Memories to Do - Linda Schipp - E-Book

Memories to Do E-Book

Linda Schipp

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Beschreibung

In ein Schwimmbad einbrechen, zu einem Candle-Light-Dinner ausgeführt werden, mich an meine Hochzeit erinnern ... Eine seltene Form von Amnesie hat Allies Erinnerungen an die vergangenen 17 Jahre ausgelöscht. Im Herzen noch ein Teenager steht sie ahnungslos vor ihrem zweijährigen Sohn, einem Ehemann, den sie nicht liebt, siebenhundert unbekannten Facebook-Freunden und einem verdächtig dunklen Nebel, der sich über ihre Vergangenheit zieht. Im Leben der 34-jährigen Allie ist nichts mehr von dem übrig, was ihr als Teenager wichtig war – nicht einmal ihr Name. Um den Geheimnissen der geschwärzten siebzehn Jahre auf die Spur zu kommen, reist sie zurück in die amerikanische Kleinstadt, in der ihre Erinnerungen enden. An ihrer Seite der Mensch, der ihr am nächsten und nach jahrelanger Trennung am fernsten zugleich ist: Luis. Nur ein Freund, wirklich. Ihr bester Freund. Damals zumindest.

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Linda Schipp

Memories to do

Allies Liste

Astrid Behrendt Rheinstraße 60, 51371 Leverkusenwww.drachenmond.de, [email protected]

Satz, Layout Martin Behrendt

Lektorat, Korrektorat:Uta Maier

Umschlaggestaltung  Covergestaltung: Grittany Design – Berlin | www.grittany-design.deunter Verwendung von Motiven von:© noppanun | www.stock.adobe.com© rcx | www.stock.adobe.com© oly5 | www.stock.adobe.com© pico | www.stock.adobe.com© www.colourbox.de | Grafik #2482987Weitere Mitwirkende: Katharina Riehl

ISBN: 978-3-95991-433-8 ISBN der Druckausgabe: 978-3-95991-432-1

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Sechzehn

Epilog

Danksagung

Allies Liste

Für Mama und Papaweil ich Euch liebe.

Prolog

Juli 2071

Liv verweilte noch einen Augenblick vor dem Blumenbouquet und zögerte. Die anderen Trauergäste befanden sich bereits auf dem Weg in Richtung Pfarrsaal, allen voran der zierliche Pfarrer. Sein Stottern hatte ihn während des Begräbnisses zeitweise noch stärker überwältigt als sonst. Deshalb hatte die Witwe den letzten Segensspruch für ihn von seinem Tablet ablesen müssen:

Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.

Liv runzelte die Stirn. Dass die Leute auf dem Land ein wenig anders tickten als in der Großstadt, hatte sie mit ihren vierzehn Jahren schon lange verstanden. Der von seiner Trauer überwältigte Pfarrer kam ihr trotzdem ungewöhnlich vor. Der Pfarrer! In der Großstadt konnte man nicht einmal sicher sein, dass er den Namen des Verstorbenen richtig aussprechen würde. Doch der Gefühls­ausbruch des Dorfpfarrers war nicht das einzig Seltsame an dieser Beerdigung.

Gedankenverloren sah Liv ihnen hinterher. Die Trauergäste bogen als schlurfender Pulk hinter der Friedhofsmauer um die Ecke. Liv konnte von hier aus ihre schwarzen Rücken sehen; niemand hatte bemerkt, dass sie ihnen nicht gefolgt war. Sie fröstelte. Es war ein grauer, sonnenloser Tag. Der Wind pfiff durch die Blätter der Eichen und trug ihre gedämpften Stimmen hinfort.

Noch immer stand Liv vor Opas Grab. Der frisch aufgeschüttete Erdhügel gruselte sie. Es sah aus, als müsste Liv nur ein paar Krümel Erde wegwischen, um den Sarg ihres Großvaters freizulegen. Trotz dieses Anblicks war ihr nicht nach Tränen zumute.

Vielleicht, weil sie Opa ohnehin nur einmal im Jahr gesehen hatte. Sie würde ihn nicht allzu sehr vermissen. Natürlich, sie hatte ihn geliebt – so wie alle Enkelkinder ihre Großeltern lieben. Noch dazu war ihr als jüngstes Enkelkind eine gewisse Sonderrolle zugekommen. Liv hatte immer das Gefühl gehabt, ihr Opa würde sie den anderen vorziehen. Doch nun war er ihr gewissermaßen noch näher als zuvor. Opa war im Himmel und der Himmel ist überall. Jetzt hatte Liv einen Namen, ein Lächeln und eine Stimme für die Antworten, die sie bekam, wenn sie betete oder Fragen nach oben stellte.

Vielleicht lag es aber auch an ihrer Großmutter, weshalb Liv während der Beerdigung im Gegensatz zu allen anderen Trauergästen nicht geweint hatte. Der Anblick ihrer schluchzenden Mutter oder ihrer älteren Cousinen an Opas Grab hatten Liv so sehr bedrückt, dass sie schnell weggesehen hatte. Sie alle schienen in sich selbst, ihrem Schmerz und ihrer Trauer versunken zu sein – alle, bis auf ihre Großmutter.

Liv erinnerte sich an Omas Lächeln, als der Pfarrer von ihrem Ehemann gesprochen hatte. Sie war sogar rot geworden, als er von einem Mann namens Mr Marshall berichtete, der sie und Opa zusammengebracht hatte. Als die Trauergäste das Grab verließen, warf Oma der bunt geschmückten Ruhestätte ein Lächeln zu, als wäre Opa in der Lage, es mit einem kleinen Gruß zu erwidern. Als wartete sie auf einen Luftkuss zum Abschied. Als wäre er noch da.

Oma verhielt sich anders als die anderen Trauergäste. Deshalb starrte Liv nachdenklich auf den modernen Grabstein, in der Überlegung, ob sie es wirklich wagen sollte.

Der Grabstein entsprach den Maßstäben der allerneuesten Monument-Technologie. Er hatte nicht nur wie die meisten Grabsteine heutzutage einen eingebauten Mikrochip, der kurze Botschaften an den integrierten Bildschirm sendete, sondern auch eine Sprachautomatik. Aktivierte man den Stein mit einem Schlüsselwort, materialisierten sich auf dem Bildschirm Bilder, Texte oder kurze Filme – eben alles, was Familie und Freunde dem Verstorbenen hinterlassen wollten. Manchmal befand sich auch ein kurzer Film des Verstorbenen selbst auf dem Grabstein, aber das war bislang nicht sehr populär.

Liv wusste, was ihre Eltern und ihre Schwester in den Grabstein hatten einspeichern lassen. Mum hatte eine Fotocollage von Opa und ihrer Familie erstellt und Dad ein einzelnes Bild von sich und Opa mit einem letzten Gruß. Ihre ältere Schwester Theresa hatte ein Video gedreht, auf dem sie einen eigens für ihren Großvater komponierten Song auf der Gitarre spielte und dazu sang. Theresa war ziemlich begabt; hochbegabt, sagten manche.

Mehrmals hatte Liv in der vergangenen Woche den Song gehört, Mums Bildercollage am Computer angesehen und Dads Gruß gelesen: Jedes Mal hatte sich dieser schmerzende Kloß in ihrem Hals gebildet, sodass sie wortlos in ihr Zimmer rannte, die Tür knallte und sich weigerte, sich näher mit einer Grabsteinbotschaft für Opa zu befassen. Opa war der erste Mensch, den Liv in ihrem Leben verloren hatte. Deshalb entschied sie zusammen mit ihrer Mum, dass in ihrem Namen lediglich ein Foto von ihr und Opa beim Klavierspielen mit der Unterschrift »Du wirst mir sehr fehlen. In Liebe, deine Liv« auf dem Grabstein erscheinen sollte.

Es gehörte sich nicht, am Tag des Begräbnisses in den Erinnerungsbotschaften des Grabsteins ›herumzustöbern‹. Das war Liv bewusst, obwohl die digitalen Grabmäler recht neuartig waren. Doch die Ruhe ihrer Großmutter hatte sie neugierig gemacht und sie platzte fast vor Aufregung, was Oma ihrem Ehemann hinterlassen haben mochte.

Liv wandte sich zu dem schwarzen Pulk um, der beinahe vollständig um die Ecke geschlurft war. Niemand hielt Ausschau nach ihr. Also flüsterte sie die Inschrift über dem Grab-stein, um ihn zu aktivieren. Für gewöhnlich war es der Name des Verstorbenen, doch Oma hatte auf die Inschrift In loving memory bestanden.

Die drei Worte rollten über Livs Lippen, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Mit großen Augen beobachtete sie, wie in der Mitte des Grabsteines ein Bild ihres Großvaters erschien. Sie sah genau in seine ernsten und doch freundlichen Augen. Liv schluckte und konzentrierte sich auf die zarte Feder, die mit Schwung die Namen all jener malte, die etwas auf dem Grabstein hinterlassen hatten. Omas Name erschien am größten. Mit dem beklemmenden Gefühl etwas Unanständiges zu tun, wurde Liv von ihrer Neugier besiegt und flüsterte den Namen ihrer Großmutter:

»Alison Keepsaker.«

Opas Bild zerfiel wie eine Figur in einem Schattenspiel, verwandelte sich in ein Foto ihrer Großeltern im letzten Sommer, zerfiel wieder und hinterließ eine leuchtend weiße Fläche, auf der die virtuelle Feder eine große Überschrift zeichnete: Memories to do. Allies Liste.

Unzählige Stichpunkte listeten sich auf, in der unteren rechten Ecke blinkte eine Zahl: 1/210. Liv befand sich auf Seite eins von zweihundertzehn. Sie überflog die Liste. An dem unregelmäßig geschwungenen »g« erkannte sie die Handschrift ihrer Großmutter. »Seite zwei«, murmelte Liv und das virtuelle Notizbuch blätterte weiter.

Zu einem Candle-Light-Dinner eingeladen werden, nach Europa reisen, alle Präsidenten auswendig kennen, mich an meine Hochzeit erinnern …

Die Stichpunkte auf den ersten hundert Seiten waren fast ausnahmslos abgehakt worden, auf den hinteren Seiten befanden sich einige Memories to do, die ihre Oma und ihr Opa offenbar nie erlebt hatten. Einen Urenkel haben, reiten lernen, vier Kilo abnehmen, mein Facebook-Profil löschen, einen Erste-Hilfe-Kurs machen …

Liv wusste nicht, wie lange ihr Blick über die gemeinsamen Erinnerungen ihrer Großeltern geschwebt war, als ihre Mutter schnellen Schrittes um die Ecke bog. Cassandras Augen waren vom vielen Weinen gerötet, ihr Gesicht jedoch zornig.

»Wie kannst du es wagen, Olivia!«, zischte sie und packte Liv, die bei ihrem Vornamen zusammengezuckt war, beim Oberarm. »Bist du nicht langsam zu alt dafür, jede Sekunde beaufsichtigt werden zu müssen? Bye bye, Daddy«, wisperte Livs Mutter erstickt und fuhr damit den Bildschirm des Grabsteins herunter.

»Das tut man nicht, Fräulein«, tadelte Cassandra, als das Licht erlosch. Sie zog ihre Tochter hinter sich her und achtete nicht darauf, dass Livs Blick noch immer gebannt an dem Grabstein hing, bis sie um die Ecke hinter der Friedhofsmauer in Richtung Pfarrsaal gebogen waren.

Beim Anblick der Gäste, die sie alle kaum kannte, hätte sich Liv am liebsten wieder umgedreht, um auf den Friedhof zurückzulaufen. Die meisten Tränen waren getrocknet, doch zerbrechliche alte Leute stimmten sie stets melancholisch – und davon saßen im Pfarrhaus jetzt jede Menge. Die Jüngeren plauderten mit gedämpfter Stimme oder klopften sich aufmunternd auf die Schulter. Die älteren Herrschaften starrten teilnahmslos vor sich hin, als wäre der Großteil des Lebens schon aus ihnen herausgeflossen.

Zu ihrer Erleichterung entdeckte Liv Theresa, die bei ihrer Großmutter stand. Alison Keepsakers zarter Körper versank beinahe in dem Sessel, der sicherlich bereits zur Jahrtausendwende altmodisch gewirkt hatte.

»Wird er dir sehr fehlen?«, erkundigte sich Theresa überflüssigerweise.

»Jede einzelne Minute meines Lebens. Aber es ist einfacher, wenn man gelernt hat, von Erinnerungen zu zehren«, seufzte Alison Keep­saker. »Wie wichtig Erinnerungen sind, habe ich einmal schmerzhaft lernen müssen. Es war meine persönliche Lektion fürs Leben.«

Liv musterte ihre Großmutter aufmerksam. Noch immer sah Oma zwar traurig, doch irgendwie zufrieden aus. Ein gutmütiges Lächeln umspielte die schmalen Lippen der Großmutter. Bis gerade eben hätte Liv sich niemals vorstellen können, dass ihre zierliche Oma all das erlebt hatte, was auf der Memories-to-do Liste abgehakt worden war.

»Oma? Sind mit den Erinnerungen, von denen du sprichst, die auf Opas Grabstein gemeint?«, platzte Liv hervor, als sie ihre Neugier nicht länger bändigen konnte.

»Liv!«, tadelte Theresa, die stets die Taktvollere war. Und die Vernünftigere, die Konventionellere, die Langweiligere.

»Es ist in Ordnung«, wiegelte Alison ab, »Du hast sie bereits gesehen, meine Liste?«

»Ja«, gestand Liv und fing sich einen bösen Blick ihrer Schwester ein. »Aber vieles verstehe ich nicht. Zum Beispiel, weshalb du dich an deine eigene Hochzeit erinnern wolltest. So etwas vergisst man doch nicht!«

»Das sollte man meinen, Süße«, mischte sich eine alte Frau mit großen weißen Locken ein und gesellte sich in ihrem digitalen Rollstuhl dazu, »aber eure Großmutter hat zeitweise ein Gedächtnis wie ein Sieb. Wenn sie sich nicht alles aufschreibt, würde sie ihren eigenen Sohn vergessen.« Die alte Dame kicherte hysterisch über ihren Insider-Witz. Alison Keepsaker warf ihr einen strafenden, aber belustigten Blick zu.

»Hört nicht auf Doughey, die alte Schachtel. Kaum einer hier weiß Erinnerungen so sehr zu schätzen wie ich. Und ich möchte, dass ihr das ebenso tut.«

»Werden wir, Granny«, versicherte Theresa gehorsam, doch die Rollstuhlfrau schüttelte verächtlich den Kopf.

»Nein, nein, nein. Ihr versteht nicht, wovon eure runzlige Großmutter redet, solange ihr ihre Geschichte nicht kennt«, korrigierte sie und rieb sich in freudiger Erwartung die faltigen Handflächen. »Na los, Al, erzähl sie ihnen!«

»Ich finde auch, es ist an der Zeit«, gesellte sich Livs Mutter dazu. Sie zog einen Stuhl heran und putzte sich geräuschvoll die Nase. Unzählige Puzzleteile der Geschichte ihrer Mutter hatte Cassandra über ihre Jugendzeit hinweg gehört, doch niemals hatten sich Alison Keepsakers Anekdoten zu einem Gesamtbild fügen lassen. Die Antwort hatte immer »sobald der richtige Zeitpunkt gekommen ist« oder »wenn wir einmal mehr Zeit haben« gelautet.

»Vielleicht habt ihr recht«, murmelte Alison jetzt und lediglich Liv war aufmerksam genug, um zu bemerken, wie Alisons Blick aus dem Fenster in die Ferne schweifte. Zum Himmel.

»Also gut.« Alison lächelte und blickte in die Gesichter ihrer Kinder und Enkelkinder. »Meine Geschichte handelt davon, wie ich euren Opa, mich selbst und die Kraft der Erinnerungen kennengelernt habe. Das hört sich an wie ein Märchen und vielleicht ist es auch eins«, gluckste sie. »Ein ziemlich kompliziertes Märchen. Ich hoffe, ihr habt Zeit mitgebracht, denn es beginnt in einer Sommernacht vor 74 Jahren in einem Bootshaus …«

Eins

19. Juli 1997

Beeil dich, lauf! Ist das etwa schon alles?«, lachte Luis, wich dabei den hohen Baumstämmen aus und rannte weiter am Ufer des Townsend Flowage entlang. Er spürte nicht mehr, dass der durch seine Schritte aufgewühlte Schlamm bis an seine Oberschenkel spritzte.

Ein Blitz zuckte über den Himmel und Allie setzte zum Sprint an, klatschte Luis ab, wie sie es mit Jenna in der Staffel tat, überwand elegant eine Pfütze und zog an ihm vorbei. Aber ihr Vorsprung hielt nicht lange an, wenig später verschwand Luis schon wieder vor ihr zwischen den Kiefern.

Allie fluchte, weil sie es erstens hasste, abgehängt zu werden, und zweitens in der Dunkelheit völlig orientierungslos war. Den Waldweg hatten sie verlassen, als es angefangen hatte zu gewittern. Wütend öffnete sie den Mund, um nach Luis zu rufen, doch da bog sie bereits um die Ecke und erkannte, wo sie sich befand. An einem ihr sehr vertrauten Ort.

Luis lehnte an der kleinen Holzhütte und deutete einladend auf die geöffnete Tür. Obwohl seine Turnschuhe mit Wasser vollgesogen sein mussten und das schwarze Shirt an seinem ansehnlichen Körper klebte, strahlte er über beide Ohren und grinste noch etwas breiter, als er den Ärger in Allies Augen funkeln sah.

»Das ist Freiheit«, stieß er hervor, »darauf wurde unsere Nation gegründet!« Seine Stimme überschlug sich vor Adrenalin. Allie schlenderte ihm betont langsam entgegen. »Unsere Nation gründet also auf einem Sprint im strömenden Regen und einem Einbruch in Marshalls Bootshaus?«, verspottete sie seinen Übermut, wrang sich unter dem Vordach ihre hellbraunen Locken aus und ging voran in den dunklen Schuppen. Luis schloss die Tür hinter ihnen und sperrte den Lärm des Gewitters aus.

Im Inneren von Marshalls altem Bootshaus roch es nach modrigem Holz und Motoröl, aber immerhin war es trocken und ruhig, sodass Allie zuversichtlich war, einem Tinnitus doch noch entgehen zu können. Draußen jagte ein Donner den nächsten.

»Die Tür stand offen«, rechtfertigte sich Luis, dem Allies Stirnrunzeln nicht entgangen war.

»Marshall lässt sein Bootshaus nie offen stehen. Es ist sein Heiligtum und das weißt du ganz genau.«

»Heute hat er es aber getan, Al.«

Allies Wut auf Luis ebbte ab, weil er nahezu liebenswert aussah, als er den Boden eines Ruderbootes mit Sitzauflagen auslegte, weil die Bänke herausgebrochen waren. Leichtfüßig stieg er in den Innenraum des Bootes, machte es sich darin bequem und sah zu ihr auf wie ein Riesenbaby, das sich in seiner Wiege sehr wohl fühlte.

»Trotzdem ist es nicht richtig«, wandte Allie mit einem Lächeln ein und rieb sich die nackten Oberarme mit einem alten Lappen notdürftig trocken. In der Enge des Bootshauses konnte Luis sie von seiner Ruhestätte aus locker erreichen und hüllte sie in eine Wolldecke, die er aus dem Wandregal über ihnen gefischt hatte.

»Natürlich nicht. Aber ich bin mir sicher, Marshall hat nichts dagegen, wenn wir hier Unterschlupf suchen. Immer noch besser als draußen vom Blitz zu Grillhähnchen gebraten zu werden, die sich die anderen dann beim nächsten Lagerfeuer schmecken lassen. Und jetzt komm her!«, forderte Luis sie auf. Damit Allie ihm gegenüber Platz nehmen konnte, rückte er ein kleines Stück nach hinten, was in dem kleinen Ruderboot bei seiner Größe allerdings nicht viel ausmachte. Glücklicherweise war Allie eher klein und durch das viele Lauftraining schlank gebaut, sodass sie dennoch beide Platz finden würden. Er reichte ihr die Hand. Vorsichtig ließ sich Allie zwischen seinen Unterschenkeln nieder, sodass sie ihm genau gegenüber saß, und zog ihre Decke bis zum Bauch. Mit einem verschwörerischen Grinsen griff sie nach den Rudern rechts und links vom Boot. Sie fing an, im Trockenen zu rudern, und stieß dabei einen Besen um und einen Putzeimer, der hier offensichtlich selten eingesetzt wurde. Sie kicherten.

In der Dunkelheit konnte Allie das strahlende Weiß in Luis’ Augen erkennen und seine Gegenwart machte sie auf eigenartige Weise nervös. Oder waren es seine mit Schlamm bespritzten Waden rechts und links an ihren Hüften, die ein flaues Gefühl in ihrem Bauch hervorriefen? Allie schob den Gedanken schnell zur Seite und brach das Schweigen, bevor es peinlich wurde.

»Ich verstehe immer noch nicht, weshalb Unterkühlung, Erschöpfung und die Enge eines Bootshauses genau das sein sollten, was ich jetzt brauche.« Den letzten Teil setzte Allie mit den Fingern in Anführungszeichen und imitierte Luis’ Stimme. Er lächelte wissend, dieses erfahrene Lächeln, das Allie nicht leiden konnte. Dann legte er den Kopf in den Nacken, sodass die Muskeln unterhalb seines Adams­apfels hervortraten.

Das flaue Gefühl wurde nicht besser, oh nein!

»Hast du das jemals zuvor gemacht?«, fragte er.

»Einen nächtlichen Regensprint? Nein.«

»Wie fandest du es?«

Aus ihr unverständlichen Gründen spürte Allie, wie sich ihre Mundwinkel nach oben zogen, obwohl sie gerade erklären wollte, wie ätzend sie es gefunden hatte. Sie öffnete den Mund und suchte nach Worten, aber Luis war schneller. »Siehst du?«

»Was sehe ich?«

»Du hast es genossen. Du warst frei und du hast dich großartig gefühlt.«

»Ich bin nass, ich friere. Ich wärme mich notdürftig mit einer von Insekten bewohnten Decke und du wischst deine schlammigen, behaarten Beine an meinem Shirt ab.«

Luis zog eine Augenbraue nach oben. »Du stehst doch auf behaarte Beine. Du findest das männlich.«

»Lenk nicht ab.«

»Was war die Frage?«

»Typisch Mann«, seufzte Allie und verdrehte die Augen. »Vor einer halben Stunde saßen wir noch in deinem warmen, trockenen Auto, dann hat es angefangen zu stürmen und du warst der Überzeugung, dass ich nichts mehr bräuchte, als wie ein mit Tollwut infiziertes Wildschwein durch den Wald zu irren. Und zwar im strömenden Regen, falls ich das noch nicht erwähnt habe. Das war … sinnlos. Wieso all das?«

Luis schwieg bedeutsam und suchte ihren Blick. Wieder einmal hätte Allie ihn ohrfeigen können: Er wusste mit Gewissheit ganz genau, welche Wirkung dieser Blick auf sie hatte. Unruhig rutschte sie auf den Sitzkissen hin und her, mahnte sich aber zur Ruhe. Luis würde in der Enge jede Bewegung genau spüren und das wollte sie tunlichst vermeiden.

»Ich wollte dir zeigen, dass du ihm nicht länger nachtrauern solltest«, erklärte Luis. »Und ich wollte dir etwas zeigen, was du in deiner Beziehung mit ihm nicht hattest: deine Freiheit. Spaß. Spontanität. Etwas anderes als DVD-Abende auf der Couch. Das eben war nicht sinnlos, das war Freiheit.«

Bei dem Gedanken an ihn gesellte sich zu dem flauen Gefühl in ihrem Magen ein schmerzender Kloß in Allies Hals. Sie versuchte gegen die Enge in ihrem Hals anzuschlucken, doch der Kloß saß fest in ihrer Kehle. »Aber …«, begann Allie traurig, »ich hätte auch mit ihm durch den Wald rennen können. Ich hätte sogar stundenlang allein herumrennen können und er hätte zu Hause auf mich gewartet.«

»Du willst nicht verstehen, was ich meine. Was du beschreibst, ist keine Freiheit. Freiheit ist, wenn man etwas nur für und nur mit sich tun kann. So wie man es will, ohne sich in irgendetwas einschränken zu lassen. Ohne Abhängigkeit.«

»Falsch! Freiheit ist, wenn man Dinge gemeinsam tun darf«, korrigierte Allie.

»Das hättest du mal den Sklaven im alten Ägypten erzählen sollen. Dadurch, dass sie sogar zu Tausenden die Pyramiden gebaut haben, haben sie sich bestimmt nicht viel freier gefühlt.«

»Du bist ein Spinner«, beendete Allie die Unterhaltung bestimmt, weil sie sich sicher war, dass sie beide nichts Intellektuelles mehr von sich geben würden. Sie ärgerte sich, weil ihre Gedanken wieder zu ihm abgeschweift waren und sich dort verhedderten wie in einem Spinnennetz.

Robbie hatte ihre Gedanken in den vergangenen drei Tagen mehr als jemals zuvor dominiert, sogar mehr als in den letzten zwei Jahren, als sie ein Paar gewesen waren. Er hatte ihr sein Herz bedingungslos geschenkt und sie es ihm vor drei Tagen unter Tränen zurückgegeben.

Vielleicht war es gerade seine immerzu tadellose und liebevolle Art, die sie letztendlich erdrückt und vertrieben hatte. Vielleicht waren es aber auch die unbezwingbaren Flügel auf Allies Rücken. Sie hatte das Gefühl, als wollten diese Flügel sie immerzu in die Lüfte heben und so sehr sie auch versuchte am Boden zu bleiben – Allie kam nicht gegen sie an. Das konnte doch nicht alles gewesen sein!

Sie hatte die Zweisamkeit in den letzten Tagen seit der Trennung schmerzlich vermisst. Doch gerade überlagerte ein anderes Gefühl Allies Herzschmerz – noch konnte sie nicht genau ausmachen, was das war. In jedem Fall hatte es etwas mit Luis zu tun. Und in jedem Fall besetzte es gerade jede Zelle ihres Körpers.

Allie musterte ihr Gegenüber. Luis presste die Lippen zusammen und hatte demonstrativ den Kopf abgewandt, doch Allie ignorierte, dass er offenbar eingeschnappt war.

»Was ist dir passiert, dass du die Einsamkeit als Freiheit bezeichnest?«, fragte sie.

»Nichts Gutes. Trotzdem würde ich immer die Einsamkeit wählen, bevor ich mit dieser knochigen Heulsuse zusammen sein müsste.«

Die Wut auf ihn brodelte wieder bedrohlich auf und Tränen stiegen Allie in die Augen, was sie noch mehr ärgerte. »Er ist keine Heulsuse, nur weil er mehr Gefühle zeigt als ein frustrierter Einzelgänger mit dem Herz einer Eiskönigin!«

Viel zu impulsiv! Jetzt würde er sich gleich wieder auf die vier Jahre beziehen, die er älter war als sie. Und die ihn seiner Meinung nach zu einem viel reiferen Menschen machten, als Allie es war. So sehr sie Luis auch schätzte, er war gleichzeitig auch die Person, über die sie sich stets am meisten aufregte. Nahezu jede Unterhaltung endete nach nur wenigen Worten in einer hitzigen Diskussion.

»Sorry«, knurrte er, »ich finde mich eigentlich ganz okay, wie ich mir alle Mühe gebe, dir über deinen durchaus berechtigten Liebeskummer hinwegzuhelfen. Aber wenn ich deiner Meinung nach ein Eisköniginnenherz habe, bin ich wohl keine große Hilfe.«

Aha, die Nummer mit dem schlechten Gewissen, sehr raffiniert!Allie erkannte, dass sie diese Argumentation nicht gewinnen konnte, und wich aus, sich darauf verlassend, dass Luis ihr die Spitze nicht nachtragen würde.

»Du bist mit mir hier«, versuchte sie einen Neustart.

»Gut erkannt.«

»Und du sagst, dass ich frei bin.«

»Ich sehe das so, ja.«

»Aber frei ist man deiner Meinung nach nur für sich. Wir sind zu zweit. Gemeinsam kann man nicht frei sein, sagst du.«

»Bei uns ist es etwas anderes.«

Bei seinem letzten Satz überschlug sich Allies Herz beinahe, heißes Blut schoss durch ihre Adern direkt in ihre brennenden Wangen. Sie sog scharf die Luft ein und atmete betont langsam wieder aus, ängstlich, Luis könnte ihre Reaktion falsch deuten. Bei uns ist es etwas anderes. Hatte er es so gemeint, wie sie es verstanden hatte?

Sein Blick suchte ihren und darin lag viel mehr, als Worte hätten ausdrücken können. Glaubte Allie zumindest. »Ich meine, wir sind Freunde, wir sind kein Paar. Man kann sehr gut zu zweit frei sein, wenn man befreundet ist. Das hätte ich vielleicht von vornherein dazusagen sollen.«

Allie merkte, wie sich ihr Puls ein wenig beruhigte, und sie wischte unauffällig ihre feuchten Handflächen an der Wolldecke ab. Vorsichtig spähte sie zu Luis herüber.

Er tat, als hätte er von der Zweideutigkeit in seiner Aussage nichts bemerkt. Aber das musste ihm doch aufgefallen sein! Schon dieser Blick war ganz klar zweideutig gewesen. Und selbst wenn er das nicht beabsichtigt hatte, dann verriet doch spätestens ihre glühende Haut an seinen Unterschenkeln, wie sie seine Worte aufgefasst hatte! Wie oft hatte sie sich in den letzten Tagen gefragt, ob Luis eine Rolle bei der Entscheidung gespielt hatte, Robbie zu verlassen. Bislang hatte sie die Frage immer eindeutig mit Nein beantworten können. Jetzt gerade war sie sich da nicht mehr so sicher.

Plötzlich war Allie gar nicht mehr kalt. Trotzdem wickelte sie die Decke fester um sich, um ihre zitternden Hände und die roten Flecken, die sich sicherlich gerade auf ihrem Hals ausbreiteten, zu verbergen.

Als hätte Luis ihre Gedanken gelesen, zog er fragend die Augenbrauen hoch. »Wird dir so langsam nicht echt warm unter dem Ding? Ich meine, es gewittert zwar, aber wir haben trotzdem Sommer und die Luftfeuchtigkeit fühlt sich an, als wäre sie zum Gemüsedünsten echt brauchbar.«

Er lachte kurz auf und Allie spürte, wie sich ihre verkrampften Muskeln ein wenig lockerten. Das Klatschen des Regens an das kleine Fenster und der durch die Wolkendecke schimmernde Strahl des Mondlichtes hatten sie offenbar sentimental gemacht. Kein Grund, ungefühlte Gefühle in seine Worte zu interpretieren. Ihre eigenen waren ihr immerhin Rätsel genug.

»Nein, mir ist noch nicht warm.« Demonstrativ zog sie die Decke noch fester um sich. »Dieses mottenzerfressene Ding hier hat nicht den gleichen Effekt wie Körperwärme. Es sind zwar erst drei Tage, aber ich vermisse es jetzt schon, in seinem Arm zu liegen«, dachte Allie laut und hätte sich im gleichen Moment am liebsten selbst geohrfeigt. Manchmal hasste sie es wirklich, das Herz auf der Zunge zu tragen! Konnte sie nicht einmal den Kopf einschalten, bevor die Worte aus ihrem Mund sprudelten?

»Wäre auch der muskulöse, männlich-behaarte Arm einer Eiskönigin okay?«, erkundigte sich Luis.

Allie schielte auf seinen Oberarm. Was Robbie an Muskeln fehlte, machte Luis definitiv gleich doppelt wett …»Dein Arm ist doch gar nicht behaart.«

Als Luis ihren Blick bemerkte, spannte er möglichst unauffällig seine Muskeln an. Allies Augen weiteten sich beim Anblick seines Bizeps. Es sah aus, als würde er jeden Moment die Ärmel seines T-Shirts sprengen! Irgendwo in Allies Bauch explodierte ein kleiner Vulkan; sie spürte, wie die Lava von dort aus jede Faser ihres Körpers flutete. Ihre Haut prickelte, augenblicklich waren ihre Hände wieder schweißnass. Doch Luis fuhr seelenruhig fort, als hätte er Allies Reaktion erneut nicht registriert.

»Ne, stimmt. Aber seine waren es. Ich dachte, das würde dir ein bisschen das Gefühl von Vertrautheit geben.«

»Im Moment ist mir mehr nach etwas Neuem, das mich nicht daran erinnert«, erwiderte sie ein wenig atemlos – imaginäre Ohrfeige Nummer zwei.

»Na, dann ist ja mein aalglatter Arm, weich wie ein Babypopo, genau richtig.«

Luis streckte seinen linken Arm einladend aus, doch alles in Allie sträubte sich. Und das, wo sie diese Situation selbst provoziert hatte. Na toll! Was genau will ich eigentlich, dachte Allie, stand in dem wackeligen Mini-Boot umständlich auf und überlegte fieberhaft, wie sie seinem Arm doch noch entkommen konnte.

Für so viel Nähe war sie noch nicht bereit. Sie brauchte einen Grund aus diesem Bootshaus zu verschwinden, um endlich wieder durchatmen zu können. Leider prasselten die dicken Tropfen immer noch lautstark auf das Wellblechdach. Bevor sie weitere Überle­gungen anstellen konnte, hatte Luis sie an der Taille geschnappt, drehte sie, sodass sie einander nicht mehr gegenüber waren, sondern in die gleiche Richtung schauten, und zog sie auf seinen Schoß zwischen seine Oberschenkel. Sein Körper war die himmlischste Kombination aus straffen Muskeln und weicher, warmer, nach Moschus, Wald und Regen duftender Haut, gebräunt vom Training im Freien. Wie ein verliebtes Pärchen, das in einem Boot den Sternenhimmel beobachtet – wäre da nicht das Wellblechdach. Dabei sind wir alles andere als das, dachte Allie, zumindest noch bis vor einer halben Stunde.Allie schloss die Augen und lauschte dem beruhigenden Klang des Regens.

Sie hatte bisher geglaubt, Luis und sie wären das perfekte Beispiel dafür, dass Freundschaft zwischen Jungen und Mädchen existieren konnte, auch wenn das Ganze erst weniger als ein Jahr ging. Allie hatte Luis auf dem Weg von Wabeno, wo ihre High School lag, zurück nach Townsend, was ihre Heimat war, getroffen. Besser gesagt, er hatte sie getroffen, und zwar mit dem Außenspiegel. Sie hatte den Tag noch ganz genau im Gedächtnis. Denn nachdem sie »Autsch« gejammert hatte, begrüßte Luis sie mit »Hi« – und irgendwie fand Allie das damals echt merkwürdig. Die Frage nach einer ärztlichen Behandlung kam gar nicht erst auf, denn mit etwas über neunhundert Einwohnern hatte Townsend keinen eigenen Arzt. Daher kam man eben ohne aus, erst recht bei einer Lappalie wie einer geprellten Hüfte. Die Mutter ihrer besten Freundin Jenna war nicht nur Hebamme, sondern auch Krankenschwester und Hobby-Ärztin zugleich. Sie würde Allies Hüfte schon mit irgendwelchen Salben einzuschmieren wissen, darin war sie wirklich gut …

Sogar durch ihre geschlossenen Lider bemerkte Allie, dass es kurz taghell im Bootshaus wurde. Der Blitz schreckte sie aus ihren Gedanken. »Erinnerst du dich daran, wie wir uns kennengelernt haben?«

Luis schnaubte. »Insbesondere erinnere ich mich daran, wie du mich im Auto angekeift hast: Du meintest, deine Hüfte sei schon so sehr angeschwollen, dass sie die Luftverdrängung erhöhen und dich beim Staffellauf verlangsam würde.« Er lachte heiser und schloss die Arme enger um Allie.

»Das war sarkastisch gemeint«, verteidigte sich diese, aber an Luis’ vibrierendem Körper merkte Allie, dass er sie immer noch stumm auslachte.

»Glaub mir, in dem Moment meintest du es todernst! Du warst so wütend auf mich und hast geschimpft wie ein Bauarbeiter. Was für Wörter du kennst! Hat mich damals tief beeindruckt.« Allie hörte an seiner Stimme, dass er grinste. »Und trotzdem: Ich bereue nichts!«

Allie musste lächeln. Nein, sie würde jenen Tag auch nicht rückgängig machen wollen. Zugegeben, für viele ihrer Freunde war das schwer nachvollziehbar. Denn auch nach einem Jahr konnte Allie nicht behaupten, den Mann in ihrem Rücken in irgendeiner Form zu kennen. Sie wusste lediglich, dass er mit seinem Vater zusammenlebte und ihn manchmal bei dessen Arbeit unterstützte. Irgendetwas mit Fischen, nicht sehr ungewöhnlich in Townsend. Mehr persönliche Informationen hatte sie ihm bis heute nicht aus der Nase ziehen können. Luis war verschlossen und stur. Ständig brachte er sie auf die Palme. Sich länger als zehn Minuten lang nicht mit ihm zu streiten, lag außerhalb des Möglichen. Und doch nannte sie ihn schon nach sehr kurzer Zeit ihren besten Freund – den besten, den sie je gehabt hatte.

Der Regen prasselte weiterhin unaufhaltsam auf das Well­blechdach und im Minutentakt wurde es hell im Bootshaus, immer dann, wenn ein Blitz über den schwarzen Himmel zuckte. In alter Gewohnheit kuschelte Allie sich wohlig in die warme Umarmung. Sogleich schloss Luis seine Arme fester um sie. Allie versteifte sich, instinktiv wich sie ein Stück nach vorne, weg von dem warmen Körper, der sie umarmt hielt. Der Mann hinter ihr war nicht Robbie. Es war Luis. Mit Luis sollte sie nicht kuscheln. Sie waren nur Freunde. Nichts weiter.

Luis musste Allies Reaktion bemerkt haben, schließlich hatte sie sich eben noch an seine Brust geschmiegt und lag jetzt steif wie ein Brett in seinen Armen. Trotzdem lockerte er seinen Griff nicht. An seinem linken Arm spürte er ihr Herz klopfen, ihr frisch gewaschenes Haar kitzelte an seiner Nase. Es roch so gut. Was für ein Duft das sein mochte…? Er wollte diese Position nicht aufgeben.

Allie erkannte, dass Luis keine Anstalten machte, sie aus seinem Griff zu lassen. Erleichtert, nicht die Entscheidung treffen zu müssen, ob sie weiter in Luis’ Armen liegen oder aufspringen sollte, gab Allie nach und ließ sich vorsichtig wieder in die Umarmung sinken.

Wie sich die letzten zwei Jahre wohl entwickelt hätten, wäre Luis ihr schon früher über den Weg gelaufen? Seine Umarmung war so anders. In Robbies Armen hatte sie stets ein Gefühl von Geborgenheit überkommen, in Luis’ Armen war es nicht nur Geborgenheit, sondern auch Schutz. Das war etwas grundlegend anderes. Hätte sie sich auch dann in Robbie verliebt, wenn sie Luis damals schon gekannt hätte?

Weil Luis genau vier Jahre älter war als Allie, war sie ihm nie begegnet. Als sie auf die Elementary School kam, ging er gerade auf die Middle School, und als Allie auf die Wabeno High wechselte, hatte Luis seinen Schulabschluss schon in der Tasche. Nicht einmal im Kindergarten hätten sie sich über den Weg laufen können, denn Allie war erst im Grundschulalter hergezogen, kurz nachdem sich ihre Mutter von ihrem Vater getrennt hatte. Ihre Urgroßmutter hatte hier gewohnt und eine Pension betrieben. Diese übernahm ihre Mutter, als die Urgroßmutter fast zeitgleich zum Scheidungstermin verstarb. Allies Mutter hielt das für ein Zeichen oder eine göttliche Fügung, Allie selbst hielt das für einen ganz ungünstigen Zufall und eine Katas­trophe. Sie war ein Stadtkind und würde das auch immer bleiben!

»He, Al«, raunte Luis sanft und riss Allie damit aus ihren Gedanken. Sich fallen zu lassen war in Luis’ Armen so einfach und so schwer zugleich: Einfach, weil sie sich bei ihm in sicheren Händen wusste. Schwer, weil schon zwei Worte von ihm ausreichten, um ihren Puls in Rekordhöhe zu treiben. Sie liebte den Klang seiner Stimme, so tief und rauchig, obwohl er Zigaretten oder härteres Zeug niemals angerührt hätte. Ein Schauer lief ihren Rücken hinab und verursachte ihr Gänsehaut. Nur mit seiner Stimme konnte er ein Feuer in Allie entfachen, das Robbie nicht mal mit einem Flammenwerfer hinbekommen hätte.

»Wir müssen reden«, fügte Luis hinzu, als Allie nicht antwortete. Sie hatte erwartet, dass ihr Herz bei der Ernsthaftigkeit in seiner Stimme, die er nur sehr selten anschlug, noch schneller schlagen würde. Doch sie stellte fest, dass dies nicht mehr möglich war. Aus Angst, ihre Stimme würde zu sehr zittern, brachte sie nur ein »Hm« hervor.

Das Zittern entging Luis nicht. Es schien, als hätte er Mut gefasst, denn er drückte sie nun entschlossener an seine Brust, ihren Kopf in seiner Halsbeuge: »Dir kann doch unmöglich immer noch kalt sein.« Ihr Schweigen nahm er als Aufforderung fortzufahren. »Worüber ich mit dir reden möchte … Es ist eigentlich ganz einfach: Ich möchte gerne wissen, wie du dir die Zukunft vorstellst.«

Luis spürte, wie sich ihr schlanker Körper in seinen Armen entspannte. Allie hatte mit einem komplizierteren Thema gerechnet. Sie lächelte, fühlte sich auf sicherem Terrain. Sie löste sich aus Luis’ Umarmung und drehte sich ein wenig in dem engen Boot, sodass sie Luis ins Gesicht schauen konnte. Von ihrer plötzlichen Positionsveränderung überrascht, sah Luis, wie das Lächeln ihr gesamtes Gesicht öffnete und sie auf eine seltsame Weise erstrahlen ließ. Die feinen Lachfältchen um ihre Augen kräuselten sich, auf ihren Wangen bildeten sich winzige Grübchen, ihre blauen Augen leuchteten. Wow. Auf einer Skala von eins bis zehn war sie eine Zwölf. In jedem Fall zählte sie zu den schönsten Frauen, die er jemals …

»Ha, die Zukunft ist leicht! Erstmal möchte ich weg. Raus hier, aus diesem Kaff, und was von der Welt sehen.« Allie schmunzelte über ihre eigenen Worte. »Bisschen zu klischeehaft vielleicht. Aber ich habe wirklich keine großen Wünsche, nur hohe Erwartungen an mich selbst.« Allie strich sich eine Locke aus der Stirn. »Fürs Erste ist mir ein Studium an einem guten College wichtig. Dann will ich den richtigen Mann kennenlernen. Ich muss von den wichtigsten Personen in meinem Leben immer umgeben sein. Dazu zählen meine Mum und Jenna. Und du vielleicht, wenn ich gerade einen guten Tag habe.«

Luis warf ihr einen gespielt strafenden Blick zu und kniff sie blitzschnell in den nackten Oberschenkel. Quietschend schlug Allie nach ihm, doch Luis zog seine Hände hoch, bevor Allie ihn erwischte, und verschränkte sie hinter seinem Kopf.

Schon besser. Beinahe hatte er sie schon wieder aus der Fassung gebracht! Sie nahm den Faden wieder auf. »Weißt du, ich habe da ein Bild vor Augen, das den Höhepunkt meines Lebens markiert: Ein Whirlpool im Garten meines wunderschönen Hauses für mich, meinen Mann und meine zwei – nein! – drei Kinder. Ich kann dir nicht genau sagen, warum, aber irgendwie wäre das schon verdammt gut.« Allie stockte und verzog das Gesicht. »Vielleicht sind das doch mehr Wünsche als Erwartungen an mich selbst. Und vielleicht sind es auch ziemlich viele.«

Die Hände noch immer hinterm Kopf verschränkt, betrachtete Luis Allie, die nun schräg auf seinem Schoß saß. In ihren Worten steckte so viel Lebensfreude! Gerne hätte er mit ihr über dieses Thema weitergeredet. Aber er hatte sich vorgenommen, ein wichtigeres Thema in dieser Nacht mit ihr zu besprechen, sei es noch so unangenehm. Es blieb nicht viel Zeit.

»Du hast recht. Höchstwahrscheinlich ein großer Wunschanteil. Aber über genau den möchte ich sprechen, über deine Wünsche für die Zukunft.« Luis suchte ihren Blick. »Nicht über unser Leben in dreißig Jahren. Sondern über unsere Wünsche jetzt. Was hast du konkret vor? Heute, morgen. Ich will darüber reden, was so zwischen uns beiden los ist, Allie.«

Der letzte Satz hallte in ihrem Inneren nach. … was so zwischen uns beiden los ist, Allie. Sie reagierte äußerlich erstaunlich gefasst und war plötzlich ganz ruhig. Vielleicht war etwas in ihr auch einfach froh, dass das Thema endlich angeschnitten wurde. Was auch immer das Thema sein mochte.

»Zwischen uns was?«

»Komm schon, Al, es ist schon schwer genug, spiel jetzt nicht die Ahnungslose!«

»Was sollte es zwischen uns geben? Wir sind Luis und Allie; Al und Lu, wenn du es so willst.«

»Du kannst meine Gedanken lesen.«

»Ein bisschen gesunder Menschenverstand, nichts weiter. Oder auch weibliche Intuition, der sechste Sinn, nenn es, wie du willst. Und?«

»Niemand versteht mich so wie du.«

»Deshalb sind wir ja auch Al-und-Lu-die-sich-sehr-nahestehen«, betonte Allie jedes einzelne Wort, als wäre Luis schwer von Begriff. »Aber noch einmal: und?«

»Wie nahe stehen wir uns, Allie?«

»Keine Ahnung! Ich habe mein Beziehungsbarometer im Chevy vergessen. Herr Gott, woher soll ich das denn wissen; halt so nahe, wie sich zwei beste Freunde stehen!«

Luis bereute bereits, dass er das Thema angeschnitten hatte. Jedes Mal, wenn er ihr die Hand reichte, ergriff sie sie nicht. Er verstand nicht, weshalb Allie nicht bereit war, das Offensichtliche zuzugeben. Alles in ihm sträubte sich, das Folgende auszusprechen. Sie waren doch das Beispiel, dass Freundschaft zwischen Männlein und Weiblein funktionierte! »Ich glaube einfach nicht, dass das funktioniert.«

Allie wandte sich mit einer Bewegung aus Luis’ Arm, sprang aus dem Boot und konnte ihm nun ins Gesicht blicken. Die körperliche Nähe hatte sie wahnsinnig gemacht, total vom Thema abgelenkt. »Luis, ich weiß einfach nicht, wovon du redest. Merkst du denn nicht, dass du noch keine einzige Aussage mit Inhalt gemacht hast, seit du über uns reden willst?« Allie gestikulierte wild mit den Händen.

Er setzte sich auf. »Das könnte daran liegen, dass ich selbst nicht genau weiß, was ich sagen möchte, geschweige denn, wie. Ich weiß nur, dass es wichtig ist. Das mit uns.«

Seine Ehrlichkeit besänftigte Allie augenblicklich. Sie hielt seinen Blick fest und bemühte sich um einen aufmunternden Tonfall. »Dann versuch’s, so gut es geht.«

Sie schwiegen einen Moment. Die Stille schien beinahe lauter als das Gewitter, das mittlerweile ein Stück weitergezogen war. Die Regentropfen prasselten nur noch leise auf das Wellblech, als wollten sie nicht stören. Der Mond versteckte sich nicht mehr hinter den schwarzen Wolken und erleuchtete das Bootshaus beinahe taghell.

»Da ist was«, begann Luis zögerlich.

»Oh, Luis, versuch doch mal, dich noch undeutlicher auszudrücken«, bat Allie sarkastisch, lächelte aber diesmal. Luis ergriff den Strohhalm und lächelte auch. Plötzlich verflog das Unbehagen und Luis gewann sein Selbstvertrauen zurück.

Allie schnitt ihm jedoch das Wort ab, sehr sanft: »Kann es sein, dass du mir sagen möchtest, dass du etwas für mich empfindest, Lu?«

Luis fiel aus allen Wolken, die Gesichtszüge entglitten ihm. Wie konnte sie die Tatsachen nur so sehr verdrehen? Ihr zärtlicher Tonfall beduselte ihn, ansonsten wäre er vor Empörung wahrscheinlich durch das Wellblechdach gegangen. So stieß er sich nur fast den Kopf daran, als er sich im Boot aufrichtete, heraussprang und fast lautlos auf den feuchten Holzdielen aufkam.

»Nein! Nein! Genau das wollte ich nicht sagen! Ich … ich habe gar keine Zeit für so etwas wie Beziehungskram. Es ist doch genau anders herum: Du empfindest etwas für mich! Oder meinst du, ich bemerke deinen rasenden Puls nicht, wenn ich dich berühre? Oder deine Schweißausbrüche, wenn ich eine zweideutige Bemerkung mache?« Der letzte Satz hatte sich schneller seinen Weg aus Luis’ Mund gebahnt als beabsichtigt und er wartete angespannt auf ihre Reaktion.

»Ach, so ist das also! Und meinst du, ich bemerke nicht, wie du mich anstarrst, wenn du denkst, ich schaue nicht hin? Oder wie du an meinen Haaren riechst, wenn ich auf deinem Schoß liege wie gerade? Ist übrigens Orangenblütenshampoo, falls dich das oft beschäftigt.«

Das Blut schoss Luis in die Wangen und das passierte nicht oft. Allie holte tief Luft, bevor sie erneut ansetzte. »Ich habe mich vor gerade mal drei Tagen von Robbie getrennt, Luis. Ich möchte zuerst darüber hinwegkommen und dann Erfahrungen sammeln, aufregende Dinge tun – und nicht in die nächste komplizierte Beziehung rutschen.« Sie hielt kurz inne. »Und sollte auch nur ein Fünkchen Wahrheit in dem stecken, was du gerade gesagt hast: Ich würde niemals einen Menschen lieben und vermissen wollen, der meint, dem Tod täglich ins Gesicht spucken zu müssen.«

Diesen Ausdruck hatte Allie schon oft für sein Vorhaben, der U.S. Army beizutreten, benutzt: dem Tod täglich ins Gesicht spucken.

Denn Luis hatte ebenso wenig wie Allie vor, den Rest seines Lebens in Townsend zu verbringen. Genau genommen wartete er nur auf seinen einundzwanzigsten Geburtstag, an dem er sich bei der U.S. Army bewerben wollte. Und der war in genau zwei Wochen.

Luis dachte an die stundenlangen Diskussionen, in denen Allie versucht hatte, ihm das auszureden. Doch sie blieb genauso erfolglos wie Luis’ Vater, der ihn immerhin überredet hatte, bis zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag zu warten. Luis lief weiterhin täglich unzählige Kilometer, hob unmenschliche Gewichte und überwand haushohe Hindernisse. Sie beide wussten, Luis würde mit offenen Armen empfangen werden.

Und von da an dem Tod täglich ins Gesicht spucken.

Luis fand den Ausdruck schrecklich melodramatisch, und trotzdem hatte Allie recht: Zwischen ihnen konnte und würde niemals mehr sein. Nicht, wenn er in wenigen Wochen Tausende Kilometer von ihr entfernt sein und nur alle paar Monate nach Townsend zurückkehren würde. Es gab keine Zukunft für sie.

Ob es sein konnte, dass er etwas für Allie empfand? Und wie das sein konnte! Er hatte sie angelogen. Luis spürte gähnende Leere dort, wo er sein Herz vermutete. Nicht einmal der Blick in Allies vor Emotionen überlaufendes Gesicht konnte diese Leere füllen. Sein Blick wanderte an ihr auf und ab, wie sie nur eine Armlänge entfernt vor ihm stand und zu ihm aufblickte. Sie sah unglaublich schön aus. So große Augen!

»Lass es uns vergessen, Luis«, bat Allie. Er glaubte, eine tiefe Traurigkeit in ihren Worten auszumachen, zwang sich dann aber, nicht mehr in ihre Aussage rein zu interpretieren, als tatsächlich da war.

»Wir schlafen eine Nacht darüber und morgen sind wir Freunde wie immer. Die allerbesten«, versprach sie.

Allie öffnete die Tür des Bootshauses und trat in den Nieselregen, der augenblicklich ihr vom Mondlicht erhelltes Gesicht benetzte und von ihren Armen abperlte. Luis griff nach dem Fahrradschloss auf dem Wellblechdach, mit dem Marshall sein Bootshaus gesichert und natürlich auch diese Nacht nicht offenstehen gelassen hatte. Er ließ es einschnappen. Diesmal grinste Allie ihn vertraulich an und ihr gemeinsames Geheimnis ließ ihn glauben, dass tatsächlich alles wieder gut werden konnte, dass sie wieder Freunde sein würden, als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden.

Luis wusste nicht, wie es geschah. Das Letzte, an das er sich erinnerte, war Allies einnehmendes, ihr ganzes Gesicht einbeziehendes Lächeln. Im nächsten Augenblick spürte er ihren warmen Körper an seinem Bauch, ihre Füße zwischen seinen, die Wangen ihres zierlichen Gesichts in seinen Händen. In dem Moment, als ihr heißer Atem sein Kinn streifte, schien die Welt um ihn herum mit davonzuwehen und seine Lippen trafen ihre für eine unendliche Sekunde.

Ein erleichtertes Stöhnen drang aus Luis’ Kehle. Endlich. Bis zu diesem Moment hatte er nicht gewusst, wie sehr er sich nach ihr gesehnt hatte. Doch mit ihrem Kuss überrollten ihn all die Gefühle der vergangenen Monate wie eine Flutwelle. Er dürstete nach ihren Lippen, als wäre er beinahe ausgetrocknet, gleichzeitig fühlte es sich an, als würde er in ihr ertrinken. Kein Gedanke ließ sich mehr steuern, seine Welt war Allie. Wie ein wunderbarer Strudel, aus dem er nie wieder entkommen konnte. Überall dort, wo Allie ihn berührte, prickelte seine Haut wie elektrisiert, er fühlte das Blut in seinen Adern rauschen, so schnell pumpte sein Herz beim Anblick ihrer erhitzten Wangen.

Doch kaum hatten Allies Lippen seine berührt, spürte er ihre kleinen, aber kräftigen Hände auf seiner Brust, die versuchten, ihn wegzustoßen. Oder wollte sie sich selbst von ihm losreißen? Ihr Körper trennte sich von seinem, sie trat einen Schritt zurück. Die Entfernung zwischen ihnen schmerzte Luis fast körperlich. Benommen suchte er ihren Blick und las darin ihre Gedanken: Was hatten sie sich dabei gedacht? Warum hatte er sie geküsst? Nein, sie ihn! Oder doch andersherum?

Verwirrt schüttelte Allie den Kopf. Noch immer spürte sie seine warmen Lippen auf ihrem Mund, seine starken Hände auf ihren Hüften, roch seinen überwältigenden Duft. Allie versagten die Knie, beduselt von dem gewaltigsten Kuss ihres Lebens. Sie verlor das Gleichgewicht. Kurz bevor sie fiel, griff Luis ihren Arm, um sie zu halten. Erschrocken zog Allie die Hand weg, als könnte sie sich an seiner Berührung verbrennen. Nein! Sie durfte ihm nicht mehr zu nahe kommen. Er würde sie schon bald verlassen! Sie waren nur Freunde. Nichts weiter. Sie durften nichts weiter sein!

Allie riss sich los und taumelte dabei unkontrolliert ein paar Schritte nach hinten. Abermals erfasste Luis ihren Blick, verständnislos, bestürzt. Er versuchte ein zweites Mal, sie zu halten, doch sie entglitt ihm. Allie schwankte und stolperte einen weiteren Schritt rückwärts. Ihr rechter Fuß rutschte von der Kante, an der es zum Wasser hinunterging. Überrascht riss sie die Augen auf und öffnete den Mund zu einem stummen Aufschrei. Sein »Allie!« blieb Luis im Hals stecken. Er hechtete nach vorne, doch das kam zu spät. Allie verlor das Gleichgewicht, kurz bevor Luis sie erreichte, und stürzte mit dem Kopf zuerst den kleinen Abhang zum Townsend Flowagehinunter. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Die Klippe war bestimmt nicht höher als zwei Meter, das Ufer des Gewässers jedoch mit großen Steinen gesäumt.

Der letzte Anblick, der sich in Luis’ Gehirn brannte, war Allies lebloser Körper an der Stelle, wo Wasser in Land überging, seltsam gekrümmt und mit Blut übersehen. So viel Blut, das aus einem Loch in ihrem Kopf floss und sich mit der dunklen Flüssigkeit neben ihrem Mund mischte. Erbrochenes? Ihre Augen waren geschlossen. Mondstrahlen fielen auf ihr Gesicht und die Regentropfen auf ihren Wangen sahen aus wie Tränen.

Von nun an schien jede Sekunde eine Ewigkeit zu dauern. Luis hatte das Gefühl, sich im Zeitlupentempo zu ihr zu bewegen. Er sprang den Abhang hinunter und merkte gar nicht, dass beim Aufkommen sein Knöchel umknickte. Verzweifelt fuhr er sich mit den Händen durch die Haare, sein Herz schlug wie wild.

Was sollte er tun? Er erinnerte sich an nichts. An nichts von dem, was er jemals im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Dreißig Mal Herzdruckmassage, zwei Mal beatmen! Oder waren es sechzig Mal? Und musste er die stabile Seitenlage anwenden? Die Panik betäubte ihn wie ein lähmendes Gift. Übelkeit schoss ihm die Kehle hinauf. Fast hätte er sich bei Allies Anblick selbst übergeben, doch er riss sich zusammen, um etwas Sinnvolleres zu tun. Zum Beispiel den Notruf abzusetzen und einen Helikopter zu ordern, der sie ins nächste Krankenhaus bringen würde.

Luis blickte am Bootshaus vorbei den Abhang hoch zum Haus des alten Marshall. Ein Telefon, er brauchte ein Telefon! Luis wusste nur, dass er alles, was sein Körper hergab, tun musste, um sie nicht zu verlieren. Niemals durfte er sie verlieren. Und deshalb rannte er um ihr Leben.

Zwei

Allie wurde von dem anhaltenden, gleichmäßigen Klopfen an ihrer Zimmertür geweckt. In der Sekunde, die sie bereits wach war, aber noch nicht die Augen geöffnet hatte, wurden ihr zwei Dinge bewusst: Erstens war dieser Raum so grell erleuchtet, dass sie sich eigentlich nur im Himmel befinden konnte, und zweitens würde sie dem ausdauernden Klopfer an der Tür den Marsch blasen.

Sie öffnete die Augen, nicht ohne unendlich viele Male zu blinzeln. Das Rot hinter ihren Lidern wich einer weißen Decke, weißen Wänden und weißem Boden. Mit ihrer Sehkraft fand Allie auch ihre Orientierung wieder und stellte fest, dass das Klopfen nicht von der Tür herrührte, sondern aus ihrem eigenen Kopf. Er pochte, und zwar vom Zentrum aus in alle Himmelsrichtungen. Es fühlte sich an, als ob jemand versuchte, einen Gymnastikball in ihrem Schädel aufzublasen und mehr Luft hineinzupumpen, als es anatomisch möglich war. Sehr bald würde ihr Kopf sicherlich explodieren.

Allie schloss die Augen wieder. Sie kannte dieses Gefühl leider allzu gut. Es war ja nicht so, als hätte sie zum ersten Mal zu viel getrunken. Am meisten daran ärgerte Allie, dass sie niemanden dafür verantwortlich machen konnte, wie elend sie sich fühlte. Keinen Klopfer und keinen Gymnastikball-Aufblaser: einzig und allein sich selbst, die sie es gestern wieder mal mit dem Alkohol übertrieben hatte. Hackenkackendicht, wie Robbie das genannt hätte, wenn er selbst schon ein paar Bier intus hatte. Sie war so betrunken gewesen, dass sie keine einzige Erinnerung mehr an den Abend hatte – Filmriss vom Allerfeinsten. Und so langsam, wie ihre Gedanken sich formten, war nicht mal auszuschließen, dass sie immer noch Restalkohol im Blut hatte. Na großartig! Aber hey, sie lebte in einem verdammten Dorf! Was sollte man da auch anderes tun, als sich die langweiligen Grillabende am Townsend Flowageschönzutrinken?

Sie startete einen neuen Versuch, die Augen zu öffnen. Es klappte! Allie suchte sich einen Fixpunkt und starrte konzentriert auf den kleinen Fleck an der weißen Decke. Erst jetzt begann sie sich zu fragen, in wessen Haus man sie zum Ausnüchtern gebracht hatte. Jennas war das definitiv nicht, das hätte sie erkannt. In Robbies Haus sahen die Möbel aus wie Andenken an den Ersten Weltkrieg, seine Mutter stand nicht auf diesen Alles-in-steril-weiß-Look. Und in Luis’ Haus befand sie sich erst recht nicht. Nicht nur, dass er sie noch nie mit zu sich genommen hatte: Nach dem Vorfall am Bootshaus würde sie nie mehr ein Wort mit ihm reden, nicht mal, wenn sie hackenkackendicht war … – und in diesem Moment fiel Allie alles wieder ein. Luis, der Unfall, das Bootshaus, die durchnässten Schuhe, der Sturz. Daher also der Gymnastikball in ihrem Kopf. Kein Alkohol.

Sie wagte es, den Blick von ihrem Fixpunkt an der Decke zu nehmen und sich im Raum umzuschauen. Prompt begann alles sich zu drehen, schwarze Schliere waberten vor ihren Augen hin und her. Schnell kniff sie die Augen wieder zusammen und öffnete sie diesmal langsamer. Die Schliere verschwanden.

Außer einem Sessel, einem kleinen Tisch, Jesus am Kreuz und den zugezogenen vergilbten Vorhängen befand sich nicht viel in diesem Zimmer. Sie musste ihren Kopf erst vollständig nach rechts drehen, um die Gerätschaften um sie herum bewundern zu können: ein Kunstwerk aus ineinander verschlungenen Schläuchen, mit Flüssigkeit gefüllten Beuteln und Monitoren. Der Anblick unterschied sich weit von der geläufigen Ausstattung, allerdings ließ er auch keinen Zweifel daran, dass sie sich in einem Krankenhauszimmer befand. Hatte sie es so kolossal weit getrieben, dass man ihr den Magen hatte auspumpen müssen?

Doch dann dachte sie wieder daran, was ihr eben schon eingefallen war: Nicht der Alkohol war schuld an diesem Dilemma, sondern Luis und sein unverschämter Versuch sie zu küssen!

Sie versuchte ihre rechte Hand zu heben und entdeckte eine Kanüle, die in ihrem blau zerstochenen Handrücken steckte. Oh Gott, wie eklig. Sie hob die linke Hand und befühlte ihren Kopf. Da, ein Verband. Und ein Pflaster, quer über ihrer Schläfe. Sie war also auf den Kopf gefallen.

Allie beschlich die leise Sorge, dass es etwas Schlimmeres sein könnte. Weshalb sonst hätte man sie aus Townkaff – ihre lieblose Bezeichnung für Townsend – in eine Spezialklinik fliegen sollen? In normalen Krankenhäusern war alles weiß, aber nicht so weiß. Dieses Zimmer – und vor allem die modernen Gerätschaften links und rechts von ihr – konnten sich eindeutig nicht in einem Dorfkrankenhaus befinden. Eher in einer größeren, moderneren Klinik in einer Universitätsstadt.

Hoffentlich ließ sich das nicht darauf zurückführen, dass ihrem Kopf etwas Verheerendes zugestoßen war. Wobei sie das eigentlich schon ausschließen konnte: Das mit dem Denken klappte zwar langsam, aber ganz gut. Immerhin wusste sie bereits, wo sie war, und erinnerte sich an die Erklärung für ihre rasenden Kopfschmerzen. Weil ihr nichts Besseres einfiel und sie ziemlich neugierig war, ob ihre Mum gleich mit einer Schimpftirade oder in Tränen aufgelöst den Raum stürmen würde, drückte Allie den roten Knopf an ihrem Nachttisch. Es dauerte keine Minute, bis eine rundliche Afroamerikanerin mit Häubchen freudestrahlend ins Zimmer wackelte und Allie fröhlich begrüßte.

Die Schwester griff nach Allies Hand und legte ihr ein Blutdruckmessgerät an. Allie ließ sie widerstandslos gewähren. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie die Schwester stirnrunzelnd ein paar Notizen auf einem Klemmbrett machte.

»Wie … Wie lange habe ich denn geschlafen?«

»Geschlafen?« Flinker, als Allie es ihr zugetraut hätte, lief die Schwester zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Die plötz­liche Helligkeit stach Allie in die Augen und jagte einen blitzartigen Schmerz durch ihren Schädel. Schnell kniff sie die Augen wieder zu, doch der Schmerz hielt an. »Wir mussten Sie nach der OP in ein künstliches Koma versetzen. Das … das war vor ein paar Tagen«, antwortete die Schwester vage und steuerte zielstrebig auf ihr Klemmbrett zu, als wollte sie weiteren Fragen entgehen.

»Wie lange genau?«, presste Allie trotzdem hervor. »Habe ich wenigstens Schule verpasst?«

Die Schwester lachte unsicher und der laute Ton hallte noch Sekunden später in Allies Kopf nach.

»Sie sind Lehrerin? Wollen wir mal sehen … wir haben Donnerstag, am Samstag sind Sie eingeliefert worden. Wir haben keine Ferien, das weiß ich allein schon deswegen, weil wir zurzeit so wenig Unfallpatienten haben. Also ja, haben Sie.«

So wenig Unfallpatienten, dass sie mich vor Langeweile wirr plaudert. Allie fiel auf, dass sie schon nicht mehr wusste, was die Schwester gerade gesagt hatte. Oder was sie selbst zuvor gefragt hatte. Plötzlich fühlte sie sich schwer wie Blei, so müde, als würde sie jede Sekunde wegdämmern.

»Wie fühlen Sie sich, Mrs Keepsaker?«, erkundigte sich die Schwester endlich.

Doch für Allie drehte sich die Welt schon wieder, obwohl sie die Augen geschlossen hatte. Ihre Gedanken und alles, was sie in den vergangenen Minuten erfahren hatte, entglitten ihr.

»Mies. Gymnastikball im Kopf, aber das kommt davon, wenn man so hackenkackendicht ist«, murmelte Allie. Eine tiefe Schwärze hüllte sie ein. Sie kam einfach nicht dagegen an. Sekunden später schlief sie tief und fest.

Debbie, die Krankenschwester, musterte Allie noch einen Augenblick lang besorgt, schüttelte den Kopf und fragte sich, wie oft Mrs Keepsaker wohl noch zum ersten Mal aufwachen und dieses Gespräch mit ihr führen würde. Kein einziges Mal war sie länger als zehn Minuten wach geblieben und jedes ihrer kurzen Gespräche hatte sie danach wieder vergessen. Gespräche, die aus Debbies Sicht nicht mal einen Sinn ergaben, denn ihres Wissens nach arbeitete Mrs Keepsaker nicht als Lehrerin. Und was hackenkackendicht bedeuten sollte, konnte sich Debbie auch nicht erklären. Gedanklich unterstrich Debbie die Notiz in ihrem Kopf, Mr Keepsaker und seinen Sohn noch einen weiteren Tag zu vertrösten.

Doch Debbies Sorge sollte sich fürs Erste als unberechtigt herausstellen. Sie saß gerade in ihrem kleinen verglasten Kabuff und las die Marie Claire, als das monotone Piepen ihr verriet, dass Mrs Keepsaker wieder aufgewacht war. Eigentlich war ihre Schicht bereits zu Ende und sie hörte schon Phoebes Schritte im Flur schallen, die auf dem Weg war, sie abzulösen. Debbies Fürsorgeinstinkt führte sie dennoch in Mrs Keepsakers Zimmer, das weitaus schöner war als alle anderen auf dieser Etage. Als sie die Tür öffnete, lag die Patientin noch genauso da, wie Debbie sie einige Stunden zuvor verlassen hatte.

»Hallo, Schwester«, begrüßte Allie sie und Debbies Herz machte einen freudigen Hüpfer.

»Guten Abend, Mrs Keepsaker, haben Sie gut geschlafen?«

»Ich denke schon. Aber jetzt tut mein Kopf schrecklich weh. Haben Sie vielleicht etwas dagegen? Etwas Wasser wäre auch schön.«

Debbie versteckte ein kleines Lächeln, als sie Allies Blutdruck erneut überprüfte. Die Stimme der Patientin war klar, das undeutliche Nuscheln vom Nachmittag verschwunden. Das EEG zeigte hervorragende Werte. Vielleicht waren all ihre Bedenken, ob Mrs Keepsaker sich erholen würde, doch völlig unbegründet.

»Selbstverständlich. Ich werde Ihnen gleich etwas bringen. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Das wäre sehr freundlich. Ich möchte Luis sehen. Können Sie ihn herholen?«

Die dickliche Frau strahlte Allie an. »Natürlich. Ein Glas Wasser, eine Ibuprofen und Luis. Ganz wie Sie wünschen.«