr 0:56 gehe ich ebenfalls zu Bett. Yasemin macht ebenfalls den Fernseher aus. Wir wünschen uns eine gute Nacht mit Küsschen und sagen uns noch, wie sehr wir uns lieben. Während ich mich zum Schlafen auf die Seite lege, spielt Yasemin noch eines ihrer Spiele im Handy, damit sie langsam müde wird. Diese Nacht dauert es nicht allzu lange, bis sie das Handy auf die Seite legt. Es ist Uhr 1:36, als ich auf die Uhr blicke. Kurze Zeit später vernehme ich bereits ihr monotones Atmen. Ein Zeichen, daß sie bereits schläft. Auch ich schlafe kurze Zeit später ein.

02.01.2022, Tag 2

Den richtig tiefen und festen Schlaf, wo neben mir eine Bombe explodieren könnte, und sie ich es nicht mitbekommen würde, habe ich schon eine sehr lange Zeit nicht mehr. Das ist nur noch ein Relikt aus jungen Jahren. Heute ist mein Schlaf nur noch oberflächlich, was mir einerseits zugute kommt, da ich sofort mitbekomme, wenn Yasemin in der Nacht aktiv wird. Andererseits fühle ich mich dann morgens noch müder als am Abend, als ich ins Bett gegangen bin. Der Schlafrhythmus ist bei Yasemin seit ungefähr 2 Jahren ein komplett anderer als früher. Wo sie früher spätestens zwischen 10 und 11 Uhr zu Bett ging und direkt einschlief, schläft sie mittlerweile vor 3 Uhr in der Nacht nicht mehr ein. Und damit sie genügend Schlaf bekommt, lasse ich sie dann auch meist bis 12 Uhr oder auch länger schlafen. Bedingt durch den Lärm, der morgens recht früh schon gegen 7 Uhr mit dem Fahren der Kehrmaschinen, rumpelnden Bodendeckeln wegen dem Herausholen der Mülltonnen und hupenden zugeparkten Autos ist, stehe ich meist gegen 8 Uhr bereits auf. Wer eins und eins zusammenzählen kann, bemerkt, daß das eigentlich zu wenig Schlaf ist. Ich versuche dann, entweder nach dem Aufstehen und dem Erledigen der wichtigsten Dinge am Morgen, noch einmal auf der Couch im Wohnzimmer etwas die Augen zu schließen. Manchmal funktioniert es. Aber eben nicht immer und nicht lange genug.

Rückblickend betrachtet, hat sich unser Lebensrhythmus seit der Diagnose „Demenz“ komplett verändert. Spontanität aber auch längeres Planen sind mittlerweile so gut wie nicht mehr möglich. Alles hängt mittlerweile von der Tagesform und dem gesundheitlichen Befinden von Yasemin ab. Und wo ich in den Anfängen der Demenz mehr oder weniger versucht habe, nicht daran zu denken, wie lange die Lebenserwartung bei einem Menschen mit Demenz ist, denke ich heute immer öfter daran. Das liegt wohl auch daran, daß Yasemin nun schon seit mehr als 13 Jahren mit der Diagnose lebt. Laut Statistik liegt die Lebenserwartung bei einer Frontotemporalen Demenz je nach Verlauf zwischen 8 und 10 Jahren. Bei einem günstigen Verlauf kann sie auch schon mal zwischen 10 und 13 Jahren liegen, was aber eigentlich die Ausnahme ist. Yasemin ist jetzt mittlerweile im 14. Jahr und die Symptome der Demenz verstärken sich mehr und mehr. Aber darauf komme ich später zurück. Dadurch denkt man aber unweigerlich immer öfter daran, wie es wohl weitergeht. Natürlich habe ich über den Verlauf einer Demenz gelesen und bin auch im Bilde darüber, wie das Endstadium aussieht.

Man könnte also meinen, daß ich darauf vorbereitet bin. Aber kann man auf so etwas überhaupt vorbereitet sein? Ich versuche, diese Gedanken immer wieder beiseite zu schieben, da sie mir große Angst machen. Nicht davor, daß Yasemin dann noch umfänglichere Pflege benötigt. Nein, die Angst bezieht sich mehr darauf, daß sie mich vielleicht irgendwann, und das vielleicht in absehbarer Zeit, nicht mehr kennen wird. Der Gedanke daran raubt mir fast den Verstand. Einzig der Gedanke daran, daß ich aber weiß, wer sie ist, tröstet mich dann ein wenig. Ich werde nie vergessen, wer sie ist und wer sie war. Sie ist meine große Liebe und ich werde sie nie alleine lassen. Und ich hoffe, daß ich trotz meiner eigenen gesundheitlichen Probleme es in die Tat umsetzen, und bis zu ihrem Ende an ihrer Seite sein kann. Das habe ich ihr auch versprochen. Und wenn es nach mir geht, werde ich sie auch nach ihrem Tod begleiten, da es dann hier auf Erden für mich ohne sie nichts mehr gibt, was für mich einen Sinn ergibt. Bis dahin haben wir aber hoffentlich noch etwas Zeit Füreinander und Miteinander.

Aber nun zurück zu Tag 2

„Papa will, das ich ihm die Garage aufmache“, höre ich mit leiser Stimme seitlich von mir. Ich bin schlagartig wach und schaue nach Yasemin. Sie liegt zu mir gewandt auf der Seite. Ihre Augen sind geöffnet und sie wiederholt den Satz: „Papa will, das ich ihm die Garage aufmache.“ Danach setzt sie sich auf, und macht Anstalten, das Bett zu verlassen. Mit gewohnt ruhiger Stimme bitte ich sie, sich wieder hinzulegen, da es noch zu früh ist und ihr Papa erst am Mittag zu uns kommt. Zum kurzen Verständnis: der Vater von Yasemin hat vor ca. 10 Jahren den Kontakt zu ihr abgebrochen. Er hat es auf unser Nachfragen nie begründet. Auch die Familie von Yasemin konnte ihm die Gründe für diese für Yasemin schmerzhafte Entscheidung nicht entlocken.

„Aber Papa hat mich doch gerade angerufen und mir gesagt, daß er gleich kommt.“

„Schatz, dein Papa kommt erst heute Mittag. Wir haben jetzt gerade erst 5 Uhr morgens, und wir können noch etwas schlafen. Dein Papa hat dich sicherlich angerufen und dir gesagt, wann er losfährt und ungefähr bei uns ist, damit wir dann frühzeitig die Tiefgarage öffnen können, wo er dann sein Auto parken kann. Wenn es soweit ist, machen wir das auch. Jetzt ist es aber noch zu früh. Auch dein Papa schläft noch, und wir sollten das auch noch ein wenig tun.“

„Hm, tamam. Dann gehe ich aber schon mal den Kuchen backen, damit er fertig ist, wenn er kommt.“

„Schatz, der Kuchen ist doch schon fertig und steht im Kühlschrank. Alles ist ok, wir müssen nachher nur noch den Tisch decken und Kaffee kochen.“

„Warum sagst du eigentlich die ganze Zeit Schatz zu mir? Wer bist du eigentlich, und was machst du hier in meinem Bett? Wo sind wir überhaupt?“

„Ich bin dein Ehemann Frank und du bist hier in unserem Zuhause.“

Sie schaut erst mich ungläubig an und blickt sich dann im Schlafzimmer um.

„Du bist nicht mein Mann. Du siehst ganz anders aus. Und das ist nicht mein Zuhause. Wo bin ich hier, wer bist du und was willst du von mir? Ich will nach Hause zu Mama und Papa.“

„Deine Mama und dein Papa sind zu Hause und du bist in deinem Zuhause. Das hier ist jetzt dein Zuhause. Und ich bin dein Mann Frank.“

„Du bist nicht mein Mann. Ich gehe doch noch zur Schule. Ich bin nicht verheiratet. Bist du ein Freund? Komisch, Papa hat noch nie erlaubt, daß ein Freund bei mir schlafen darf.“

„Wir haben doch zusammen geübt für die nächste Mathearbeit. Deine Eltern haben gefragt, ob ich zum Essen bleiben möchte. Während und nach dem Abendessen haben wir uns nett unterhalten und dabei die Zeit vergessen, bis ich bemerkt habe, daß es schon nach 22 Uhr ist. Dein Papa hat dann gemeint, daß ich doch bei dir schlafen kann und wir morgen früh dann gemeinsam zur Schule gehen.“

„Hmm, Papa hat das noch nie erlaubt. Hmm, du bleibst aber auf deiner Seite liegen, sonst schreie ich ganz laut nach Hilfe.“

„Versprochen, ich bleibe auf meiner Bettseite und bin ganz artig.“

„Schläft Müge auch schon?“

Zur kurzen Erklärung: Müge ist ihre 30jährige Tochter aus erster Ehe. Sie ist verheiratet, hat eine kleine Tochter, die im Februar 1 Jahr alt wird und lebt seit nunmehr 8 Jahren in Istanbul in der Türkei. Auch Müge hat den Kontakt zu Yasemin abgebrochen. Der letzte Kontakt war im November 2019, als Yasemins Mutter, bzw. Müges Oma starb. Seitdem herrscht absolute Funkstille. Von der Geburt Yasemins Enkelin haben wir nur durch Zufall erfahren. Ihre Enkelin kennt Yasemins nur von Bildern, die ihre Tochter bei Instagram einstellt.

„Ja, Müge schläft auch schon.“

„Tamam, jetzt möchte ich aber weiterschlafen. Lass mich jetzt also in Ruhe. Ich brauche meinen Schlaf, sonst muss ich böse werden.“

Sagt es, dreht sich um das war es.

Ich wünsche ihr noch eine gute Nacht. Von ihr kommt aber nichts mehr. Ich lege mich ebenfalls wieder hin und versuche, noch etwas Schlaf zu finden. Nicht leicht, da ich hellwach bin. Gerade habe ich 3 Lebensabschnitte meiner Frau in einem Dialog erlebt. Ihre Kindheit, ihre erste Ehe und die Gegenwart. Sicherlich werden sie sich jetzt fragen, wie ich das schaffe, mich immer wieder auf die unterschiedlich gelebten Zeiten meiner Frau in der Nacht einzustellen. Zu Anfang war es nicht gerade einfach, und ich tat mich wirklich zunächst schwer, richtig damit umzugehen. Nach und nach wurde es aber besser und ich konnte mich gut darauf einstellen. Geholfen hat mir das Internet. Ich habe auf allen möglichen Seiten über Demenz und den Umgang damit gelesen. Etwas zu lesen und es dann umzusetzen sind aber zwei Paar Schuhe. Man kann und darf auch nicht alles Eins zu Eins umsetzen. Man muss seinen eigenen Weg finden. Die wichtigste Regel dabei ist aber immer: Nicht zu widersprechen und nicht laut zu werden.

Für mich ist die Nacht dann schon wieder gegen 7 Uhr zu Ende. Ein wütender Anwohner, dem sein Auto zugeparkt wurde, lässt seinen verständlichen Ärger an seiner Autohupe aus. Ich blicke neben mich auf Yasemin, um zu schauen, ob sie von dem Hupen auch gestört wurde. Bei ihr rührt sich aber nichts. Sie schläft noch tief und fest. Gut so. Ich quäle mich langsam aus dem Bett. Mein Rücken schmerzt seit Wochen bei gewissen Bewegungen. Daher geht das Aufstehen morgens etwas langsamer vonstatten. Es dauert dann immer etwas, bis meine Knochen sich sortiert haben.

Die Morgentoilette ist dann schnell erledigt. Ich mache mich auf den Weg in die Küche, um meine Herztabletten zu nehmen und mir einen Becher Kaffee aufzubrühen. Wie beim Auto das Öl den Motor am Laufen hält, so ist es bei mir der Kaffee, der mich auf Betriebstemperatur bringt. Ohne ihn geht nichts oder wenn, dann viel schwieriger. Der Geruch alleine, wenn ich den Kaffee frisch aufbrühe, ist schon alleine ein Wachmacher. Die Tabletten sind genommen. Mit dem Becher Kaffee in der Hand setze ich mich im Wohnzimmer in meinen geliebten gelben Ohrensessel. Hier genieße ich zunächst einmal meinen Kaffee und checke die Nachrichten auf meinem Handy. Die Coronazahlen steigen langsam, aber stetig. Wie lange werden wir wohl noch damit zu tun haben? Ich denke noch eine sehr sehr lange Zeit. Spätestens im Herbst wird uns wieder eine neue Variante von Corona heimsuchen. Wahrscheinlich wird es so sein wie mit der Grippe. Sie ist auch ein fester Bestandteil unseres Lebens geworden. Wir werden uns damit arrangieren müssen. So oder so. Und Corona ist ja wahrlich nicht das einzige Problem, mit dem die Menschheit zu tun hat. Ich sage nur Klimawandel. Mehr möchte ich dazu jetzt aber nicht ausführen, denn das würde zu weit gehen und wahrscheinlich das Buch alleine füllen.

8:50 Uhr zeigt die Wanduhr. Der erste Kaffee am Morgen ist getrunken und die wichtigsten Nachrichten sind gelesen. Ich mache mich an die Hausarbeit, die sich leise verrichten lässt. Auf und in den Regalen wartet eine Menge Staub, den ich mit meinem Staubwedel beseitige. Immer wieder halte ich zwischendurch inne; um zu hören, ob sich etwas im Schlafzimmer tut. Dort bleibt es aber ruhig. Es ist ja auch erst 10:00 Uhr; vor 12:00 Uhr wird sich da auch nichts regen. Das Abstauben ist erledigt. Staubsaugen kann ich erst, wenn Yasemin wach ist. Also hole ich mir aus der Küche eine Flasche Volvic und mache es mir wieder auf meinem Sessel gemütlich. Ich nehme einen großen Schluck aus der Flasche, lehne mich zurück und schließe die Augen, um noch etwas in mir zu Ruhen. Manchmal falle ich dann auch noch einmal in einen leichten Schlaf. So auch jetzt, bis ein fragendes „Hallo“ aus dem Schlafzimmer meine Ohren erreicht. „Ja“ rufe ich zurück, richte mich im Sessel auf und mache mich auf den Weg ins Schlafzimmer, wo ich als erstes den

Rollladen nach oben gleiten lasse. „Günaydın aşkım, hast du gut geschlafen?“ sind meine ersten Worte an Yasemin. Sie blickt mich mit ihren verschlafenen Augen an, weiß aber wohl nicht, was sie sagen soll, weswegen ich ihr erst einmal Zeit gebe, richtig wach zu werden. Ich schaue derweilen etwas aus dem Fenster. Viel tut sich draußen aber nicht, weswegen ich mich nach einigen Minuten wieder Yasemin zu wende. Noch einmal wünsche ich ihr einen guten Morgen, den sie mir jetzt erwidert. Ihr Blick ist jetzt etwas klarer und sie scheint wach zu sein. Sie fragt mich, ob ich gut geschlafen habe. Ich antworte ihr, das es so geht. Sie gibt mir zu verstehen, daß es bei ihr auch so geht, und das ihr alles irgendwie weh tut. Sie deutet es so, daß sie wohl heute Nacht wieder aktiv gewesen sein muss. Ich schaue sie an und hebe unschuldig meine Schultern, da ich sie nicht immer damit konfrontieren möchte, was sie nachts so anstellt. Unter meiner Mithilfe steht sie nun auf und schlürft langsam und sich umguckend Richtung Badezimmer. Ihr Blick schweift überall herum; so als gäbe es etwas Neues zu erblicken. Auch so eine neue Angewohnheit von ihr. Im Badezimmer angekommen, helfe ich ihr auf die Toilette. Sie lässt mich wissen, daß sie den Rest jetzt selbst machen kann. Ich nicke und gehe zurück ins Schlafzimmer, um das Fenster zu öffnen und mache die Betten. Nachdem das erledigt ist, schnappe ich mir den Staubsauger und fange an, das Schlafzimmer zu saugen. Nachdem ich das erledigt habe, ist erst einmal Schluss. Ich schaue nach, was Yasemin im Badezimmer macht. Sie ist mittlerweile dabei, ihr Gesicht zu waschen. Gut so.

Yasemin und ich haben von Anfang an, als die Diagnose feststand, eine Vereinbarung getroffen. Ich lasse sie alles, was sie selbst denkt noch tun zu können, auch tun. Wenn sie Hilfe benötigt, sagt sie mir Bescheid. So unser Deal. Natürlich fällt ihr nach nun 13 Jahren Demenz und deren Verlauf einiges viel schwerer als früher, oder sie kann es nicht mehr ohne meine Mithilfe tun. Aber trotzdem lasse ich sie gerade in Punkto Körperhygiene dies weitestgehend selbst tun. Natürlich unterstütze ich sie bei gewissen Dingen schon dabei. Allerdings nur, wo wir beide wissen, daß sie es nicht mehr alleine umgesetzt bekommt oder meine Unterstützung braucht. Ein Punkt ist z.B. das Baden. Eigentlich haben wir ja nur eine barrierefreie Dusche. Hierfür haben wir einen Duschstuhl gekauft, weil Yasemin nicht mehr solange stehen kann. Im Sitzen ist es für sie viel einfacher und strengt sie auch nicht so an. An gewisse Stellen ihres Körpers kommt sie aber nicht mehr so gut heran beim Waschen. Auch das Rasieren der Beine fällt ihr zunehmend schwerer. Zumal sie dann immer Kopfüber nach unten aktiv sein muss, was bei ihr Schwindelgefühle auslöst. Bei gewissen Dingen benötigt sie da meine Hilfe, ohne jetzt alle hier aufzählen zu wollen.

Da beim Duschen aber das ganze Badezimmer unter Wasser steht; was mit dem unzureichenden Gefälle zum viel zu kleinen Wasserablauf zu tun hat, ist das Duschen immer mit viel Nacharbeit behaftet, da danach der Badezimmerboden komplett geputzt werden muss. Und da Yasemin bedingt durch ihre FMF-Erkrankung (Familiäres Mittelmeerfieber) - verursacht durch einen Gendefekt - sehr oft mit Glieder- und Gelenkschmerzen am ganzen Körper zu tun hat, haben wir uns eine mobile Badewanne gekauft. Diese misst 138 x 55 cm und ist damit groß genug, um eine schönes heißes Bad nehmen zu können. Hier benötigt Yasemin z.B. auch meine Hilfe beim Einsteigen, Hinsetzen und beim späteren Verlassen der Badewanne.

Bevor sie mit der Pflege ihrer Zähne beginnt, frage ich sie, was sie denn gerne Frühstücken möchte. Auch immer wieder ein leidiges Thema; da ihr Appetit immer wieder zu wünschen übrig lässt. Heute entschließt sie sich für ein Glas Earl Grey Tee und eine Scheibe Brot mit Goudakäse und Marmelade. Die Wahl der Marmelade überlässt sie mir. Dazu bekommt sie immer ein Actimel und natürlich ihre Tabletten. Ab und an, aber nicht zu oft, da sie nach einer Weile des längeren Verzehrs Sodbrennen bekommt, trinkt sie morgens auch noch ein Glas Smoothie mit Spinat. Den liebt sie und würde am liebsten Marmelade davon machen. Ich gehe also in die Küche, um das Frühstück für uns zuzubereiten. Für mich selbst brühe ich eine Tasse Kaffee auf und mache mir ein Nutella Brot. Mit der Nahrungsaufnahme ist es generell seit einigen Jahren eine schwierigere Angelegenheit, da Yasemin zu allem Übel auch noch an einer Histaminintoleranz leidet, und viele Lebensmittelprodukte nicht mehr essen kann. Ich versuche, darauf weitestgehend zu achten. Es gelingt mir leider nicht immer, da bei Yasemin ab und an der Esel in ihr Besitz ergreift und sie dann partout nicht auf mich hören will. Die Folge ist dann ein Histaminanfall, der sich bei ihr mit starkem Jucken, Kopfschmerzen und Hautrötungen bemerkbar macht. Sie hat dann zwar ihre Histamin-Tablette, die auch ganz gut hilft; leider macht die aber als Nebenwirkung Bauchschmerzen und Verstopfung. Durch einen Zufall haben wir herausgefunden, daß ihr bei solch einem Histaminanfall ein Zäpfchen gegen Übelkeit hilft. Diese Mittel haben wir immer im Kühlschrank auf Vorrat, da Yasemin ja Schmerztropfen bekommt, die ab und an Übelkeit auslösen.

Das Frühstück ist fertig, und fast zeitgleich kommen ich und Yasemin im Wohnzimmer wieder zusammen. Sie bedankt sich, wie immer, für das Zubereiten des Frühstücks bei mir. Muss sie eigentlich nicht, aber sie tut es trotzdem immer wieder. Ich schalte den Fernseher ein, um die neuesten Nachrichten zu erfahren. Yasemins Blick fällt sofort Richtung Fernseher. Erfahrungsgemäß braucht sie noch einige Zeit, um richtig wach und ansprechbar zu sein. Das war aber früher auch schon so. Sie brauchte schon immer eine gewisse Anlaufzeit, um auf Betriebstemperatur zu kommen.

Ich wünsche ihr einen guten Appetit und sie mir auch. Sie sitzt aber immer noch wie erstarrt auf dem Sofa und verfolgt das Geschehen im Fernseher. Ich frage sie, ob sie nicht Frühstücken möchte, da der Tee sonst kalt werden würde. Sie schaut mich an und sagt nur „Tamam“, nimmt sich den Teller und beginnt in das Brot zu beißen. Während wir frühstücken, verfolgen wir beide das Geschehen im Fernseher. Auch heute steht nichts besonderes an; zumal wir Sonntag haben. Nach dem Frühstück sauge ich den Rest der Wohnung. Yasemin ist derweilen damit beschäftigt, ihre Nachrichten auf ihrem Handy zu lesen. Nach Erhalt der Demenzdiagnose hatte sie ja nach einiger Zeit eine Art Selbsthilfegruppe auf Facebook gegründet. Diese ist mittlerweile auf über 700 Mitglieder angewachsen. Hier können sich Betroffene als auch Angehörige, die mit einer Demenz in jungen Jahren zu tun haben, austauschen und Neuigkeiten erfahren. Diese Gruppe zu pflegen und gerecht zu werden, ist eine Aufgabe für sie, die sie zum einen fordert, ihr zum anderen aber auch am Herzen liegt und ihr auch ein Gefühl der Selbstbestätigung gibt. Das Thema Demenz, speziell von jüngeren Menschen, liegt ihr sehr am Herzen; da dieses Thema in unserer Gesellschaft noch immer nicht richtig angekommen und angenommen wird. Auch die Aufklärung diesbezüglich in ihrer Heimat in der Türkei, aber auch den hier in Deutschland lebenden Türken, ist ihr ein großes Anliegen. Seit nunmehr 7 Jahren schreibt sie an einem Buch, daß nun kurz vor der Beendigung steht. Lediglich die Korrekturlesung muss noch gemacht werden und dann ein Verlag gefunden werden. In diesem Buch berichtet sie über ihre bzw. unsere Erfahrungen mit Demenz, und möchte den späteren Leser vermitteln, daß das Leben mit Demenz trotzdem noch Lebens- und liebenswert ist.

Eigentlich sollte dieses Buch schon längst fertiggestellt sein. Doch leider haben dem immer wieder in den letzten Jahren auftretende gesundheitliche Probleme einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber nun ist es bald soweit. Ich habe ihre Notizen ins Reine geschrieben und dieses muss nur noch Korrektur gelesen werden. Einen Verlag, der das Buch evtl. auch gleich in die türkische Sprache übersetzt, haben wir auch schon in Aussicht. Es gibt auch schon unzählige Anfragen aus der Facebook-Gruppe von Yasemin. Und auch aus der Türkei gibt es unzählige Anfragen. Daher ist es uns wichtig, daß das Buch direkt auch in türkischer Sprache auf den Markt kommt.

Nach dem Saugen fülle ich noch schnell die Waschmaschine mit einer Ladung Wäsche. Danach geselle ich mich dann wieder zu Yasemin und frage sie, was es Neues gibt. Sie berichtet mir, daß wieder ein paar neue Mitglieder zur Gruppe gestoßen sind und von einigen anderen neuen Beiträgen. Ich frage sie auch, wie sie sich fühlt, da ich in ihren Augen lesen konnte, daß sie etwas Temperatur haben muss. Bei ihr erkennt man das recht gut, wenn man sie näher kennt. Wenn sie Fieber oder Temperatur hat, sind ihre Augen ganz glasig. Zu 99% stimmt das immer. Sie sagt mir, das sie wohl etwas Fieber hat und das ihr, ihr ganzer Körper weh tut. Draußen ist es recht kalt und es regnet. Das passt zusammen und spricht dafür, daß sie wieder einen Schub hat. Nasses, kaltes Wetter oder eine extreme hohe Luftfeuchtigkeit sind Gift für sie, und lösen dann einen Schub bei ihr aus. Sie bekommt dann von jetzt auf gleich Fieber und starke Gelenk- Gliederschmerzen am ganzen Körper. Diese Erkrankung ist ein Gendefekt, bei dem der Körper zu viel Eiweiß produziert, welches sich in den Organen ablagert. Die Erkrankung nennt sich: „Familiäres Mittelmeerfieber“ (kurz FMF). Im ganzen Körper kommt es bei solch einem Schub zu Entzündungen an Gelenken und Gliedern, die ziemlich schmerzlich sind. Heute ist wohl wieder so ein Tag. Dieser Gendefekt war unter anderem ein Grund, warum wir vor einigen Jahren für immer in die Türkei ausgewandert sind. Dort, in Alanya, herrschte ein besseres Klima und Yasemin hatte so gut wie keine Schübe über das Jahr. Einzig in den kühleren Wintermonaten hatte sie etwas damit zu tun.

Leider verschlechterte sich damals aber der gesundheitliche Zustand bezüglich der Demenz, sodass wir schweren Herzens wieder nach Deutschland zurückkehrten. Yasemin bekam dann die erste Pflegeeinstufung, was ja auch einen halbjährigen Besuch eines Ambulanten Pflegedienstleisters zur Folge hat. Damit konnte unsere Türkei-Abenteuer leider nicht mehr fortgesetzt werden.

Seitdem wir wieder hier in Deutschland sind, hat Yasemin deutlich mehr Schübe als früher. Die Schübe fallen dann oft so schlimm aus, daß sie es nur noch in ihrem Bett mit eingeschalteter Heizdecke und den Schmerztropfen aushält. Zusätzlich muss sie Lebenslang noch ein Medikament einnehmen, was zum einen die Eiweißablagerungen in den Organen unterbinden, und zum anderen die Folgen der Schübe lindern soll. Seit gut zwei Jahren ist das eigentlich sehr gut wirkende Medikament wegen gefährdender Nebenwirkungen vom Markt genommen worden und ein ähnliches Präparat dafür erhältlich. Diese hat aber nicht den gleichen Effekt und nicht die gleiche Wirkung. Seitdem hat Yasemin fast nur noch mit Schüben zu tun.