Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt - Georg von Wallwitz - E-Book

Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt E-Book

Georg von Wallwitz

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Beschreibung

Ordnung muss sein. Beim Baden schön nach Geschlechtern getrennt, doch in der Wissenschaft zählt nur, was auf der Tafel steht. Jedenfalls für den Mathe­matiker David Hilbert, der die brillante Emmy ­Noether in Göttingen als Professorin durchsetzen wollte. Nicht nur damit war er seiner Zeit voraus – er rechnete mit Albert Einstein die Formel aller Formeln durch, versammelte in den zwanziger Jahren die klügsten internationalen Mathematiker und Physiker seiner Zeit – und musste sie nach 1933 in die USA ziehen lassen. Für die moderne Naturwissenschaft hat David ­Hilbert denselben Stellenwert wie Picasso für die Kunst. Und unsere digitale Welt ? Ohne den Mann nicht denkbar. Georg von Wallwitz erzählt von diesem Leben und der Schönheit der Mathematik, verständlich, mit Witz – und Fußnoten für Fortgeschrittene.

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Die Hilbert-Kurve ist eine Linie (mit sehr vielen Ecken), die eine zweidimensionale Fläche vollständig ausfüllt – und dadurch sozusagen ihre eigene Dimensionen hinter sich lässt.

Georg von Wallwitz

Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt

Wie ein Mathematiker das 20. Jahrhundert veränderte

1. Vorwort

2. Ungehaltener Nekrolog

3. Zwei Vögel, ein Frosch und der Erzengel des Fortschritts

4. Ein geschärfter Geist

5. Hilbert geht nach Göttingen

6. Die 23 Probleme in Paris

7. »Der Beginn der Kultur der Gegenwart«

8. Hilbert lernt Physik

9. Zwei wirkliche Kerle

10. Dies ist keine Badeanstalt

11. Ein endliches Spiel

12. Von Neumann, Bologna

13. Wunderknaben in Göttingen

14. »Ein dämonischer Mangel an Plausibilität«

15. Demonstrationes Catholicae

16. Im Licht der Logik

17. Translatio Imperii

18. Nachwort

Oft bekommt man zu hören: Das ist gut, doch es ist von gestern. Ich aber sage: Das Gestern ist noch nicht geboren. Es war noch nicht wirklich da.

Ossip Mandelstam, Das Wort und die Kultur (1921)

1. Vorwort

Es gibt einen im Grunde liebenswürdigen Menschenschlag, der beim Nachdenken über die Welt bereit ist, über die Intuition hinauszugehen und sich allein von der Form und der inneren Logik der Phänomene leiten zu lassen. Diese Menschen sind phantasievoll und mutig im Angesicht strenger Logik und selbstbewusst genug, um unvermeidliche Niederlagen nach kurzer Trauer einzugestehen – denn die Wahrheit der formalen Überlegung geht ihnen über alles. Sie erlangen selten den Status eines öffentlichen Intellektuellen, sind wenig ruhmsüchtig und meistens mit einem stillen Kämmerchen zufrieden, in welchem sie gleichwohl nichts Geringeres herstellen als den Schmierstoff der modernen Welt. Die Rede ist, natürlich, von den Mathematikern.

Wir alle wissen, wie groß der Einfluss ihrer Arbeit ist. Unter den Begriffen Big Data, Künstliche Intelligenz und Kryptographie haben mathematische Techniken das tägliche Leben einer Menschheit durchdrungen, die sich auch bei noch so guter Schulbildung oft wenig darunter vorstellen kann, was unter moderner Mathematik zu verstehen ist und wer sich so etwas ausdenkt. Der Draht der Mathematiker zu großen Teilen der gebildeten Schichten ist, trotz ihres stark gewachsenen Einflusses, weitgehend verlorengegangen.

Das war nicht immer so. Im 18. Jahrhundert konnte ein Philosoph wie Voltaire ein Buch über Newtons Physik schreiben und große Mathematiker wurden hoch gehandelt in den Salons von Paris, London und Berlin. Dichter wie Novalis machten sich ausgiebig Gedanken über Euklids Axiomatik und die Bedeutung der binomischen Formeln. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ein gebildeter Mensch könnte ohne Kenntnisse der neuesten Mathematik auskommen. Dann aber, um 1800, verlor sie ihre Selbstverständlichkeit, denn durch die furchterregend abstrakten Arbeiten von Carl Friedrich Gauss und einigen seiner Zeitgenossen büßte sie ihre Anschaulichkeit ein und wurde zu einem Fach, das unmöglich von Kavalieren nebenher, als amüsanter Zeitvertreib, betrieben werden konnte. Die Dilettanten in der Mathematik starben langsam aus. Heute ist sie nicht mehr Teil der Allgemeinbildung und es gibt sehr kultivierte Menschen, die ohne Furcht vor sozialer Ausgrenzung bekennen können, keinen blassen Schimmer von moderner Mathematik zu haben. Sie nehmen den Anspruch der Mathematik auf Unbedingtheit, Ewigkeit und Schönheit von Ferne interessiert zur Kenntnis, sehen als Zugang aber nur ein Nadelöhr, das Ihnen unpassierbar erscheint. An diese richtet sich das vorliegende Buch.

Der durchschnittliche Mathematiker weiß genau, dass die Allgemeinheit die konkreten Inhalte seiner Wissenschaft weder sucht noch findet. Sosehr er es sich auch wünschen mag, dem nächsten Passanten auf der Straße zu erklären, was es mit Topologie oder algebraischer Geometrie auf sich hat, er wird am Ende bestenfalls graue Erinnerungen an die Schulzeit wecken und keine reichhaltigen Ideen transportieren. Über Inhalte kann daher in diesem Buch nicht geredet werden, es hätte keinen Sinn. Ich kann nur versichern, dass es ein wunderschönes Erlebnis sein kann, logische Zusammenhänge zu begreifen, dass auch in jener Gedankenwelt jenseits der Intuition und der bunten Vorstellungen noch Leben ist. Allerdings lässt sich über die biographische Konstellation reden, über die Denkweise und die Aufgaben, aus der die Mathematik hervorgeht – und dann lässt sich umso besser darüber staunen, wie eine rein geistige Übung so tief in die Realität hineingreifen kann.

Wie tief dieser Eingriff ist, hat am stärksten die um 1900 geborene Generation erfahren. In ihrer Kindheit bezeichneten Glühbirnen und Dampfmaschinen den Stand der Technik. Fünfzig Jahre später gab es Autos, Flugzeuge, Atombomben, Computer, Radar, Radio und Fernsehen und die Welt erkannte sich kaum wieder. Die Physik hatte die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik hervorgebracht und es gab völlig neue Wissenschaftszweige wie die Spieltheorie und die Kybernetik. In diesem halben Jahrhundert hat sich die Welt so dramatisch gewandelt wie in fast keiner anderen Periode. Gegen diesen Sturm sind die Veränderungen, welche die westliche Welt heute erlebt, bestenfalls ein leises Ziehen.

Sucht man nach der einen Figur, welche häufiger als alle anderen an den Quellen dieser Umwälzung auftaucht, trifft man schnell auf David Hilbert in Göttingen, den einflussreichsten Mathematiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war die graue Eminenz hinter den naturwissenschaftlichen Köpfen, die die Welt in dieser Zeit auf ihre Weise erschütterten. Bei niemandem trafen so viele der später entscheidenden Wissenschaftler aufeinander und auf keinem anderen Schreibtisch kreuzten sich so viele Verbindungslinien und Ideen, aus denen schließlich, ungeplant, eine neue Zeit entstand. Er gab der ganzen Entwicklung der Mathematik im 20. Jahrhundert die Richtung vor. Viel von dem, was wir heute davon im täglichen Leben sehen, wie etwa die Entwicklung des Computers, ist in der Auseinandersetzung mit seinen Ideen entstanden. Und es ist auch kein Zufall, dass viele der Physiker, die später die Atombombe bauten, sich in den 1920er Jahren in Hilberts Göttingen kennenlernten.

»Zwei Einflüsse haben meiner Meinung nach vor allen anderen das 20. Jahrhundert geprägt. Der eine ist die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technologie – gewiss die größte Erfolgsgeschichte unserer Zeit […] Der andere besteht zweifellos aus den großen ideologischen Stürmen, welche das Leben fast der gesamten Menschheit verändert haben«,1 schreibt Isaiah Berlin, einer der besten Zeugen seiner Zeit. Besteht der Mantel der Geschichte des 20. Jahrhunderts nach außen hin aus Krieg, Vernichtung und Vertreibung, aus Ideologien, Rassismus und blindem Eifer, so ist sein Innenfutter aus der phänomenalen Entwicklung der mathematischen Naturwissenschaft gewoben, welche die Gestalt des Jahrhunderts mindestens so sehr geprägt hat. Über die Tyrannen, denen im 20. Jahrhundert niemand aus dem Weg gehen konnte, ist viel geschrieben und gestritten worden – womöglich mehr, als sie es verdient haben. Vielleicht stellt man in 200 Jahren aber fest, dass die Ideen und Methoden, die in dieser Zeit in Mathematik und Physik erdacht wurden, den Gang der Geschichte nachhaltiger verändert haben als die Grausamkeit der Ideologen.

In einer für die Mathematik glorreichen Zeit war Hilbert das überragende Oberhaupt einer Schule, die Naturwissenschaften und Technik die Mittel an die Hand gab, die Welt neu zu begreifen. Diese Schule zog begabte junge Menschen aus der ganzen Welt an, einen sehr bunten und genialen Haufen von Menschen, unkonventionell in jeder Hinsicht. Für seine Schüler setzte er sich bedingungslos ein, wie etwa für Emmy Noether, die er als Dozentin kaum durchsetzen konnte gegen seine dem Frauenbild des Kaiserreichs verpflichteten Kollegen von der Philosophischen Fakultät (und auch das nur unter dem Verweis auf den Unterschied zwischen Fakultät und Badeanstalt). Sein Markenzeichen war die im Sinne des großen Euklid benannte axiomatische Methode, in der sich der Ehrgeiz ausdrückte, des Pudels Kern nicht nur zu verstehen, sondern das Tier auch auf logisch einwandfreie, formale Weise wieder zusammenzusetzen. Sie ist der Versuch, die Dinge von ihrer inneren Logik her zu verstehen. Gedanklich war das eine Revolution, der Bruch mit einer romantischen Tradition, die den Mathematiker nur seiner genialen Intuition verpflichtet sah.

Das mathematische Wissen hat den Aufbau einer Pyramide. Die meisten von uns haben in der Schule eine im Kern dunkle Wissenschaft erlebt, die aus der richtigen Anwendung auswendig gelernter Formeln besteht und erst durch den Einsatz von Taschenrechnern erträglich wird. Diese Schulmathematik ist die breite Basis der Pyramide und objektiv langweilig – diese Ahnung der Amateure kann jeder Profi bestätigen. Mathematik ist aber, wie die Profis im selben Atemzug beteuern, auch interessant und schön. Interessant wird es dort, wo die Mathematik mit der Realität in Berührung kommt und anschaulich wird. Ein sehr großer Teil der Mathematik ist aus der Beschäftigung mit konkreten Problemen entstanden und an dieser Nahtstelle zwischen Geist und Natur wird sie greifbar. Etwa wenn sich die Orientierungsleistung von Tunesischen Wüstenameisen am besten als ein Operieren mit Vektoren begreifen lässt, oder wo das klügste Vorgehen im Glücksspiel Thema der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird. Schön ist die Mathematik an der Spitze der Pyramide, wo sie zu einer ästhetischen Erfahrung werden kann, wenn der mühevolle Aufstieg in Zahlentheorie, Topologie oder Algebra mit einer Ahnung von ewiger Wahrheit und Harmonie belohnt wird. Sie hat dort viel mit Inspiration und einem freien Spiel der Formen zu tun, die von alters her mit der sinnlichen Erfahrung von Schönheit assoziiert werden. Wenn das strenge Gerüst der mathematischen Begriffsbildung erst einmal gemeistert ist, bietet sich ein völlig anderes Bild. Es ist, als rage die Spitze der Pyramide aus einem Wolkenmeer unscharfer und unzusammenhängender Begriffe heraus.

Laien sind in der Mathematik gut beraten, sich nicht durch das Formelgestrüpp zu hauen, welches zwischen ihnen und den guten Gedanken an der Spitze der Pyramide wuchert, sondern zunächst auf den Stil und den Weg achten. Wie liest man also als Laie ein Buch über einen Mathematiker? In jeder Fachsprache finden sich Wendungen, die den Praktikern erst durch lange Übung so vertraut geworden sind wie dem Tänzer seine Schrittfolge. Wenn nun im vorliegenden Buch Begriffe und Passagen vorkommen, die undeutlich bleiben, bitte ich den Leser um die Nachsicht und den Mut, über das Schwierige zunächst hinwegzulesen und sich an die Essenz zu halten. Es geht hier nicht um exakte Definitionen, sondern um eine Reihe großartiger Ideen, die zum Wirkungsmächtigsten gehören, was das vergangene Jahrhundert zu bieten hatte. Das meiste von dem, was über die Schulmathematik hinausgeht, habe ich daher in Fußnoten verbannt, die mit dem Kürzel FfF, Fußnote für Fortgeschrittene, gekennzeichnet sind.

Eine zunächst oberflächliche Lektüre ist unter Mathematikern nicht ehrenrührig. Auch sie springen gerne, wenn sie eine Abhandlung lesen, über schwierig erscheinende Passagen hinweg. Zunächst lesen sie gewöhnlich nur die Sätze, die das Destillat der Überlegungen sind. Sie wissen zwar, dass oft nur die Begründung den Sinn eines Satzes klarmacht. Aber dennoch, erst wenn sie das Gefühl haben, es steckt eine gute Idee darin, vollziehen sie die Beweisketten nach. Nicht jeder Mathematiker ist fleißig und leidenswillig. Ihre Leser müssen es nicht anders halten.

Non omnis moriar

Horaz, Oden 3,30

2. Ungehaltener Nekrolog

David Hilberts Beerdigung muss als verunglückt gelten. Er war schon zum Zeitpunkt seines Todes unstreitig der bedeutendste Mathematiker seiner Zeit, also für sein Fach das, was Einstein für die Physik darstellte. Aber die Welt hatte, als er am 14. Februar 1943 starb, andere Sorgen. Das friedliche Dahinscheiden eines 81-jährigen Mathematikprofessors in Göttingen war ein entschieden undramatisches Ereignis in einer Zeit, in der ein jedes Leben in Europa und Asien jederzeit gewaltsam enden konnte. Die Trauergemeinde war überschaubar, sie bestand allenfalls aus einem Dutzend Personen, den letzten Relikten eines zehn Jahre zuvor untergegangenen goldenen Zeitalters.

Da Hilbert schon lange keiner Kirche mehr angehört hatte, fand die Zeremonie im Wohnzimmer im Erdgeschoss seines Hauses in der gutbürgerlichen Wilhelm-Weber-Straße statt. Der große Raum blickte in einen winterlichen Garten. Der angestaubten Einrichtung merkte man das Alter der Bewohner und die fortgeschrittene Erblindung der Hausfrau deutlich an.

Arnold Sommerfeld, neben Max Planck der Doyen der in Deutschland verbliebenen Physiker und mit 81 Nominierungen so oft wie kein anderer für den Nobelpreis vorgeschlagen, war aus München gekommen und hielt eine kurze, unbeholfene Ansprache auf den hohen Toten, die sich im Wesentlichen auf eine Aufzählung von dessen akademischen Leistungen beschränkte. Constantin Carathéodory, ein im Osmanischen Reich aufgewachsener Mathematiker, vielleicht der wichtigste von den in Deutschland verbliebenen, ließ sich entschuldigen, schickte aber einen kurzen Nachruf. Sein kurzer Text, ebenfalls kein großer Wurf, wurde unter Tränen verlesen und handelte immerhin am Rande von Hilberts Persönlichkeit.

Die Grabredner hatten einen verlässlichen Freund vom Schlage eines ostpreußischen Bauern verloren, zugleich aber auch den Mentor der gesamten mathematischen Naturwissenschaften. Über das Wichtigste im Lebenslauf des Toten konnte freilich kaum geredet werden. Das nämlich waren die endlosen Gespräche auf den immer gleichen Wanderungen, die Hilbert mit seinen Studenten, Assistenten und Kollegen unternommen hatte. Dabei war ein einzigartiges Netzwerk entstanden, in welchem Logik, Mathematik, Physik und Philosophie so eng wie nie zuvor miteinander verwoben waren. Die weitaus meisten von Hilberts Weggefährten mussten dabei (wenigstens in der schriftlichen Version der Grabreden) unerwähnt bleiben, denn viele von ihnen waren Juden oder Gegner des Nationalsozialismus und hatten Deutschland verlassen, so lange es noch möglich war. Wie aber sollte man über einen Sokrates reden, für den das Gespräch die wichtigste Quelle der Erkenntnis war, wenn man kein Wort über seine Dialogpartner verlieren durfte? Der Weg zum Grab wurde so zum Geisterzug, der eher aus Abwesenden als Anwesenden bestand. Die Trauernden blieben mit ihrem Gedanken an eine unaussprechliche und unwiederbringliche Vergangenheit allein. Sie waren sich ihrer eigenen Verlorenheit schmerzlich bewusst, und mancher mag etwas neidisch auf den Toten geblickt haben, der diese trostlose Zeit nun hinter sich hatte. Wären doch nur die Grabreden gelungen!2

Die Welt ging unterdessen in Flammen auf. Im Februar 1943 kapitulierten die Deutschen in Stalingrad. Die Engländer hatten im Seekrieg die Oberhand gewonnen, auf geheimnisvolle Weise, die aber durchaus mit der großen Göttinger Leiche zusammenhing, und versenkten nun ein deutsches U-Boot nach dem anderen. In Tunesien rieben sie die letzten italienischen Truppen auf. In Casablanca trafen sich Roosevelt und Churchill und legten die bedingungslose Kapitulation der Achsenmächte als Kriegsziel fest. Währenddessen rief in Deutschland Goebbels unter dem Jubel der Berliner im Sportpalast den Totalen Krieg aus und in München wurden die Geschwister Scholl durch das Fallbeil hingerichtet. Letzteres blieb auf Jahre hin das einzige wichtige Ereignis aus dem Universitätsleben in Deutschland.

Der Göttinger Friedhof lag auf der anderen Seite des Flusses. Für Hilberts letzten Weg passte die Trauergesellschaft in zwei Wagen. Am Grab verabschiedeten sich mit einer Handvoll Erde zuerst seine Witwe Käthe, die die letzte Ruhestätte nur noch schemenhaft, als dunkles Loch in der weißen Schneefläche wahrgenommen haben wird, und dann sein Sohn Franz, dessen gestörter Verstand der zweitgrößte Kummer in David Hilberts Leben gewesen war. Auf dem Grabstein sollten keine Lebensdaten, keine Orte, keine Zeiten stehen, nur sein Name und sein faustisches Lebensmotto: Wir müssen wissen, wir werden wissen.

Albert Einstein wären am Grab sicher ein paar brauchbare Sätze eingefallen. Zu seinem 70. Geburtstag hatte er Hilbert noch freundlich gratuliert, sprach von den »Stunden ungetrübt schönen Erlebens«, die er dem Kollegen verdanke.3 In der spannendsten Phase ihres Lebens waren sie miteinander in einem fast sportlichen Ringen um die Formulierung der Allgemeinen Relativitätstheorie verbunden gewesen. Niemand war Einstein damals in Gedanken, aber auch in Taten näher gewesen als Hilbert. Beide hatten sich auf ihre eigene Weise an die alles entscheidenden Feldgleichungen herangetastet, auf dem Weg durch ihre eigenen Gedankenexperimente und Irrtümer. Im Juni 1915 reiste Einstein nach Göttingen, wohnte bei Hilbert, diskutierte mit ihm über Mathematik, Physik und den Weltfrieden und hielt tagsüber Vorlesungen an der Universität. Von dieser bemerkenswerten Konstellation hätte Einstein in seinem Nekrolog berichten können, von der Zusammenarbeit, der Konkurrenz und dem nachhaltigen Respekt, der daraus erwachsen war. Einstein erkannte in Hilbert einen der wenigen Menschen an, die aus demselben Holz geschnitzt waren und sich auf demselben Niveau bewegten wie er. Die Seelenverwandtschaft ging weit über das Fachliche hinaus, als sie 1918 gemeinsam einen Aufruf für den Frieden geplant hatten. Beide waren Pazifisten und verstanden das kriegsbegeisterte Europa nicht mehr. Die Frage einer Grabrede stellte sich nun aber nicht mehr, denn von Hilberts Tod erfuhr Einstein vermutlich erst Monate später. Er lebte seit 1932 in den USA und hegte inzwischen eine tiefe Abneigung gegen (fast) alle Deutschen und eigentlich alles, was mit Deutschland zu tun hatte.

Es gab durchaus Gedenkfeiern für Hilbert, aber meistens außerhalb Deutschlands und erst sehr viel später, als die Nachricht von seinem Tod langsam durch die Front gesickert war. In Princeton etwa, wo einige seiner prominentesten Schüler dem Institute for Advanced Study zu dem Ruhm verhalfen, den es bis heute hat. Dort, wie auch anderswo, war das Innehalten und Gedenken aber nur kurz, denn die meisten von denen, die in Göttingen ihr mathematisches Handwerkszeug in Hilberts Art und anhand seiner Weltsicht gelernt hatten, waren nun mit dem Krieg beschäftigt, mit der Entwicklung von Kommunikationstechnik, Kybernetik, Rechenmaschinen, Radar und der Atombombe. Dieser Krieg war in hohem Maße auch ein Krieg der Wissenschaftler, die einst alle an derselben Quelle gesessen hatten.

Unerwähnt blieb in den in Deutschland verfassten Nekrologen inbesondere – auf Grund seines jüdischen Glaubens – Hilberts bester Freund und Weggefährte, Hermann Minkowski, der einstmals einem staunenden Publikum verkündet hatte, die Welt müsse, als Konsequenz aus der Relativitätstheorie, in Zukunft nicht mehr in drei, sondern in vier Dimensionen begriffen werden. Unerwähnt blieb die brillante Emmy Noether, eine Expertin für besonders abstrakte Zusammenhänge, die aber als Frau und Jüdin mit Sympathien für den Sozialismus an der Göttinger Fakultät sowieso schon nicht leicht vermittelbar gewesen war und ihre Vorlesungen nur halten konnte, weil Hilbert hohen Respekt vor ihrer Arbeit und ein ausgeprägtes Vergnügen an der Beugung scheinbar eherner Regeln hatte.

Von einigen der Erwähnenswerten, soweit sie noch am Leben waren, wusste man ohnehin nicht so genau, wo und wie sie gerade beschäftigt waren. Aus Hilberts Gedankenwelt wurde im Krieg (der, wie man lange weiß, nicht nur zerstört, sondern auch beschleunigt) ein Nährboden für praktisch anwendbare Erfindungen (wie den Computer oder die Atombombe) und Konzepte (wie Kybernetik, Kommunikations- oder die Spieltheorie). Viele Mathematiker und theoretische Physiker begriffen schnell, dass sie den Ausgang dieses Krieges maßgeblich beeinflussen konnten, und so war unter ihnen bald von theoretischer Denkbarkeit keine Rede mehr, sondern eher von technischer Machbarkeit. Werner Heisenberg und Robert Oppenheimer, die in Göttingen in der Mitte der 20er Jahre bei Hilberts Schüler Max Born arbeiteten, lieferten sich ein Rennen, bei dem es nur einen Sieger geben konnte, indem sie das deutsche beziehungsweise amerikanische Atombombenprojekt leiteten. Oppenheimer hatte in Göttingen einige der wichtigsten Theoretiker für das Manhattan-Projekt kennengelernt, etwa Paul Dirac und Johann von Neumann. Neumann war in vieler Hinsicht Hilberts Meisterschüler, der die Mathematik hinter der plötzlich kriegswichtigen Atomphysik verstand wie kaum ein anderer. Er war auf amerikanischer Seite damit betraut, Lösungen für Differenzialgleichungen zu finden zur Berechnung von Schockwellen bei Detonationen und von Flugbahnen für Projektile. Da die Lösung solcher Gleichungen eine mühsame Angelegenheit war, im Kern aber geistlos und immer gleich, beschlossen amerikanische Mathematiker im April 1943, eine Maschine für diese Aufgabe zu bauen, einen Electronic Numerical Integrator and Computer (ENIAC). Neumann machte diese Maschine zu seinem Lieblingsprojekt, als er realisierte, dass sie sich prinzipiell für alle logischen Operationen eignete (womit sie zur Urmutter aller modernen Computer wurde). Bis es so weit war, mussten noch Kurt Gödels und Alan Turings Arbeiten in ihm gären. Diese waren zwar keine Hilbert-Schüler im engeren Sinne, aber sie hatten ihre Studentenzeit damit verbracht, sich an Hilberts Entscheidungsproblem abzuarbeiten und dabei, ohne es zu beabsichtigen, die gedankliche Grundlage des modernen Computers entwickelt. Auch sie hätten wohl einiges auf Hilberts Beerdigung zu sagen gehabt. Aber insbesondere Turing war nun ebenfalls unabkömmlich, denn er hatte den Code der deutschen Verschlüsselungsmaschine Enigma geknackt, was im Frühjahr 1943 zur vorläufigen Einstellung des deutschen U-Boot-Krieges führen sollte. Kurz, indem Hilberts direkte und indirekte Schüler Bomben und Rechenmaschinen erfanden, steckten sie über beide Ohren im Krieg, und so wurde seine Beerdigung zu einer traurigen kleinen Veranstaltung für alte Weggefährten.

Die angewandte Mathematik kann manchmal (und jedenfalls im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz) als Sprache der Physik und der Informationstechnologie die öffentliche Anerkennung für sich reklamieren. Aber die abstrakte Konstruktion aus Begriffen, Definitionen und Formeln, welche die reine Mathematik kennzeichnet, wirkt auf den Laien oft wie ein leeres Gefäß, dessen Schönheit und höherer Sinn nur für die Eingeweihten und Geübten offensichtlich ist. Wie die Künstler einer klassischen Periode produzieren reine Mathematiker Muster, die nach ästhetischen Kategorien wie Einfachheit, Symmetrie, Eleganz und Schönheit beurteilt werden wollen. Für sie kann auf die Dauer in dieser Welt kein Platz sein für hässliche Mathematik.4 Nun wäre es aber zu kurz gegriffen, die Mathematik nur als ein schönes Spiel zu beschreiben. Das mag sie im Kern wohl sein, aber ihre Schönheit ist immer die der Effizienz, denn eine schöne Formel zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen bestimmten Sachverhalt kurz und gut auf den Punkt bringt.

Mathematiker müssen also gleichermaßen einen Sinn für logische Effizienz und einen ästhetischen Blick für Einheit und Struktur mitbringen. Das gibt es nicht häufig, und die mathematische Denkweise bleibt den meisten Menschen ihr Leben lang fremd. So ergibt es sich, dass Mathematiker meistens unter sich bleiben, allenfalls noch mit Physikern Umgang pflegen. Und selbst wenn sie eine breitere Anerkennung finden, so wissen sie doch immer, dass ihr Ruhm nur geborgt ist und auf Erzählungen beruht, nicht auf eigenständigem Verstehen der zeitungslesenden Massen. Ihr Einfluss mag beträchtlich sein, sie mögen Nobelpreisträgern das Handwerkszeug geschaffen oder die Erfindung alltagstauglicher Geräte und Methoden ermöglicht haben, aber dennoch wissen sie, dass am Ende das Wie, Warum und Woher den meisten ihrer Zeitgenossen schleierhaft bleibt. All jene klugen Geister, deren Kunst darin besteht, logische Formen und Beziehungen aus dem eigenen Denken zu schöpfen, können in den seltensten Fällen mit allgemeiner Aufmerksamkeit rechnen. Sie leben getrennt vom Rest einer Gesellschaft, die nicht in Strukturen und Abstraktionen denkt, sondern in Tischen, Stühlen und Bierkrügen.

Ein zurückgezogenes Leben ist den meisten mathematischen Köpfen vorbestimmt und angemessen, auch wenn sie es selbst oft nicht so empfinden. Offensichtlich wird dies bei der Beerdigung, einem gleichermaßen öffentlichen wie intimen Moment, der bei Mathematikern nur sehr selten zum Ereignis wird. Sie werden fast nie unter Fanfarenstößen beerdigt, denn sie waren im Besitz einer Wahrheit, die für die meisten Menschen weder interessant noch zugänglich ist. Physiker, obwohl sie oft mit nichts anderem als Mathematik beschäftigt sind, können die Phantasie anregen durch das Versprechen, den schwarzen Glanz des bestirnten Himmels über uns zu erklären. Mathematiker hingegen sind keine öffentlichen Intellektuellen, sie bedeuten nur ihren eigenen engen Kreisen etwas. Sie sind meist bescheiden und zurückhaltend, ohne dass ihr Selbstbewusstsein darunter leidet. Darin sind sie wie ein idealer Beamter, bei dem Amt und Person sauber voneinander getrennt sind: Der Mensch muss austauschbar sein, sonst dient er nicht der Sache. Mathematiker betrachten ihre geistige Leistung als das Wesentliche und die Person, auch die eigene, spielt nur in Krisenzeiten eine Rolle. Das Werk des Mathematikers muss für sich selbst bestehen können, unabhängig von den historischen Umständen seiner Entstehung. Die Person ist, wie bei einem guten Kunstwerk, zweitrangig. Einstein etwa wusste das und obwohl er ein sehr öffentlicher Mensch war, der Aufmerksamkeit zu erregen und zu nutzen verstand, empfand er seine eigene Beerdigung als eine überflüssige Ablenkung und verfügte, die Asche in einem Wald zu verstreuen und ganz ohne Erinnerungsort zu bleiben. Auch David Hilbert wird, davon können wir ausgehen, das Format seiner Beerdigung herzlich egal gewesen sein. Wie es einer grauen Eminenz gebührte, verschwand er still, unbemerkt, geleitet von einem grauen Zug, in dem die Abwesenden die Wichtigsten waren. Staub zu Staub.

Gib auf das Geschwätz acht, wodurch wir jemand von der Wahrheit eines mathematischen Satzes überzeugen. Es gibt einen Aufschluss über die Funktion dieser Überzeugung. Ich meine das Geschwätz, womit die Intuition geweckt wird.

Ludwig Wittgenstein5

3. Zwei Vögel, ein Frosch und der Erzengel des Fortschritts

Königsberg, wo Hilbert in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufwuchs, war ein wohlgeordneter, stolzer und offener Ort, Ostpreußens Hafen zur Welt und Krönungsstadt der zu dieser Zeit modernsten Nation in Europa. Gleichwohl lagen die besten Tage dieser Stadt schon eine Weile zurück. Der Hafen und die Börse waren zwar groß und bedeutend, Königsberg konnte sich rühmen, der weltgrößte Umschlagplatz für Erbsen zu sein und Deutschlands größter Hafen für Getreide und Holz.6 Aber diese Güter hatten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ihre Stellung verloren. Häfen der Zukunft waren Liverpool und New York, wo die Erbse eine untergeordnete Rolle spielte. Stahl, Kleidung und Maschinen wurden anderswo produziert, Ostpreußen konnte dieser Entwicklung nur zusehen. Das Hinterland von Königsberg war sozial, wirtschaftlich und kulturell zurückgefallen, dominiert von sittenstrengen landbesitzenden Familien, welche die neuen Techniken und die kapitalistische Wirtschaftsweise wie eine bedrohliche Schlechtwetterfront im Westen Deutschlands aufsteigen sahen. So war die Stadt im 19. Jahrhundert bedeutend geblieben, aber in einem Landstrich am Rande des Reichs, der kontinuierlich an wirtschaftlichem und kulturellem Gewicht verlor. Die Festungsanlagen, die gemauerten wie die geistigen, waren groß (was der Nähe zu Russland und dem Stolz der Könige geschuldet war), aber ungepflegt.

Auswärtige Besucher spürten schnell die relative Stagnation. Königsberg (wie auch seine Universität, Albertina genannt) zehrte von den Legenden um Kant, war in seiner Liberalität und Pünktlichkeit realer Ausdruck der Gedankenwelt ihres größten Sohnes geworden, eine »Stadt der reinen Vernunft und der schmutzigen Straßen«.7 Insgesamt waren die Königsberger Professoren gut, aber meistens wären sie lieber in Berlin oder noch weiter weg gewesen, am Puls einer sich im Westen immer schneller verändernden Welt. Die Albertina war die viertkleinste von Preußens zwanzig Universitäten und zählte bis in die 1870er Jahre nur etwas mehr als 300 Studenten. In der Figur und im Werk Immanuel Kants besaß sie ein großartiges Erbe, einen über sämtlichen Fächern schwebenden Geist, auf den man sich in jedem Vortrag berufen musste. Aber drei Generationen nach dem Tod des Philosophen wirkte dieser permanente Bezug auf den immer selben geistigen Fixpunkt nicht mehr besonders originell.

Der Zustand des mathematischen Seminars passte in diese vernachlässigte Forschungslandschaft. Es hatte keine eigenen Räumlichkeiten und war im Karzer untergebracht, der universitätseigenen Ausnüchterungszelle. Die Bibliothek bestand im Wesentlichen aus den Bänden der Mathematischen Annalen. Es gab keine großen Tafeln im Vorlesungssaal, auf denen sich längere Formeln oder Beweise hätten aufschreiben lassen – was zu pointierter Kürze einlud, dem Thema aber nicht immer gerecht wurde. Die Belegung des Vorlesungssaals folgte keinem festen Stundenplan, sondern richtete sich nach der Seniorität des Professors, der dort unterrichten wollte, als wäre es jedenfalls interessant, was alte Männer zu sagen haben. In dieser Situation war es fast unausweichlich, dass die eigentliche Mathematik außerhalb der Universität stattfand, bei gutem Wetter an der frischen Luft und wenn es regnete in Wirtshäusern.

Im Sommer 1884 trafen sich drei junge Männer, der Privatdozent Adolf Hurwitz und zwei Doktoranden, Hermann Minkowski und David Hilbert, beinahe täglich um fünf Uhr nachmittags auf dem Paradeplatz vor dem Hauptgebäude der Albertina, um in der Sonne spazieren zu gehen und dabei das mathematischnaturwissenschaftliche Wissen ihrer Zeit zu durchmessen. Für Hurwitz, den jüngsten und in der Hackordnung niedrigsten Privatdozenten am mathematischen Seminar, war die Belegung eines Hörsaals beinahe unmöglich, und so lag es nahe, sich lauffreudige und trinkfeste Studenten zu suchen, für den Unterricht außerhalb des Universitätsgebäudes. Mehr als zwei fand er zunächst nicht, aber bei einer Revolution der Ideen kommt es ohnehin weniger auf die Zahl der Brandstifter an als auf den Erschöpfungszustand des alten Regimes.

Es waren drei magere Gestalten, die gewaltige Schnauzbärte und eng geschnittene Anzüge aus schweren Stoffen trugen, ganz nach der Mode ihrer Zeit. Sie waren tief in ihr Gespräch versunken, und die Konzentration, mit der ein jeder von ihnen dem anderen zuhörte, um auch nicht eine Nuance des Mitgeteilten zu verpassen, wirkte, als liefen sie unter einer unsichtbaren Käseglocke, die sie von der Welt um sie herum weitgehend isolierte. Ihr Weg führte sie durch den Königsgarten zum Schlossteich, wo die Studentenverbindungen und Rudervereine ihre Quartiere hatten. Der Teich war zu jener Zeit etwas über einen Kilometer lang und erstreckte sich von der Stadtmitte bis zu den nördlichen Befestigungsanlagen. Seit einer Weile war es für die jüngeren Damen möglich und sogar üblich, dort in der Nachmittagssonne zu rudern, und in ihren weißen Blusen und weit ausladenden Hüten mochten sie dem einen oder anderen Flaneur einen unverkennbaren optischen Reiz bieten, aber die drei Spaziergänger waren keine gedankenlosen Müßiggänger und hatten, in der intensivsten und wichtigsten Stunde ihres Tages, keinen Blick dafür. Sie gingen, ohne nach rechts oder links zu blicken, durch den »Börsengarten«, vorbei an der gleichnamigen Gastwirtschaft im Stil eines bayerischen Bierausschanks unter freiem Himmel, der als das größte Alltagsvergnügen in dieser protestantisch-pünktlichen Stadt gelten konnte. Die Promenade um den See war von zahlreichen Parkbänken gesäumt, die eine ideale Gelegenheit boten zum Verweilen, zum Dösen, zum Plaudern. Für die drei kam es aber nicht in Frage, wie selbstzufriedene Besitzbürger auf einer Bank zu sitzen, denn die Schritte waren der Takt und die Erdung ihrer Gedanken, die ununterbrochen fortgesponnen und geprüft werden mussten, damit nicht, als hätte sich plötzlich von der Ostsee her eine herbstliche Nebelwand über die Spaziergänger gesenkt, ihre Richtung und ihr Zusammenhalt verlorengingen. Der Gang, die Bewegung, das Ritual waren wesentlicher Teil des Gesprächs, der körperliche Spiegel ihres geistigen Fortschreitens.

Der Spaziergang führte am Seeufer entlang nach Norden, vorbei an den prominenten Häusern der Freimaurerlogen »Drei Kronen«, »Zum Todtenkopf und Phönix« und »Immanuel«, vorbei am Wilhelms-Gymnasium und der Baptisten-Kirche und vorbei schließlich auch am gewaltigen Dohnaturm, der den Punkt markierte, wo die neueren Festungsanlagen zwischen Schlossteich und Obersee hindurchführten. Hier ließen sie die Altstadt hinter sich und gingen durch die Parkanlagen, die an der Stelle der mittelalterlichen Stadtmauern angelegt worden waren, bis sie endlich an einen Apfelbaum gelangten, das Ziel des täglichen Gangs.8 Dort war es wohl an der Zeit, innezuhalten und erste Ergebnisse ihres Gesprächs zu fixieren, dessen Inhalt nicht eben leicht verdaulich war. Denn mathematische Gegenstände eignen sich am Ende nur bedingt für Wirtshäuser und Spaziergänge. Man muss sich furchtbar konzentrieren, darf nichts auslassen, hat alles vorsichtig und richtig abzuleiten und zusammenzufügen, darf nichts zittrig im Ungefähren belassen, kann weder mit einem unbegründeten Anfang noch einem offenen Ende leben. Eine Rechnung ist keine Rechnung und ein Beweis kein Beweis, wenn es unerklärte Sprünge oder Hilfsmittel aus dem Nichts gibt. Mathematiker können da schrecklich humorlos und pedantisch sein, weshalb es sich anbietet, irgendwann in geschlossenen und beruhigten Räumen auf einem Blatt Papier zu arbeiten, sodass der Gedankengang nachvollziehbar und in der richtigen Ordnung bleibt. Das Argument langer Rechnungen oder Beweisketten im Kopf präsent zu halten, während gleichzeitig daran weiter gewirkt wird, sprengt ab einem gewissen Punkt den Kopf. Auch die Begabtesten geraten irgendwann unweigerlich an die Grenze des Fassungsvermögens. Spätestens an diesem Punkt wäre der Spaziergang abzubrechen oder die Tafel im Wirtshaus aufzuheben und ein Schreibtisch aufzusuchen, um zu verifizieren, ob die Gedanken wirklich so gut waren, wie sie sich eben noch anfühlten.

Hurwitz, nur wenig älter als die beiden Studenten, hatte störrisch nach oben gesträubte Haare, von der Art und Länge einer Schuhbürste, und einen etwas grimmig nach unten gezogenen Oberlippenbart im Walross-Stil, wie man ihn heute nur noch von Nietzsche-Fotografien kennt. Er machte insgesamt keinen gesunden Eindruck, seit er als Student an der TU München an Typhus erkrankt war. Er litt oft an Migräne, wirkte schmal, feingliedrig und zerbrechlich, hatte dabei aber lebhafte und fröhliche Augen. Seine Erscheinung war unauffällig und »nichts hätte Hurwitz ferner gelegen, als bohemehaft oder exzentrisch zu erscheinen. Er war immer korrekt, reserviert, unauffällig, über die Maßen bescheiden, er zog den Hut noch vor der Dienerschaft der Nachbarn. Ein Fremder hätte nicht vermuten können, dass sich hinter dieser unscheinbaren Fassade etwas anderes als ehrenwerte Bürgerlichkeit verbarg.«9 Und nur wer etwas Sinn für Mathematik hatte, konnte in dieser etwas kränklichen und zarten Erscheinung den ihr vorauseilenden Ruf bestätigt finden, ein Wunderkind zu sein. Höchst musikalisch war er übrigens auch.

Der jüngste der drei Spaziergänger, Hermann Minkowski, war noch mehr Wunderkind als Hurwitz. Seine maßlose Begabung ließ ihn mit 15 sein Abitur machen und bereits mit 17 Jahren seinen ersten großen internationalen Auftritt absolvieren, als er 1881 die Preisaufgabe der Pariser Akademie im Wettbewerb um den Grand Prix des Sciences Mathématiques löste (es ging um die Darstellung einer ganzen Zahl als Summe von fünf Quadrat(zahl)en). Amüsant ist diese Episode, weil das Problem bereits 14 Jahre früher von Henry Smith, einem durchschnittlich begabten Professor in Oxford, gelöst worden war, ohne dass man in Paris davon Kenntnis nehmen wollte. (Dass dieses Ergebnis aus Oxford der Pariser Akademie durchrutschte, war nichts Ungewöhnliches, denn die Wissenschaftler dieser Epoche vermieden es, die Publikationen des jeweils anderen Landes ohne Not zur Kenntnis zu nehmen.) Bedeutend wird sie durch das Schlaglicht, welches sie auf den jungen Minkowski warf. Er löste die Aufgabe in einer Brillanz, dass die Akademie ihm gerne den Preis zuerkannte, obwohl national gesinnte Franzosen und Engländer jeweils eigene Einwände formulierten. Aber Charles Hermite und Camille Jordan, die zu dieser Zeit bestimmenden Köpfe ihres Fachs in Paris, wussten den biederen Zugriff Smiths von dem Genialen bei Minkowski wohl zu unterscheiden und hielten an ihrem Urteil fest. Jordan erkannte das Talent in dem jugendlichen Autor wie ein Künstler die Skulptur im Marmorblock und schrieb ihm: »Travaillez, je vous prie, à devenir un géomètre éminent.«10 Die Bitte ging in Erfüllung.

Die Familie Minkowski war erst wenige Jahre zuvor aus Alexoten (das heute zu Kaunas in Litauen gehört) eingewandert. Sie hatte sich unter der Herrschaft des Zaren nicht mehr wohl gefühlt, seit die Polnisch-Litauischen Gebiete nach dem Aufstand von 1862 unterdrückt, geknebelt und besteuert wurden. Die besseren schulischen Perspektiven und die Größe der polnischen Gemeinde im nahegelegenen Königsberg trugen wohl ein Übriges zur Umsiedlung bei.11 Der älteste Bruder, Maxim, war bereits zuvor nach Insterburg, nahe Königsberg, aufs Gymnasium gegangen.

Hermann Minkowski wird als ein – trotz seiner offensichtlich außerordentlichen Begabung – sehr bescheidener, schüchterner, zum Stottern neigender Mensch beschrieben, als wäre ihm sein Talent unangenehm gewesen. Was fängt man als Junge mit so einem gewaltigen Verstand an, der die Schuljahre zu Monaten eindampft und zum Kinderspiel werden lässt, was den anderen die Krönung jahrelanger müheseliger Arbeit ist? Man muss wohl Bücher über Mathematik und Naturwissenschaften lesen und zur Erholung Shakespeares Othello und Goethes Faust aufführen. Sein Humor, der in seinen späteren Briefen immer wieder aufblitzte, war von der Art, wie man ihn in einer zurückhaltenden Beobachterrolle kultiviert, die Minkowski in Gesellschaft, halb gesucht, halb gezwungen, einnahm. Jedenfalls bedauerte er es später, in seiner Jugend für Übermut und Sorglosigkeit nie Zeit gefunden zu haben.

»Kein Mathematiker sollte je vergessen, dass die Mathematik, mehr als jede andere Wissenschaft, ein Spiel für junge Leute ist.« Sie ist kein Ort, an dem alte Menschen noch etwas bewegen können, und »ich weiß von keinem bedeutenden mathematischen Fortschritt, der von einem Mann über 50 begonnen worden wäre«,12 schreibt G. H. Hardy, der exzentrischste unter den hervorragenden Mathematikern des 20. Jahrhunderts. Junge Menschen sind noch nicht von den Gewissheiten des Alters verbaut, sind noch nicht erfahrungssatt und eitel, haben keine Verpflichtungen gegenüber Methoden und Schulen, können sich in aller Freiheit irren und auf wenig respektable Abwege begeben. Sie sind naiv genug, um auch das furchtbar Einfache zu probieren, welches manchmal die Lösung ist, wenn die Komplexität einer Aufgabe den Kopf zu sprengen droht. Sie sind mit den Techniken, mit denen ihre Lehrer groß geworden sind, nicht so verwoben wie diese und können unbekümmert etwas Neues probieren. »Es trägt jeder mathematische Soldat den Marschallstab im Tornister, wenn er nicht aus purer Disziplin auf alles Vorhandene schwört«,13 bemerkte Minkowski später. Anders als die historischen Wissenschaften, in denen sich meist eine Gelehrsamkeit erdrückend auf die andere legt, ist die Mathematik durch ihren Fortschritt nicht weniger zugänglich geworden. »Obwohl die Mathematik ja heute einen so gewaltigen und ausgedehnten Bau vorstellt, werden die Zugänge immer offener, die Räume immer heller und durchsichtiger, und dringt man, wenn man nur den richtigen Schlüssel zur Pforte sich geschmiedet hat, alsobald in das tiefste Innerste.«14 Bei diesen Worten hatte Minkowski wohl nicht zuletzt an seine eigenen jugendlichen Heldentaten gedacht.

So gesehen war David Hilbert, der zweite Doktorand, um den sich Hurwitz spazierengehend kümmerte, kein vielversprechendes Talent. Von ihm gab es aus der Schule keinerlei Wunderdinge zu berichten, allenfalls über Probleme mit den alten Sprachen und gute Noten in Rechnen. Das Gymnasium durchlief er ohne besondere Höhen und Tiefen, ohne Enthusiasmus für irgendein Fach, sodass er sich später zu der Entschuldigung genötigt sah, »Ich habe mich auf der Schule nicht besonders mit Mathematik beschäftigt, denn ich wusste ja, dass ich das später tun würde.«15 Er war, wie man es damals in Ostpreußen lautmalerisch auf den Punkt brachte, »dammelig«.16 Nun war er 22 (zweieinhalb Jahre älter als Minkowski, der allerdings ein halbes Jahr vor ihm die Abiturprüfung abgelegt hatte) und hatte dennoch schon das Aussehen eines Bilanzbuchhalters, mit schütterem Haar, Tendenz zum Segelohr, einem Zwicker auf der Nase und spitzem Kinn.

Die Familie Hilbert verkörperte den von Kant formulierten steifen, pünktlichen, ehrlichen und dennoch spekulationsfreudigen protestantischen Geist, der damals in Königsberg seinen letzten Abglanz verbreitete. Es war ein wohlgeordnetes Leben, die Woche gehörte der Arbeit, der Sonntag der Kirche und die Sommerfrische verbrachte man an der nahen Ostsee. Der Urgroßvater war ein wanderlustiger Bursche, der sich vom Barbier in Freiberg in Sachsen zum Feldscher im Siebenjährigen Krieg und schließlich zum »Stadtchirurgus, Operateur und Accoucheur«17 in Königsberg emporarbeitete. Die Söhne der Familie hießen gerne David, das war das äußere Zeichen eines innerlich verblassenden pietistischen Erbes. Ihre Frauen waren Töchter von Schulmeistern, die mehr Erziehung als Bildung mitbrachten und ihren Kindern mehr Pflichtbewusstsein als Kultur mitgaben, um mitzuschwimmen in einer Gesellschaft, deren stetig wachsende Mittelschicht den Zweifel den Philosophen überließ und den Traum von einer besseren Welt den Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten. Der Vater des mit Hurwitz und Minkowski spazierengehenden Hilbert war wie schon dessen Vater Amtsrichter, gutbürgerlich, streng, »ein etwas einseitiger Jurist, von so regelmäßigen Gewohnheiten, dass er täglich den gleichen Spaziergang machte, verwachsen mit Königsberg«.18 Die Mutter war eine respektable Amtsrichtersfrau aus einer Kaufmannsfamilie, die sich in stillen Stunden wohl auch mit Astronomie und dem Ausrechnen von Primzahlen beschäftigte. Sonst gab es über sie nichts von Bedeutung zu berichten, nichts über besondere Interessen, weder an Kunst noch an Musik oder an Politik. Das alles war so gewöhnlich wie bildungsbürgerlich, so wohlgeordnet, so herzhaft grau, dass es einem Wunder gleichkam, dass der jüngste David Hilbert nicht dem Wunsch des Vaters nachkam und ebenfalls preußischer Staatsdiener wurde.

Dies war die Konstellation, die zum Nährboden für einige der besten Ideen des 20. Jahrhunderts wurde. Der wenig bemerkenswerte Hilbert und der früh großartige Minkowski wurden von Hurwitz unter die Fittiche genommen und durch das weite Feld der Mathematik geführt. Und die beiden Wunderkinder erkannten in Hilbert nicht nur einen dammeligen Jungen, sondern eine tiefe, langsam reifende Begabung. »Der Umstand, dass ich es in der Mathematik zu etwas gebracht habe,« meinte Hilbert später, »ist dem Umstand geschuldet, dass ich sie immer so schwierig fand. Wenn ich etwas las oder über etwas hörte, schien es mir immer so schwierig und praktisch unmöglich zu verstehen. Und dann fragte ich mich, ob es nicht auch einfacher ginge – und häufig stellte es sich tatsächlich als einfacher heraus!«19 Hurwitz und Minkowski erkannten Hilberts Tiefe in seiner Langsamkeit und die Originalität in seiner naiven Herangehensweise. Tatsächlich war er, wie sich bald herausstellte, mit ausreichend Talent gesegnet, um auf den Spaziergängen um fünf Uhr zum Apfelbaum mithalten zu können.