Meine letzten 40 Tage - Felicitas D. Goodman - E-Book

Meine letzten 40 Tage E-Book

Felicitas D. Goodman

0,0

Beschreibung

Eine schamanische Visionsreise In einem außergewöhnlichen Bewusstseinszustand erlebt Felicitas Goodman die Vision ihres eigenen Todes. Dabei begibt sie sich auf eine spannende Reise in die Jenseitswelt des südwest-amerikanischen Pueblo-Volks der Tewa. Dort trifft sie Geistwesen wie den Büffelbruder, Großvater Bär, Grillengeist und Krähenmann, die sie beratend auf ihrer Reise begleiten. Eindrücklich schildert sie ihre Reise in die Welt der Mythen und Rituale der Prärievölker verwoben mit ihrer eigenen Nachtod-Vision. Mit sachkundiger Sensibilität, wissenschaftlicher Sorgfalt und literarischer Lebendigkeit führt sie die Leserinnen und Leser in die »andere Wirklichkeit« einer alten Kultur und Spiritualität ein und relativiert damit unsere vertrauten abendländischen Vorstellungen über das »Jenseits«.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 143

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Die „andere Wirklichkeit“ oder: Das verschlossene Paradies Vorbemerkungen

Meine letzten 40 Tage

Nachwort

Glossar

Literaturhinweise

Über die Autorin

Die „andere Wirklichkeit“ oder: Das verschlossene Paradies

Vorbemerkungen

Höhlenzeichnung: Schamane in Trance

Die Sprachen der Träume sind voller Bilder und Gefühle und sträuben sich deshalb gegen eine Übertragung in rationale Systeme der Auslegen und des Denkens. Die Kunst des Schamanen ist nicht die Übertragung der Träume in verbale Interpretation; statt dessen besteht sie aus dem Gebrauch der Träume, durch den deren Ereignisse verwandelt und geleitet werden im Einklang mit dem Erlebnis des Traums oder der Vision.

Lee Irwin

Am 3. Februar 1578 saßen in einem verschneiten Tal des alpinen Hinterlandes zwei Rosshirten von Oberstdorf, Chonrad Stoeckhlin und sein Freund Jacob Walch, in der Gaststube beisammen und zechten. Sie unterhielten sich über dieses und jenes und kamen schließlich dazu, von wichtigen, von «letzten Dingen» zu sprechen, vom Sterben und wie es wohl mit dem Jenseits beschaffen sei. Keiner schien so Rechtes darüber zu wissen. Und so kamen die beiden Männer darauf, sich mit Handschlag feierlich zu versprechen, dass der, der als erster sterben würde, zurückkommen und dem anderen darüber Bescheid geben solle, wie es «drüben» sei. Völlig unerwartet starb Jacob Walch bereits acht Tage später - und hielt Wort: Er kehrte zurück und unterwies seinen Freund, wie er still auf der Seite liegen und auf seine Stimme horchen solle. Die Geisthelfer, die er mit sich brachte, geleiteten Chonrad in eine andere Wirklichkeit, unendlich älter als das Christentum, in eine Welt voller Guter Frauen, Feen und Heiler und einer Unzahl von Totengeistern. Als Chonrad Stoeckhlin dann aber der Umwelt von seinen herrlichen Abenteuern zu erzählen begann und von seinen neuen Geistfreunden wahrzusagen und zu heilen lernte, wurde die Inquisition auf ihn aufmerksam. Schließlich endete Stoeckhlin mitsamt vielen anderen auf dem Scheiterhaufen (Behringer, 1994).

Die Literatur über jene «finsteren» europäischen Jahrhunderte enthält eine Menge von Material darüber, aus welchen Beweggründen das entsetzliche Morden, das wir als die Schrecken der «Heiligen Inquisition» kennen, über die westliche Welt hereingebrochen ist. Es wird von der Angst vor Irrtümern im christlich beanspruchten Dogma und der damit verbundenen «ewigen Verdammnis» gesprochen. Es mag auch der Machthunger der ecclesia triumphans, der vom Sendungsauftrag besessenen welterobernden Kirche gewesen sein, die immer wieder verkündete, dass sie und nur sie allein im Besitz des Wissens um die «letzten Dinge» sei, über die Landkarte gewissermaßen jenes Reiches jenseits der Grenzen verfüge. Niemand anders, so wurde verfügt, habe das Recht, irgendetwas anderes darüber zu sagen. Alles, was sich in jenen einst paradiesischen Gefilden befand – die Geister, die sprechende Schlange und der magische Baum –, war nun befleckt. Es war alles Evas Schuld, ihre Sünde, sie hätte das Geheimnis der Äpfel entdeckt, des Ackerbaus, und das war gegen die göttliche Verfügung. So wurden sie und ihr Gefährte Adam aus dem Paradies ausgewiesen, unwiderruflich. Zurück in den Garten Eden konnten sie nicht, nicht einmal nach dem Tode. Hatten sie es immer noch nicht verstanden? Das Paradies gab es für die Menschen nicht mehr. Das Tor wurde zugeschlagen und mit einem doppelten Fluch versiegelt. Im Schweiße seines Angesichts würde von nun an der Mensch sein tägliches Brot erwerben, und die Wirklichkeit war auf immer gespalten in eine gute und eine böse Hälfte.

Etwas allerdings stimmt nicht bei der Geschichte; das war den Verfassern der alten biblischen Schriften, die das alles aufgeschrieben hatten, in ihrem Eifer entgangen: Zwar konnten Adam und Eva nicht wieder ins Paradies zurück, aber das bedeutete nicht, dass diese andere ursprüngliche «heile Welt» grundsätzlich verschwunden war. Im Gegenteil, sie schwebte auf immer in einer ewigen Nichtzeit als ein Teil der Gesamtwirklichkeit. Und wer noch ein Bruchstück des alten geheimen Wissens besaß, konnte trotz des furchterregenden Siegels ins Paradies hineinschlüpfen, wie es zum Beispiel jene Hexen taten, die die Inquisition mit hell lodernder Begeisterung verbrannte; oder jemand gelangte aus Versehen hinein wie der erwähnte bedauernswerte Chonrad Stoeckhlin. Außerdem gab es auch noch jene ungezählten kleinen indigenen Stämme, die nicht in den gleichen Spuren wandelten wie Adam und Eva und denen es nie eingefallen ist, der Erde im Ackerbau abzutrotzen, was sie nicht freiwillig hergab. Seit Anbeginn hatten sie im Rahmen bestimmter religiöser Rituale und Kulte freien Zugang zum Paradies, das indianische Mythen auch heute noch als die «andere Wirklichkeit» bezeichnen. Anthropologen nennen diese Stämme die Sammlerinnen, Jäger und Gartenbauer.

Die Sammlerinnen und Jäger*innen stellen die älteste menschliche Kulturform dar. Nahtlos entsprangen sie unseren weisen tierischen Ahnen. «Dies geschah zu einer Zeit, als Mensch und Tier noch eins waren», so beginnen viele indigene Mythen. Die Gartenbauer mit ihren winzigen Pflanzungen sind ihre späten Nachkommen, sowohl Jäger wie auch Gärtner. Weder die einen noch die anderen scherten sich um jenes erschreckende, fest verrammelte Tor zum Paradies mit seinen Furcht erregenden Wächtern, den Engeln und dem sich magisch drehenden „flammenden Schwert“. Denn sie besaßen einen sicheren Zugang über zwei leicht zu öffnende «Seitentüren»: Für die Jäger war der Schlüssel zu ihrer Tür das Träumen oder die «Vision Quest», die Suche nach einer Vision, wie es die Pueblo-Völker der Prärie Nordamerikas nennen. Andere verwandte Völker wie auch die Gärtner schlüpfen durch die andere Tür mit Hilfe eines besonderen «Diebeshakens», der Rituellen Körperhaltung zum Erleben von visionären Trancezuständen (Goodman, 1989, 1992).

Die Vision-Quest-Erlebnisse der nordamerikanischen Ureinwohner sind uns deshalb bekannt, weil US-amerikanische Anthropologen sie jahrzehntelang in mühsamer Arbeit zu einer Zeit, als die indigene Spiritualität von den weißen Eroberern schwer bedrängt wurde, aufgeschrieben haben (Irwin, 1994). Hingegen ist aus nichtweißen Quellen praktisch nichts über den Kulturkomplex der rituellen Körperhaltungen bekannt, obgleich er in Ausgrabungsstätten von Jäger- und Gartenbauersiedlungen in der Kunst äußerst reich vertreten ist. Möglicherweise haben die Anthropologen bei ihrer Feldforschung nicht nach den ihnen unbekannten rituellen Körperhaltungen gefragt, oder sie haben sie überhaupt nicht als solche erkannt. Das spezifische visionäre Erlebnis, das in solchen alten Kunstwerken festgehalten ist, ist von solcher Kraft im Ausdruck, dass es bei der Hinzufügung einer rhythmischen Anregung, etwa durch eine Rassel oder eine Trommel, ohne weiteres zu neuem Leben erwacht. Das wusste man schon vor tausend Jahren, wie die hier abgebildete Felszeichnung nachweist, und sie teilt sich auch unmittelbar in erstaunlicher Weise dem modernen forschenden Städter mit (Goodman, 1989).

Undatierte Felszeicbnung (Smithsonian Institute)

Religiöse Rituale gehören zu dem Kostbarsten, was eine Kultur besitzt. Das in allen Kulturen grundlegend Charakteristische von religiösen Ritualen ist eine geschlossene Folge von Handlungen, deren explizite Aufgabe es ist, die Verbindung zu einer «anderen Wirklichkeit» herzustellen und auf diese Weise die Ausübenden zu einem religiösen Erlebnis zu führen. Jede rituelle Körperhaltung stellt ein vollständiges Ritual in obigem Sinne dar. Darüber, wie sie «erfunden» oder entwickelt worden sind, scheint es in der Mythologie keine Angaben zu geben. Uns „Modernen“ liegt es nahe, die Hypothese aufzustellen, dass man irgendwann einmal durch Experimentieren von Versuch und Irrtum auf sie gekommen sei: Man probierte alle möglichen Varianten durch, bis sich das gewünschte Ergebnis einstellte. Das aber ist eine uns eigene Betrachtungsweise, Neues zu entdecken, sie ist Teil unserer Weltanschauung, unserer städtischen Kultur. Versuchen wir aber, nicht auf rationalistische Weise, sondern gewissermaßen von innen her die Herkunft der rituellen Körperhaltungen zu verstehen, dann gibt es sehr wohl einen Fingerzeig, nicht in Bezug auf einzelne Haltungen, wohl aber auf die Art und Weise des Entdeckens an sich. So wurde ein Träumer, wie die Navajo in Verbindung mit dem Heilritual des Nightway erzählen, von den ye'i, den Gottheiten, in die andere Wirklichkeit entführt und erhielt dort das ganze Ritual als Geschenk. Es ist ein sich in den Mythen der ganzen Welt wiederholendes Motiv. Die Haltungen sind also «Geschenke» oder – mit einem gängigeren Ausdruck – Offenbarungen.

Im Folgenden möchte ich eine kurze Kosmologie nachzeichnen, ein Art Beschreibung der «anderen Wirklichkeit», wie sie sich darstellt bei einem Vergleich zwischen den rund 350 von Irwin zusammengestellten Vision-Quest-Erlebnissen der Prärievölker und den mehr als 1000 Visionserlebnissen, die sich bei unserer Arbeit mit inzwischen fast einhundert verschiedenen rituellen Körperhaltungen der Jäger und Gartenbauer im Laufe der Zeit ergeben hat.1 Was bei diesem Vergleich klar wird ist die Tatsache, dass die «andere Wirklichkeit», zu der man vermittels dieser beiden Strategien Zugang bekommt, in allen Einzelheiten die gleiche «heilige Dimension», der Aufenthaltsort der Geistwesen ist. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der Vision Quest sozio-kulturellen Zielen dient, was sicher einst auch die Zielsetzung der Bräuche der rituellen Körperhaltungen war, was aber bei von individualistischen modernen Städtern ausgeführten Versuchen als Zielsetzung offensichtlich verkümmert ist.

«Der Mann von Cuautla». Die etwa eintausend Jahre alte Tonstatue, genannt nach dem Fundort der Figur im nördlichen Mexiko, stellt eine typische rituelle Körperhaltung für eine bestimmte mythische Trancereise dar: Der Mann sitzt flach auf dem Boden, er trägt eine Federkrone, sein Kopf ist leicht nach hinten geneigt, er hält die Zunge zwischen den Lippen. Die Beine sind ausgestreckt und die Knie sind leicht gekrümmt. Der linke Arm ist etwas stärker gestreckt als der rechte, und der gleiche Unterschied drückt sich auch in der Haltung der Hände aus, indem die linke Hand eher etwas seitlich auf dem Knie liegt, wahrend die rechte gespannt auf dem rechten Knie ruht.

Nun fragt man sich natürlich, wieso sich zwei so verschiedene Strategien zu der Erreichung des gleichen Ziels entwickelt haben. Irwin meint, «der Visionskomplex (sei) für die Präriestämme eine rituell bestimmte Nachvollziehung der beim Vision Quest spontan auftretenden visionären Erlebnisse.» (Irwin, S. →) Möglicherweise entsprang der Komplex der rituellen Körperhaltungen ähnlichen Wurzeln; er wurde dem schamanischen Spezialisten vielleicht in der anderen Wirklichkeit als Geschenk überreicht, weil er sich auf der Suche nach einer verlässlichen, zielgerichteten Möglichkeit befand, um dort einzutreten, und die sich leicht institutionalisieren ließ.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die «andere Wirklichkeit», die bei der Vision Quest erlebt wird, und diejenige, in die man über die rituelle Körperhaltung gelangt, in folgenden Aspekten übereinstimmt: Die «andere Wirklichkeit» kann nur dann betreten werden, wenn der Körper entweder spontan infolge körperlicher Entbehrungen oder über eine rhythmische Anregung gewisse neurophysiologische Änderungen erfährt. Visionäre der Indigenen erwähnen oft solche Phänomene, sei es in der Form von stark beschleunigtem Herzschlag, schwerem Zittern oder extremem Schweißausbruch. Auch wir kennen diese Erscheinungen, und bei unseren Laboruntersuchungen haben wir außerdem bezeichnende endokrine Vorgänge sowie im Hirn das Auftreten von Thetawellen im EEG festgestellt (vgl. Goodman, 1992: 22 ff., auch Nauwald, Goodman 2018).

Die rituell erlebte «andere Wirklichkeit» stellt sich als mächtiger dar als die gewöhnliche Alltagswirklichkeit und ist durchdrungen von einer gestaltlosen, unsichtbaren Kraft, einem «Wind», der alles, was er berührt, befruchtet. Bei Eintritt in jene Wirklichkeit erleben beide Gruppen eine Auflösung der körperlichen Beschränkungen der Schwerkraft und des Stofflichen sowie der Zeit. Dadurch wird die Bewegung multidimensional: Man kann in die Unterwelt reisen oder das Reich der Toten betreten, die Mittlere und Obere Welt durchstreifen, ferne Orte wie auch die Vergangenheit und die Zukunft erreichen. Diese Welt ist jedoch keinesfalls ein Gebilde der Imagination oder eine Zukunftsphantasie. Es erscheinen vertraute Berge am Horizont, der bekannte Fluss im nächsten Tal, die Zedern und Schluchten des amerikanischen Südwestens. Die Gebäude, in die man eintritt, sind aus der gewöhnlichen Wirklichkeit bekannt. Die Teilnehmerin an einem solchen Trancereise-Kurs berichtete von einem dramatischen Besuch des Bärengeistes: «Er war riesig groß», sagte sie, «und krachte durch die Decke unserer Kiva. Dann aber sagte er beruhigend: 'Sag Felicitas, sie soll sich keine Sorgen machen. Ihr Dach ist noch heil'.»

Das heitere Vorkommnis erhellt zusätzlich auch noch mehrere andere Übereinstimmungen zwischen der Natur der «anderen Wirklichkeit», wie sie vermittels der beiden verschiedenen Zugänge erlebt wird. Die Geister erscheinen bei beiden nicht in ihrer unverkleideten strahlenden Energieform. Das kann man als Mensch nicht ertragen. Wie eine griechische Sage erzählt, verbrannte Semele, die Geliebte des Zeus, als er ihr auf ihren Wunsch hin in seiner wahren Form erschien. Sie legen sich statt dessen weibliche oder männliche Tiermasken an. Die Wahl ist wohl deshalb getroffen worden, weil Tiere zum Beispiel nach der Auffassung der Toono O'odham, Pueblo-Volk aus Arizona, freundlicher, weiser und mächtiger sind als Menschen (Underhill, 1976). Die Tiergeister, in diesem Fall «Großvater Bär», sind hilfreich, wohlwollend, niemals zerstörerisch. Das heißt, in dieser Wirklichkeit ist die Teilung in Gut und Böse unbekannt, und folglich gibt es auch keine absolut bösen Geister. Die Geister sind auch nicht hierarchisch geordnet, ihre Welt ist durchweg egalitär. Das erste Geistwesen, das sich mir genähert hat, war die Grille – nicht jene bekannte verzuckerte Gestalt der Disneyfilme, sondern eine weise, schwesterliche kleine Führerin durch eine Welt, die für mich damals eine geheimnisvolle Wildnis ohne Weg und Steg war. Und der mächtige Büffelgeist, zu dem sie mich schließlich führte, war keineswegs ihr übergeordnet, sondern eben nur ein anderes Geistwesen. Selbst die Menschen, die Männer sowohl wie die Frauen, obgleich sie so viel weniger Macht besitzen als die Geistwesen, sind ihnen gleichgestellt, ein Teil dieses egalitären, «gerechten», auf Fairness ausgerichteten Systems. In der Vision verkehren sie mit den Tiergeistern auf du und du und können sogar ihre Gestalt annehmen. «Bei den Muschel- und Kieselverbänden der Omaha», so Irwin, «können sich die Mitglieder, wie sie behaupten, zufolge gewisser visionärer Erlebnisse in Vögel, Tiere, Steine oder Blätter verwandeln. [ ... ] Ähnliche Fähigkeiten werden auch von den Lakota und anderen Präriestämmen berichtet.» (Irwin, S. →)

Ähnlich haben auch wir in unserer Forschung mindestens sechs verschiedene rituelle Körperhaltungen entdeckt, die diese Art der Verwandlung ermöglichen. Übrigens sind diese Erlebnisse selten ausschließlich «visionär», das heißt gesehen, es sind vielmehr alle Sinne daran beteiligt. Jede Gestalt wird von der ihr eigenen Sinneswahrnehmung begleitet, von einem bezeichnenden Körpergefühl, ihren Lauten und besonders von ihrem Geruch. Das wird nicht nur in Irwins Quellen geschildert, sondern auch wir haben zahlreiche lebhafte Erinnerungen an den «wilden» Geruch des Bären und an eine klare Andeutung des scharfen Gestanks des Büffels.

Der Bär und der Büffel sind die am Meisten auftretenden Tiergeister bei den Erlebnissen der Pueblos von Trancereisen und Visionen. Der Bär ist der mächtigste aller Heiler, während der Büffel sozial denkt und Zusammenarbeit wie Verantwortung lehrt. Die Prärie-Völker erzählen auch, dass der Büffel sie im Jagen unterrichtet habe. Er setzt sich besonders für die Frauen ein, ist oft ihr Schützer und Helfer. Es war der Büffel, der schon vor Jahrzehnten zu meinem gütigen und geduldigen Lehrmeister wurde.

Das erwähnte Erlebnis mit dem Großvater Bär weist auch auf eine weitere wichtige Seite der «anderen Wirklichkeit» hin, wie sie bei beiden Zugängen zuteil wird. Der Bär war durch das Dach dieser Kiva auf diesem Land durchgekracht, ohne es zu beschädigen. In jenem Dach berührten sich die beiden Dimensionen der Wirklichkeit, sie «umhüllen» sich, wie Irwin das nennt, und damit bestätigen sie sich gegenseitig. Und doch ist Großvater Bär in keiner Weise an diese Kiva oder auch an dieses Land gebunden. Er kann in unbegrenzter Folge zu jeder Zeit an jedem Ort allein oder in Vielzahl erscheinen.

Schamane mit dem Bärengeist.

Indianische Holzschnitzerei, Nordwest-Amerika.

Schließlich bescheren uns die von Irwin berichteten Texte noch eine ganz erstaunliche Übereinstimmung mit einer unserer Beobachtungen. Es geschieht gelegentlich bei unseren Trancesitzungen, dass das berichtete Erlebnis in keiner Weise in den von der rituellen Körperhaltung vorgegebenen Rahmen passt. Stattdessen erscheinen unerwarteterweise Einzelheiten irgendeines mächtigen, sich an der Grenze zwischen den Dimensionen abspielenden Geschehens wie etwa der Prozess gegen die Jungfrau von Orleans oder einer Mythe, die ich dann erst Jahre später kennen lernte, wie etwa im Fall der Geschichte des Jägers genannt Kats. «Flüchtig und dennoch ewig schwebt (das Erlebnis) in dem Zauberraum wie ein regenbogenfarbiges Spinnengewebe.» Es gibt Zaubermärchen, heißt es später in dem Text, «die sind gegenwärtig in dem Sinn, dass sie in dem Augenblick, wo sie geschahen, nicht untergegangen sind, sondern in der Schwebe gehalten werden in einer Dimension, in der es weder Vergangenheit noch Zukunft gibt, in der Allgegenwärtigkeit, der wahren Schatzkammer der Menschheit.» Ist der Blickwinkel der richtige und erscheint gleichzeitig «ein Spalt am Horizont zwischen der Erde und dem Himmelsgewölbe», dann werden sie dem Visionären sichtbar.

Irwin berichtet nun, dass «das gewöhnliche visionäre Erlebnis eines bekannten heiligen Mannes zu dem Glauben beigetragen hat, dass die Visionen ihre eigene unabhängige Präexistenz besitzen. Diesen Traditionen zufolge leben die Visionen in einer Schicht des himmlischen Bereiches unmittelbar unter dem der minderen Himmelsmächte»:

«Katascha, der Ort, wo die Visionen sich aufhalten, befindet sich in der Nähe des Wohnplatzes der minderen Mächte. Deshalb können diese uns jede von ihnen ausgesuchte Vision herab schicken. Wenn die Mächte eine Vision aussenden, dann kommt sie zu dem Ausgesuchten hernieder, der sie sieht und das hört, was sie zu sagen hat; wenn der Tag herannaht, steigt die Vision wieder hinan zu Katascha und ruht dort, bis sie wieder gerufen wird.

Vor langen Zeiten lebte einst ein heiliger Mann, und der hatte einen Traum. Er wurde zu dem Ort entführt, wo alle Visionen leben. Diejenigen, die Kawas, dem braunen Adler, gehören, und die, die dem weißen Adler, dem männlichen, gehören. Während er sich dort aufhielt, brach der Tag an, und er sah, wie die Visionen, die hinab gesandt worden waren, heraufzuklettern begannen. Unter ihnen erkannte er jene Visionen, die ihn früher besucht hatten.» (1994: 136)