Melitta Gräfin Stauffenberg - Gerhard Bracke - E-Book

Melitta Gräfin Stauffenberg E-Book

Gerhard Bracke

4,7
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ihre Flugbegeisterung war grenzenlos. Täglich absolvierte die Diplom-Ingenieurin Melitta Gräfin Stauffenberg bis zu 15, insgesamt etwa 2500 Sturzflüge, um ihre innovativen Sturzflugvisiere selbst zu erproben. Die Schwägerin des Hitler-Attentäters Claus Graf Stauffenberg wurde für die luftkriegstechnische Forschung des Dritten Reiches so unabkömmlich, dass man sie nach dem 20. Juli 1944 nach nur sechs Wochen aus der (Sippen-)Haft entließ. Die Liebe zur Familie kostete die Fliegerin dennoch das Leben: Am 8. April 1945 wurde sie auf dem Flug zu ihrem inhaftierten Ehemann abgeschossen. Der Historiker Gerhard Bracke zeichnet anhand von Zeitzeugenberichten, Dokumenten und Tagebuchaufzeichnungen das faszinierende Porträt einer der besten Fliegerinnen Deutschlands.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 362

Bewertungen
4,7 (18 Bewertungen)
13
4
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerhard Bracke

Melitta Gräfin Stauffenberg

Das Leben einer Fliegerin

Mit 78 Abbildungen und Dokumenten

Herbig

© für die Originalausgabe und das eBook: 2013 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Alle Rechte vorbehalten

Komplett überarbeitete und ergänzte Neuausgabe

© 2013 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel

Umschlagmotiv: Archiv des Autors (Nachlaß Clara Schiller)

Satz und eBook-Produktion: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-7766-8157-4

www.herbig-verlag.de

Inhalt

Geleitwort von Berthold Graf Stauffenberg

Geleitwort von Elly Beinhorn

Vorwort

Der Traum vom Fliegen

Kindheit und Schulzeit in Krotoschin und Hirschberg

Flugbegeisterung in Theorie und Praxis

Studium der Flugmechanik

Strahlantrieb und Raketentechnik

Forschungstätigkeit bei der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt

Entwicklung von Sturzflugvisieren

Als Flugzeugingenieurin und Pilotin bei den ASKANIA-Werken

»Eine ganz außergewöhnliche Frau«

Versetzung zur Luftwaffenerprobungsstelle Rechlin

Sturzflüge mit Ju 88 und Ju 87 (»Stuka«)

Bei der Technischen Akademie der Luftwaffe

Empfang im Hause Göring

Verleihung des Eisernen Kreuzes

Der Luftwaffe direkt unterstellt

Verhandlungen wegen eines »Reichsvertrages«

Unter schwierigen Bedingungen

Vortragsreise nach Stockholm im vierten Kriegsjahr

Tiefsturzanlage und Nachtlandeverfahren

Kriegstechnische Entwicklungen der »Versuchsstelle für Flugsondergerät e.V.«

»Einer für alle, alle für einen«

In »Ehrenhaft« nach dem Attentat am 20. Juli 1944

Auf der Suche nach den Gefangenen

Die letzten Flüge und der Absturz

Nachwort

Danksagung

Anhang

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Dokumentenanhang

Bildteil

Bildnachweis

Personenregister

Geleitwort von Berthold Graf Stauffenberg

Zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen von Gerhard Brackes Biographie meiner Tante Melitta Gräfin Stauffenberg ist das Interesse an dieser bedeutenden Frau neu erwacht und hat seinen Niederschlag in Medien verschiedener Art gefunden.

Für mich ist offensichtlich, dass nicht alle der einzigartigen Persönlichkeit meiner Tante gerecht wurden. Es wurde deutlich, dass Gerhard Brackes Würdigung in ihrer Vollständigkeit und auch dem vorbildlich knappen und präzisen, aber nicht leidenschaftslosen Stil bis heute Maßstab ist.

Melitta Gräfin Stauffenberg kam in unsere bis dahin recht traditionelle Familie als Fremde – familiär wie beruflich. Sie wurde aber sogleich zu einer von allen geliebten Verwandten, die zudem nicht nur für ihre beruflichen Leistungen, die nur die wenigsten würdigen konnten, sondern auch für ihre ungemein vielfältigen Fähigkeiten bewundert wurde.

Dennoch konnte sich damals niemand vorstellen, dass ihr die größte Bewährungsprobe noch bevorstand, als sie nach ihrer Freilassung nach der Haft in der Folge des 20. Juli 1944 die Einzige war, die – ohne Rücksicht auf ihre berufliche Belastung und ihre physischen Kräfte und auch persönliche Gefahr – die Verbindung zwischen den in Haft befindlichen Familienangehörigen sichergestellt und diese vielfältig unterstützt hat. Dies hat sie schließlich mit ihrem Leben bezahlt.

Nur noch einige von uns, damals allesamt Kinder, haben noch eine persönliche Erinnerung an sie. Wir sind ihr bis heute unendlich dankbar, und für uns nimmt sie in der langen Geschichte unserer Familie einen Ehrenplatz ein.

So begrüße ich es nachdrücklich, dass Gerhard Brackes Werk eine Neuauflage findet und damit das in letzter Zeit etwas verwaschene Bild von Melitta Gräfin Stauffenberg wieder klar wird.

Generalmajor a. D.

Oppenweiler, im September 2012

Geleitwort von Elly Beinhorn

Es ist eine Freude, endlich eine umfassende Würdigung der Verdienste und des einmaligen fliegerischen und technischen Könnens von Melitta Schiller-Gräfin Stauffenberg zu bekommen.

Ich erinnere mich so gern der Stunden mit dieser bescheidenen und zurückhaltenden Fliegerkameradin, der ich von Herzen ein glückliches Ausruhen nach ihren einmaligen Erfolgen gewünscht hätte.

München, im Frühjahr 1990

Vorwort

Daß nicht der Bekanntheitsgrad über Persönlichkeitswert und Leistung einer Frau von zeitgeschichtlichem Rang entscheidet, erweist sich am Lebensweg der einzigartigen Fliegerin Melitta Gräfin Schenk v. Stauffenberg geb. Schiller.

Unter dem Titel »Fliegen und stürzen – Porträt einer außergewöhnlichen Frau« brachte das Deutsche Fernsehen 1974 eine Dokumentarsendung, die allerdings nicht unproblematisch war und nur bedingt als gelungen bezeichnet werden konnte. In der »ZEIT« erschien aus Anlaß des 70. Geburtstages am 5. Januar 1973 eine Würdigung mit der Überschrift »Täglich fünfzehn Sturzflüge – Zu Unrecht vergessen: Flugkapitän Melitta Schiller-Stauffenberg war vor vierzig Jahren ein Pionier der Luftfahrt«. Verfaßt hatte diesen Beitrag Jutta Rudershausen, eine inzwischen verstorbene Schwester der Gräfin, die durch ihren Ehemann, den Historiker Alexander Graf v. Stauffenberg mit dem Hitler-Attentäter verschwägert war. Frau Dr. Jutta Rudershausen und ihre Schwester Dipl.-Ing. Klara Schiller bemühten sich jahrzehntelang, durch Archivalienbeschaffung und Zeugenbefragungen Material zu sammeln, das nunmehr die dokumentarische Grundlage der vorliegenden, zeit- und luftkriegsgeschichtlich geprägten Biographie bildet.

Insgesamt gestaltete sich die Quellenlage durchaus schwierig, zumal die Bestände des Koblenzer Bundesarchivs nur wenige Unterlagen aufweisen. Um Nachforschungen bemühte sich ebenso der Bundestagsabgeordnete Franz Ludwig Graf Stauffenberg. Prof. Dr. Hans Booms, Leiter des Bundesarchivs in Koblenz, informierte den Grafen Stauffenberg mit Schreiben vom 3. März 1978 über die Ermittlungen:

»Die von Ihnen gesuchten Vernehmungsprotokolle über Ihre Frau Tante, Melitta Gräfin Stauffenberg, haben sich zu meinem lebhaften Bedauern in den Beständen des Bundesarchivs nicht ermitteln lassen … Vermutlich jedoch sind die Protokolle – wenn sie sich erhalten haben, wofür Frau Dipl.-Ing. Klara Schiller Anhaltspunkte zu besitzen scheint, – im Zentralen Parteiarchiv der SED im Institut für Marxismus-Leninismus, DDR 104 Berlin, Wilhelm-Pieckstr. 1, zu suchen, das reichhaltige, wenn auch westlichen Benutzern noch großenteils verschlossene Unterlagen zum ›antifaschistischen‹ Widerstand im weitesten Sinn besitzt. Darauf deutet m. E. auch der mit bemerkenswerter Bestimmtheit formulierte Absatz bei Kurt Finker: Stauffenberg und der 20. Juli 1944; Union Verlag (Ost-)Berlin, o. J. (1967), S. 300, hin, – die einzige Angabe, die ich in der einschlägigen Widerstandsliteratur überhaupt speziell zu Ihrer Frau Tante feststellen konnte; Finker stützt seine Darstellung wesentlich auf Überlieferungen des Instituts für Marxismus-Leninismus wie auf ihm sonst in der DDR verfügbare Quellen.«

Bereits am 20. Mai 1977 erwiderte Das Zentrale Staatsarchiv der DDR in Potsdam auf eine Anfrage Frau Schillers offenbar ausweichend: »Zu den in unserem Archiv verwahrten Beständen des Staatlichen Archivfonds der Deutschen Demokratischen Republik gehört auch der Bestand Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. In diesem Bestand, der in geringem Umfang auch Unterlagen über die Technische Hochschule Berlin enthält, konnten jedoch keine Quellen über Melitta Gräfin Stauffenberg ermittelt werden.« Statt dessen erfolgte der Hinweis auf das genannte Buch von Kurt Finker mit Zitat:

»Melitta Gräfin von Stauffenberg, die wie ihr Mann nichts mit der Verschwörung zu tun hatte, war Fliegerin und leitete auf dem Flughafen Gatow bei Berlin die Ausbildung von Nachtjagdpiloten an einem Gerät, das Bruchlandungen verhinderte. Nach der Entlassung aus der Sippenhaft nutzte sie die wiedergewonnene Bewegungsfreiheit, um den Familien der Verfolgten zu helfen und Nachrichten zu überbringen. Sie kam ums Leben, als auf einem dieser Flüge ihr unbewaffnetes Flugzeug am 8. April 1945 von einem englischen Jäger abgeschossen wurde.«

Unterlagen über Melitta Gräfin Stauffenberg ließen sich nach Auskunft von Prof. Dr. Booms auch nicht im Berlin Document Center feststellen. Das Schreiben vom 10. Mai 1978 endet mit der Bemerkung: »Ansatzpunkte zu weiteren Nachforschungen in sonstigen Archiven oder Verwahrstellen in der Bundesrepublik Deutschland vermag ich nun leider nicht mehr zu erkennen.«

Über Kriegs- und Nachkriegszeit gerettet werden konnten indes die Tagebuchaufzeichnungen der Gräfin Stauffenberg aus den Jahren 1943 und 1944 – Originaltaschenkalender jener Jahre mit absolut authentischen Eintragungen. Die (im Gegensatz zu fragwürdigen oder erfundenen »Tagebüchern«) unverfälschten Aufzeichnungen, insbesondere die während der Inhaftierung entstandenen, sind von unschätzbarem Wert. Die winzige Bleistiftschrift mußte teilweise unter der Lupe entziffert werden, verwendete Abkürzungen bedurften der richtigen Zuordnung. Aber diese Aufzeichnungen, Briefe, Schriftstücke, Aktenmaterial, Zeitungs- und Erlebnisberichte, Zeugnisse, Urkunden und Korrespondenz mit führenden Persönlichkeiten der Luftfahrt und der Luftfahrtforschung und schließlich die erhalten gebliebenen Teile wissenschaftlicher Publikationen der Fliegerin selbst ermöglichten eine aufschlußreiche zeitgeschichtliche Dokumentation, die über das rein Biographische hinausweist.

Das Einzigartige liegt in der Verbindung von wissenschaftlicher Forschungstätigkeit im Dienste der Luftfahrt und der Luftwaffe einerseits sowie dem fliegerischen Geschick zur Erprobung der wissenschaftlichen Ergebnisse andererseits.

Melitta Schiller-Stauffenberg war – im Unterschied zur berühmten Fliegerin Hanna Reitsch – keine Testpilotin und keine Erprobungsfliegerin im üblichen Sinne. Ihre fliegerische Aktivität fiel unter die Bezeichnung »Ingenieurflugzeugführer«.

Ausbildung, Erfahrung und Tätigkeit als Ingenieur sind hier von gleichgroßer Bedeutung wie die als Flugzeugführer. Vom Ingenieurflugzeugführer wird in der Berufsausübung die Lösung folgender Aufgaben erwartet:

»1. Genaue und umfangreiche ingenieurmäßige Kenntnisse des zu bearbeitenden Fluggerätes, seines Betriebes und der gesteckten Aufgabenziele.

2. Festlegung und Gestaltung des Flugprogramms nach den Erkenntnissen aus Punkt 1.

3. Durchführung des Fluges als verantwortlicher Flugzeugführer.

4. Auswertung der Flugergebnisse und Erstellung eines Berichtes mit einer möglichst objektiven Aussage über die Erreichbarkeit der gesteckten Aufgabenziele oder ggf. Änderungen des Fluggeräts und Aussagen zur Erstellung von Betriebsanweisungen.

5. Aufgrund seiner Kenntnisse und Erfahrungen Aussagen zur Weiterentwicklung von Fluggerät.«[1]

Bis Kriegsende war für die Berufsausbildung der Ing.-Abschluß (TH oder HTL) unbedingt erforderlich. Eingesetzt wurden Ingenieurflugzeugführer vornehmlich bei den Erprobungsstellen der Luftwaffe (Rechlin, Travemünde, Tarnewitz, Peenemünde-West, Udetfeld, Gotenhafen) sowie in der Muster- und Versuchseinfliegerei der Luftfahrtindustrie. In geringem Umfang erfolgte der Einsatz auch bei der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL), der Deutschen Forschungsanstalt für Luftfahrt (DFL) und der Deutschen Forschungsanstalt für Segelflug (DFS).

Nach Auskunft eines ehemaligen »Rechliners«, Ing. Heinrich Reck, unterscheidet sich die heute gebräuchliche Berufsbezeichnung »Testpilot« für eine technische Flugzeugführertätigkeit doch wesentlich von den Aufgaben des Ingenieurflugzeugführers bis 1945. Danach ist der Testpilot in erster Linie Flugzeugführer, wenn auch mit vielfachen technischen Kenntnissen und gutem technischen Einfühlungsvermögen, der seine Flüge nach vorgegebenem Programm durchführt, das er durchaus mitgestalten kann. Auf diese Weise waren auch Werkpiloten zum Einfliegen von Serienmaschinen tätig. Nach dem Kriege erforderte die Weiterentwicklung in der Luftfahrt mit dem komplizierter gewordenen Fluggerät in der Flugerprobung ein Teamwork aus Piloten, Ingenieuren und diversen Spezialisten u. a. für Elektronik.

In einem Schreiben vom 27. Februar 1963 bestätigen die ASKANIA-WERKE Berlin-Mariendorf:

»Frau Flugkapitän Dipl.-Ing. Melitta Schenk Gräfin von Stauffenberg, geb. am 9. Januar 1903 zu Krotoschin, war in der Zeit vom 1. November 1936 bis 30. April 1944 unser Gefolgschaftsmitglied. Zunächst wurde die Genannte als Ingenieur-Pilotin für die Erprobung neuartiger Geräte eingesetzt; dann erfolgte die Aufgabe, theoretische Untersuchungen auf einem Spezialgebiet durchzuführen. Die Wertung der hierbei entstandenen mathematischen Berichte veranlaßte ihre Berufung zu einer Erprobungsstelle, wo die Genannte in den verschiedensten Flugzeugmustern wichtige Aufgaben durchführte und die Flüge theoretisch auswertete … Am 30. April 1944 schied Gräfin von Stauffenberg aus unseren Diensten, um die Leitung einer Forschungsstelle zu übernehmen.«

Das angeführte Spezialgebiet umfaßte eine ihrer Hauptaufgaben während des Krieges, die Entwicklung und Erprobung von Sturzflugvisieren. Noch im Dezember 1943 hielt Gräfin Stauffenberg auf Einladung in Stockholm einen Vortrag über das Thema »Eine Frau in der Flugerprobung«, wobei sie u. a. die große Zahl der Sturzflüge erwähnte, »heute bereits über 2000, eine Zahl, die besonders Ärzte entsetzt. Schon mein früherer Tagesrekord von 12 Stürzen, den ich in diesem Jahr auf 15 erhöht habe, ist ärztlich völlig unzulässig, und so erklärt es sich vielleicht, daß die Zahl meiner Sturzflüge meines Wissens bisher von keinem Piloten, weder an der Front noch in der Heimat, erreicht worden ist.«[2]

Als Fliegerin stand Melitta Schiller-Stauffenberg niemals im Blickpunkt der Öffentlichkeit wie Elly Beinhorn oder Hanna Reitsch. Die bekannte Pilotin Thea Rasche schrieb 1938 über die Siegerin im Zuverlässigkeitsflug für deutsche Sportfliegerinnen: »Dreizehn Fliegerinnen starteten und landeten glücklich, und ausgerechnet die Wettbewerbsnummer ›13‹ siegte mit Flugkapitän Melitta Schiller am Steuer. Wir alle gönnten es ihr von Herzen – sie ›kann‹ was und ist ein prachtvoller Mensch, der in seiner übergroßen Bescheidenheit in der ›Öffentlichkeit‹ viel zu wenig bekannt ist, weil sie sich immer möglichst in den Hintergrund verstecken möchte.«

»Im übrigen«, so wurde sie bereits in einem 1931 erschienenen Buch zitiert, »ist es unwichtig, daß man etwas über mich schreibt. Es ist alles so selbstverständlich, und in einigen Jahren tummeln sich die Fliegerinnen auf ihren Maschinen so in den Lüften wie heute die Autosportlerinnen auf den Landstraßen.«[3]

Der außergewöhnliche Weg im fliegerischen Leben Melitta Schiller-Stauffenbergs, Trägerin des EK II und des Flugzeugführerabzeichens in Gold mit Brillanten und Rubinen, deren Aussicht auf eine Professur durch das tragische Ende zunichte wurde, läßt uns beinahe 70 Jahre nach ihrem Tod anders darüber denken. Daß dieser dokumentarische Lebensbericht dazu beitragen kann, eine zeitgeschichtliche Persönlichkeit vor dem Vergessenwerden zu bewahren, ist vor allem das Verdienst der beharrlich recherchierenden Angehörigen, ohne die eine solche Arbeit nie hätte entstehen können. Insbesondere gebührt Frau Dipl.-Ing. Klara Schiller aus Ulm-Söflingen aufrichtiger Dank für alles Bemühen, ihrer Schwester »Litta« den ihr zukommenden Platz in der zeithistorischen Literatur zu sichern und somit ihr Andenken in Ehren zu halten.

Der Traum vom Fliegen

Kindheit und Schulzeit in Krotoschin und Hirschberg

Im damals preußischen Städtchen Krotoschin, Provinz Posen, wurde Melitta Schiller am 9. Januar 1903 geboren. Väterlicherseits stammte sie aus einer jüdischen Pelzgroßhandelsfamilie, die ihren Sitz in der Gegend von Odessa hatte. Ihr Großvater Moritz Schiller gründete ein eigenes Pelzgeschäft in Leipzig, wo sein Sohn Michael, Melittas Vater, Bauingenieurwesen mit Schwerpunkt auf den Fächern Mathematik und Statik studierte. Nach Abschluß des Studiums war Michael Schiller als preußischer Beamter in westlichen Kreisen der Provinz Posen tätig, zuständig für den Bau und die Instandhaltung von Brücken und Straßen. Später zum Baurat ernannt, wählte er als zentralen Standort Krotoschin, wo er für sich ein Privathaus im Stil der Jahrhundertwende errichtete. Den 2500 qm großen Garten verwandelten Posener Gartenbauarchitekten in eine Anlage von seltenen Baum-, hauptsächlich Obstbaumbeständen.

Aus der Ehe mit der protestantischen Margarete Eberstein, deren Vater Schulrat in Bromberg gewesen und deren Mutter nach dessen frühem Tod nach Hirschberg (Schlesien) verzogen war, gingen fünf Kinder hervor: Marie-Luise (»Lili«), Otto, Melitta (»Litta«), Jutta und Klara (genannt »Pims«).

Im Unterschied zu den Reichsdeutschen allgemein entwickelten die im deutsch-polnischen Siedlungsraum lebenden Deutschen ein ausgeprägtes Nationalgefühl. »Über das Deutschsein der Deutschen in der Provinz Posen, besonders bei denen des gehobenen Bürgertums, herrschte kein Zweifel«, erinnert sich Marie-Luise Lübbert geb. Schiller. Der Vater hatte sich vor Beginn seines Studiums beim Erreichen der Volljährigkeit evangelisch taufen lassen, so daß weder seine Kommilitonen noch die Bekannten in Krotoschin etwas von seiner jüdischen Abstammung wußten. »Auch uns Kinder informierte er erst, als wir erwachsen waren und es durch die Nazis zur Gefahr werden konnte.«[1]

In dem kleinen Garnisonstädtchen verlebte die Familie bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine unbeschwerte Zeit, die jäh im August 1914 unterbrochen wurde. Der Vater, als Reserveoffizier eingezogen, war aufgrund seiner russischen Sprachkenntnisse als Dolmetscher in Kriegsgefangenenlagern eingesetzt. Beim Näherrücken der Front brachte die Mutter die jüngeren Geschwister, darunter Melitta, zur Großmutter nach Hirschberg in Schlesien, während sie selbst sich mit der ältesten Tochter für Sanitätshilfsdienste zur Verfügung stellte.

Nach dem unglücklichen Ausgang des Krieges wurden Westpreußen und die Provinz Posen dem wieder entstandenen polnischen Staat eingegliedert. Die deutschen Bewohner dieser Gebiete erhielten automatisch die polnische Staatsangehörigkeit auf dem Verordnungswege, sofern sie nicht für Deutschland optieren und die Heimat verlassen wollten. Melittas kurz vor der Pensionierung stehender Vater zog es vor, in Krotoschin, nunmehr Krotoszyn, zu bleiben.

Die zeitgeschichtlichen Veränderungen griffen natürlich auch in die Familien- und Ausbildungsverhältnisse der Deutschen im Posener Land ein. »Nun war der Aufbruch da, und hier übertönte der nationale Gedanke (der Polen) den sozialistischen; wenn das Landvolk mit Sensen und Dreschflegeln und wilder Begeisterung durch die Städte zog, dann aus nationalen Gründen, um die lästige deutsche Oberschicht zu vertreiben. Der polnische Großgrundbesitz blieb ungeschoren und unterstützte sogar die Aufständischen finanziell und ideell.«[2]

Schließlich mußten auch die deutschen Kinder in der Provinz Posen die in polnische Verwaltung übergegangenen Schulen verlassen, nachdem der Versailler Vertrag die Provinz endgültig Polen zuerkannt hatte. Es wurden deutsche Privatschulen mit Koedukation gegründet, in Krotoschin als mathematisch-naturwissenschaftliches Privatgymnasium, das allerdings nur zur »mittleren Reife« führte.

Melitta besuchte bis 1918 die Städtische Höhere Mädchenschule in Krotoschin und bis 1919 noch das Mädchengymnasium in Posen. Ausgiebige sportliche Betätigung in ihrer Freizeit, insbesondere Schwimmen und waghalsigste Kopfsprungübungen, sowie die Pflege ihrer großen künstlerischen Talente auf den Gebieten Malerei, Graphik, Modellierkunst und Bildhauerei ergänzten die schulische Ausbildung. Litta, wie sie allgemein genannt wurde, war tief unglücklich, daß ihre Zielstrebigkeit im Lernen und ihr Leistungswille nach kaum einjährigem Posener Zwischenspiel ein Ende fanden. Ihr Bruder, siebzehnjährig noch eingezogen, diente seit dem Novemberzusammenbruch 1918 freiwillig bei den Freikorpsverbänden, die ohne offizielle Billigung der noch unsicheren deutschen Reichsregierung monatelang durch aufopferungsvolle Kämpfe die Grenzen zugunsten des Reiches zu »verschieben« suchten. Krotoschin blieb von diesen Gefechten nicht unberührt. Melittas Vater wurde zweimal von polnischen Aufständischen zusammen mit anderen Deutschen als Geisel verschleppt.

Bei diesen turbulenten Geschehnissen bedeutete es eine glückliche Wende, daß für Melitta Schiller ein Heimaufenthalt im Riesengebirge ermöglicht werden konnte und sie das Gymnasium in Hirschberg bis zum Abitur 1922 besuchen durfte. Über diese Hirschberger Jahre berichtete eine in New York lebende Schulfreundin, Lieselotte Hansen geb. Lachmann. Ihre eindrucksvollen Schilderungen verdienen nicht nur wegen der Erinnerung an die verlorengegangene schlesische Heimat, sondern hauptsächlich um der Charakterisierung ihrer Freundin Melitta willen in größeren Auszügen zitiert zu werden:

»An einem Frühsommertag 1919 kam die sechzehnjährige Litta zu mir, um sich nach dem Hirschberger Mädchengymnasium zu erkundigen, dessen Schulbänke ich schon ein Jahr ganz vergnügt und erfolgreich gedrückt hatte. Littas Posener Luisenschule war gerade von polnischer Seite geschlossen worden; nun wollte es Litta ebenfalls in Hirschberg versuchen. Im Augenblick gab es zwar keine Pässe nach Deutschland …, aber wir hofften doch wenigstens im Herbst den Anschluß an die zweite Hälfte des Schuljahres, das Ostern begonnen hatte, zu erreichen …

Als ich Litta nach Hause begleitete, sprachen wir von den Sternen. Ich hatte gerade eine neue, drehbare Sternkarte geschenkt bekommen, von der wir sprachen. ›Und was treibst du nun so?‹ fragte ich Litta. ›Physik, Physik‹, sagte sie, ›zur Zeit beschäftige ich mich mit allgemeinen Problemen der Fliegerei, und Raketenflug interessiert mich am meisten. Leider alles nur theoretisch, es wird noch lange dauern, bis ich auf diesem Gebiet experimentieren kann. Aber‹ – fügte sie lachend hinzu – ›mein Vater sagt, daß bei jungen Mädchen so mit achtzehn Jahren das Interesse an der Wissenschaft sehr viel geringer wird, da muß ich ja nun sehen, daß ich bis dahin noch so weit komme wie möglich. Es müßte zum Beispiel möglich sein, mit Raketen interstellare Räume zu überbrücken, so daß du deine Sterne besuchen kannst. Man würde natürlich mit dem Mond anfangen, weil er am nächsten ist.‹ – Littas Gedankengänge überraschten mich keineswegs, denn sie stand von jeher in dem Ruf, sich mit Dingen zu beschäftigen, von denen unsere Krotoschiner Schulweisheit sich nichts träumen ließ. Aber natürlich wandte ich ein, daß selbst eine sehr starke Rakete ihre Geschwindigkeit viel zu schnell verlieren würde, um die Anziehungskraft der Erde zu überwinden (Gravitationsfeld war damals noch kein Haushaltswort); und selbst wenn das gelingen sollte, so würde der Flugkörper beim Versuch der Rückkehr ja doch verbrennen wie die Meteore, wenn sie die Erdatmosphäre berühren. Litta sah mich ruhig an. ›Ja, dasselbe sagt mein Vater auch, nur ein bißchen wissenschaftlicher und mit ein paar Zahlen belegt, und – er lacht mich aus! Aber ich weiß, es wird eines Tages gemacht werden, wenn auch nicht heut und morgen, weil ein Berg von Arbeit und Untersuchungen davor liegt.‹ Ungeduldig setzte sie hinzu: ›Und hier sitzt man nun von allem abgeschnitten, und in irgendeinem Institut an einer deutschen Universität arbeitet man vielleicht schon daran.‹

… Ich entsinne mich nicht, daß dieses Raketenthema später in Hirschberg jemals wieder zwischen uns aufgenommen wurde. Aber 45 Jahre später, als ich nach Amerika kam, 1964, habe ich mich an dieses Gespräch mit Litta auf einmal sehr lebhaft erinnert angesichts des damaligen ›Mondfiebers‹ …

An einem naßkalten Oktobermorgen 1919 ging es endlich mit neuen Pässen auf die Reise nach Hirschberg, nicht etwa den nächsten Weg südwärts über unsere vertraute Grenzstelle eine Meile von unserer Stadt, sondern nordwärts über Posen und Bentschen, den einzigen damals geöffneten Grenzübergang. Endloses Warten an Paß- und Zollkontrollen mit einigem Herzklopfen, denn ein ordnungsgemäßer Paß war in diesen wetterwendischen Zeiten noch keine Garantie für einen Grenzübertritt. Außerdem war es verboten, Lebensmittel mitzunehmen, und jedem von uns hatte doch eine gute Mutter einen kleinen Berg begehrter Raritäten für das hungrige Deutschland eingepackt. Es gruselte uns also vor der Gepäckkontrolle, aber alles ging gut. Ich sehe Litta noch in jenen Augenblicken der Ungewißheit auf dem zugigen, scheußlichen Bahnsteig in Bentschen stehen. Wenn es ihr ungemütlich war, so war es ihr jedenfalls nicht anzumerken … Es wurde Abend, bis wir Frankfurt an der Oder erreichten, und nach einer Nachtfahrt auf elenden Nebenstrecken kamen wir am nächsten Vormittag schließlich in Hirschberg an.

In der Schule war Litta bereits der Ruf eines ›ungewöhnlich begabten‹ Mädchens vorausgegangen. Zwei Lehrerinnen der Posener Luisenschule, die schon vor Ostern nach Hirschberg übergesiedelt waren, hatten dies dem Direktor berichtet, und den nach allen Seiten gespitzten Ohren einer Mädchenschule war das natürlich nicht verborgen geblieben. So wurde sie von ihrer Klasse schon in einer gewissen Hochstimmung erwartet, die auch nicht enttäuscht wurde, denn in den folgenden Jahren war Litta eine ständige Quelle geistiger Anregung für ihre Mitschülerinnen. Da ihr der übliche Schulehrgeiz ganz fernlag und ihre Leistungen auf manchen Gebieten unerreichbar hoch über dem Niveau ihrer Klasse lagen, blieb den anderen nichts übrig als neidlose Anerkennung, die ihnen auch nicht schwerfiel, da Litta sich immer kameradschaftlich und hilfsbereit zeigte. Sie hätte die günstigen Auspizien, unter denen ihre Schullaufbahn in Hirschberg begann, gar nicht nötig gehabt, denn es war ja gerade ihre Stärke, sich unter Vorbedingungen durchzusetzen, die so ungünstig schienen, daß andere davor zurückgeschreckt wären.

Um dafür ein Beispiel zu geben, muß ich vorgreifen, denn es handelt sich auch hier wieder um das Fliegen, für das Litta ein so übermächtiges Interesse hatte. Litta war wohl schon in Oberprima, als im Hirschberger Tal das Segelfliegen begann, das schließlich in regelrechten Kursen betrieben wurde. Von ehemaligen Kriegsfliegern geleitet, vermittelten sie fliegerisch interessierten jungen Leuten eine Art paramilitärischer Ausbildung, die angesichts der Beschränkungen, die der Versailler Vertrag der Reichswehr auferlegte, nicht anders zu erreichen war. Für Mädchen war dabei – zumindest zu diesem frühen Zeitpunkt (später hat ja wohl Hanna Reitsch dort auch angefangen) – kein Platz.[3] Rings um das Flugfeld fanden sich immer Zuschauer ein, Freunde, Verwandte der angehenden Segelflieger oder auch nur Neugierige. Von unserer Pension aus war der Weg dorthin weit, aber Litta war trotzdem oft draußen. Natürlich hatte sie längst alles gelesen, was man in theoretischer und technischer Hinsicht über Segelfliegen in Buchhandlungen und Bibliotheken aufstöbern konnte. Eines Tages fiel sie mit ihren soliden Kenntnissen auf, und irgendwann war es dann so weit, daß Litta allein in einem Segelflugzeug über dem Hirschberger Tal schwebte. Die Schulkameradinnen, die es sahen, brachten die Nachricht atemlos in die Stadt, wo sie denn auch gehörige Wellen schlug.[4] Litta selbst sprach niemals über ihre sportlichen oder schulischen Leistungen. Wenn sie etwas erreicht hatte, war es für sie erledigt, während sie sich in Gedanken wohl schon längst wieder mit dem nächsten Schritt beschäftigte. Trotzdem hatte ich den Eindruck, daß dieser erste fliegerische Erfolg etwas Besonderes für sie war, weil er eben das Fliegen betraf und weil sie wußte, daß man sie dort zuerst als Mädchen gar nicht ernst genommen hatte …

Aller Sport galt viel in der Schule, und in Hirschberg als der ›Pforte zum Wintersportparadies des Riesengebirges‹ stand das Skilaufen obenan. Litta stürzte sich mit Eifer auf den weißen Sport und verbrachte jeden Wintersonntag, wenn es das Wetter nur einigermaßen erlaubte, auf ihren Skiern im Gebirge … An den Nordhängen der böhmischen Seite lag der Schnee am längsten, und dort lief Litta manchmal noch Ski, wenn im Tal schon alles blühte und wir längst mit Tennisspielen angefangen hatten.

Wenn dann der Sommer kam, war die Zeit der Kletterpartien und Gebirgswanderungen – Mondscheinwanderungen waren besonders beliebt –, nur mit dem Schwimmsport gab es Probleme. Zwar wand sich der Bober malerisch durch die Wiesen vor der Stadt, aber er führte im Sommer oft so wenig Wasser, daß man mehr aufs Waten als aufs Schwimmen angewiesen war. Trotzdem hielten wir uns öfter draußen auf, ließen uns, so gut es ging, auf dem Rücken den Fluß hinabtreiben. Aus dem Vordergrund der Wiesen erhob sich die Stadt mit ihren alten Häusern und ehrwürdigen Kirchen, alles eingebettet in den Schutzwall der Berge. Das Schwimmen im Bober bedeutete indes mehr eine romantische Landschaftsträumerei.

Wollte man wirklich Schwimmsport betreiben, mußte man das Hermsdorfer Schwimmbad mit seinen Sprungbrettanlagen aufsuchen oder zur Bobertalsperre nach Mauer wandern. Der wohlsituierte Bürger fuhr mit der Bahn nach Mauer, mietete ein Boot und ruderte auf dem Stausee. Wir jedoch liefen zu Fuß auf schmalen Pfaden über Tal und Hügel nach den stillen Buchten, in denen sich das Wasser zwischen kleinen steilen Waldkuppen verlief, und schwammen von dort aus auf den See hinaus. Der schönste Weg führte über Bad Warmbrunn, nahm aber fast vier Stunden in Anspruch. Eines Junisonntags brachen wir früh um vier Uhr nach Warmbrunn auf, Litta, zwei andere Mädchen aus der Pension und ich. Dort erwarteten uns zwei junge Männer, die den Weg zur Boberröhrsdorfer Bucht kannten. Beide galten als ausgezeichnete Skisportler, die Litta im vergangenen Winter beim Skilaufen kennengelernt hatte … Nachdem wir die Boberröhrsdorfer Bucht erreicht hatten, sprangen Litta und ich schnell ins morgenkühle Wasser (die Badeanzüge trugen wir schon startbereit unter dem Dirndlkleid) und schwammen um die nächste Waldecke in die Kemnitzer Bucht, wo wir Reiher zu sehen hofften. Sie strichen auch grau als dunkle Schatten über das schwarze Wasser der engen Bucht, und wenn wir von ihrem Anblick entzückt waren, so empfanden sie sicher in Anbetracht der Störung das Gegenteil. Heftig mit den Flügeln schlagend, balanzierten sie auf den Baumspitzen und warteten auf unseren Rückzug. Es war ohnehin kalt in dieser schattigen Bucht, so daß wir gern die besonnten Wasser aufsuchten und nach etwa einer Stunde den großen Stausee erreichten. Wir schwammen noch ein gutes Stück auf die mächtige Staumauer zu, die das Tal verschloß und von der Litta später einmal heruntersprang. Leider bin ich nicht dabeigewesen, sondern erfuhr es nur am nächsten Tag in der Schule von den erstaunten Augenzeugen. Litta selbst erwähnte so etwas nie. Jetzt, Anfang Juni, war der Wasserstand noch ziemlich hoch, und die Mauer, die sich nach oben stark verjüngte, ragte noch nicht so furchteinflößend aus dem Wasser wie im trockenen Hochsommer … Gefährlich war das Springen natürlich immer, denn es kam darauf an, möglichst weit zu springen und dabei so flach zu bleiben, wie man es bei der Höhe der Mauer nur immer einrichten konnte.«

Auf das Gefährliche solcher Unternehmungen angesprochen, äußerte Melitta Schiller: »Man muß wissen, was man leisten kann, und die Aufgabe entsprechend taxieren, dann schrumpft alle Gefahr zur bloßen Zufälligkeit zusammen, und wenn wir uns vor dem Zufall fürchten wollten, dürften wir weder Auto fahren noch reiten und überhaupt keinen Sport treiben.«

»Die Talsperre war erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg fertiggestellt worden, und wenn wir über den See schwammen, empfanden wir jedesmal eine Art ›Vinetastimmung‹ bei dem Gedanken, daß in der Tiefe auf dem Seegrund wohl noch die Spuren alter Gehöfte zu finden waren, die da einstmals in der Sonne gestanden hatten …

Daß Litta sich in Hirschberg so zu Hause fühlen konnte – wir liebten es ja alle –, lag an der Besonderheit Hirschbergs, das trotz Nachkriegszeit, Inflation und der damit verbundenen Kümmernisse ein guter Ort war, um frei aufzuwachsen. Die Schönheit der Landschaft und der frische Bergwind hielten Gemüt und Geist beweglich. Die Atmosphäre war beinahe die einer kleinen Universität, wenn ich an die Schulzeit zurückdenke. Neben den strengen Wissenschaften konnte man vielseitige Interessen pflegen (Musik, Kunst, Sport), Meinungsaustausch zwischen Lehrern und Schülern war üblich. Unsere Pension lag außerhalb der Stadt, besaß Park und Obstgarten (acht Morgen) am Fuße der Vorberge und wurde von einer klugen, tüchtigen Frau geleitet, die viel Verständnis für junge Leute hatte.

Littas Hauptinteressen lagen selbstverständlich auf naturwissenschaftlichem Gebiet, der ›Grimsehl‹, ein zweibändiges Lehrbuch der Physik …, war ihr ständiger Begleiter schon morgens, wenn wir mit der Talbahn zur Schule fuhren. Ein dicker Wälzer, der ›Oppenheimer‹, harmlos ›Kurzes Lehrbuch der Chemie‹ genannt, stand gleichfalls hoch in ihrer Gunst. Mathematik flog ihr zu. In Prima fing sie an, ein lebhaftes Interesse für Philosophie zu entwickeln: Plato, Kant, Schopenhauer. Ihr ›philosophisches Treiben‹, das mir nicht recht einleuchten wollte, bildete zeitweilig den Hauptgegenstand unserer Diskussionen. ›Warum so viel Philosophie?‹ fragte ich sie, ›dafür ist doch auf der Universität noch Zeit genug, wenn man besser ausgerüstet ist.‹ ›Nein‹, erwiderte Litta, ›die Zeit wird knapper, und das beste Rüstzeug ist ohnehin der Verstand. Außerdem weiß ich zwar, warum ich Naturwissenschaften betreibe, aber die Schule verlangt ja von mir auch Sprachen, Geschichte, Literatur usw., und wenn ich da blindlings in alles hineingehe, kommt es mir vor, als drücke mir jemand eine Kurbel in die Hand und sagt: ›Dreh!‹ – und ich drehe da an einer Maschine brav tagaus, tagein und frage nicht ›wozu?‹, ›wie?‹ und ›warum?‹. Nun will ich zwar nicht behaupten, daß die Philosophie diese Fragen eindeutig löst, aber sie debattiert sie und zeigt einen Weg.‹

Ein Nachmittag ist mir noch erinnerlich, als Litta und ich im Park saßen und lasen, während vor uns, wenn wir den Blick hoben, das ganze Riesengebirge zart und unwirklich wie eine Fata Morgana im Sommerhimmel hing. Litta hatte wieder den von mir besonders beanstandeten Schopenhauer vor – sein Pessimismus lag mir noch meilenfern und ich las Marc Aurel für einen Aufsatz. Als der Koppenkegel schließlich rötlich zu glänzen begann und die blauen Schatten sich immer weiter über die alten Schneereste droben dehnten, ließ Litta das Buch sinken, und ich fragte mit einem bißchen Spott, bereit, eine Kontroverse zu eröffnen: ›Nun, was hast du heute gelernt?‹ Litta bemerkte, indem sie absichtlich meinen Ton überhörte: ›Es ging hauptsächlich um Ethik, und abschließend sagt Schopenhauer etwa: … nachdem es nun nicht möglich ist, ein glückliches Leben zu leben, bleibt nur übrig, ein heroisches Leben zu führen.‹ Und damit gingen wir beide nachdenklich nach Hause.

Aber wir waren natürlich nicht immer so verteufelt ernsthaft, sondern hatten in der Pension eine Menge Spaß. Dabei war Litta nie ein Spielverderber, sondern wirkte vergnügt und einfallsreich mit. Improvisierte Theaterspiele erforderten schon eine gewisse Aufmachung, während es für Stegreifreden ›an das Volk‹ bloß eines Stuhles bedurfte. Man sprach über ein Tagesthema, ein Sprichwort oder Zitat, das man sich wählte oder das einem aus der ›Menge‹ zugeworfen wurde. Es kam darauf an, im Volksjargon klar und deutlich seine Meinung zu verkünden und für den Schluß eine geeignete Pointe zu bemühen …

Im übrigen wollten wir im täglichen Leben alle tapfere Asketen sein, die Bequemlichkeit und billige Vergnügungen (wie Kino) verachteten. Auch darin war Litta uns allen noch überlegen. Im Oberprimajahr bat sie unsere Pensionsmutter, ihr als ›Einzelzimmer‹ ein kleines Dachkämmerchen zu überlassen. Weil der Raum nicht geheizt werden konnte, bedurfte es einiger Überredungskunst, ehe Litta ihren Wunsch erfüllt bekam. Das Kämmerchen besaß Dachschräge und machte einen ziemlich dunklen Eindruck. Dagegen fehlte es nicht an frischer Luft, denn der Wind pfiff ungeniert durch sämtliche Ritzen. Litta legte sich eine Lichtleitung und las beim düsterroten Licht einer kleinen Glühbirne ungeachtet der grimmigen Kälte im ›Grimsehl‹ …

Wenn Litta sich später München zum Studium aussuchte, dann lockte sie wohl vor allem das künstlerische Klima der Stadt. Überaus interessiert an Malerei, nahm sie bereits während der Schulzeit lebhaft Partei für den Expressionismus, der sich damals erst auf dem Weg zu seinem Höhepunkt befand und heftigen Angriffen ausgesetzt war. In Littas letztem Hirschberger Jahr hatte sich Prof. Grundmann für ihre Zeichnungen und Malereien interessiert und sie ermuntert, auf diesem Wege weiterzugehen (Grundmann war damals Leiter der Warmbrunner Holzschnitzschule und spielte später eine große Rolle im Kunstleben Schlesiens und nach dem Zweiten Weltkrieg in Hamburg).

Unsere Blümchen-Volkskunst-Erzeugnisse fanden wenig Gnade vor Littas Augen, aber manchmal beteiligte sie sich dennoch und setzte mit kühnen Strichen und ungewöhnlichen Farben ein wirkungsvolles Muster zusammen. Weil es damals sehr wenig zu kaufen gab, stellten wir auch die kleinen Geschenke füreinander selbst her. Scherenschnitte wurden bald das allgemeine ›Hobby‹, und hier schloß sich Litta nicht aus. Ihre Scherenschnitte wiesen stets einen besonderen Charakter auf. An zwei Arbeiten erinnere ich mich deutlich; der eine Scherenschnitt stellte einen Baum dar, der das Filigran seiner kahlen Zweige vor einem winterlichen Abendhimmel ausbreitete. Auf dem weiten, hellen Hintergrund des Himmels war mit ein paar Kreidestrichen ein mattes Abendrot angedeutet. Mir gefiel der Schnitt außerordentlich gut, und als Litta ihn einer Abiturientin zum Abschied schenkte, war ich fast traurig. Litta bemerkte das und sagte: ›Dir mache ich einen anderen, dieser hier paßt ohnehin nicht zu dir.‹ Einige Tage später erhielt ich dann das neue Blatt grau getönten Papiers. Der Scherenschnitt zeigte einen jungen Baum auf einer Hügelspitze. Alle seine Zweige waren von einem starken Wind nach einer Seite gepeitscht, aber er stand doch irgendwie trotzig in dem dunklen Himmel mit den sturmzerfetzten grau und blaßgelb skizzierten Wolken, hinter denen ein Stückchen vom fahlen Mond hervorsah. Das Bild wirkte in der wilden Verschlingung der Äste äußerst lebendig. Es hat mich später getreulich auf der Wanderschaft durch alle Studenten- und Assistenzarztbuden begleitet und hing zuletzt in meinem Wohnzimmer in Lichterfelde, bis es 1944 dem Bombenkrieg zum Opfer fiel.

1 Motivähnliche Schülerarbeit Melitta Schillers

Ostern 1922 legte meine Freundin mit glänzenden Leistungen ihr Abitur ab, selbstverständlich befreit von der mündlichen Prüfung … Bevor Litta abreiste, unternahmen wir noch einen letzten Spaziergang. Der Weg führte durch die ›Abruzzen‹, ein uriges Gelände zwischen Hügeln und Gestrüpp, zur höchsten Erhebung in der Runde, die einen prächtigen Blick über das ganze weite Tal bot. Unser Gespräch drehte sich um Littas Zukunft, um die Universität, die wir Zurückbleibenden etwa so sahen wie die Pilger die in der Ferne glänzende Gralsburg. Mit einer Handbewegung über das Tal sagte ich nur: ›So liegt sie nun vor dir, die Freiheit. Aussichten nach allen Seiten, und du kannst gehen, wohin du willst, tun und lassen, was du willst, während wir hier weiterhin festgeleimt auf der Schulbank sitzen.‹ ›Ja‹, antwortete Litta, ›die Mädel in meiner Klasse sehen es wie du, aber ihr irrt euch alle! Die Freiheit lag hier, hier konnten wir tun, was wir wollten, und man sorgte für uns, und die Lehrer trugen auch noch die Verantwortung dafür, daß wir etwas lernten. Ich freue mich nicht übermäßig auf die Uni, was dort anfängt, ist ganz unverblümt der Kampf ums Dasein. Alle Verantwortung liegt jetzt bei uns selbst, und sie wiegt schwer. Es ist ein weiter Weg, bis ich dahin komme, wo ich sein möchte.‹ Damals hielt ich das für eine Art Abschiedskummer, denn ich wußte ja, wie gern Litta in Hirschberg war; aber wie klar sie alles vorausgesehen und wie sehr sie recht gehabt hatte, merkte ich erst später, als ich mitten im unpersönlichen Universitätsbetrieb der Großstadt versuchte, meinen Anteil an der Fachwissenschaft zu erwerben …

Bei ihrer Abreise am nächsten Tag sagte Litta zu mir: ›Wir verabschieden uns nicht, wir sehen uns ja noch oft‹ (im gemeinsamen Heimatort)! Durch eine Verkettung von Zufällen sahen wir uns jedoch nie wieder.«

Flugbegeisterung in Theorie und Praxis

Studium der Flugmechanik

Die krisengeschüttelte Weimarer Republik mit ihren unvorstellbaren Belastungen von innen und außen aufgrund der harten Versailler Vertragsbedingungen trieb dem Höhepunkt der Inflation deutlich entgegen, als Melitta Schiller in der ganzen Ungesichertheit des täglichen Lebens ihr naturwissenschaftliches Studium an der Technischen Hochschule München begann. Die schwierige wirtschaftliche Lage, bedingt durch fortschreitende Geldentwertung wie strenge Devisenvorschriften im deutsch-polnischen Grenzverkehr, verstand sie bald dadurch besser zu meistern, daß sie Mitstudierenden Nachhilfekurse anbot.

Die Universitätsstadt vermittelte im übrigen vielseitige geistige Anregungen demjenigen, der sich aufgeschlossen zeigte für das Kunst- und Kulturleben der Zeit und seine Entfaltungsmöglichkeiten wahrnahm. Bei aller Hingabe vernachlässigte Melitta Schiller trotz mathematisch-naturwissenschaftlicher Schwerpunktfindung keineswegs ihre künstlerischen Neigungen, ebensowenig die sportlichen.

In Polen normalisierten sich die äußeren Lebensumstände dank amerikanischer Wirtschaftshilfe schneller als in Deutschland. Die meisten deutschen Bewohner der Provinz Posen hatten, vor die Wahl gestellt, nun endgültig die polnische Staatsbürgerschaft anzunehmen oder Auswanderung zu bevorzugen, die Heimat verlassen. Melittas Eltern hielten zunächst weiter am Entschluß fest, in Krotoschin auszuharren, nicht nur wegen ihres Besitzes, der ihnen teilweise ersetzt worden wäre. Der Gedanke an die Preisgabe des Deutschtums in dieser Provinz widersprach eben ihrem Verantwortungsbewußtsein.

Deshalb wirkte die Mutter im Bund für Auslandsdeutsche tatkräftig mit, der eine deutsche höhere Schule, ein deutsches Kinderheim und andere Einrichtungen für die deutsche Minderheit gründen und unterstützen konnte.

2 Melitta als Studentin, gezeichnet von einem Kommilitonen

Im Jahre 1925 allerdings änderte Vater Schiller seinen Entschluß, ließ sich, der vielen Intrigen schließlich müde, mit 64 Jahren pensionieren und übersiedelte in den Freistaat Danzig. Hier war es ihm möglich, das polnische Ruhegehalt in Anspruch zu nehmen und gleichzeitig günstige Ausbildungsbedingungen für die beiden jüngsten Töchter zu finden. Die Familie nahm daher in Oliva, einem kleinen waldumsäumten Luftkurort an der Danziger Bucht, ihren künftigen Wohnsitz, mußte sich aber auf einen bescheideneren Lebensstil einrichten.

Für Melitta Schiller bedeutete die Veränderung, sich nun ganz auf sich allein gestellt durchschlagen zu müssen. Sie hielt weiterhin Kurse für Kommilitonen ab, um diese auf anstehende Prüfungen vorzubereiten. Hierbei kam ihr die Fähigkeit zustatten, alle schwierigen Probleme transparent erscheinen zu lassen und vereinfacht zur Darstellung zu bringen.

In der Freizeit wurden sehr ausgiebige Hochgebirgstouren unternommen. Mehrfache Unfälle und ein schwerer Absturz beeinträchtigten die Freude an derartigen Unternehmungen keineswegs. Nebenbei verdichteten sich die Pläne, selbst das Fliegen zu erlernen. Bereits 1923 meldete sich Melitta Schiller bei Geheimrat Prinz mit der Bitte, sie in die neugegründete Akademische Fliegergruppe aufzunehmen und als Pilotin ausbilden zu lassen. Ein Mädchen kam damals für die Fliegerei aber nicht in Betracht, denn jeder Aspirant mußte sich verpflichten, im Kriegsfall zur Verfügung zu stehen. Melitta Schiller erklärte sich immerhin bereit, jede derartige Verpflichtung schriftlich auf sich zu nehmen, umsonst, sie wurde abgewiesen. Der Geheimrat wünschte keine Sensation auszulösen.

Daraufhin versuchte die Studentin, wenigstens bei der Süddeutschen Lufthansa als Passagier mitzufliegen, denn damals wurden die Verkehrsmaschinen abends von Oberwiesenfeld nach Schleißheim ins Nachtquartier geflogen. »Auf dieser kurzen Strecke nahm ein verständnisvoller Pilot die Studentin mit und flog auf besonderen Wunsch und eindringliche Bitte hin besonders steile Kurven, zum größten Vergnügen des weiblichen Passagiers.«[1] Bald folgte ein Gebirgsflug nach Innsbruck, und mehrmals konnte Melitta von München nach Danzig zum Besuch der Eltern mitfliegen.

Die Flugbegeisterung sollte noch auf andere Weise in eigene Initiative umgesetzt werden. 1924 meldete sich Melitta Schiller zur Teilnahme an einem Segelfliegerkurs auf der Wasserkuppe an. Da sie aus wirtschaftlichen Gründen damals gerade wieder gezwungen war, die Vorbereitung mehrerer Kommilitonen auf die Diplomprüfung zu übernehmen, und folglich in den Semesterferien München nicht verlassen konnte, blieb es bei dem Vorsatz. Auch in den nächsten Jahren fehlte es an Zeit für die seit Hirschberg geschätzte Segelfliegerei.

Neben dem Fachbereich Technische Physik belegte die fluginteressierte Studentin nun auch flugmechanische Vorlesungen, um sich bei ihrem Diplomhauptexamen zusätzlich einer besonderen Teilprüfung in Flugmechanik zu unterziehen. Dies entsprach der lange gehegten Absicht, die berufliche Tätigkeit der Luftfahrt zu widmen.

Der beruflichen Vorbereitung dienten häufige Fahrten nach Schleißheim, wo immer Maschinen zur Reparatur standen, die Besichtigung der Udet-Flugzeugwerke und die regelmäßig besuchten Flugtage. Die Bekanntschaft ihres Onkels (Weltkriegsflieger) mit Udet nutzte Melitta, um das Versprechen zu erbetteln, sie einmal bei seinen verwegenen Kunstflügen mitzunehmen.

Ursprünglich plante die Studentin, im Anschluß an die Diplomprüfung bei der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt eine Doktorarbeit über ein aerodynamisches Thema anzufertigen. Die Mittel reichten jedoch nicht, so daß nach dem Diplom im Frühjahr 1927 der Entschluß gefaßt werden mußte, die angebotene Tätigkeit bei der Hamburgischen Schiffbauversuchsanstalt zu übernehmen. Als kurze Zeit später bei der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) in Berlin-Adlershof eine Stellung vakant wurde und Aussicht auf aerodynamische Untersuchungen bestand, hatte Melitta Schiller den ihrer inneren Bestimmung gemäßen Weg in das spannungsreiche Berufsleben gefunden.

Strahlantrieb und Raketentechnik

Forschungstätigkeit bei der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt

In den Jahren 1909 und 1911 trugen der bekannte Graf Zeppelin und der Göttinger Professor für angewandte Mechanik, Leiter der Aerodynamischen Versuchsanstalt Göttingen, Ludwig Prandtl, zur Entwicklung der Luftfahrtforschung in Deutschland durch entscheidende Anstöße bei, indem sie mit Denkschriften die maßgeblichen staatlichen Stellen zur Gründung der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) in Berlin-Adlershof anregten.[1]

Auf dem Gebiet der Flugtechnik wurden Forschungsarbeiten in nennenswertem Umfang bis dahin nur in der Aerodynamischen Versuchsanstalt Göttingen (gegründet 1908) und von der Geschäftsstelle für Flugtechnik in Lindenberg durchgeführt. Andere Staaten, vor allem England und Frankreich, waren demgegenüber frühzeitig zur Einrichtung zentraler Versuchsanstalten übergegangen.

Greifbare Gestalt erhielten die entsprechenden Pläne in Deutschland hauptsächlich durch das erwähnte Gutachten Ludwig Prandtls über »Das Projekt einer Reichsversuchsanstalt für Luftfahrt«.[2] Schon im darauffolgenden Jahr, am 20. April 1912, legte die Gründungsversammlung des Vereins »Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt« seine Aufgaben dahin fest, »das deutsche Flugwesen und die deutsche Luftschiffahrt durch Errichtung, Ausbau und Unterhaltung einer Versuchsanstalt zu gemeinem Nutzen zu fördern«.[3] Zu den Gründungsmitgliedern zählten: Das Deutsche Reich (Reichsamt des Innern), Reichsmarineamt, Königlich Preußisches Ministerium der öffentlichen Arbeiten, Königlich Preußisches Kriegsministerium, Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Verein deutscher Ingenieure in Berlin, Daimler-Motoren-Gesellschaft A.G. in Stuttgart-Untertürkheim, Rheinische Automobil- und Motorenfabrik Benz u. Cie., A.G., Mannheim, Dr.-Ing. e. h. Robert Bosch, Stuttgart.

Am 28. Juni 1912 wurde vertraglich ein an der Adlershofer Seite des Flugplatzes Johannisthal-Adlershof gelegenes Gelände für die Versuchsanstalt in Berlin erworben, so daß im Frühjahr 1913 drei wissenschaftliche Abteilungen der DVL gebildet werden konnten. Die Prüfung und Weiterentwicklung von Flugmotoren oblag der »Motoren-Abteilung«, konstruktiver Fragen des Flugzeugbaues nahm sich die »Flugzeug-Abteilung« an, und Arbeiten aus der allgemeinen Aerodynamik, Luftschraubenversuche und andere physikalische Aufgaben wurden in der »Physikalischen Abteilung« durchgeführt.

Während des Ersten Weltkrieges mußte die auf lange Sicht berechnete Forschungstätigkeit der DVL zunächst völlig eingestellt werden. Das Gelände wurde in dieser Zeit zudem von der Flugzeugmeisterei der Heeresflieger stark in Anspruch genommen.

Die Umstellung der DVL von ihrer Kriegstätigkeit auf Friedensarbeiten litt unter den auferlegten Bedingungen des Versailler Vertrages sowie unter den Auswirkungen der zunehmenden Geldentwertung. 1923 sank die Zahl der Mitarbeiter auf 20 Personen. »Aber der deutsche Luftfahrtgedanke ließ sich nicht unterdrücken: Umgebaute Kriegsflugzeuge wurden für Verkehrszwecke eingesetzt, die Jugend entdeckte den motorlosen Flug von neuem, die deutschen Konstrukteure verlegten ihre Bautätigkeit vorübergehend ins Ausland, und schon 1919 entstand gerade in Deutschland das erste wirkliche Verkehrsflugzeug, die Junkers F13.«[4] Der langsame Wiederaufbau der DVL und eine Erweiterung ihres Arbeitsgebietes setzten mit der Währungsstabilisierung ein. Auf wesentlich breiterer Grundlage entwickelten die seit Gründung der DVL bestehenden Fachabteilungen ihre Tätigkeit weiter, und die Gefolgschaft stieg 1925 auf 114, 1928 sogar auf 543 Mitarbeiter an. Zusätzliche Abteilungen mußten eingerichtet werden, u. a. eine »Aerodynamische Abteilung«, eine »Funk-Abteilung« und eine »Höhenflugstelle«. Die DVL erhielt auf der Internationalen Luftfahrt-Ausstellung 1928 in Berlin zum erstenmal Gelegenheit, in der Öffentlichkeit auf Umfang und Bedeutung ihrer Arbeiten umfassend hinzuweisen. Dennoch wirkte sich die jahrelange Ungewißheit über den Verbleib oder einen möglichen Standortwechsel der DVL bis 1931 auf ihre Entwicklungen und faktischen Arbeitsmöglichkeiten sehr ungünstig aus. »Wenn sie trotzdem wertvolle Ergebnisse erzielte, so konnte sie doch nicht entfernt Schritt halten mit den entsprechenden Anstalten des Auslandes, die sämtlich nach dem Kriege in großzügiger Weise ausgebaut worden waren.«[5]

Bereits im Jahre 1926 hatte Melitta Schiller zur DVL Berlin-Adlershof erste Kontakte aufgenommen, wie aus einem Schreiben Prof. Dr.-Ing. Seewalds hervorgeht:

»Fräulein Schiller war am 20. Oktober 1926 bei mir als dem damaligen Leiter der Aerodynamischen Abteilung der DVL, um sich aufgrund einer vorher eingereichten Bewerbung vorzustellen. Ich erinnere mich an dieses Datum deswegen so genau, weil an diesem Tage ein Mitarbeiter und sehr guter Freund von mir einen Versuchsflug ausführte, während Frl. Schiller gerade bei mir war. Ich wurde davon benachrichtigt, daß dieser Flug im Gange sei, und ich forderte Frl. Schiller auf, mit hinauszugehen, um diesen Flug anzusehen. Als wir aus dem Hause traten und in Richtung Flugplatz gingen, stürzte das Flugzeug in etwa 100 m Entfernung von uns ab, wobei die Besatzung den sofortigen Tod fand. Über dieses Ereignis habe ich Aufzeichnungen, und bei dem tiefen Eindruck, den mir dieser Unfall machte, ist mir auch in Erinnerung geblieben, daß Frl. Schiller gerade zur Vorstellung bei mir war.«[6]

Wie bereits dargestellt, nahm Melitta Schiller aber erst 1928 ihre Tätigkeit bei der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt Berlin-Adlershof auf. Ihr Wirkungsbereich bestand in aerodynamischen Untersuchungen theoretischer wie experimenteller Art. Sie befaßte sich mit Problemen des Strahlantriebs und der Raketentechnik ebenso wie mit der Wirkungsweise von Propellern.

In den Jahrbüchern der DVL finden sich darüber Berichte:

– Jb. 1929 Bericht Vf 24/3. Die Rakete als Kraftmaschine. M. Schrenk und M. Schiller

– Jb. 1930 Bearbeiter für Luftschrauben: Dr. phil. F. Liebers, Dipl.-Ing. Melitta Schiller, Dipl.-Ing. K. Waibel